Maassen_Kirchenasyl

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13 Der Schutz politisch Verfolgter durch den demokratischen Rechtsstaat und die Gewährung von "Kirchenasyl" Dr. Hans-Georg Maaßen, Regierungsdirektor, Bonn * A. Der Schutz politisch verfolgter Ausländer durch die Bundesrepublik Deutschland Asylgewährung ist unbestritten Staatsaufgabe. Vor einer Befas- sung mit dem Thema "Kirchenasyl" sollte man sich deshalb ver- gegenwärtigen, wie, in welchem Umfang und mit welchem Rechtsschutzinstrumentarium versehen die Bundesrepublik Deutschland politisch verfolgten Ausländern, Kriegs- und Bürger- kriegsflüchtlingen und anderen Ausländern, denen im Heimat- staat Menschenrechtsverletzungen drohen, Schutz gewährt. Die- sen Schutzmechanismus zu erfassen, ist wesentlich, damit kein ungerechtfertigtes Mißtrauen gegenüber den staatlichen Ent- scheidungsinstanzen entsteht. * Redaktionell überarbeitete, ergänzte und aktualisierte Fassung eines Vortrages bei dem von der Hanns-Seidel-Stiftung und dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 17./18. November 1997 in Wildbad Kreuth veranstalteten Seminar zum Thema "Kirchenasyl - eine ethische und rechtliche Herausfor- derung unserer Demokratie". Der Vortrag geht zurück auf den in der Zeitschrift "Kirche und Recht" (Heft 1/ 1997, S. 37 ff. [885 S. 7 ff.]) veröffentlichten Aufsatz "'Kirchenasyl' und Rechtsstaat". Der Beitrag gibt die persönliche Auffassung des Verfassers wie- der.

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Der Schutz politisch Verfolgter durchden demokratischen Rechtsstaat unddie Gewährung von "Kirchenasyl"

Dr. Hans-Georg Maaßen, Regierungsdirektor, Bonn∗

A. Der Schutz politisch verfolgter Ausländerdurch die Bundesrepublik Deutschland

Asylgewährung ist unbestritten Staatsaufgabe. Vor einer Befas-

sung mit dem Thema "Kirchenasyl" sollte man sich deshalb ver-

gegenwärtigen, wie, in welchem Umfang und mit welchem

Rechtsschutzinstrumentarium versehen die Bundesrepublik

Deutschland politisch verfolgten Ausländern, Kriegs- und Bürger-

kriegsflüchtlingen und anderen Ausländern, denen im Heimat-

staat Menschenrechtsverletzungen drohen, Schutz gewährt. Die-

sen Schutzmechanismus zu erfassen, ist wesentlich, damit kein

ungerechtfertigtes Mißtrauen gegenüber den staatlichen Ent-

scheidungsinstanzen entsteht.

∗ Redaktionell überarbeitete, ergänzte und aktualisierte Fassung

eines Vortrages bei dem von der Hanns-Seidel-Stiftung und demBundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am17./18. November 1997 in Wildbad Kreuth veranstalteten Seminarzum Thema "Kirchenasyl - eine ethische und rechtliche Herausfor-derung unserer Demokratie". Der Vortrag geht zurück auf den inder Zeitschrift "Kirche und Recht" (Heft 1/ 1997, S. 37 ff. [885 S. 7ff.]) veröffentlichten Aufsatz "'Kirchenasyl' und Rechtsstaat".Der Beitrag gibt die persönliche Auffassung des Verfassers wie-der.

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1. Nach Art. 16a Abs. 1 GG, der wörtlich dem früheren Art. 16

Abs. 2 Satz 2 GG entspricht, genießen politisch verfolgte Auslän-

der Asylrecht. Es handelt sich um ein individuelles und einklag-

bares Grundrecht von Ausländern. Dieses Grundrecht beinhaltet

für Asylbewerber prinzipiell ein Recht auf Aufenthalt, auf Durch-

führung eines Asylanerkennungsverfahrens, auf Rechtsschutz

gegen ablehnende Entscheidungen im Asylverfahren sowie auf

Sozialleistungen, soweit sie deren bedürfen. Der durch die Asyl-

rechtsreform des Jahres 1993 neugefaßte Art. 16a GG gewähr-

leistet,1 daß politisch verfolgte Ausländer weiterhin Schutz und

Zuflucht erhalten, stellt aber sicher, daß denjenigen Ausländern,

die eines Schutzes durch die Bundesrepublik Deutschland nicht

bedürfen, kein Asylrecht gewährt wird.2 Durch die Drittstaaten-,

die Herkunftsstaaten- und die Flughafenregelung wird der perso-

nelle Anwendungsbereich des Asylgrundrechts eingeschränkt

bzw. das Anerkennungsverfahren beschleunigt.

Die Drittstaatenregelung (Art. 16a Abs. 2 GG, § 26a AsylVfG) ist

das wichtigste Element der Asylrechtsreform von 1993.3 Hier-

nach kann sich auf das Asylgrundrecht nicht berufen, wer aus

einem sicheren Drittstaat nach Deutschland kommt (Art. 16a

Abs. 2 GG), da er bereits dort den begehrten Schutz hätte erlan-

gen können. Das Prinzip des sicheren Drittstaates beruht auf der

1 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.06.1993 (BGBl. I

S. 1002).2 Vgl. die Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drucks. 12/ 4152, S.

3.3 Vgl. hierzu Lehnguth/Maaßen: Der Ausschluß des Asylrechts nach

Art. 16a Abs. 2 GG, in: ZfSH/SGB 1995, S. 281 ff.

