Luxemburg Argumente - Refugees Welcome?

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    FLCHTLINGEWILLKOMMEN

    Mythen und Faktenzur Migrations- undFlchtlingspolitik

    REFUGEESWELCOME?

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    Solange die Chancen auf ein gutes Leben in Sicherheit und ohne

    existenzielle Nte weltweit so ungleich verteilt sind wie heute,

    werden Menschen an andere Orte ziehen auch in die Europische

    Union (EU). Die Migrationspolitik der EU erkennt diese Realitt

    nicht an. Ganz im Gegenteil. Ihr Ziel ist es, die Bewegungen

    von Menschen zu beschrnken und zu kontrollieren und zwar

    auch auerhalb ihres eigenen Territoriums. Schon weit vor den

    eigenen Grenzen ist die EU-Grenzschutzagentur Frontex aktiv.

    Das Ergebnis sind nicht nur Tausende Tote an den Auengrenzen

    der EU, sondern auch eine zunehmende Beschneidung der

    Bewegungsfreiheit von Flchtlingen und MigrantInnen in den

    Transit- und Herkunftsregionen.

    Diese Broschre will auf den grundlegenden Widerspruch der

    europischen Asylpolitik hinweisen: Die EU lsst sich als Raum

    des Schutzes und der Solidaritt feiern, der den Opfern von

    Kriegen und Verfolgung Zuflucht bietet. Doch gleichzeitig tut

    sie alles, um zu verhindern, dass Menschen, die diesen Schutz

    ntig haben, ihr Recht auf Asyl in Anspruch nehmen knnen. Die

    legale Einreise wird den meisten von ihnen verweigert. Trotzdem

    kommen jedes Jahr Menschen in groer Zahl in die EU auf

    gefhrlichen Wegen und unter groen Entbehrungen. Was sie

    dann erwartet, ist fr sie kaum kalkulierbar, weil der Umgang mit

    MigrantInnen in den einzelnen EU-Staaten sehr unterschiedlich

    ist: In einigen EU-Lnder werden sie sich selbst berlassen,

    andere Mitgliedstaaten internieren sie monatelang, wieder andere

    gewhren manchen Flchtlingen Schutz und schieben die brigenin die Transitstaaten zurck.

    Deutschland will sich bis heute nicht von dem Dogma lsen, es

    sei kein Einwanderungsland. Asylsuchende sind hier deshalb

    einer ganzen Reihe diskriminierender Gesetze unterworfen. Und

    auch auf europischer Ebene gehrt Deutschland in Sachen Asyl

    zu den Hardlinern. Nach dem Schiffsunglck vom Oktober 2013vor der italienischen Insel Lampedusa forderten viele Stimmen

    ein Ende der tdlichen Abschottung der EU. Doch jeden Vorsto,

    eine humanere Migrationspolitik zu wagen, wehrte vor allem die

    deutsche Bundesregierung ab.

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    INHALT

    Mythen und Fakten zur Migrations- und Flchtlingspolitik 21 Das europische Asylsystem macht aus Europa

    einen Raum fr Schutz und Solidaritt. 22 Die Erzhlungen, dass Italien berlastet ist mit Flchtlingen,

    stimmen nicht. 53 Es ist unsglich, dass es Schleusern mglich ist, in Afrika

    Menschen mit Versprechen zu locken, all ihr Geld abzunehmenund sie dann auf diesen [] unglaublich unsicheren Bootenaufs Mittelmeer zu schicken. 9

    4 Mehr Geld fr Frontex verstrkt die Mglichkeit, Schiffein Seenot zu retten und Tragdien unmglich zu machen. 12

    5 Jede Mglichkeit, die Grenze sicherer zu machen,muss man begren. 15

    6 Die Menschen sollen in ihrer Heimat bleiben,den demokratischen Wandel untersttzen undsich am wirtschaftlichen Aufbau beteiligen. 18

    7 Natrlich sind die selbst schuld. 20

    8 Wir sind nicht das Sozialamt der Welt. 239 Die Steigerung der Asylantrge ist alarmierend. 2510 Sie wollen unberechtigt das Asylrecht der Bundesrepublik

    in Anspruch nehmen und diskreditieren damit []politisch tatschlich Verfolgte aus der ganzen Welt. 27

    11 Die Residenzpflicht sichert die Erreichbarkeitder Asylbewerber fr die Behrden. 29

    12 Die Geduldeten haben keinerlei Bleibeperspektiveim Land, im Gegenteil: Diese Auslnder sind vollziehbarausreisepflichtig. 34

    13 Wer betrgt, der fliegt. 36

    Vier Vorschlge fr eine humane Migrationspolitik 41Einen humanitren Korridor ffnen 41

    Einen gerechten Verteilungsschlssel einfhren 42Arbeitsmigration mglich machen 43Mehr Aufnahmepltze schaffen 45

    Glossar 46

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    MYTHEN UND FAKTEN ZUR MIGRATIONS-UND FLCHTLINGSPOLITIK

    1

    DAS EUROPISCHE ASYLSYSTEM MACHTAUS EUROPA EINEN RAUM FR SCHUTZUND SOLIDARITT.EU-Innenkommissarin Cecilia Malmstrm, 12. Juni 20131

    Europa ist stolz darauf: Verfolgte genieen hier Schutz. AlleStaaten der Europischen Union (EU) haben sich darauf ver-pflichtet. Dieses Recht ist in der Genfer Flchtlingskonventionfestgeschrieben; von dort ist es in das EU-Recht ebenso einge-flossen wie in das der 28 Mitgliedstaaten. In Deutschland hatder einklagbare Rechtsanspruch von politisch Verfolgten aufAsyl sogar Verfassungsrang das gibt es in keinem anderenLand der Welt.

    Was ist dran?

    Doch wie Flchtlinge dieses Recht in Anspruch nehmen kn-nen, steht nirgends. Die Botschaften in den Lndern, aus denendie Flchtlinge kommen, oder in den Transitregionen nehmenkeine Asylantrge an. Sie knnen nur in der EU gestellt werden.Und eine legale Mglichkeit, nach Europa zu kommen, um hier

    einen Asylantrag zu stellen, existiert nicht.

    Von Tunis nach Palermo beispielsweise fahren mehrmals w-chentlich Fhren. Ein Ticket gibt es schon fr 48 Euro, die Rei-senden sind zehn Stunden unterwegs, es ist eine komfortableberfahrt. Doch wer sie antreten will, um in der EU Schutz zusuchen, hat zu diesen Schiffen keinen Zugang: Er oder sie be-

    kommt kein Visum.Gleiches gilt fr Flugverbindungen: Ohnegltiges Visum kommen Flchtlinge nicht an Bord auch nicht,wenn sie angeben, einen Asylantrag stellen zu wollen. Sonstmssen die Fluggesellschaften sie auf eigene Kosten wieder zu-rckbringen.

    1 Erklrung von EU-Kommissionsmitglied Malmstrm zum Gemeinsamen Europischen Asylsystem,

    12.6.2013, unter: http://bit.ly/N98nGE.

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    Die meisten der Menschen, die zuletzt im Mittelmeer ertrunkensind, flchteten aus Krisenstaaten. Ein Asylantrag von ihnenhtte in der EU durchaus Chancen gehabt. Doch SomalierIn-nen, SyrerInnen oder AfghanInnen steht oft nur ein Weg offen:die lebensgefhrliche illegale Einreise.

    Wie eine grausame Lotterie

    Eine EU, die Flchtlingen Schutz bieten will, aber gleichzeitigalles tut, damit niemand diesen Schutz in Anspruch nehmenkann das htte mittlerweile anders sein knnen: Seit 1998 hatdie EU an ihrem neuen, gemeinsamen Asylsystem CEAS (Com-mon European Asylum System) gearbeitet. Es ist eines dergrten Harmonisierungsprojekte der Union.Die fr Asylfragen zustndige EU-Kommissarin Cecilia Malm-strm verglich das alte System mit einer grausamen Lotteriefr Asylsuchende.2Tatschlich ist die Behandlung von Flcht-lingen innerhalb der EU extrem unterschiedlich, je nachdem,wo sie landen. Whrend die Staaten an den Auengrenzen wieGriechenland, Malta, Polen, Ungarn oder Italien MigrantInnen

    oft erst in Internierungslagern einsperren, um sie dann teilssich selbst zu berlassen, gewhren Staaten Zentral- und Nord-europas relative Freiheit und Versorgung sofern die Flchtlin-ge nicht abgeschoben werden. Und whrend Frankreich etwaim ersten Quartal 2013 nicht einmal jeden fnften Asylantraganerkannt hat, waren es in den Niederlanden mehr als Hlfte.3

    Die Prfung von Asylantrgen und die Behandlung Schutzsu-chender sollten durch das CEAS EU-weit angeglichen werden von der Gre der Zellen in Abschiebegefngnissen bis zu Stan-dards fr die Einstufung der Lage in den Herkunftslndern. DieKommission versprach, die EU werde damit zu einem Raumdes Schutzes fr verfolgte Menschen werden.

    Behandelt wie KriminelleSeit Juni 2013 ist das CEAS nun in Kraft, die Realitt aber ist: DieMenschen, die in der EU Schutz suchen, riskieren nicht nur ihrLeben auf dem Mittelmeer, sondern werden hier angekom-

    2 Spiegel Online, 28.7.2011, unter: http://bit.ly/1euJCfC. 3 Europische Union: Asylbewerber und erst-instanzliche Entscheidungen ber Asylantrge: 1. Quartal 2013, 8.10.2013, unter: http://bit.ly/1fV45Qg;

    Tabelle 9.

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    men wie Kriminelle behandelt. Die sogenannte Aufnahme-richtlinie erlaubt es, Asylsuchende monatelang einzusperren.Damit ist nicht etwa die in Deutschland bekannte Abschiebe-haft gemeint, die verhngt wird, um eine direkt bevorstehen-de Abschiebung durchzusetzen. Die Internierung richtet sichgegen Neuankmmlinge noch vor der Antragstellung, aberauch whrend des laufenden Verfahrens. Und sie ist sogar beiMinderjhrigen erlaubt. Die Grundlagen dafr sind so schwam-mig formuliert, dass die Behrden nach Belieben praktisch je-den Flchtling jederzeit einsperren knnen. Mglich ist dies zurFeststellung der Identitt, zur Beweissicherung gemeint istdas Verfahren um das Aufenthaltsrecht , zur Prfung des Ein-reiserechts, wegen verspteter Asylantragsstellung, aus Grn-den der nationalen Sicherheit und Ordnung und zur Verhinde-rung des Untertauchens.

    Vor allem in den Staaten an den Auengrenzen der EU ist esseit Jahren gang und gbe, Flchtlinge unter meist katastro-phalen Bedingungen einzusperren. Diese Praxis wurde durch

    das CEAS nun legalisiert. Knftig mssen die gefngnisartigenInternierungslager fr Flchtlinge allerdings bestimmte Stan-dards erfllen. Ihren Bau oder ihre Umrstung zahlt dafr dieEU. Zudem wird jeder Flchtling, der in die EU einreist, in derBiometrie-Datenbank Eurodac registriert. So wird verhindert,dass in mehreren Lndern ein Asylantrag gestellt wird. Aberauch die Polizei hat seit 2013 Zugang zu der stndig wachsen-

    den Fingerabdruck-Datenbank Flchtlinge stehen so unterGeneralverdacht.

    Und brigens:Andere Teile der Welt zeigen sich grozgi-ger bei der Aufnahme von Flchtlingen als der selbsternannteRaum des Schutzes Europa. Weltweit sind etwa 45,2 Millio-nen Menschen auf der Flucht. Die meisten von ihnen fliehen

    innerhalb des Sdens der Erde. Nur ein Bruchteil gelangt in diereichen Industrienationen. Besonders dramatische Flle nimmtdas UN-Flchtlingshilfswerk in sein sogenanntes Resettlement-Programm auf. Der Hohe Flchtlingskommissar der VereintenNationen (UNHCR) versucht dabei, schutzbedrftige Personenin ein sicheres Land zu vermitteln. Europa hlt sich dabei starkzurck. 2012 etwa fand der UNHCR Resettlement-Pltze fr

    74.000 Menschen. Davon reisten allein 67.000 nach Australien,

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    Kanada und in die USA aus. Die gesamte EU nahm in dieser Zeitgerade einmal 5.500 Menschen auf.4

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    DIE ERZHLUNGEN, DASS ITALIENBERLASTET IST MIT FLCHTLINGEN,STIMMEN NICHT.Der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU),

    8. Oktober 20135

    In Deutschland geht es gerecht zu jedenfalls was die Vertei-lung von Asylsuchenden angeht. Der sogenannte KnigsteinerSchlssel legt fest, wie die Ankommenden unter allen 16 Bun-deslndern aufgeteilt werden. Grundlage ist dabei ein Mix ausWirtschaftskraft und Einwohnerzahl. So muss sich Nordrhein-Westfalen um jeden fnften Flchtling kmmern, Bremen um

    jeden 100sten.