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Überlegung, daß kein Flüchtling das Recht hat, sich den ihm ge-

nehmsten Schutzstaat auszusuchen. Vielmehr muß ein politi-

scher Flüchtling in dem ersten Staat um Schutz bitten, in dem

ihm dies möglich ist. Nimmt er den Schutz dieses Staates nicht

in Anspruch, sondern reist er in ein ihm genehmeres "Zuflucht-

land", so steht dies regelmäßig nicht mehr mit der unmittelbaren

Flucht vor dem Verfolger in Zusammenhang. Es handelt sich um

eine Weiterreise mit dem Ziel, bessere wirtschaftliche oder so-

ziale Möglichkeiten eines anderen Staates nutzen zu wollen. Die

Drittstaatenregelung entspricht europäischem Standard4 und wird

auch von anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union (wie

z. B. Belgien, Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden)

angewandt.5 Allerdings können aus einem sicheren Drittstaat

kommende Asylbewerber nach § 51 Abs. 1 AuslG Schutz vor der

Abschiebung in den Verfolgerstaat erhalten, wenn eine Rückfüh-

rung in einen sicheren Drittstaat nicht möglich ist.

Durch die Herkunftsstaatenregelung (Art. 16a Abs. 3 GG, § 29a

AsylVfG) werden Asylbewerber nicht von vornherein vom Asyl-

verfahren ausgeschlossen. Der Asylantrag eines Ausländers aus

einem sicheren Herkunftsstaat wird als offensichtlich unbegrün-

det angesehen, es sei denn, die von ihm angegebenen Tatsa-

chen und Beweismittel begründen die Annahme, daß ihm abwei-

4 Vgl. BVerfGE 94, 49; vgl. auch die Entschließung des Europäi-

schen Rates der Innen- und Justizminister vom 30. November/1.Dezember 1992 zu einem einheitlichen Konzept in bezug auf Auf-nahmedrittländer.

5 Vgl. Maaßen: Die Rechtsstellung des Asylbewerbers im Völker-recht, 1997, S. 205 ff. m. w. N.

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chend von der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat politische

Verfolgung droht.

Deutschland hat mit dem neuen Art. 16a GG auch nach der Asyl-

rechtsreform des Jahres 1993 eine der großzügigsten Asylrechts-

verbürgungen in der Welt. Das Bundesverfassungsgericht

(BVerfG) hat die Reform in seinen drei Urteilen vom 14. Mai

1996 als verfassungskonform bestätigt.6 Die Tatsache, daß seit

Inkrafttreten des neuen Asylrechts bis Ende 1997 rund 580.000

Asylbewerber nach Deutschland kamen, zeigt, daß der Vorwurf,

Deutschland würde sich durch das neue Asylrecht gegenüber

Asylbewerbern "abschotten", jeder Grundlage entbehrt. Deutsch-

land nimmt derzeit rund 50 % aller im Bereich der Mitgliedstaa-

ten der Europäischen Union um Asyl nachsuchenden Ausländer

auf,7 von denen 1997 nur 4,9 % vom Bundesamt für die Aner-

kennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) als Asylberech-

tigte anerkannt wurden.8

6 BVerfGE 94, 49, 115, 166. Vgl. hierzu Schelter/Maaßen: Das

deutsche Asylrecht nach der Entscheidung von Karlsruhe, in: ZRP1996, S. 408; Maaßen/Wyl de: Folgerungen aus dem Asylurteildes Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1996 zur Drittstaa-tenregelung, in: ZAR 1996, S. 158; dies.: Folgerungen aus denAsylurteilen des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1996 zurHerkunftsstaaten- und Flughafenregelung, in: ZAR 1997, S. 9.

7 Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Aufzeichnung zur Auslän-derpolitik und zum Ausländerrecht in der BundesrepublikDeutschland, 1997, S. 91.

8 Vgl. die Pressemitteilung des Bundesministeriums des Innern vom12.01.1998, wonach lediglich 4,9 % der Asylbewerber vom Bun-desamt als Asylberechtigte anerkannt wurden und nur weitere5,7 % Abschiebungsschutz erhielten.

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Das Asylrecht ist nicht das einzige Instrument, um schutzbedürf-

tigen Ausländern Schutz vor der Abschiebung in den Herkunfts-

staat zu geben. Ausländer, denen im Herkunftsstaat die Todes-

strafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behand-

lung oder Bestrafung droht, erhalten Abschiebungsschutz nach

§ 53 Abs. 1, 2, 4 AuslG, auch wenn diese Menschenrechtsver-

letzungen nicht Ausdruck politischer Verfolgung sind. Darüber hi-

naus kann nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zur Vermeidung einer

erheblichen konkreten und individuellen Gefahr für Leib, Leben

oder Freiheit von der Abschiebung eines Ausländers abgesehen

werden.

Ferner wird von der Möglichkeit zur Aufenthaltsgewährung bzw.

des Abschiebungsschutzes für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlin-

ge nach §§ 32, 54 AuslG von den Behörden der Länder großzü-

gig Gebrauch gemacht. Deutschland hatte im internationalen

Vergleich mit rund 350.000 Personen den größten Teil von Bür-

gerkriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien aufge-

nommen.9

2. Über die Gewährung von Asyl entscheiden in Deutschland

weisungsungebundene Bedienstete des Bundesamtes. Dies sind

in aller Regel Personen des gehobenen Verwaltungsdienstes, die

eine qualifizierte Verwaltungsausbildung erfahren haben und auf

9 Demgegenüber haben Griechenland, unmittelbarer Anrainer an

das Bürgerkriegsgebiet, lediglich 150 Personen, Großbritannien7.000, Frankreich 15.900, Spanien, 3.700 und Portugal 60 Perso-nen aufgenommen.

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ihre Tätigkeit hin besonders geschult sind. Weisungsungebunden

heißt, weder die Leitung des Bundesamtes noch das Bundesmi-

nisterium des Innern kann einem Einzelentscheider eine Wei-

sung erteilen, wie er im konkreten Fall über einen Asylantrag zu

entscheiden hat.10 Im Asylverfahren wird vom Bundesamt jeder

Einzelfall unter den Gesichtspunkten politische Verfolgung, kon-

krete Foltergefahr, Gefahr der Todesstrafe sowie unmenschliche

oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eingehend an-

hand der individuellen Umstände geprüft.11 Die Bediensteten

sind auf Grund einer intensiven Aus- und Fortbildung12 Spezia-

listen für die von ihnen jeweils zu bearbeitenden Herkunftslän-

der. Bei der Entscheidungsfindung werden alle verfügbaren In-

formationen über die Situationen in den jeweiligen Herkunfts-

staaten herangezogen, namentlich die Lageberichte des Auswär-

tigen Amtes, Berichte von zwischenstaatlichen oder ausländi-

schen Einrichtungen, Stellungnahmen des Hohen Flüchtlings-

kommissars der Vereinten Nationen sowie Berichte von Men-

schenrechtsorganisationen. Das Bundesamt hält hierzu umfas-

sende Dokumentationen über die Rechts- und Menschenrechts-

10 Vgl. § 5 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG.11 Vgl. hinsichtlich der praktischen Ausgestaltung des Asylverfahrens

beim Bundesamt Griesbeck: Der Schutz vor politischer Verfolgungund weltweite Migration - Inhalt und Grenzen der Arbeit des Bun-desamtes, in: Asylpraxis Bd. 2, Bundesamt für die Anerkennungausländischer Flüchtlinge (Hrsg.), 1997, S. 13 (23 ff.).

12 Vgl. hierzu im einzelnen Jordan: Die Entwicklung der asylspezifi-schen Fortbildung beim Bundesamt, in: Bundesamt für die Aner-kennung ausländischer Flüchtlinge (Hrsg.), Asylpraxis Bd. 1, 1997,S. 77 ff.

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situation in einzelnen Herkunftsländern sowie über die Recht-

sprechung einschließlich der dazugehörigen Rechtsgebiete be-

reit.13

3. Der Asylbewerber kann negative Entscheidungen des Bun-

desamtes in bis zu drei Instanzen von unabhängigen Gerichten

auf ihre inhaltliche Richtigkeit überprüfen lassen.

Bei einfach unbegründeten Asylanträgen hat die Einreichung

einer Klage gegen die negative Entscheidung des Bundesamtes

aufschiebende Wirkung, so daß der Ausländer bis zur gerichtli-

chen Entscheidung nicht ausreisen muß.14 Soweit der Asylantrag

vom Bundesamt als offensichtlich unbegründet oder als unbe-

achtlich abgelehnt worden ist, kann der Vollzug von Rückfüh-

rungsentscheidungen durch verwaltungsgerichtlichen Eilrechts-

schutz nach § 80 Abs. 5 VwGO ausgesetzt werden. Bei einer

negativen Entscheidung des Verwaltungsgerichts kann das Ge-

richt im Wege eines Abänderungsantrags nach § 80 Abs. 7

VwGO um erneute Entscheidung gebeten werden. Lediglich bei

Asylbewerbern, die aus einem sicheren Drittstaat eingereist sind,

ist eine Aussetzung der Abschiebungsentscheidung im Wege des

einstweiligen Rechtsschutzes nicht möglich, da diese Personen

von der Asylrechtsgewährung grundgesetzlich ausgenommen

sind.15

13 Vgl. hierzu Praschma, Gräfin: Informationsversorgung im Bundes-

amt, in: Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge(Hrsg.), Asylpraxis Bd. 2, 1997, S. 65 ff.

14 §§ 75, 38 Abs. 1 AsylVfG.15 Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG, § 34a Abs. 2 AsylVfG.

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Vom verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutzverfahren, mit

dem im Falle offensichtlich unbegründeter oder unbeachtlicher

Asylanträge die Aussetzung der Abschiebung erreicht werden

kann, ist das eigentliche Klageverfahren vor dem Verwaltungsge-

richt, das sog. "Hauptsacheverfahren", zu unterscheiden. Soweit

das Eilrechtsschutzverfahren durchlaufen ist, finden mit dem ei-

gentlichen Klageverfahren insgesamt zwei verwaltungsgerichtli-

che Prüfungsverfahren in der ersten Instanz statt. Gegen eine

ablehnende Hauptsache-Entscheidung des Verwaltungsgerichts

kann die Zulassung der Berufung vor dem Oberverwaltungsge-

richt beantragt werden, es sei denn, das Verwaltungsgericht hat

die Klage als offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbe-

gründet abgelehnt (§ 78 AsylVfG). Gegen Berufungsurteile steht

dem betroffenen Ausländer die Revision zum Bundesverwal-

tungsgericht, falls sie zugelassen wird, und ansonsten die Nicht-

zulassungsbeschwerde zu (§§ 132, 133 VwGO).

Nach Ausschöpfung des Rechtsweges kann wegen Verlet-

zung des Asylgrundrechts oder eines anderen Grundrechts das

Bundesverfassungsgericht angerufen werden, das auch durch

einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG eine unmittelbar

bevorstehende Abschiebung des Ausländers aussetzen kann.