    Otto Schilys Erbe

    In der EU ist das anders: Seit 2003 gilt hier die Dublin-II-Verord-nung mittlerweile in ihrer leicht reformierten Fassung (DublinIII). Ihr ursprngliches Ziel war es sicherzustellen, dass es in Eu-ropa keine Flchtlinge gibt, die zwischen den Staaten hin- undhergeschoben werden, ohne dass jemand fr sie die Verant-

    wortung bernimmt sogenannterefugees in orbit.Die Richtli-nie legt deshalb fest, dass immer der Staat fr einen Flchtlingzustndig ist, ber den dieser in die EU eingereist ist. Im erstenAnkunftsland werden Fingerabdrcke abgenommen, nur dortdarf er oder sie einen Asylantrag stellen. Geht sie oder er trotz-dem woanders hin, etwa nach Skandinavien oder Deutschland,kann der Flchtling zurckgeschoben werden.

    Diese Regelung kommt vor allem den groen Lndern imZentrum Europas zugute und wurde deshalb auch von ihnendurchgesetzt. Mageblich beteiligt daran waren die dama-lige rot-grne Bundesregierung und ihr Innenminister Otto

    4 UNHCR: Projected Global Resettlement Needs 2013, unter: www.unhcr.org/5006aff49.html. 5 Zeit On-

    line, 10.10.2013, unter: http://bit.ly/1heFgeG.

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    Schily (SPD). So wird die Verantwortung fr die in Europa an-kommenden Flchtlinge auf die Lnder an den Auengrenzenabgewlzt. Denn ber Griechenland, Italien, Malta und Bulga-rien kommt die Mehrheit aller Flchtlinge in die EU: 2012 wa-ren es 52.000 von insgesamt 72.500. Italien hat deshalb schonmehrfach den Notstand ausgerufen. Gemeinsam mit Grie-chenland und Malta fordert das Land seit Langem eine Reformdes Dublin-Systems.

    Was ist dran?

    Lnder wie Deutschland halten jedoch dagegen, dass die Au-engrenzen-Staaten keineswegs berproportional belastet sei-en. Ein Blick auf die Asylantragszahlen scheint dies zu bestti-gen. Im Durchschnitt der Jahre 2012 und 2013 fhrt Malta zwardie Spitzengruppe an: Dort suchten rund 4.881 Menschen jeeine Million EinwohnerInnen Schutz. Die anderen Auengren-zen-Staaten Griechenland (754) und Ungarn (727) liegen hinge-gen nur im Mittelfeld; Bulgarien (437) und Italien (323) gar weitabgeschlagen trotz Dublin II und III. Lnder im Herzen des

    Schengen-Raumswie Belgien (1.329), Deutschland (1.078)oder Frankreich (777)6finden sich jedoch in der Mitte oder ober-halb davon. Wie kann es sein, dass im Sden Europas nur sowenige Asylantrge gestellt werden, obwohl fast alle Flchtlin-ge dort ankommen?

    Die erste Antwort lautet: Die Antragszahlen sagen nichts dar-

    ber aus, ob es aufgrund des Antrags auch tatschlich zu einemAsylverfahren kommt. Von den knapp 81.000 Entscheidungenber Asylantrge im Jahr 2013 in Deutschland wurde mehr alsein Drittel gar nicht geprft. Wenn es sich bei den Asylsuchen-den nmlich um sogenannte Dublin-Flle handelt, wird ihnendas Recht, einen Asylantrag in Deutschland zu stellen, einfachverwehrt. Sie werden direkt in den EU-Staat zurckgeschoben,

    ber den sie in die EU eingereist sind. Deutschland gewhrtdiesen Flchtlingen keinen Schutz, rechnet sich die Flle abertrotzdem in der Antragsstatistik zu.

    6 Eigene Berechnungen nach Eurostat: Asylum and new asylum applicants by citizenship, age and sex,

    unter: http://bit.ly/1cTME27.

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    Aus dem Krieg in den Knast

    Die zweite Antwort lautet: weil die Situation in Sd- und Ost-europa die Flchtlinge zwingt, in einem anderen Land Hilfezu suchen. Grundlage der Dublin-Regelung ist die Annahme,dass alle Mitgliedstaaten ein funktionierendes Asylsystem ha-ben. Davon kann aber vor allem in Sdeuropa keine Rede sein.Bulgarien, Zypern, Ungarn, Italien, vor allem aber Griechenlandsperren Schutzsuchende zur Abschreckung ein. Sie werden ta-ge-, wochen- oder monatelang in geschlossenen Aufnahmela-gern interniert selbst wenn sie gerade erst einem Krieg, zumBeispiel dem in Syrien, entkommen sind. In diesen Zentren, et-wa im thrakischen Fylakio, herrschen katastrophale Zustnde:berfllung, mangelnde Gesundheitsversorgung, kein Zugangzu AnwltInnen.Zudem ist die Mglichkeit, einen Asylantrag zu stellen, vor al-lem im europischen Haupteinreiseland Griechenland, extremeingeschrnkt von der Mglichkeit, tatschlich Schutz zu er-halten, ganz zu schweigen. Stattdessen leben die Flchtlingeohne jede Versorgung auf der Strae, die Behrden kmmern

    sich nicht um sie. Die Finanzkrise hat diese Situation noch ver-schlimmert. Deshalb ziehen viele MigrantInnen weiter nachNorden. Einige Jahre lang wurden sie nach Griechenland zu-rckgeschoben. Doch weil die Zustnde dort vllig unzumutbarsind, stoppten Gerichte immer fter Dublin-Rckschiebungen.Seit 2010 verzichtet Deutschland deshalb bis auf Weiteres aufRckschiebungen nach Griechenland.

    In Italien kann ein Antrag zwar gestellt werden. Das Land ber-lsst die Menschen aber weitgehend sich selbst. Nach Aner-kennung unseres Flchtlingsstatus hat uns Italien im Winter2012 auf die Strae geworfen. Sie haben uns aufgefordert, Ita-lien zu verlassen. Sie sagten: Die EU ist gro, geht und findeteuren Weg. Hier gibt es nichts mehr fr euch,7heit es etwain einer Erklrung der 2013 bundesweit bekannt gewordenen

    Gruppe Lampedusa in Hamburg. Deren rmische AnwltinLoredana Leo nannte die Lage in Italien selbst fr anerkann-te Flchtlinge nicht zumutbar. Es gibt berhaupt keine sozialeInklusion, keine Sozialleistungen, keine Versorgung, nichts.8Viele Flchtlinge stellen in Italien deshalb gar nicht erst einen

    7 Lampedusa in Hamburg: Hintergrund, unter: http://lampedusa-in-hamburg.tk/. 8 Taz, 14.8.2013, unter:

    www.taz.de/!121797/.

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    Antrag. Stattdessen reisen sie nach Mitteleuropa weiter. Dortdrfen sie aber keinen Asylantrag stellen und sitzen fest.

    Kein Zeuge fr den Status quo

    Der Versuch,refugees in orbitzu vermeiden, hat also das Ge-genteil bewirkt: Die Haupteinreiselnder sind berfordert. Des-wegen nehmen sie entweder Asylantrge einfach nicht an und/oder behandeln die Flchtlinge so schlecht, dass diese zuse-hen, dass sie wegkommen. Die Statistik der Antragszahlen sagtdeshalb nur wenig ber die tatschliche Lage an den Auen-grenzen aus. Sie wird aber trotzdem mit Vorliebe dazu benutzt,das unfaire EU-Asylsystem zu verteidigen. Denn auf dessenGrundlage knnen Lnder wie Deutschland die Verantwortungfr viele Flchtlinge von sich fernhalten.

    3

    ES IST UNSGLICH, DASS ES SCHLEUSERN

    MGLICH IST, IN AFRIKA MENSCHEN MITVERSPRECHEN ZU LOCKEN, ALL IHR GELDABZUNEHMEN UND SIE DANN AUF DIESEN []UNGLAUBLICH UNSICHEREN BOOTEN AUFSMITTELMEER ZU SCHICKEN.Der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU),

    8. Oktober 20139

    Immer dann, wenn die Medien ber ertrunkene Flchtlinge be-richten, ist fr die ffentlichkeit klar, wer an ihrem Tod schuldist: skrupellose Schlepper. Sptestens seit dem spektakul-ren Tod von 58 ChinesInnen, die im Juni 2000 in einem luftdich-ten Container zwischen dem belgischen Zeebrgge und demenglischen Dover erstickten, werden Schlepper nicht nur der

    organisierten Kriminalitt zugerechnet,10sondern gern auchin einem Atemzug mit TerroristInnen genannt, wenn es um dieVerschrfung von Gesetzen geht.

    9 Die Welt, 8.10.2013, unter: http://bit.ly/1iDUMWE. 10 Auswrtiges Amt: Internationale Zusammenar-

    beit bei der Bekmpfung der Organisierten Kriminalitt, 2013, unter: http://bit.ly/1dTOKgk.

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    Was ist dran?

    Um es klar zu sagen: Unter den Schleppern gibt es viele, diesich wenig fr das Leben der Flchtlinge interessieren, aberumso mehr fr deren Geld. Es sind aber nicht die Schlepper, diedie Menschen dazu bringen, sich auf den Weg zu machen. Undihr Geschftsmodell ist nur deshalb lukrativ, weil die Grenzen zusind. Nur mithilfe von Schleppern, auf abseitigen Routen, mitfalschen oder fremden Papieren oder unter Vortuschung fal-scher Tatsachen kommt man als Flchtling noch in die EU.Dort, wo es keine FluchthelferInnen gibt, bleiben die Menschennicht etwa da, wo sie sind. Stattdessen beschaffen sie sich dieBoote selbst. Das kann zwar billiger sein, verbessert die Sicher-heit der Flchtlinge aber auch auch nicht. Deshalb tragen auch

    jene, die die Schlepper bekmpfen, zum Sterben auf dem Meerund auf anderen riskanten Fluchtrouten bei.

    Angeklagt wegen nicht unterlassener Hilfeleistung

    Die Strafen fr Schlepperei wurden in den letzten Jahren emp-findlich erhht. In den Nachbarlndern, etwa im Nahen Osten

    oder Nordafrika, hat die EU per Partnerschaftsabkommen frentsprechende Strafrechtsreformen oder Justizpraxen gesorgt,im Innern haben die Mitgliedstaaten hnliches getan. In Grie-chenland werden FluchthelferInnen, die Menschen aus der Tr-kei auf die gischen Inseln bringen, vor Gericht gestellt, siemssen mit langen Gefngnisstrafen rechnen. In Italien habendie Postfaschisten und die Lega Nord bereits 2002 das soge-

    nannte Bossi-Fini-Gesetz durchgesetzt. Seither drohen nichtnur Flchtlingen Bugelder von bis zu 5.000 Euro fr die illegaleEinreise; auch jene, die sie nach Italien bringen, knnen wegenSchlepperei zu hohen Strafen verurteilt werden. Und das betrifftkeineswegs nur professionelle Schlepper.Einer der bekanntesten kriminalisierten Helfer ist StefanSchmidt, der Kapitn der Cap Anamur. Schmidt hatte im Ju-

    ni 2004 im Mittelmeer 37 Flchtlinge an Bord genommen, diein Seenot geraten waren. Nach fast dreiwchiger Blockadeerteilten die italienischen Behrden am 12. Juli die Einlaufge-nehmigung in den Hafen von Porto Empedocle auf Sizilien. Die37 Flchtlinge wurden in ein Lager gebracht, das Schiff wurdebeschlagnahmt, Schmidt, sein 1. Offizier und der Cap-Anamur-Chef Elias Bierdel wurden wegen Beihilfe zur illegalen Einreise

    angeklagt.

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    hnlich erging es dem tunesischen Fischer Abdelbasset Zenzeri.Am 8. August 2007 war eine Gruppe von Fischern um Zen-zeri auf ein kaputtes Schlauchboot mit 44 Flchtlingen aus demSudan, aus Eritrea, thiopien, Marokko, Togo und der Elfen-beinkste gestoen. Das Boot trieb bei schwerer See man-vrierunfhig in maltesischen Hoheitsgewssern. In dem Bootsaen auch zwei Kinder, eines von ihnen behindert, und zwei

    schwangere Frauen. Zenzeri brachte sie nach Italien und wur-de angeklagt, sein Boot beschlagnahmt. Zweieinhalb Jahre soll-te er ins Gefngnis. Das sprach sich herum und hatte Folgen.

    Hier steuert der Passagier selbst

    Die Schlepper reagierten auf die intensivierte staatliche Ver-folgung, indem sie immer seltener Kapitne mitfahren lieen.

    Flchtlinge bekommen so nur noch ein Boot, das sie selbst

    14 % zentrale Mittelmeerroute

    51 % stliche Mittelmeerroute

    2,2 % stliche Landroute

    8,8 % westliche Balkanroute

    6,6 % Apulien und Kalabrien

    Fluchtrouten in die EU,

    illegale Grenzbertritte

    2012

    8,8 % westliche Mittelmeerroute

    Quelle: Frontex: Annual Risk Analysis 2013, Warschau 2013

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    steuern mssen. Seenot ist dann vorprogrammiert. Von See-unkundigen gesteuerte Boote drften einen erheblichen Teil dertdlichen Unglcke der letzten Jahre mitverursacht haben.

    Und brigens:Die andere, nicht minder tdliche Konsequenzbesteht in unterlassener Hilfeleistung durch andere Schiffe ausAngst vor Strafverfolgung. Ein vor Kurzem bekannt gewordenerFall: Am 8. Oktober 2013 sank ein Schiff mit syrischen Flcht-lingen sdlich von Lampedusa. Die italienische Marine hatte zu-nchst nichts unternommen, um die Flchtlinge zu retten, weilformal das weiter entfernt liegende Malta fr das Gebiet zustn-dig ist. Allerdings hatte die Rettungsleitstelle einen internationa-len Hilferuf abgesetzt. Alle Schiffe in der Region wurden auf dasUnglck hingewiesen, ber die Koordinaten informiert und umHilfe gebeten. Mehrere Frachtschiffe, darunter auch eines mitdem Namen Stadt Bremerhaven, fuhren nahe am Unglcksortvorbei, halfen aber nicht. Die Malteser erreichten den Unglck-sort erst, als das Schiff gesunken war und ber 200 Menschenertrunken waren. Der Kampf gegen die Schlepperbanden ver-

    wandelt sich so in eine Kriminalisierung von Seenotrettung undhat verheerende Folgen fr die Lage an den EU-Auengrenzen.

    4

    MEHR GELD FR FRONTEX VERSTRKT DIE

    MGLICHKEIT, SCHIFFE IN SEENOT ZU RETTENUND TRAGDIEN UNMGLICH ZU MACHEN.EU-Innenkommissarin Cecilia Malmstrm, 9. Oktober 201311

    Was ist dran?

    Das zentrale Mittelmeer ist eine der am besten berwachtenSeeregionen der Welt. Kstenwachen, Satelliten, Radar und

    bald auch Drohnen registrieren Bewegungen von Schiffen. DerGrund dafr, dass dort Tausende Menschen ertrinken, ist keinMangel an Information. Viele Vorflle aus der Vergangenheitzeigen vielmehr: Dass Kstenwachen ber Boote in Seenot in-formiert sind, heit lngst nicht, dass sie auch helfen.

    11 NDR, 10.10.23, unter: http://bit.ly/1gssbN5.

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    Kein Notruf unter dieser Nummer

    Einen besonders drastischen Fall hat die Berichterstatterin desEuroparates, die niederlndische Professorin Tineke Strik, doku-mentiert. Sie wies nach, dass NATO-Einheiten und EU-Beamtezwei Wochen lang nichts unternommen haben, um den Tod von61 subsaharischen Flchtlinge auf dem Mittelmeer zu verhin-dern. Am 26. Mrz 2011 waren 50 Mnner, 20 Frauen und zweiBabys in Tripolis in See gestochen. Einen Schiffsfhrer hatten siefr ihr sieben Meter langes Gummiboot ebenso wenig wie aus-reichend Proviant und Treibstoff. Die libyschen Schlepper hattennur gesagt: Fahrt 18 Stunden geradeaus, dann erreicht ihr dieitalienische Insel Lampedusa. 15 Tage spter wurde ihr Boot andie Felskste nahe der libyschen Stadt Zliten, stlich von Tripo-lis, gesplt. Nur elf Menschen waren noch am Leben. Zuvor hat-ten die Schiffbrchigen ihre Position per Satellitentelefon an dieitalienische Kstenwache durchgeben lassen. Ein Fischerboot,zwei spanische NATO-Schiffe und ein Militrhubschrauber wa-ren herbeigerufen worden. Doch niemand hat den Flchtlingengeholfen, schrieb Strik.12

    Auch am 8. Oktober 2013 (siehe Punkt 3) hat die italienischeMarine ber 200 SyrerInnen vor Lampedusa ertrinken lassen,obwohl sie alarmiert war und mehrere Stunden Zeit gehabt ht-te, ein in der Nhe kreuzendes Kriegsschiff an die Unglcksstel-le zu schicken.13

    Abhalten und aufhaltenSolche Flle sind zu Dutzenden bekannt, die Dunkelziffer isthoch. Es scheint, als wollten die europischen Mittelmeeranrai-ner auf diese Weise Flchtlinge abschrecken und davon abhal-ten, die riskante Fahrt bers Meer anzutreten.Die EU-Grenzschutzagentur Frontex trgt ihren Teil dazu bei.Die in Warschau ansssige Behrde wurde aufgebaut, um il-

    legale Grenzbertritte zu verhindern. Das ist ihr Auftrag. Als il-legaler Grenzbertritt gilt jeder Versuch, ohne gltiges Visum inden Schengen-Raum einzureisen auch dann, wenn man umAsyl bitten mchte. Frontex untersttzt die nationalen Ksten-wachen, fhrt aber zunehmend auch eigene Operationen durch.

    12 Europarat, 24.4.2012, unter: http://bit.ly/1dTP4fk. 13 Taz, 29.11.2013, unter: www.taz.de/!128506/.

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    Ein wichtiges neues Instrument dabei ist das im Dezember2013 gestartete neue EU-Grenzkontrollsystem Eurosur. Es wirdalle bestehenden Systeme zur Grenzkontrolle technisch verein-heitlichen und zusammenschalten. Auch Erkenntnisse von Ge-heimdiensten sollen helfen, Flchtlinge aufzuspren. Eurosurwird unter anderem Daten von Satelliten, Radarstationen, Flug-zeugen und Drohnen in der Frontex-Zentrale in Warschau zu-sammenlaufen lassen. Bis 2020 will die EU dafr rund 338 Mil-lionen Euro ausgeben. Und, selbstredend, soll das Ganze auchdem Schutz von Menschenleben dienen.

    Keine Gesellschaft zur Rettung Schiffbrchiger

    Doch Frontex ist keine Gesellschaft zur Rettung Schiffbrchigerund soll das entgegen der ffentlichen Propaganda auch garnicht sein. Das wurde zuletzt im Zuge der Verhandlungen zurneuen Frontex-Verordnung im Herbst 2013 deutlich: Nur sie-ben Tage nach der Katastrophe vor Lampedusa am 3. Oktober2013 versuchten die europischen Mittelmeerlnder mit allerKraft zu verhindern, dass Frontex verbindlich zur Seenotret-

    tung verpflichtet wird. Grundstzlich mssen zwar alle Schiffs-fhrerInnen und staatlichen Stellen in Europa in Notfllen hel-fen. Umstritten ist aber der Zeitpunkt: Ist es schon ein Notfall,wenn das Benzin alle ist oder erst dann, wenn ein Schiff sinkt?Die Regierungen von Italien, Griechenland, Malta, Spanien undFrankreich jedenfalls verlangten, dass Frontex Booten, die ma-nvrierunfhig auf dem Meer treiben, nicht zwingend zu Hilfe

    kommen muss.14

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    JEDE MGLICHKEIT, DIE GRENZE SICHERERZU MACHEN, MUSS MAN BEGRSSEN.Der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU),

    8. Mrz 201215

    Was ist dran?

    Grenzen werden bewacht, berall auf der Welt. Sonst wren sieberflssig. Doch was die EU tut, um unerwnschte Migran-tInnen fernzuhalten, hat mit der landlufigen Vorstellung vonGrenzschutz nicht mehr viel zu tun.

    Wer heute nicht losgeht,

    muss morgen nicht abgeschoben werden

    Die Sicherung der EU-Grenzen geht weit ber das EU-Territo-rium hinaus. Waren es zu Beginn der EU-Integration noch dieAuengrenzen selbst, an denen die Grenzpolizei im Einsatz war,geht die EU heute immer mehr dazu ber, die Transitregionen

    ins Visier zu nehmen. Angestrebt wird, unerwnschte Migrati-onsbewegungen schon in den subsaharischen Herkunftsregio-nen stoppen zu knnen. Staaten, tief in der Sahara oder im Mitt-leren Osten, werden mittlerweile als Kooperationspartner vonFrontex in das Migrationsmanagement eingebunden.

    Whrend das Schengen-Gebiet in einen Raum grenzenloser

    Freizgigkeit verwandelt werden soll, sorgt die EU vor allemin Afrika dafr, dass Bewegungsfreiheit beschnitten wird. Er-kauft mit Entwicklungshilfe macht sie ihre nahen und fernenNachbarn zu Hilfspolizisten: Internierungslager in afrikani-schen Lndern, PR-Agenturen, die Reklame gegen Auswan-derung machen, flschungssichere Psse oder Militrhilfesind eine Art verlngerter Arm des EU-Grenzschutzes weit vor

    den Toren Europas. Jeder Flchtling, der gar nicht erst losgeht,muss spter nicht teuer wieder abgeschoben werden das istdabei das Kalkl.

    14 Sddeutsche Zeitung, 19.10.2013, unter: http://sz.de/1.1798388. 15 Deutsche Welle, 8.3.2012, unter:

    http://bit.ly/1qyGNTd.

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    An der Grenze zur Folter

    Wer Europa trotzdem zu nahe kommt, der muss damit rechnen,aufgehalten zu werden. Obwohl dies bislang mit geltendem eu-ropischen Recht unvereinbar war, hindern die Grenzschtze-rInnen Flchtlingsboote immer wieder daran, in europischeGewsser zu fahren, drngen sie ab oder schleppen sie zurck.

    90 syrische Flchtlinge in der Trkei etwa erklrten 2013 unab-hngig voneinander RechercheurInnen von Pro Asyl, von Spe-zialeinheiten der griechischen Kstenwache aufgehalten undmisshandelt worden zu sein, bevor sie zurckgeschleppt wur-den. Teils grenzten die Misshandlungen von neun mnnlichensyrischen Flchtlingen an Folter, heit es in dem Bericht.16Kin-der, Babys und Schwerstkranke seien ebenso betroffen wie An-gehrige aus Kriegs- und Krisenregionen.

    So berichtet ein 20-jhriger Syrer, der am 23. August 2013 vorder Insel Samos aufgegriffen wurde, von der Begegnung mitdem griechischen Grenzschutz: Sie trugen schwarze Unifor-

    men und Masken, wir konnten nur die Augen sehen. Sie schos-sen drei-, viermal in die Luft und kamen dann an Bord. Wir hiel-ten unsere Hnde hoch, sie zogen die Frauen am Haar, was siesagten, konnten wir nicht verstehen. Sie zwangen uns nieder-zuknien und die Hnde hinter den Nacken zu halten. Sie nah-men unser Geld, warfen unsere Handys und Koffer ins Meer.17Das Boot sei zunchst in trkische Gewsser zurckgeschleppt

    und dann sei der Motor zerstrt worden. Fast alle der dokumen-tierten Zurckschiebungen fanden im Operationsgebiet derFrontex-Mission Poseidon Land and Sea statt.

    Auf Hoher See gilt die Freiheit des Meeres

    es sei denn, man ist ein Flchtling

    Solche direkten Zurckweisungen ohne Prfung eines Asyl-

    antrags sind ein Versto gegen das sogenannte Non-Refoule-ment-Gebot im Vlker- und EU-Recht. Knftig aber darf Fron-tex Flchtlingsboote auf See ausdrcklich direkt zurckweisen.Die im neuen EU-Recht vorgesehene Prfung, ob ein Flcht-ling womglich Anspruch auf Asyl hat, soll direkt an Bord statt-

    16 Pro Asyl: Pushed Back, 15.11.2013, unter: http://bit.ly/1fV5dTO. 17 Pro Asyl: Illegale Push-Backs,

    15.11.2013, unter: http://bit.ly/N9aURc.

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    finden. Damit ist vollstndig in das Ermessen der Grenzscht-zerInnen gestellt, wer noch in der EU Asyl beantragen kann.Frontex kann Boote sogar in internationalen Gewssern stop-pen, durchsuchen und zurckschleppen, um illegale Grenz-bertritte zu verhindern. Dabei ist es ein wesentlicher Bestand-teil internationalen Rechts, dass Grenzschtzer oder Marinenicht die Befugnis haben, auf Hoher See Schiffe zu kontrollieren,zu behindern oder abzudrngen. Diesen Eingriff in die Naviga-tionsfreiheit von Schiffen rechtfertigt die EU mit Verweis auf dassogenannte Palermo-Protokoll einen internationalen Vertrag,der eigentlich zur Eindmmung von Menschenschmuggel ge-schlossen wurde.