Des weiteren kann der Ausländer nach der Spruchpraxis des Eu-

ropäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen ablehnende

Entscheidungen deutscher Gerichte auch die Europäische Kom-

mission für Menschenrechte anrufen, wenn er die Gefahr von

Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung

oder Bestrafung nach der Rückkehr im Herkunftsstaat geltend

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macht.16 Die Kommission kann nach Art. 36 ihrer Verfahrensord-

nung einstweilige Maßnahmen anordnen, die für die Vertrags-

staaten zwar nicht bindend sind, aber in aller Regel befolgt wer-

den.17 Der Ausländer hat darüber hinaus die Möglichkeit, sich im

Wege der Petition an den Bundestag bzw. an die Parlamente der

Länder, die für die Durchsetzung der Aufenthaltsbeendigung

zuständig sind, zu wenden. Allerdings führt die Einlegung einer

Petition nicht dazu, daß hierdurch der Vollzug einer Abschiebung

bis zur Entscheidung über die Petition ausgesetzt wird.

Der Ausländer hat ferner die Möglichkeit, nach einem negativ

abgeschlossenen Asylverfahren einen Folgeantrag zu stellen

(§ 71 AsylVfG), der zu einer erneuten Prüfung des Asylantrags

führt, wenn sich insbesondere die der Asylentscheidung zugrun-

de liegende Sach- und Rechtslage nachträglich zugunsten des

Ausländers geändert hat oder neue Beweismittel vorliegen, die

eine dem Ausländer günstigere Entscheidung herbeigeführt hät-

ten. Soweit gegen den Ausländer eine Abschiebungsandrohung

oder -anordnung auf Grund des früheren negativ abgeschlosse-

16 Vgl. EGMR, Fall Soering, Urt. v. 07.07.1989, in: EuGRZ 1989, S.

314; Fall Cruz Varas u. a., Urt. v. 20.03.1991, in: EuGRZ 1991, S.203; Fall Vilvarajah u. a., Urt. v. 30.10.1991, in: NVwZ 1992, S.869; Fall Chahal, Urt. v. 15.11.1996, in: NVwZ 1997, S.1093; FallAhmed, Urt. v. 17.12.1996, in: NVwZ 1997, S. 1100; Fall H. L. R.gegen Frankreich, Urt. v. 29.04.1997, in: InfAuslR 1997, S. 333;Fall D. gegen das Vereinigte Königreich, Urt. v. 02.05.1997, in:InfAuslR 1997, S. 381.

17 Vgl. hierzu Oellers-Frahm: Zur Verbindlichkeit einstweiliger Anord-nungen der Europäischen Kommission für Menschenrechte, in:EuGRZ 1991, S. 197; Krüger: Vorläufige Maßnahmen nach Art. 36der Verfahrensordnung der Europäischen Kommission für Men-schenrechte (insbesondere in Ausweisungs- und Auslieferungs-fällen), in: EuGRZ 1996, S. 346.

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nen Asylverfahrens noch wirksam ist, darf die Abschiebung erst

dann vollzogen werden, wenn das Bundesamt festgestellt hat,

daß weder eine geänderte Sach- und Rechtslage, noch Beweis-

mittel noch andere Wiederaufnahmegründe vorliegen, es sei

denn, der Folgeantrag ist offenkundig unschlüssig oder der Aus-

länder soll in einen sicheren Drittstaat abgeschoben werden

(§ 71 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG). Durch diese Regelung wird sicher-

gestellt, daß ein abgelehnter Asylbewerber, der zur Ausreise ver-

pflichtet ist, erst nach einer Prüfung des Folgeantrags abgescho-

ben wird.

4. Diese Kurzdarstellung des deutschen Asylrechts soll deut-

lich machen, daß die Bundesrepublik Deutschland einen um-

fangreichen materiellrechtlichen Schutzmechanismus für Auslän-

der geschaffen hat, denen im Herkunftsstaat politische Verfol-

gung oder menschenrechtswidrige Behandlung droht. Dieser ma-

teriellrechtliche Schutz wird durch weitgehende, effektive verfah-

rensmäßige Verbürgungen, insbesondere durch gerichtlichen

Rechtsschutz, abgesichert. Diese materiellrechtlichen und ver-

fahrensmäßigen Garantien gehen dabei weit über das völker-

rechtlich Gebotene hinaus.18 Es ist deshalb entgegen dem von

"Kirchenasyl"-Aktivisten erweckten Eindruck gerade nicht so, daß

auf Grund der Asylrechtsreform von 1993 politisch Verfolgte kei-

ne Chance haben, daß sie des "Kirchenasyls" bedürfen, um eine

Abschiebung in den Verfolgerstaat zu verhindern.

18 Vgl. hierzu Maaßen: Die Rechtsstellung des Asylbewerbers im

Völkerrecht, 1997, passim.

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Nach dem dargestellten staatlichen Schutzmechanismus für

verfolgte Ausländer wende ich mich jetzt dem eigentlichen The-

ma "Kirchenasyl" zu und muß, ehe ich danach fragen kann, ob

neben der Asylgewährung durch den Staat noch Raum für

”Kirchenasyl“ ist, feststellen, daß über Begriff wie Inhalt des so-

genannten Kirchenasyls weitgehend Unklarheit besteht.

B. Begriff und Inhalt des "Kirchenasyls"

1. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof

Karl Lehmann, erklärte in einem Interview mit der Zeitschrift DER

SPIEGEL19 "Weder im weltlichen noch im kirchlichen Recht gibt

es ein 'Kirchenasyl'", und versicherte in seinem Schreiben vom

16. Mai 1994 dem besorgten Bundesinnenminister:20 „Ich habe

klar festgestellt, daß es kein Recht auf ein 'Kirchenasyl' gibt; die

Befugnis des Staates zur Durchsetzung seiner Regelung wurde

ausdrücklich bejaht; Kirchen sind kein rechtsfreier Raum, die Po-

lizei hat durchaus Zutritt".