    6

    DIE MENSCHEN SOLLEN IN IHRERHEIMAT BLEIBEN, DEN DEMOKRATISCHEN

    WANDEL UNTERSTTZEN UND SICH AM

    WIRTSCHAFTLICHEN AUFBAU BETEILIGEN.Der damalige Auenminister Guido Westerwelle (FDP),

    14. Februar 201118

    Die meisten EU-BrgerInnen knnen sich auf der Welt frei be-wegen. Sie knnen reisen, wohin sie wollen. Fr Menschen ausAfrika oder Asien gilt in der Regel das Gegenteil. Trotzdem wer-

    den MigrantInnen aus dem Sden der Welt gern an ihre Ver-antwortung gegenber ihren Herkunftslndern erinnert. DieseRatschlge kommen immer dann auf den Tisch, wenn es umMigrantInnen geht, von denen man sich hierzulande keinenVorteil verspricht. Bei den brigen spielt die Verantwortung ge-genber den Herkunftslndern offenbar keine Rolle.

    Deutschland fhrt sogenannte Positivlisten mit Mangelberufen.Menschen, deren Qualifikation gebraucht wird, werden mit Slo-gans wie Make it in Germany aktiv angeworben. Viele Fach-krfte kamen diesen Angeboten wegen der relativ hohen Lhnenach. Deutschland hat von ihnen profitiert. Dass deshalb in ei-

    18 NDR, 14.2.2011, unter: http://bit.ly/1kO6tuf.

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    ner Reihe von osteuropischen Lndern mittlerweile rztInnenund Pflegekrfte fehlen, interessiert hier die wenigsten.

    Was ist dran?

    Es ist wahr: Braindrain,die Abwanderung von gebildeten Ar-beitskrften, kann ein Entwicklungshemmnis sein. Doch nie-mand ist wegen seines Geburtsortes irgendeinem Land derWelt verpflichtet. Wer gehen will, soll gehen drfen.

    In vielen afrikanischen Lndern ist es aber genau umgekehrt.Hier ist Migration einer der wichtigsten Motoren fr die wirt-schaftliche und soziale Entwicklung.

    30 Millionen afrikanische MigrantInnen berwiesen im Jahr2013 mindestens 65 Milliarden US-Dollar in ihre Herkunftsln-der.19Das ist mehr, als an Entwicklungshilfen oder auslndischenInvestitionen nach Afrika flossen. Die remittances genanntenRckberweisungen sind seit Beginn des 21. Jahrhundertsum 55 Prozent gestiegen. 120 Millionen AfrikanerInnen pro-fitieren direkt davon. Die Gelder kurbeln die Binnennachfrage

    und das Kleinunternehmertum an ganz im Gegensatz zu vie-len Entwicklungsprojekten. In Lndern wie Senegal oder Nige-ria machen Rckberweisungen rund zehn Prozent des Brutto-sozialprodukts aus. Sowohl fr die Afrikanische Union als auchfr die Afrikanische Entwicklungsbank berwiegen eindeutigdie Vorteile derremittancesdie mglichen Nachteile von Brain-drain.

    Und brigens:Die meisten MigrantInnen kehren nach einerWeile in ihre Lnder zurck. Ihre im Ausland gewonnenen Er-fahrungen und Qualifikationen haben einen beraus positivenEffekt auf das Wirtschaftswachstum in Entwicklungslndern.

    19 African Economic Outlook: Remittances 2012, unter: http://bit.ly/1fxZeDx.

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    NATRLICH SIND DIE SELBST SCHULD.Der Pressesprecher der Deutschen, Bank Frank Hartmann,

    auf die Frage, ob die Menschen in Afrika an ihrem Hunger

    selbst schuld seien, 201120

    Was ist dran?

    Die erste Flchtlings-Selbstorganisation in Deutschland, die Ka-rawane fr die Rechte der Flchtlinge und MigrantInnen, brach-te es so auf den Punkt: Wir sind hier, weil ihr unsere Lnderzerstrt. Seit der Kolonialzeit beuten Europa und die USA dieLnder des globalen Sdens aus, bis heute tragen sie deshalbeine Mitverantwortung dafr, dass in vielen Regionen der WeltArmut, Hunger, Umweltzerstrung und Krieg herrschen undMenschen fliehen.Der Westen ist keineswegs der alleinige Schuldige an diesenZustnden. Doch trgt seine Politik an vielen Stellen dazu bei,sie aufrechtzuerhalten. Einige Beispiele:

    Deutschland ist einer der weltweit fhrenden Exporteure vonWaffen.Deutsche Waffen drfen zwar nicht in Konfliktgebie-te geliefert werden, gleichwohl gelangen sie dorthin: Hub-schrauber in den Irak, Waffen aller Art nach Saudi-Arabien,G36-Sturmgewehre von Heckler & Koch nach gypten, Mexikooder Libyen, Panzer in die Trkei, die Liste liee sich fortsetzen.

    In der Regel verstrkt der Nachschub an Waffen die Intensittvon Konflikten und Repression und die Zahl der Toten, Verletz-ten und Flchtlinge steigt. Der unkontrollierte Handel mit Klein-waffen befrdert die Herrschaft von Warlords und verbreche-

    rischen Milizen.

    Viele Regime in der Welt knnen sich trotz dauerhafter Men-

    schenrechtsverletzungenan der Macht halten, weil sie vomWesten gesttzt werden. Dies kann direkt durch die Zahlungvon Militr-, Wirtschafts- oder Entwicklungshilfe geschehen,aber auch durch politische Anerkennung. Die Folge ist die glei-che: Mit dem Segen der EU und der USA knnen Regime ihre

    20 Die Deutsche Bank versuchte spter, die Verbreitung des Zitats in einem Film des Zentrums fr politi-

    sche Schnheit zu verbieten, vgl. www.youtube.com/watch?v=G2nMAd1hr5U.

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    Herrschaft verteidigen. Angehrige bestimmter Minderheiten,Oppositionelle, aber auch Menschen, die nicht vom herrschen-den System profitieren, sondern arm sind, werden dadurch ge-zwungen, ihre Lnder zu verlassen. Beispiele hierfr sind dieLangzeit-Diktatur des Eyedema-Clans in Togo, das Biya-Regimein Kamerun oder auch, bis zum Ausbruch des Krieges 2011, dasAssad-Regime in Syrien.

    Westliche Firmen betreiben Spekulationen mit Nahrungsmit-teln und Ackerlandim Sden der Welt. Immer mehr gekauftesAckerland wird zumAnbau von Futtermitteln und Biodieselver-wendet. Dadurch steigen die Lebensmittelpreise in den Ent-wicklungslndern so stark an, dass die Zahl der Hungerndentrotz groer Bemhungen nicht schrumpft, sondern mglicher-weise sogar wieder steigen wird.

    Das vom Westen aufgebaute globale Finanzsystem sorgt fr ei-ne immer strkere Konzentration von Reichtum. Heute besitzendie 85 reichsten Menschen der Welt so viel wie die gesamte

    rmere Hlfte der Menschheit.21Gleichzeitig mssen ber eineMilliarde Menschen auf der Welt mit weniger als 1,25 US-Dollaram Tag auskommen. Diese Art von Ungleichverteilungist auchverantwortlich dafr, dass noch immer alle fnf Sekunden einKind verhungert, obwohl die globale Landwirtschaft die gesam-te Weltbevlkerung ernhren knnte.

    Kreditgeber zwingen verschuldete Lnder, ihre Ausgaben frBildung, Sozialleistungen und Gesundheiteinzuschrnken. Soverelenden Teile der Bevlkerung; Geld, das dringend im eige-nen Land bentigt wrde, fliet in den Schuldendienst. Armutwird dadurch zementiert.

    Internationale Fangflottenfischen die Meere vor Afrika leer, die

    Genehmigungen hierfr erpressen Lnder wie Spanien mit derDrohung, ansonsten die Kredite zu sperren. Auf hnliche Wei-se wird dieAusbeutung von Rohstoffenso organisiert, dass denLndern des Sdens am Ende wenig mehr von ihren einstigenBodenschtzen bleibt als Umweltschden.

    21 Oxfam, 20.2.2014, unter: http://bit.ly/LtyasG.

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    WIR SIND NICHT DAS SOZIALAMTDER WELT.Der Ministerprsident Bayerns Horst Seehofer (CSU),

    26. Februar 200922

    Was ist dran?

    Man stelle sich vor, es ginge um Hartz-IV-EmpfngerInnen: Siebekmen kein Geld aufs Konto, sondern zweimal in der Wocheein Essenspaket, bestellt vom Amt, gepackt vom Cateringser-vice. Taschengeld wird gestrichen, Zigaretten und Bier auch.Unvorstellbar? Leider nicht.Im Fall von Asylsuchenden war genau das die Praxis. Nach denPogromen von Lichtenhagen und Hoyerswerda 1992/1993 er-mglichte es die rassistische und neonazistische Stimmung inDeutschland, dass CDU, CSU, FDP und SPD den sogenanntenAsylkompromisszimmerten ein Gesetzeswerk, das nur zweiZwecke hat: Flchtlinge fernzuhalten und jenen, die trotzdem

    kommen, das Leben so unangenehm wie mglich zu machen.Das Sozialrecht wurde herangezogen, um in der aufgeheiztenStimmung den wachsenden Rassismus zu bedienen. Ausba-den mussten das Hunderttausende Flchtlinge. Ihre Versor-gung regelt seither das Asylbewerberleistungsgesetz.

    Nicht arbeiten drfen, aber uns auf der Tasche liegen

    Hartz IV, also derzeit 382 Euro im Monat, die sogenannte Hil-fe zum Lebensunterhalt, ist das offizielle Existenzminimum frErwachsene. Das und nichts anderes ist das Mindestma anUntersttzung, das der Staat dem oder der Einzelnen schuldet bis auf Weiteres. Trotzdem hielt sich 21 Jahre lang ein Gesetz,das eine ganze Bevlkerungsgruppe von diesem Existenzmini-mum einfach ausschloss, whrend man ihr gleichzeitig verbot

    und nach wie vor verbietet zu arbeiten.Whrend die Debatte darber tobte, ob Hartz IV nun Armut perGesetz ist, hat es die ffentlichkeit fast zwei Jahrzehnte langnicht interessiert, dass der Staat Zehntausende nichtdeutscheKinder von 4,30 Euro am Tag leben lie; Erwachsene mussten

    22 Frankfurter Rundschau, 25.2.2009, unter: http://gleft.de/x4.

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    mit maximal 225 Euro monatlich auskommen.23Wie gleichgl-tig Politik und Medien der ganzen Sache gegenberstanden,sieht man nicht zuletzt daran, dass bis heute die D-Mark-Betr-ge im Text des Asylbewerberleistungsgesetzes stehen. Auch ei-ne Inflationsanpassung hat es nicht gegeben.

    Immer noch besser als in Kandahar

    Es ist wahr: Die Versorgung von Flchtlingen in Deutschlandwar und ist trotzdem besser als in vielen anderen Lndern Eu-ropas. Und natrlich sind Flchtlinge hier materiell oft bessergestellt als in ihren Herkunftslndern. Doch will eine der reichs-ten Industrienationen der Erde ernsthaft den Lebensstandard inAfghanistan oder Eritrea als Vergleichsmastab fr ihre Sozial-politik heranziehen?

    Auch Bayern bietet keinall-inclusivemehr

    Im Juli 2012 hat das Bundesverfassungsgericht denn auch be-schlossen, dass dieser Zustand beendet werden muss. Exis-tenzminimum ist Existenzminimum, entschieden die Richter,

    ganz gleich, um wessen Existenz es geht.24Die Bundesregie-rung reagierte darauf genauso wie auf das Urteil zu den Hartz-IV-Stzen: mit Unwillen und dem Verschleppen der Umsetzung.Eine sozialrechtliche Gleichstellung von Flchtlingen steht des-wegen bis heute aus. Eine Umsetzung wird allerdings im Koali-tionsvertrag von Union und SPD angekndigt. bergangsweiseerhalten Flchtlinge heute bis zu 354 Euro im Monat mehr als

    frher, aber weiterhin weniger als Deutsche. Und noch immerknnen Asylsuchende und Geduldete nicht selbst entscheiden,was sie sich wo von ihrem Geld kaufen: Das zutiefst paternalisti-sche Sachleistungsprinzip wird in vielen Regionen weiter prak-tiziert: Statt Bargeld gibt es fr Flchtlinge Sozialleistungen inForm von Gutscheinen, die nur in bestimmten Geschften ein-gelst werden knnen. Wechselgeld bekommt man damit kei-

    nes, und Alkohol auch nicht. Immerhin hat nun auch Bayern alsletztes Bundesland auf jahrelange heftige Proteste und Streiksmit der Ankndigung reagiert, demnchst von der Versorgungmit Essenspaketen abzusehen.25

    23 Asylbewerberleistungsgesetz, Bundesministerium fr Justiz und Verbraucherschutz, unter: http://bit.ly/1gcGtk7. 24 Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18.7.2012, unter: http://bit.ly/N9bm1T. 25 Sd-

    deutsche Zeitung, 30.10.2013, unter: http://bit.ly/1gcGCnN.

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    DIE STEIGERUNG DER ASYLANTRGEIST ALARMIEREND.Der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU),

    15. August 201226

    Was ist dran?

    Es ist wahr: Die Anzahl der Asylantrge steigt seit einigen Jah-ren wieder. Dass wie im Jahr 2013 mehr als 100.000 Menschenin Deutschland Asyl beantragt haben, war zuletzt im Jahr 2011der Fall.Immer dann, wenn die neuen Statistiken des Nrnberger Bun-desamtes fr Migration und Flchtlinge bekannt gegeben wer-den, erinnert das Innenministerium daran, dass kein EU-Land inSachen Asyl mehr Lasten tragen msse als Deutschland. Allesandere wre fr den mit Abstand grten EU-Staat auch reich-lich blamabel.

    Schweden steht noch

    Grenbereinigt schneidet Deutschland im Vergleich mit ande-ren EU-Saaten aber bescheidener ab: Je eine Million Einwohner-Innen gab es in Deutschland im Jahr 2013 1.356 Asylantrge.Das ist im EU-Vergleich nicht wenig, aber auch nicht besondersviel. In Belgien, Dnemark oder Ungarn bewegten sich die Zah-len in der gleichen Grenordnung, Schweden hatte das Fnf-

    fache zu verzeichnen. ber einen Zusammenbruch des schwe-dischen Gemeinwesens ist bislang nichts bekannt.

    Wer wissen will, wie ein echter Flchtlingsnotstand aussieht,sollte sich im Nahen Osten umschauen. Bald drei MillionenSyrerInnen sitzen in Lagern rund um ihre Heimat fest. Allein derLibanon, der kleinste Nachbar Syriens, hat rund 880.000 Men-

    schen aufgenommen.27

    In der ganzen EU hingegen batenzwischen Oktober 2013 und September 2013 nur rund 40.500SyrerInnen um Asyl, davon 11.851 in Deutschland.

    26 Der Tagesspiegel, 15.8.2013, unter: http://bit.ly/1dTPYZc. 27 UNHCR: Syria Regional Refugee

    Response, unter: http://bit.ly/1jsBiUu.

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    Wenn die CSU nicht auf die Wirtschaft hrt

    Die Kommunen hierzulande sthnen trotzdem, weil sie nichtwissen, wohin mit den Ankmmlingen. Das haben sie sichgrtenteils selbst zuzuschreiben. 1992 beschlossen Union,SPD und FDP den sogenannten Asylkompromiss. Seitdem istein Asylantrag nur noch mglich, wenn der oder die Antragstel-lerIn nicht ber einen sicheren Drittstaat nach Deutschlandeingereist ist. Als solcher gelten alle Nachbarlnder das Asyl-recht wurde so erheblich eingeschrnkt. Viele Stdte glaubtendamals nur allzu gern, die Zeiten hoher Flchtlingszahlen sei-en ein fr alle Mal vorbei und schlossen ihre Asylunterknf-te. Nun heit es deshalb: kein Platz. Doch Fluchtbewegungenlassen sich nicht auf Dauer fernhalten. Menschen suchen nachWegen, Krieg und Elend zu entfliehen. Ein Teil von ihnen wirddeshalb hierherkommen. Fr sie ist es ein Notfall. Fr Deutsch-land nicht.

    Verteilung von Flchtlingen aus Syrien(Mai 2012Februar 2014)

    Quelle: eigene Darstellung unter Verwendung der Daten des UNHCR 2013

    Libanon g

    ypten

    Jordanie

    n

    Irak

    Trkei

    Deutsch

    land

    andere

    EU-Staaten

    1.000.000

    800.000

    600.000

    400.000

    200.000

    0

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    Und brigens:Dass Einwanderung kein Problem fr Deutsch-land ist, sehen auch WissenschaftlerInnen, Wirtschaftsverbn-de und konservative PolitikerInnen so. Schon die 2001 einge-setzte Sssmuth-Kommission zur Einwanderung pldiertedamals, mindestens 50.000 Menschen jhrlich nach Deutsch-land kommen zu lassen und diese Zahl dann schnell anzuhe-ben.28Das Bonner Institut zur Zukunft der Arbeit empfiehlt gar500.000 EinwanderInnen jhrlich ab 2015.29Und der DeutscheIndustrie- und Handelskammertag schaltete sich jngst in dieDebatte um Armutszuwanderung ein und lie seinen Ge-schftsfhrer erklren, die deutsche Wirtschaft brauche in dennchsten Jahren sogar 1,5 Millionen EinwanderInnen.30

    10

    SIE WOLLEN UNBERECHTIGT DAS ASYL-RECHT DER BUNDESREPUBLIK IN ANSPRUCHNEHMEN UND DISKREDITIEREN DAMIT []

    POLITISCH TATSCHLICH VERFOLGTE AUSDER GANZEN WELT.Der Innenminister Mecklenburg-Vorpommerns

    Lorenz Caffier (CDU), 16. Oktober 201231

    Was ist dran?

    Natrlich: Bei Weitem nicht alle, die in Deutschland Asyl su-

    chen, werden hier auch als politisch Verfolgte anerkannt.Gleichzeitig berichten die Medien immer wieder ber horren-de Preise, die manche Flchtlinge Schlepperbanden zahlen, umhierherzukommen. Beides zusammen befeuert ein verbreitetesVorurteil: Nach Europa kommt nur, wer es sich leisten kann und nicht, wer den Schutz wirklich ntig htte.

    Tatschlich wurde im Jahr 2013 in Deutschland ber etwa80.000 Asylantrge entschieden. Davon wurden rund 30.000ohne weitere Prfung abgelehnt, meist, weil die Flchtlinge

    28 Bundesministerium des Innern: Bericht der Unabhngigen Kommission Zuwanderung, 8.7.2004,unter: http://bit.ly/1gssS9f. 29 Hinte, Holger/Zimmermann, Klaus F.: Zehn-Punkte-Aktionsplan des IZA frgesteuerte Arbeitsmigration und bessere Integration, 2010, unter: http://bit.ly/1gmK9V7. 30 DeutscheIndustrie- und Handelskammer, 6.1.2004, unter: http://bit.ly/1oP5dnY. 31 Die Welt, 16.10.2012, unter:

    http://bit.ly/1lZbuAt.

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    ber andere EU-Staaten eingereist waren. Bei den brigen50.000 Antrgen wurde die Schutzbedrftigkeit von etwa20.000 Asylsuchenden anerkannt.

    Bitte recht diskret

    Konservative PolitikerInnen verweisen hufig auf solche Statis-tiken, um zu belegen, wie viele sogenannte Missbrauchsver-suche es gebe. Doch die hohen Ablehnungszahlen bedeutenkeineswegs, dass die brigen Menschen nicht verfolgt wurdenoder gar in betrgerischer Absicht nach Deutschland gekom-men wren. Denn vielen Flchtlingen, die sehr wohl Bedrohun-gen und Gewalt erlitten haben, wird die Anerkennung trotzdemverweigert.

    Entscheidungen in Asylverfahren

    in Deutschland 2013

    Quelle: Bundesamt fr Migration undFlchtlinge: Aktuelle Zahlen zu Asyl,Februar 2014,unter: http://gleft.de/wM.

    Der Grund hierfr ist das teils sehr restriktive Asylrecht. Men-

    schen aus Krisenregionen beispielsweise werden oft auf eineinnerstaatliche Fluchtalternativeverwiesen: Die Flchtlingesollen zurck in ihre Heimat, auch wenn dort ein Brgerkriegherrscht, und sich in einen ruhigen Teil des Landes flchten.Schwulen und Lesben aus Lndern, in denen Homosexuali-tt bestraft wird, haben die deutschen Behrden bis vor Kur-zem geraten, zurckzugehen und ihre Homosexualitt zu ver-

    stecken.32

    Auch eine drohende Verfolgungwird oft nicht als

    919 Personen(1,1 %)

    Anerkennung derAsylberechtigung frpolitisch Verfolgtenach Art. 16a

    Grundgesetz.

    9.996 Personen(12,4 %)

    Anerkennung nachGenfer Flchtlings-konvention von 1951wegen Abschiebungs-

    hindernissen

    9.213 Personen(11,4 %)

    Subsidirer Schutz.Status wird zwarnicht anerkannt, siedrfen aber aufgrund

    schwerwiegenderGefahr im Heimatlandzeitweilig nicht ab-geschoben werden,erhalten also einezeitlich begrenzteDuldung.

    60.850 Personen(75,1 %)

    Ablehnungen. Inrund 30.000 Fllenwegen Ablehnung derZustndigkeit gem

    Dublin-Verordnung.

    ABLEHNUNG

    ANERKENNUNG ZEITLICHBEGRENZT

    ANERKENNUNG

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    Asylgrund anerkannt die Gerichte argumentieren, dass erstdie tatschlich erlittene Verfolgung einen Asylgrund darstelle.Wer angibt, vor Verbrecherbanden, Hungersnten oder Um-weltkatastrophengeflohen zu sein, hat ebenfalls keine Chance.Foltergilt zwar als Asylgrund, strittig ist jedoch, ab wann vonFolter gesprochen werden muss. Vor dem Brgerkrieg schobDeutschland beispielsweise Angehrige der yezidischen Min-derheit in groer Zahl nach Syrien ab, obwohl bekannt war, dasssie dort im Gefngnis mit Elektroschocks und Schlgen miss-handelt wurden.33

    11

    DIE RESIDENZPFLICHT SICHERTDIE ERREICHBARKEIT DER ASYLBEWERBERFR DIE BEHRDEN.Der Innenminister Bayerns Joachim Herrmann (CSU),

    23. August 201334

    Was ist dran?

    Nirgendwo in Europa gibt es ein vergleichbares Gesetz: Rum-liche Beschrnkung des Aufenthalts heit die Bestimmung,offiziell besser bekannt ist sie unter dem Namen Residenz-pflicht.Gemeint ist: Wer als Asylsuchender nach Deutschlandkommt, darf nicht ohne Weiteres im Land umherreisen. Es geht

    bei dieser Beschrnkung der Grundrechte aber nicht nur dar-um, den Wohnsitz nicht frei whlen zu knnen: Ob Klassenaus-flge, Besuche bei Freunden oder Verwandten, sogar Arzt- oderBehrdentermine in anderen Stdten all dies drfen Asylsu-chende und Geduldete nur mit einer schriftlichen Ausnahme-genehmigung. Diese war lange gebhrenpflichtig. Nach wievor liegt es im Ermessenspielraum der SachbearbeiterInnen, ob

    sie erteilt wird. Wer gegen diese Bestimmung verstt, mussmit Geldbuen rechnen, im Wiederholungsfall droht Gefngnis.Der Kameruner Felix Otto hlt den Rekord: Er wurde 2009 inThringen zu einem Jahr Haft verurteilt.35

    32 Taz, 28.3.2012, unter: www.taz.de/!90492/. 33 Taz, 4.7.2010, unter: www.taz.de/!55106/. 34 Mittel-bayerische Zeitung, 23.8.2013, unter: http://bit.ly/1fV5FBz. 35 The Voice, 25.8.2009, unter: http://the-

    voiceforum.org/node/1372.

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    Bewhrt in der Kolonial- und NS-Zeit

    Die Idee ist nicht neu. Schon die deutschen Kolonialherren, et-wa in Togo, teilten ihre Gebiete in Distrikte ein und verbotenden BewohnerInnen, einfach so zwischen ihnen herumzurei-sen. Das war praktisch, denn unerlaubtes Fernbleiben von derZwangsarbeit wurde dadurch erschwert. Auch in der NS-Aus-lnderpolizeiverordnung von 1938 steht, dass Aufenthaltsge-nehmigungen fr Auslnder rumlich beschrnkt werdenknnen:36Die Vorstellung, alle Fremden knnten sich imReich umherbewegen, wie es ihnen passt, war dem Regimesuspekt.

    Begrndet wird heute freilich aufgeklrt-funktional: Asylsu-chende sollen fr die Behrden erreichbar sein, schlielich be-ziehen sie Leistungen und mssen daran mitwirken, ihr Ver-fahren voranzutreiben. Auch viele Deutsche mssen fr dieBehrden erreichbar sein bei ihnen gengt allerdings eineladungsfhige Adresse. Dass man bei weit ber 100.000 Aus-lnderInnen andere Mastbe anlegt, kann deshalb nur einen

    Grund haben: Man will sie hier eigentlich nicht haben und dassollen sie auch merken.