Ähnliche Aussagen findet man auch auf evangelischer Seite.

In den vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland in sei-

ner Sitzung am 9./ 10. September 1994 in Hannover verabschie-

deten "Thesen zum 'Kirchenasyl'" heißt es:21 "'Kirchenasyl' als

eine eigene Rechtsinstitution gibt es in der Bundesrepublik

Deutschland nicht. Die Kirche nimmt ein solches Recht auch

19 Der Spiegel 20/1994, S. 51.20 Abgdr. in: Christ und Welt - Rheinischer Merkur, v. 20.05.1994.21 EKD-Pressemitteilung v. 10.09.1994, siehe Anhang 2.

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nicht in Anspruch. Sie darf auch nicht den Anschein eines sol-

chen Rechtes erzeugen durch ein Verhalten, mit dem die Scheu

staatlicher Organe vor dem Vollzug rechtmäßiger Maßnahmen in

kirchlichen Räumen ausgenutzt werden soll."

In die gleiche Richtung geht nach den Worten des Vorsitzen-

den der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Karl Lehmann,22

das im politischen Raum unterschiedlich aufgenommene23 "Ge-

meinsame Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch

Migration und Flucht" vom Juni 1997, wo man "sich den Begriff

Kirchenasyl bewußt nicht zu eigen gemacht habe". Zu dem im

"Gemeinsamen Wort" in Anführungszeichen gesetzten Thema

"Kirchenasyl" wird darauf hingewiesen, daß die Kirchen für sich

keinen rechtsfreien Raum in Anspruch nehmen und auch nicht

dem Staat das Recht bestreiten, seine Entscheidungen gegebe-

nenfalls auch innerhalb kirchlicher Räume durchzusetzen.24 "Kir-

chenasyl" wird danach in bezug auf die Durchführung staatlicher

22 FAZ v. 01.08.1997.23 Bemerkenswert ist, daß dieses Dokument bei CDU/ CSU und

Teilen der F.D.P. auf Kritik gestoßen ist (vgl. Stellungnahmen vonBundeskanzler Kohl, dem bayerischen Innenminister Beckstein,FAZ v. 07.07.1997, Bundesinnenminister Kanther, ap-Meldung v.04.07.1997, Bundesjustizminister Schmidt-Jortzig, "Die Welt" v.09.07.1997) während es von seiten der SPD und Bündnis 90/ DieGrünen begrüßt wurde (so die Stellungnahmen der innenpoliti-schen Sprecherin der SPD Sonntag-Wolgast, dpa-Meldung v.04.07.1997, und des Landesjustizministers Plottnitz, v., ap-Meldung v. 08.07.1997).

24 Gemeinsames Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durchMigration und Flucht, hrsg. vom Kirchenamt der EvangelischenKirche in Deutschland und dem Sekretariat der Deutschen Bi-schofskonferenz in Zusammenarbeit mit der ArbeitsgemeinschaftChristlicher Kirchen in Deutschland, 1997, S. 100, Absatz 257.

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Asylverfahren und die Abschiebung ausreisepflichtiger Ausländer

weder als ein Verfahrens- noch als ein Vollstreckungshindernis

angesehen.

Auch im Schrifttum25 ist die Auffassung ganz herrschend,

daß das aus der frühchristlichen Kirche überlieferte und an das

25 Zur rechtlichen Diskussion vgl. Gramlich: Asyl in den Kirchen?, in:

Gedächtnisschrift für Günther Küchenhoff, 1987, S. 195; Robbers:Kirchliches Asylrecht?, in: AöR Bd. 113 (1988), S. 30; Huber:Sanctuary: Kirchenasyl im Spannungsverhältnis von strafrechtli-cher Verfolgung und verfassungsrechtlicher Legitimation, in: ZAR1988, S. 153; Jacobs: Kirchliches Asylrecht, in: ZevKR Bd. 35(1990), S. 24; Just (Hrsg.): Asyl von unten, 1993; Kaltenborn: Kir-chenasyl, in: DVBl. 1993, S. 25; Barwig/Bauer (Hrsg.): Asyl amHeiligen Ort, 1994; Mühleisen: Eine notwendige Spannung - Das"Kirchenasyl", Die Grundrechte und die Demokratie, in: HerderKorrespondenz 1994, S. 350; Winter: 'Kirchenasyl' als Herausfor-derung für Staat und Kirche, in: KuR 885, S. 1; Münch, v.: "Kir-chenasyl": ehrenwert, aber kein Recht, in: NJW 1995, S. 565;ders., "Kirchenasyl": Wer soll das bezahlen, in: NJW 1995, S.2271; Beck-Kadima/Huot (Hrsg): Kirche und Asyl, 1996; Demand:Kirchenasyl - Rechtsinstitut oder Protestform, 1996;Guth/Rappenecker (Hrsg.): Kirchenasyl, 1996; Heimbach-Steins:Kirchenasyl, in: Stimmen der Zeit 1996, S. 291; Reuter: Subsidiä-rer Menschenrechtsschutz: Bemerkungen zum Kirchenasyl ausprotestantischer Sicht, in: ZRP 1996, S. 97; Roßkopf: Kirchenasyl- Geschichte, Rechtsnatur, aktuelle Situation, in: AWR-Bull. 1996,S. 93; Geis: Kirchenasyl im demokratischen Rechtsstaat, in: JZ1997, S. 60; Grote/Kraus: Der praktische Fall - Öffentliches Recht:Kirchenasyl, in: JuS 1997, S. 345; Lisken: "Kirchenasyl" gegenAbschiebung, in: Lindenau (Hrsg.), Symposion 1995 der Düssel-dorfer Gesellschaft für Rechtsgeschichte, 1997, S. 9;Radtke/Radtke: "Kirchenasyl" und die strafrechtliche Verantwort-lichkeit von Mitgliedern des Kirchenvorstandes, in: ZevK Bd. 42(1997), S. 23; Renck: Bekenntnisfreiheit und Kirchenasyl, in: NJW1997, S. 2089; Rothkegel: Kirchenasyl - Wesen und rechtlicherStandort, in: ZAR 1997; S. 121; Siegmund: VerfassungsrechtlicheAspekte des Kirchenasyls, 1997; Hofmann: "Kirchenasyl" und zi-viler Ungehorsam, in: Wandel durch Beständigkeit, Festschrift fürJens Hacker, hrsg. von Kick u.a.,1998, S. 363; Baldus: Kirchen-asyl und Vertragskirchenrecht, erscheint demnächst in der NVwZ.