    Doch die Residenzpflicht dient nicht nur der Schikane. Ih-re Durchsetzung wird zugleich als einer der Hauptgrnde frdie Kontrollen dunkelhutiger Menschen, etwa auf Bahnhfenoder ffentlichen Pltzen, genannt. Dem Bild des kriminellen

    Auslnders wird legislativ der Boden bereitet, die Polizeipra-xis sorgt fr seine Verfestigung. Denn tatschlich kommen beidiesen racial profilinggenannten Kontrollen immer wieder Ver-ste zutage. Diese flieen in die Statistik ein und belegen soeine erhhte Auslnderkriminalitt,37auch wenn sie mittlerwei-le als auslnderspezifische Straftaten ausgewiesen werden.

    Jahrelange Proteste haben bewirkt, dass sich Flchtlinge inder Regel nun zumindest frei innerhalb eines Bundeslands be-wegen knnen. Die Groe Koalition hat angekndigt, dass frkurze Abwesenheiten vom Wohnort keine Genehmigung mehrntig sein soll. Die Flchtlinge mssen sich bei der Auslnder-

    36 Staatsarchiv Sigmaringen, unter: http://bit.ly/PwgZcC. 37 Bundeskriminalamt: Polizeiliche Kriminal-

    statistik 2012, unter: http://bit.ly/N9bIWn.

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    behrde nur noch abmelden. Wollen sie lnger als eine Wochedas Bundesland, in dem sie gemeldet sind, verlassen bedarf esaber auch in Zukunft einer Genehmigung.38

    Der Schikane-Kompromiss

    Die Residenzpflicht ist aber nicht das einzige diskriminierendeGesetz in Deutschland. Der Asylkompromiss von 1993 sah vor,dass Asylsuchende nicht in Wohnungen, sondern in Sammel-unterknften leben sollen. Wer schon einmal ein Flchtlings-lager von innen gesehen hat, knnte denken, es ginge darum,Geld zu sparen. Wenn das so wre, wrden sich die Kommunenaber nicht mit Hnden und Fen dagegen wehren, die ent-sprechenden Vertrge offenzulegen. Die Details, die dennochbekannt werden, zeigen: Die Pltze in den Lagern sind keines-wegs automatisch billiger als ein Mietzuschuss.

    Der Staat profitiert von den Sammelunterknften, in denenbis zu fnf einander fremde Erwachsene in einem Zimmer le-ben mssen, auf andere Weise. Die Isolation und die Unterdr-

    ckung sozialer Beziehungen sind ein Instrument der Asylpolitik.Die Lager sind immer auch ein Ghetto. Sie stigmatisieren dieBewohner. Diese staatlich erzwungenen Parallelgesellschaf-ten sind Teil eines Programms der bewussten Anti-Integration.Das gab es bis vor Kurzem sogar schriftlich: Sammellager sol-len die Bereitschaft zur Rckkehr in das Heimatland frdern,hie es im bayerischen Asylrecht.39Erst nach jahrzehntelangen

    und massiven Protesten wurde dieser Halbsatz im Jahr 2013gestrichen.

    Sozialer Ausschluss ist auch deshalb ein Ziel der Lagerunter-bringung, weil sie Abschiebungen erleichtert. Denn KollegIn-nen, NachbarInnen oder FreundInnen aus dem Sportverein oderder Kirchengemeinde knnten eine Stimme sein, die protestiert,

    wenn die Abschiebung ansteht: Sie knnten rztliche Gutachtenbesorgen, AnwltInnen einschalten oder die ffentlichkeit infor-mieren. Jedes Mal, wenn sich Flchtlinge Zugang zum sozialenLeben im Land verschaffen und dadurch sichtbar werden, wirdes fr den Staat schwieriger, sie spter wieder loszuwerden.

    38 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 27.11.2013, unter: www.cdu.de/koalitionsvertrag.

    39 Zitiert nach: Flchtlingsrat Bayern: Lagerpflicht, unter: http://bit.ly/1lZbJvd.

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    Banden, Dealer und Betrger

    Aus dem gleichen Grund ist es erwerbsfhigen Asylsuchendenund Geduldeten auch verboten zu arbeiten. Zwar ist diese seitLangem bestehende Regelung nach einer Intervention der EUbei Asylsuchenden auf drei Monate begrenzt worden, erhal-ten blieb aber der sogenannte Nachrangigkeitsvorbehalt:Nurwenn Deutsche die Stelle nicht wollen, drfen Asylsuchendesie annehmen. Vor allem in Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeitbleibt ihnen der Arbeitsmarkt damit zuverlssig verschlossen.

    Wer aber nicht arbeiten darf, der wird in informelle und illega-le Beschftigung gedrngt. So fhren polizeiliche Kontrollenin diesem Bereich ganz regelmig zu hheren Trefferquotenbei Nicht-Deutschen. Auch dies schrt das Bild des kriminel-len Auslnders und verstrkt Forderungen nach noch mehrKontrollen.

    Die rumliche und die konomische Isolation der Flchtlingefrdert die stereotype Wahrnehmung durch den Rest der Ge-

    sellschaft: als Scheinasylanten und Asylbetrger, als liba-nesische Banden oder als schwarzafrikanische Dealer. Wersolche aus dem Land entfernt, kann sich der Zustimmung derffentlichkeit sicher sein. Dass Arbeitslosigkeit und das Lebenin den berfllten Lagern die Flchtlinge zermrben, nimmt derStaat ebenso hin wie die Tatsache, dass die Lager eine bevor-zugte Zielscheibe von Neonazis sind.

    Und brigens:Es ist eine Ironie der Geschichte, dass nun aus-gerechnet in Stdten wie Berlin, das schon vor einigen Jahrendie Regel der zentralen Unterbringung abschaffen wollte, Nazismit Protesten gegen Flchtlingslager punkten knnen. Eigent-lich drfen Flchtlinge, dank einer kommunalen Sonderrege-lung, hier durchaus in Wohnungen ziehen. Doch der Rckzug

    des Staats aus dem sozialen Wohnungsbau hat das Niedrig-preissegment immer weiter ausgednnt. Und dort, wo Asylsu-chende sich eine Wohnung zur Miete auf Hartz-IV-Niveau su-chen drfen, konkurrieren sie mit den anderen BewerberInnenum den viel zu knappen Wohnraum.

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    DIE GEDULDETEN HABEN KEINERLEIBLEIBEPERSPEKTIVE IM LAND, IM GEGENTEIL:DIESE AUSLNDER SIND VOLLZIEHBAR

    AUSREISEPFLICHTIG.Der damalige Innenminister Niedersachsens

    Uwe Schnemann (CDU), 11. Mai 200740

    Was ist dran?

    Wer keinen deutschen Pass hat, aber hier leben will, brauchteinen Aufenthaltstitel. Das ist eine Erlaubnis, im Land zu sein.Davon gibt es verschiedene Sorten, zum Beispiel die (unbe-fristete) Niederlassungserlaubnis, die Aufenthaltsgestattungfr Asylsuchende oder ein Studienvisum. Auch Asylsuchendebekommen einen Aufenthaltstitel, solange ihr Antrag geprftwird und natrlich auch, wenn sie anerkannt werden. Wer kei-ne solche Erlaubnis hat, hlt sich illegal im Land auf.Die Grundlagen fr den Aufenthaltstitel knnen wegfallen. Das

    kann zum Beispiel geschehen, wenn die Ehe zwischen einemDeutschen und einer Auslnderin geschieden wird, wenn einauslndischer Student sein Studium abbricht oder beendetoder wenn ein Asylantrag abgelehnt wurde. Wer dann trotzdemnicht ausreist, kann festgenommen und von der Polizei abge-schoben werden.

    Das geht aber nicht immer. Abschiebungshindernisse sind imWesentlichen: Die Person sagt aus Angst vor einer Abschiebung nicht, wo-

    her sie kommt; die Person hat keinen Pass, weil er verloren ist oder ihre Bot-

    schaft ihr keinen Pass ausstellt etwa, weil es sich um Oppo-sitionelle handelt;

    die Person ist staatenlos; in ihrem Land herrscht Krieg, es gibt deshalb keine Flge dort-

    hin oder die Person ist so krank, dass eine Abschiebung zu ge-

    fhrlich wre.

    40 Niederschsisches Ministerium fr Inneres, 11.5.2007, unter: http://bit.ly/1cTP80w.

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    In solchen Fllen wird oft dennoch kein Aufenthaltstitel erteilt,es handelt sich aber auch nicht um einen illegalen Aufenthalt.Eine solche Person bekommt eine sogenannte Duldung. Dasist ein Papier, in dem steht, dass sie verpflichtet ist, Deutsch-land zu verlassen. Die Duldung ist dazu gedacht, den eigentlichnicht erlaubten Aufenthalt vorbergehend zu regeln, bis eineAbschiebung wieder mglich wird.

    Ein Leben wie im glsernen Kfig

    Doch das dauert manchmal Jahre oder geschieht nie. In sol-chen Fllen spricht man von Kettenduldungen: Der Staatverlngert die Duldung immer und immer wieder, teils berJahrzehnte. Betroffene beschreiben ihr Leben als eines imglsernen Kfig mitten im Land, aber wie durch einen un-sichtbaren Vorhang komplett von der Gesellschaft abgeschnit-ten. Zu reisen, zu arbeiten oder zu studieren ist ihnen verboten.Sie mssen oft im Lager leben, bekommen reduzierte Sozial-leistungen, es gibt keinerlei gesellschaftliche Teilhabe. Stndigmssen sie damit rechnen, doch irgendwann abgeschoben zu

    werden. Eine Perspektive haben sie nicht. Die psychosozialenFolgen sind gravierend, chronische psychische und physischeErkrankungen extrem hufig. Kinder, die zwar in Deutschlandgeboren wurden, hier aber nur geduldet werden, knnen auchnach Jahren in Lnder abgeschoben werden, in denen sie niewaren und deren Sprache sie nicht sprechen.

    Schikanieren bis zum SchlussDerzeit leben in Deutschland etwa 35.000 Menschen seit sechsJahren oder lnger mit einer solchen Kettenduldung. Normaler-weise msste ihnen der Staat sptestens nach sechs Monaten ei-ne Aufenthaltserlaubnis erteilen. Es handelt sich unter anderemum KurdInnen aus der Trkei, Roma aus dem Kosovo, Tschetsche-nInnen oder IrakerInnen. Die Auslnderbehrden hoffen aber,

    durch die konsequente Verweigerung einer Aufenthaltserlaubnisden Menschen das Leben so schwer zu machen, dass sie irgend-wann von allein verschwinden. Das bercksichtigt aber nicht,dass viele dieser Menschen nirgendwo anders hinknnen. SeitJahrzehnten kmpfen Initiativen von langjhrig Geduldeten fr einBleiberecht, damit sich diese Menschen in Deutschland ein neuesLeben aufbauen knnen. Dazu haben sie jedes Jahr bei den Kon-

    ferenzen der Landesinnenminister protestiert. Doch vor allem die

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    unionsregierten Bundeslnder verhinderten immer wieder einenKonsens hinsichtlich einer umfassenden Bleiberechtsregelung.

    Und brigens: Die neue Bundesregierung hat jetzt in ihrem Koa-litionsvertrag einen Kurswechsel angekndigt. Langjhrig Gedul-dete, die ihren Lebensunterhalt selbst verdienen knnen, sollenein Aufenthaltsrecht bekommen. Die Behrden drften aber vorallem solchen AuslnderInnen das Bleiberecht verweigern, die inder Vergangenheit mangelhaft an der Vorbereitung ihrer eige-nen Abschiebung mitgewirkt haben.

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    WER BETRGT, DER FLIEGT.Positionspapier der CSU zur Zuwanderung von Roma

    aus dem Balkan, Januar 201441

    Was ist dran?

    2009 hob die EU die Visumpflicht fr BrgerInnen aus Serbi-en und Mazedonien auf. Seitdem knnen sie in das Schengen-Gebiet einreisen ein Pass gengt. In den folgenden Jahrenstiegen in Deutschland die Zahlen von Asylantrgen aus die-sen beiden Lndern stark an. 2012 waren es 13.000, 2013 dann18.000. Gestellt haben diese Antrge vor allem Roma.

    Die Roma sind Europas grte Minderheit, die meisten von ih-nen leben in Osteuropa. Sie gehren zu den am strksten aus-gegrenzten Gruppen in Europa, wie der Europarat erst krzlichbetonte: Sie sind alltglichen Diskriminierung und rassisti-schen bergriffen ausgesetzt, leben in extremer Armut. Dinge,die andere Menschen fr selbstverstndlich halten, werden ih-nen verweigert: Schul- oder Arztbesuch, Arbeit, angemessener

    Wohnraum.42Die Roma leiden nicht nur unter der systemati-schen Ausgrenzung aus allen Bereichen der Gesellschaft, son-dern auch unter offener Feindseligkeit bis hin zu tdlichen, bis-weilen pogromartigen Angriffen.