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überkommene Asylrecht griechisch-römischer Tempel anknüp-

fende Kirchenasyl, das geflohene Straftäter auf Grund der Heilig-

keit des Ortes vor dem Zugriff der staatlichen Gewalt schützte,26

von den Rechtsordnungen der europäischen Staaten spätestens

seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr anerkannt wird und von der

evangelischen Kirche und der katholischen Kirche27 als inner-

kirchliches Recht aufgegeben worden ist.28

2. Worüber wird aber diskutiert, wenn das historische Kirchen-

asyl nach allgemeiner Ansicht als Rechtsinstitut nicht mehr be-

steht?

Bei den derzeit in der Öffentlichkeit diskutierten Fällen29 von

"Kirchenasyl" handelt es sich um eine aus den USA importierte

26 Vgl. zur Geschichte des Kirchenasyls etwa Robbers, in: AöR Bd.

113 (1988), S. 30(32 ff.); Jacobs, in: ZevKR Bd. 35 (1990), S. 24ff.; Dudda: Das Asylrecht im Alten Testament, in: ZAR 1996, S.32; Bader: Asyl im Alten Testament, in: Guth/Rappenecker(Hrsg.), a.a.O., S. 17.

27 Die katholische Kirche hat das Kirchenasyl in den neuen CodexIuris Canonici (CIC) von 1983 bewußt nicht mehr aufgenommen,vgl. hierzu Reinhardt, in: Münsterischer Kommentar zum CodexIuris Canonici, Anm. 2 zu Can. 1213; Jacobs, in: ZevKR Bd. 35(1990), S. 30 (33); Robbers, in: AöR Bd. 113 (1988), S. 30 (38 f.).Da dieser Befund von "Kirchenasyl"-Befürwortern für unbefriedi-gend gehalten wird, wird vereinzelt versucht, das "Kirchenasyl" inandere Bestimmungen des CIC hineinzuinterpretieren (vgl. Guth:Kirchenasyl und kirchliches Recht, in: Guth/Rappenecker (Hrsg.),a.a.O., S. 47 [51 f.]).

28 Vgl. etwa Robbers, in: AöR Bd. 113 (1988), S. 30 (37 ff.); Jacobs,in: ZevKR Bd. 35 (1990), S. 24 (30 ff.); Roßkopf, in: AWR-Bull.1996, S. 93 (95 ff.); Winter, in: KuR 885, S. 1.

29 Nach Angaben der sog. Ökumenischen Bundesarbeitsgemein-schaft Asyl in der Kirche befanden sich in Deutschland AnfangDezember 1996 rund 200 ausreisepflichtige Ausländer in 45 Kir-chengemeinden im "Kirchenasyl" (vgl. FR v. 06.12.1996). Im ge-

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Erscheinungsform,30 die mit dem historischen Kirchenasyl nichts

als den Namen teilt. Vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländern,

die der Ausreiseaufforderung freiwillig nicht nachkommen wollen

und deshalb zwangsweise zurückzuführen sind, wird von Kir-

chengemeinden, Pfarrern oder einzelnen Gemeindemitgliedern

Unterkunft in kirchlichen Räumen gewährt, um hierdurch die

Abschiebung dieser Personen zu verhindern oder zu verzögern.

Teilweise werden die Personen vor den Behörden in kirchlichen

Räumen versteckt; in vielen Fällen wird die Medienöffentlichkeit

gesucht,31 da die Behörden erfahrungsgemäß davor zurück-

scheuen, rechtmäßige Entscheidungen zu vollziehen, wenn sie

vor laufenden Kameras von Kirchen- und Medienvertretern mo-

ralisch diskreditiert werden.32 Die "Kirchenasyl"-Gewährenden

rechtfertigen ihr Verhalten entweder damit, entgegen den Fest-

stellungen der staatlichen Behörden und Gerichte davon über-

zeugt zu sein, daß den Ausländern im Falle der Abschiebung

samten Jahr 1997 sollen 334 Ausländer in 92 Kirchengemeinden”Kirchenasyl“ erhalten haben (vgl. Der Spiegel v. 21.05.1998).

30 Vgl. dazu Robbers, in: AöR Bd. 113 (1988), S. 30 (31); Huber, in:ZAR 1988, S. 153; Niebch: Sanctuary in Deutschland 1993, in:Barwig/Bauer (Hrsg.), a.a.O., S. 17 (30); Burkhard: KirchlichesAsyl in den USA, in: Guth/Rappenecker, a.a.O., S. 80.

31 In den von der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Hessenund Nassau empfohlenen "Gesichtspunkten zum Asyl in Kirchen-gemeinden" heißt es dementsprechend: "Der Erfolg eines Asyls inKirchengemeinden hängt wesentlich davon ab, ob es gelingt, dieÖffentlichkeit davon zu überzeugen, daß diese Abschiebungsan-drohung rückgängig gemacht werden muß. Deshalb muß die Öf-fentlichkeitsarbeit überzeugend und fundiert sein."

32 Vgl. zum Wirkmechanismus des "Kirchenasyls" Hofmann, a.a.O.(Fußn. 25), S. 372, der zum Ergebnis kommt, daß es sich "beiLicht besehen um eine besonders effektive Form der Abschie-bungsvereitelung handelt".

Page 16: Maassen_Kirchenasyl

28

Gefahr für Leib oder Leben drohe, oder damit, daß sie die gel-

tenden asyl- und ausländerrechtlichen Vorschriften ablehnen und

entgegen der Rechtslage für die betroffenen Ausländer ein Auf-

enthaltsrecht fordern. Als Beispiel für diese Verhaltensmotivation

mag die Aussage eines Hamburger Pfarrers gelten:33

"Mir macht es moralische Probleme, wenn Leute ab-

geschoben werden. Aber ich habe gar keine Beden-

ken, jemanden vor Abschiebung zu schützen. (...)

Asylgesetze sind Gesetze, aber kein Recht mehr.

Ich beziehe mich auf die Rechte des Menschen, wie

sie in der Bibel beschrieben sind."

"Kirchenasyl" in dieser Erscheinungsform ist ein Aliud zu dem

historischen Kirchenasyl, das dem flüchtigen nicht politischen

Straftäter Schutz vor Blutrache oder unmenschlichen Strafen

(wie z. B. Verstümmelung) in einem Staatswesen gewährte, das

in keiner Weise den heutigen rechtsstaatlichen und menschen-

rechtlichen Standards entsprach. Die Verwendung des Aus-

drucks "Kirchenasyl" für diese Erscheinungsform der Abschie-

bungsverhinderung ist unaufrichtig, da hierdurch der weder histo-

risch noch rechtlich zu begründende Anschein historischer Konti-

nuität und Legitimität erweckt wird,34 um über das im folgenden

dargestellte Problem einer mangelnden rechtlichen Grundlage

33 Pfarrer Stauffer, "taz" v. 05.05.1994.34 Vgl. Jacobs, in: ZevKR Bd. 35 (1990), S. 24 (36).

Page 17: Maassen_Kirchenasyl

29

dieses Verhaltens hinwegzuhelfen.35 Von den Kirchen wird des-

halb in letzter Zeit der Ausdruck "Kirchenasyl" in Anführungszei-

chen gesetzt oder durch den Ausdruck "Asyl in der Kirche" er-

setzt.

3. So klar und unmißverständlich die Kirchen erklären, daß

das historische Kirchenasyl als Rechtsinstitut nicht mehr besteht,

so unklar und mißverständlich sind doch die Äußerungen von

Kirchenvertretern zu der mit dem Namen "Kirchenasyl" etiket-

tierten Erscheinungsform der Abschiebungsvereitelung. Die Pa-

lette der Äußerungen ist groß: Ablehnung,36 Verständnis für ein

Verhalten mit möglichen strafrechtlichen Konsequenzen,37 Billi-

gung eines an sich rechtmäßigen Verhaltens38 oder die Auffor-

derung zur Gewährung von "Kirchenasyl" als "Erfüllung einer

moralischen Pflicht"39. Dabei wird zur Begründung dieser Hal-

35 Vgl. etwa Landau: Traditionen des Kirchenasyls, in: Barwig/Bauer

(Hrsg.), a.a.O., S. 47; Theler: Kirchenasyl als eine Form des Wi-derstandes, in: Beck-Kadima/Huot (Hrsg.), a.a.O., S.29 ff.

36 Präsidentin des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken, RitaWaschbüsch, Die Welt v. 17.05.1994.

37 So heißt es hierzu bspw. in der Stellungnahme der Kirchenleitungder Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau vom 12.07.1994:"Die Kirchenleitung hat dafür Verständnis, daß Kirchengemeindenals ultima ratio Flüchtlinge aufnehmen, um sie vor Abschiebungzu schützen."

38 So der Präses der Evangelischen Kirche Deutschlands, Schmude,FAZ v. 17.05.1994; Kardinal Sterzinsky, Schutzraum Kirche, unv.Manuskript eines Vortrages in der Katholischen Akademie Stutt-gart-Hohenheim am 20.09.1996.

39 So Landesbischof Huber, FR v. 19.05.1994, da nach seiner An-sicht die Asylrechtsreform zur Folge habe, daß Flüchtlinge vonAbschiebung bedroht sind, die bei Rückkehr in ihre Heimat um ihrLeben fürchten müßten. So wohl auch Kardinal Wetter, StuttgarterZeitung v. 21.05.1994.