    41 Sddeutsche Zeitung, 28.12.2013, unter: http://bit.ly/1df4BoV. 42 Europarat: Making Human Rights

    for Roma a Reality, unter: http://hub.coe.int/web/coe-portal/roma.

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    Trotzdem gelten sie in Deutschland nicht als schutzbedrf-tig, was Roma-Verbnde und Menschenrechtsorganisationenscharf kritisieren. Sie erinnern dabei auch an die deutsche Ge-schichte: Die Nazis brachten rund eine halbe Million Sinti undRoma um. Folgen fr den heutigen Umgang mit der Volksgrup-pe hat das kaum: Die Anerkennungsquote fr Menschen ausSerbien und Mazedonien lag praktisch bei Null.

    Solange ihr Antrag geprft wird meist dauert das einige Mo-nate haben Roma, wie alle anderen AntragsstellerInnen auch,Anspruch auf Sozialleistungen (siehe Punkt 8). Nach der Ableh-nung mssen sie ausreisen oder werden abgeschoben. Ein Teilbleibt auch illegal im Land und versucht, sich ohne staatlicheHilfe ber Wasser zu halten.

    Einsperren auf Verdacht

    Vor allem von der CDU werden Roma des Asylmissbrauchsbeschuldigt. Konservative InnenpolitikerInnen haben in der letz-ten Zeit eine Reihe von Vorschlgen vorgelegt, um Roma das

    Stellen von Asylantrgen zu erschweren. Im Gesprch warenAsyl-Schnellverfahren innerhalb von 48 Stunden, abgesenk-te Barleistungen (obwohl in vielen Landkreisen ohnehin nurein geringer Teil der Sozialleistungen bar ausgezahlt wird) unddie Klassifizierung von Serbien und Mazedonien als sogenanntesichere Herkunftsstaaten. Dabei handelt es sich um Lnder,in denen definitionsgem keine Verfolgung stattfindet. Asyl-

    antrge von BrgerInnen aus diesen Lndern werden deshalbgar nicht erst geprft. Bislang stehen auf dieser Liste nur dieEU-Staaten, Norwegen, die Schweiz sowie Ghana und Sene-gal. Letzteres will die Groe Koalition nun umsetzen, die bri-gen Vorschlge waren reiner Populismus, weil sie mit gelten-dem Recht nicht vereinbar sind.

    Zustzlich aber drohte der ehemalige Innenminister Friedrichder serbischen und mazedonischen Regierung: Sollte diesenichts gegen die nach Deutschland einreisenden Asylsuchen-den unternehmen, wrde Deutschland dafr sorgen, dass dieEU-Visafreiheit fr die beiden Lnder wieder aufgehoben wird.Die Furcht hiervor sitzt tief in den Balkanstaaten, die nicht aufeinen baldigen EU-Beitritt hoffen knnen, die Reisefreiheit hat

    hier hohen Stellenwert. Serbien und Mazedonien haben des-

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    halb Gesetze erlassen, die es ermglichen, bei Verdacht auf Er-schleichung von Sozialleistungen im Ausland die Ausreise zuverweigern. Gemeint ist ein Asylantrag, etwa in Deutschland.In der Praxis wird dies von den serbischen und mazedonischenGrenzbeamtInnen so umgesetzt, dass Menschen, die arm aus-sehen, bei der Ausreise aufgehalten werden. Bei diesem Vor-gehen handelt es sich umracial profiling es basiert allein aufrassistischen Zuschreibungen und bloem Verdacht. Und esrichtet sich fast ausschlielich gegen Roma.

    Armenstempel im Pass

    Wer aus Deutschland abgeschoben wird, bekommt in Serbi-en und Mazedonien sogar einen Vermerk in den Pass, was ei-ne erneute Ausreise unmglich macht. 25 Jahre nach dem Falldes Eisernen Vorhangs gehen Staaten im Osten Europas wiederdazu ber, ihre eigenen BrgerInnen einzusperren auf DruckBerlins.

    Doch nicht nur die Einwanderung von Roma aus dem EU-

    Ausland erregt die Gemter. Seit dem 1. Januar 2014 gilt auchfr die BrgerInnen der neuen EU-Mitglieder Rumnien undBulgarien die volle Freizgigkeit. Seitdem haben sie wie al-le anderen EU-BrgerInnen das Recht, in allen EU-Staateneine Arbeit zu suchen und zu arbeiten. Eine Arbeitserlaubnisist nicht mehr ntig. Weil Rumnien und Bulgarien die rms-ten Lnder der EU sind, mussten sie bei ihrem Beitritt zur EU

    im Jahr 2007 eine siebenjhrige bergangsfrist akzeptieren,die die Freizgigkeit einschrnkt. Nun ist die bergangsfristvorbei, und prompt hetzten konservative PolitikerInnen gegenEinwanderung aus diesen Lndern. Von Sozialtourismusund fortgesetztem Missbrauch der europischen Freizgig-keit durch Armutszuwanderung ist die Rede. Belege fr denmassenhaften Missbrauch von Sozialleistungen aber gibt es

    keine.

    Keine Arbeit, keine Sozialleistungen

    EU-BrgerInnen, die nicht arbeiten, knnen Sozialleistungennur da in Anspruch nehmen, wo sie ihren gewhnlichen Auf-enthalt haben. Zur Arbeitssuche drfen sie drei Monate in derBundesrepublik leben. In dieser Zeit haben sie keine Ansprche

    auf Sozialleistungen. Wer lnger als drei Monate bleiben will,

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    muss entweder erwerbsttig sein oder ber ausreichende fi-nanzielle Mittel verfgen und eine Krankenversicherung haben.

    Einen Sozialleistungsanspruch erwerben EU-AuslnderInnen inDeutschland nur, wenn sie erwerbsttig sind und Sozialabga-ben zahlen. Nach einem Jahr Beschftigung besteht ein sechs-monatiger Anspruch auf Arbeitslosengeld I. Bei Bedarf folgenim Anschluss Hartz-IV-Leistungen. Geringfgig Beschftigteoder Selbststndige mit geringen Einkommen knnen eine Auf-stockung ihres Einkommens erhalten.

    Ein Anspruch auf Kindergeld besteht nach einer gewissen Zeitauch bei Selbststndigen, unabhngig von ihren Einknften.Das Kindergeld wird auch fr Kinder gezahlt, die nicht hier le-ben. Vielen Roma-Familien wird unterstellt, sich in Deutsch-land nur deshalb als selbststndig zu melden, um das Kinder-geld zu kassieren. Tatschlich erhielten im Juni 2013 insgesamt32.579 BulgarInnen und RumnInnen Kindergeld. Etwa elf Pro-zent der gemeldeten Kinder lebten nicht in Deutschland. Diese

    Quote ist gering im Vergleich zu anderen AuslnderInnen.

    Insgesamt sind etwa 170.000 Menschen aus Rumnien undBulgarien in Deutschland beschftigt. Die groe Mehrheit sindFachkrfte wie rztInnen, PflegerInnen oder IngenieurInnen.Weil es sich dabei um sogenannte Mangelberufe handelt, durf-ten sie auch vor Ablauf der Sperrfrist einwandern. Die einge-

    wanderten RumnInnen und BulgarInnen zahlen insgesamtmehr in die deutschen Sozialsysteme ein, als sie herausbekom-men.

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    VIER VORSCHLGE FR EINEHUMANE MIGRATIONSPOLITIK

    EINEN HUMANITREN KORRIDOR FFNENDer Hauptgrund dafr, dass seit den 1990er Jahren ber20.000 Menschen auf dem Weg in die EU gestorben sind, ist,dass es keinen legalen Weg gibt, in die EU einzureisenn, um ei-nen Asylantrag zu stellen.

    Nach dem Schiffsunglck vor der italienischen Insel Lampedu-sa im Oktober 2013 haben Brgerrechtsorganisationen rundum das italienische Netzwerk Melting Pot Europe deshalbeinen Aufruf gestartet. Sie fordern einen humanitren Korri-dor fr Flchtlinge. Ihr Vorschlag: Die EU soll Kriegsflcht-lingen ermglichen, direkt bei den europischen Institutionenin Libyen, gypten, Syrien oder wo immer es ntig ist (in denKonsulaten oder anderen EU-Bros) ihren Asylwunsch vor-zubringen. Dort soll ihnen die gefahrlose Einreise in die EU er-

    mglicht werden.

    Dies wrde vor allem Menschen aus Krisenstaaten wie Afgha-nistan, Somalia, Syrien oder Eritrea helfen. Wenn sie es erstmal nach Europa schaffen, haben ihre Asylantrge durchausErfolgsaussichten. Wrde die EU ihnen einen legalen Zugangermglichen, bliebe ihnen die Risiken gefhrlicher Fluchtrouten

    in Zukunft erspart.

    Aussichten auf Umsetzung?Drftig. In Sachen Migration hat die EU in den letzten Jahrzehn-ten eine klare Linie der Abwehr von Flchtlingen verfolgt.

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    EINEN GERECHTEN VERTEILUNGSSCHLSSELEINFHREN

    Das Dublin-System (siehe Punkt 2) belastet die Staaten an densdlichen EU-Auengrenzen extrem. Sie mssen sich um denGroteil der Asylsuchenden kmmern.

    Fr eine Reform dieses Systems gibt es im Wesentlichen zweiVorschlge. Beiden liegt die Idee zugrunde, dass nicht die Staa-ten an den EU-Auengrenzen dafr bestraft werden, Einreisenvon Flchtlingen nicht verhindert zu haben, sondern alle Staa-ten sich gem ihrer Leistungsfhigkeit an der Versorgung be-teiligen. hnlich dem deutschen Knigsteiner Schlssel soll einVerteilungsschlssel fr Flchtlinge auf EU-Ebene eingefhrtwerden. Bevlkerungszahl und Bruttoinlandsprodukt werdenbei diesem Modell im Verhltnis 1 : 2 gewichtet. Deutschlandmsste so etwa jeden fnften Flchtling aufnehmen. Vor allemLnder wie Griechenland, Zypern und Malta wrden dadurchentlastet, Staaten wie Grobritannien oder die Niederlandemssten dagegen mehr Asylsuchende aufnehmen.

    In der Variante, die von einigen EU-ParlamentarierInnen be-vorzugt wird, werden die Flchtlinge nach dieser Quote beralle EU-Staaten verteilt. Sprachkenntnisse beziehungsweisefreundschaftliche oder familire Verbindungen in bestimmteLnder sollen bei der Verteilung bercksichtigt werden. Beson-ders beliebte Lnder knnten dann per Umverteilung mit Aus-

    gleichszahlungen von den Lndern entschdigt werden, in dieweniger Flchtlinge kommen, als sie aufnehmen mssten.

    In einer weiter gehenden Variante, wie sie etwa von Pro Asyl ge-fordert wird, knnten Flchtlinge das Aufnahmeland innerhalbder EU frei whlen. Auch hier wrden besonders beliebte Ln-der per Umverteilung mit Ausgleichszahlungen von den Ln-

    dern entschdigt werden, in die weniger Flchtlinge kommen.

    Von solchen Reformen wrden jhrlich Zehntausende profitie-ren. Ihnen bliebe die Internierung in Gefngnissen erspart, siedrften aus Sd- und Osteuropa in andere Lnder der EU wei-terreisen. Die armen EU-Staaten im Sden wrden stark entlas-tet. In der Krise werden Asylsuchende dort von Rechtsradikalen

    bevorzugt als Sndenbock verfolgt oft genug mit Gewalt.

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    Allerdings wre mit einer solchen neuen Verteilungsregelungdas Problem der unterschiedlichen Standards in den Lndernder EU noch nicht gelst. Bis dahin sollten Lnder mit niedrigenSchutzstandards von der Verteilung ausgenommen werden,um sicherzugehen, dass in der EU alle ihr Recht auf Asyl wahr-nehmen knnen.

    Aussichten auf Umsetzung?Schlecht. So, wie es ist, ist es fr die groen, zentraleuropi-schen Lnder sehr komfortabel. Whrend der fnfjhrigen Ver-handlungen zum neuen europischen Asylpaket CEAS habensie kategorisch jede echte Reform der Dublin-Richtlinie blo-ckiert. Die wirtschaftlich abhngigen Krisenstaaten im Sdenhaben sich darber stets laut, aber erfolglos beschwert.

    ARBEITSMIGRATION MGLICH MACHENNicht alle, die mit Schlepperbooten nach Europa kommen,mssten Flchtlinge sein. Und nicht alle wollen Asyl. Viele kom-

    men nach Europa, weil sie ihr Leben selbst in die Hand nehmenwollen, Plne und Trume haben. Als nach dem ArabischenFrhling Tausende junge TunesierInnen die neue Freiheit nutz-ten und mit dem Boot nach Italien bersetzten, flohen sie nichtvor Repression. Sie suchten Arbeit. Gleichwohl ertranken Hun-derte von ihnen. Denn seit dem Anwerbestopp fr Gastarbeite-rInnen in den 1970er Jahren ist eine legale Arbeitsmigration in

    die EU kaum noch mglich. Trotzdem reisen viele ein irregulr.Ihr Weg ist gefhrlich, ihre Lage prekr. Vor allem in Sdeuro-pa wird die Rechtlosigkeit Schutzsuchender von ganzen Wirt-schaftszweigen ausgenutzt.

    Doch die EU und Deutschland brauchen Einwanderung. Undwarum sollte es nur einen einzigen legalen Grund fr Einwande-

    rung geben? Der Migrationsforscher Klaus Bade zum Beispielwill nicht einsehen, wieso jeder Ankommende gefragt wird, ober politisch verfolgt ist, und nur dann knnen wir darber nach-denken, ob er bleiben darf.43Europa msse Wege finden, dasPotenzial derjenigen, die kommen, aufzufangen. Man sollte

    43 Taz, 8.10.2003, unter: www.taz.de/!125117/.

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    endlich dazu kommen, die Grenze zwischen Flucht und Arbeits-migration flieend zu machen.

    Vorschlge dazu, den europischen Arbeitsmarkt fr Kontin-gente von Arbeitsuchenden auch aus afrikanischen Lndern zuffnen, gab es immer wieder, auch aus Regierungskreisen. DenAufschlag machten 2006 die konservativen damaligen Innen-minister Frankreichs und Deutschlands, Nicolas Sarkozy undWolfgang Schuble. Sie propagierten die zirkulre Migration:Arbeitsuchende sollen drei bis fnf Jahre zum Arbeiten nachEuropa kommen drfen und dann wieder in ihre Herkunftsln-der zurckkehren, um die dortige Entwicklung mit ihren neu er-worbenen Kompetenzen voranzubringen deshalb zirkulr.Das Zauberwort lautet triple win die ArbeitsmigrantInnen, ihreHerkunfts- und die Ziellnder, alle drei sollen profitieren.

    Mit ihren neuen Kompetenzen sollen die MigrantInnen zur Ent-wicklung ihrer Herkunftslnder beitragen. Oft wandern Berufs-gruppen mit stark nachgefragten Qualifikationen wie Lehrer

    oder Pflegekrfte aus, fr die betroffenen Lnder ist das ein Pro-blem. Deshalb sollten nun auch nicht hochqualifizierte Arbeit-suchende kommen drfen, eine Ausbildung machen, Geld ver-dienen und Erfahrungen sammeln.

    Der Sachverstndigenrat Migration, ein Zusammenschluss ver-schiedener Stiftungen, empfiehlt fr Deutschland ein Pilotpro-

    gramm fr zirkulre Migration im Gesundheitsbereich, im Tou-rismus, in der metallverarbeitenden und in der Autoindustrie.Als Partnerlnder kmen etwa die Maghreb-Staaten und gyp-ten oder die GUS-Nachfolgestaaten infrage.

    Um Familien nicht zu trennen, mssten die temporren Aufent-haltserlaubnisse auch fr Familienmitglieder gelten. Wenige

    Jahre reichen nicht fr eine Rentenanwartschaft nach einerAusreise verfallen also gezahlte Sozialversicherungsbeitrge.Ein Ausgleich wre ntig. Zudem sollte auch ein langfristigesBleiberecht mglich sein. Denn die Erfahrungen mit den Gast-arbeiterInnen zeigen, dass MigrantInnen nach Jahren oft blei-ben wollen.

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    MEHR AUFNAHMEPLTZE SCHAFFENHunderttausende Menschen sind in Flchtlingslagern in Ent-wicklungslndern wie Kenia oder Thailand gestrandet. Dortleben sie zum Teil schon in dritter Generation kaserniert. Diemeisten von ihnen sind auf Spenden von Hilfsorganisationenangewiesen. Der Weg zurck in ihre Heimat ist ihnen versperrt;um auf eigene Faust in eine sichere Region der Erde zu reisen,fehlen ihnen die Mittel. Die Lnder, in denen sich diese Auf-fanglager befinden, verweigern den Flchtlingen in der Regel

    jede wirtschaftliche und soziale Teilhabe. Um diesen beson-ders schutzbedrftigen Menschen zu helfen, betreibt das UN-Flchtlingswerk ein sogenanntes Resettlement-Programm zurUmsiedlung in aufnahmebereite Lnder.

    Derzeit stehen weltweit etwa 690.000 Flchtlinge auf den War-telisten des UNHCR. Sie werden nach Dringlichkeit priorisiert,

    jedes Jahr wird versucht, fr einen Teil von ihnen eine Ausreise-mglichkeit zu finden. Doch die Anzahl der Pltze, die die rei-chen Lnder anbieten, reicht hinten und vorne nicht.

    Deutschland ist, was Resettlement angeht, ganz besondersgeizig. Es hat zuletzt etwa 300 Pltze pro Jahr eingerichtet, dassind knapp vier je eine Million EinwohnerInnen. Im Vergleich:Schweden nahm in den letzten Jahren 140 sogenannte Kon-tingentflchtlinge, die USA nahmen gar rund 170 je eine Mil-lion EinwohnerInnen auf. Wenn sich die Industriestaaten an

    diesen Lndern ein Beispiel nehmen und Pltze in einer Gr-enordnung von 150 je eine Million EinwohnerInnen einrichtenwrden, knnte der UNHCR alle als besonders dringend ein-gestuften Flle unterbringen. In etwa sieben Jahren wre dieWarteliste komplett abgeschmolzen. Deutschland msste in ei-nem solchen Szenario jedes Jahr 12.000 Pltze zur Verfgungstellen. Das wre nur ein Bruchteil dessen, was Migrations- und

    WirtschaftsforscherInnen als notwendige Einwanderung for-dern. Diese Pltze kmen denen zugute, die es am allerntigs-ten haben, und wren ein wichtiges Signal an andere Staatenin der EU.

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    GLOSSAR

    Asylkompromiss:von CDU/CSU, SPD und FDP 1992 beschlosse-ne nderung des Grundgesetzes, nach der ein Asylantrag nicht mehrmglich ist, wenn Asylsuchende auf dem Weg nach Deutschlanddurch ein sicheres Drittland gereist sind und auch dort Asyl httenbeantragen knnen. Weil alle Nachbarstaaten Deutschlands als siche-re Drittstaaten gelten, ist es seither schwierig, in Deutschland einenAsylantrag zu stellen. In den folgenden 15 Jahren sanken die jhrlichenAsylantrge deshalb um etwa 70 Prozent.Braindrain:Abwanderung qualifizierter Arbeitskrfte, vor allem ausEntwicklungs- oder Schwellenlndern.Dublin I/II/III:EU-Verordnung, die regelt, welcher Mitgliedstaat fr ei-nen Asylantrag zustndig ist. In der Regel ist das der EU-Staat, der dieEinreise eines Flchtlings nicht verhindert hat meist die Staaten anden sdlichen EU-Auengrenzen. Zweck der Regel war es, dass Asyl-suchende EU-weit nur noch ein Asylverfahren betreiben knnen. ZurDurchsetzung der Regelung werden allen Asylsuchenden Fingerab-

    drcke abgenommen und EU-weit zentral gespeichert. Die Regelungbelastet Staaten wie Griechenland oder Malta enorm.Frontex:derzeit stark wachsende Grenzschutzbehrde der EU mitSitz in Warschau. Sie organisiert Sammelabschiebungen in speziellenCharterflugzeugen und verschickt unter anderem GrenzbeamtInnenaus der ganzen EU an die EU-Auengrenzen, um dort den regionalenGrenzschutz zu untersttzen. Knftig soll Frontex schon auerhalb der

    europischen Hoheitsgewsser Flchtlinge aufhalten und zurckschi-cken knnen. Frontex hat mit vielen Nachbarstaaten der EU Abkom-men abgeschlossen, damit diese TransitmigrantInnen gar nicht erstnach Europa durchlassen. Fr das Jahr 2013 wurde Frontex ein Budgetin Hhe von rund 85 Millionen Euro durch die EU-Haushaltsbehrdezugewiesen.Geduldet:Eine Duldung ist kein Aufenthaltstitel, sondern lediglich eine

    vorbergehende Aussetzung der Abschiebung von AuslnderInnen.Auslnderbehrden stellen Duldungen aus, wenn es ihnen praktischunmglich ist, jemanden abzuschieben. Geduldete werden in vielenBereichen behandelt wie Asylsuchende whrend der Prfung ihresAsylantrags: Sie drfen nicht ohne Weiteres arbeiten, bekommen re-duzierte Sozialleistungen, mssen im Lager leben und unterliegen derResidenzpflicht.

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    Nachrangigkeitsvorbehalt:Bestimmung, die vorsieht, dass Ausln-derInnen aus Nicht-EU-Staaten, die eine Arbeitserlaubnis haben, einebestimmte Stelle nur dann annehmen drfen, wenn fr die Beschfti-gung keine deutsche oder EU-Arbeitskraft gefunden werden kann. DieAuslnderbehrde erlaubt die Beschftigung nur, wenn die Bundes-agentur fr Arbeit zustimmt. In Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit be-deutet diese Klausel auch fr AuslnderInnen mit Arbeitserlaubnis oftein faktisches Arbeitsverbot.Racial profiling:Kontrolle vermeintlich nicht-deutsch aussehender,meist dunkelhutiger Personen durch Polizei- oder ZollbeamtInnen, oftohne konkreten Verdacht.Remittances:berweisungen von MigrantInnen aus dem Exil in ihreHeimatlnder, meist an Verwandte. Dieremittanceserreichen in vielenLndern des Sdens der Erde ein Volumen von vielen Millionen US-Dollar jhrlich, sie tragen erheblich zur wirtschaftlichen und sozialenEntwicklung bei. Ein Problem sind die hohen berweisungskosten beiprivaten Dienstleistern.Residenzpflicht:Fr Asylsuchende und Geduldete geltendes Verbot,frei innerhalb Deutschlands zu reisen und sich an einem anderen Ort

    anzusiedeln. Die weltweit einzigartige Bestimmung zwingt diese Grup-pen, fr jede Reise sei es ein Arztbesuch oder eine Geburtstagsfeier eine Genehmigung bei der Auslnderbehrde zu beantragen, die ver-weigert werden kann.Sachleistungsprinzip:Bestimmung aus dem Asylbewerberleistungs-gesetz. Sie sieht vor, dass die Sozialleistungen fr Asylsuchende undGeduldete nicht bar ausgezahlt werden, wie etwa das Arbeitslosengeld

    II. Stattdessen bekommen Flchtlinge mit Ausnahme eines Taschen-geldes von meist etwa 41 Euro im Monat Gutscheine, die sie nur in be-stimmten Geschften einlsen knnen. Bayern praktiziert sogar nochdie Ausgabe von Essenspaketen statt Gutscheinen. Viele andere Bun-deslnder haben allerdings das Gutscheinsystem abgeschafft und zah-len inzwischen Bargeld aus was auch Verwaltungskosten spart. DasSachleistungsprinzip wurde als Teil des Asylkompromisses von 1993

    eingefhrt, um den Aufenthalt in Deutschland fr Flchtlinge mg-lichst unattraktiv zu machen.Schengen:Gemeinde in Luxemburg, in der verschiedene europischeAbkommen geschlossen wurden, um den Wegfall der Grenzkontrollenim Innern der EU zu regeln. Schengen wird deshalb auch als Syno-nym fr den Teil der EU verwendet, innerhalb dessen es keine Grenz-kontrollen gibt (sowie fr die assoziierten Staaten Island, Norwegen

    und die Schweiz).

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    Impressum

    luxemburg argumente Nr. 8wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung

    V. i. S. d. P.: Stefan ThimmelFranz-Mehring-Platz 1 10243 Berlin www.rosalux.deISSN 2193-5831 Redaktionsschluss: Mrz 2014Autor:Christian JakobRedaktion:Koray Yilmaz-Gnay und Stefan Thimmel unter Mitarbeit von Lukas FuchsBildkonzept:Robin Jahnke Fotos:Fridolin WeltiLektorat:TEXT-ARBEIT, BerlinSatz/Herstellung:MediaService GmbH Druck und Kommunikation

    Gedruckt auf Circleoffset Premium White, 100 % Recycling

    Schlepper/Schleuser:HelferInnen beim illegalen Grenzbertritt. OhneFluchthelferInnen ist es fr viele MigrantInnen unmglich, in Lnderzu kommen, die ihnen mglicherweise Schutz bieten. Nicht immer ar-beiten FluchthelferInnen gegen Bezahlung, immer aber ist Schleusereiverboten und wird oft hart bestraft.Visum:vom Gastland erteilte Erlaubnis zur Einreise.

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