Page 18: Maassen_Kirchenasyl

30

tung auf die christliche Beistandspflicht für bedrängte Menschen

hingewiesen.40

Dieser Zwiespalt in den Äußerungen von Kirchenvertretern

wird durch beachtliche diplomatische Formulierungskunst in dem

"Gemeinsamen Wort der Kirchen zu den Herausforderungen

durch Migration und Flucht" überspielt, wenn dort zum einen den

"Kirchenasyl"-Aktivisten Mut zugesprochen wird durch Aussagen

wie

"Es ist verständlich und auch legitim, wenn Kirchen-

gemeinden in bestimmten Einzelfällen nach gewis-

senhafter Prüfung zu dem Ergebnis gelangen, sich

schützend vor einen Menschen stellen zu müssen,

um zu vermeiden, daß ihm der ihm zustehende

Grundrechtsschutz versagt wird. (...) Kirchenge-

meinden, die sich für die Verwirklichung dieser Men-

schen- und Grundrechte einsetzen, stellen daher

den Rechtsstaat nicht in Frage, sondern leisten ei-

nen Beitrag zum Erhalt des Rechtsfriedens und der

Grundwerte unserer Gesellschaft. Sie verdienen für

ihr Eintreten für ethische Prinzipien, die zu den

40 Vgl. hierzu etwa die von der EKD am 9./10.09.1994 verabschie-

deten Thesen zum Kirchenasyl, EKD-Pressemitteilung v.10.09.1994, siehe Anhang 2; EKD Texte Nr. 55, Asylsuchendeund Flüchtlinge, 2. Bericht zur Praxis des Asylverfahrens und desSchutzes vor Abschiebung, 1995, S. 40. Vgl. auch das Gemein-same Wort der Kirchen, a.a.O (Fußn. 24), S. 100, Absatz 257.

Page 19: Maassen_Kirchenasyl

31

Grundlagen unseres Glaubens gehören, grundsätz-

lich die Unterstützung und Anerkennung."41

und man zum anderen versucht, sich den Rücken gegenüber

dem Staat freizuhalten, durch Aussagen wie

"Weder nehmen die Kirchen damit aber für sich ei-

nen rechtsfreien Raum in Anspruch noch bestreiten

sie dem Staat das Recht, seine Entscheidungen ge-

gebenenfalls auch innerhalb kirchlicher Räume

durchzusetzen." Und: "Diejenigen, die aus einem

Gewissenskonflikt heraus weitergehen und sich zu

einem begrenzten Verstoß gegen bestehende

Rechtsvorschriften entschließen, müssen dafür frei-

lich wie bei allen Aktionen zivilen Ungehorsams

auch selbst die Verantwortung tragen".42

So vieldeutig dieses entschiedene "Jein"43 der Kirchen zum "Kir-

chenasyl" ist, so eindeutig geht hieraus hervor, daß die Kirchen

die rechtliche und politische Verantwortung für Fälle von "Kir-

chenasyl" bei den Kirchengemeinden und den handelnden "Kir-

chenasyl"-Aktivisten und nicht bei sich selbst sehen. Auch wird

von den Kirchen regelmäßig hervorgehoben, daß sich die Ge-

meinden bei "Kirchenasyl"-Fällen auf das Jedermann-Grund-

recht der Gewissensfreiheit berufen können; die "Glaubensfrei-

41 Gemeinsames Wort der Kirchen, a.a.O. (Fußn. 24), S. 99 f. (Abs.

256, 257).42 Gemeinsames Wort der Kirchen, a.a.O. (Fußn. 24), S. 100 (Abs.

257).43 Hofmann, a.a.O. (Fußn. 25), S. 365.

Page 20: Maassen_Kirchenasyl

32

heit" wird in den kirchlichen Stellungnahmen ausgespart, offen-

sichtlich um einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den

"Kirchenasyl"-Fällen und den Amtskirchen nicht aufkommen zu

lassen.44 Wenn aber "Kirchenasyl" von den Amtskirchen in den

Zusammenhang gebracht wird mit ihrem Selbstverständnis, "im-

mer dort mahnend einzugreifen, wo Rechte von Menschen ver-

letzt sind und sich eine kirchliche Beistandspflicht für bedrängte

Menschen ergibt"45, dann trifft die Amtskirchen auch eine Ver-

antwortung für das Handeln ihrer Amtsträger und Kirchenge-

meinden in den Fällen von "Kirchenasyl". Es handelt sich bei

"Kirchenasyl"-Fällen und damit im Zusammenhang stehenden

Rechtsverletzungen gerade nicht um ein bloßes Handeln von

Privatpersonen, die dafür "selbst die Verantwortung tragen"46

müssen. Vielmehr wird hierdurch die sich aus dem Vertragskir-

chenrecht ergebende Loyalitätspflicht der Kirchen gegenüber

dem Rechtsstaat berührt.47

44 So hat Kardinal Sterzinsky ("Der einzelne, die Gemeinde, die Kir-

che - Wer trägt die Verantwortung beim Kirchenasyl?, unv. Manu-skript eines Vortrages beim 3. Bundestreffen der Kirchenasylinitia-tiven vom 8. - 10.03.1996) im Zusammenhang mit "Kirchenasyl"deutlich gemacht, daß ein einzelner sich nur dann auf eine Glau-bensüberzeugung berufen kann, wenn er von der Gemeinschaftder Glaubenden hierzu das Einverständnis erlangt habe, da derchristliche Glaube nicht nur ein Individual-, sondern auch ein Ge-meinschaftsglaube sei.

45 Gemeinsames Wort der Kirchen, a.a.O. (Fußn. 24), S. 100 (Abs.257).

46 Gemeinsames Wort der Kirchen, a.a.O. (Fußn. 24), S. 100 (Abs.257).

47 Zutreffend Baldus, a.a.O. (Fußn. 25).

Page 21: Maassen_Kirchenasyl

33

Die "Kirchenasyl"-Aktivisten finden sich in ihrem Verhalten

auch durch die ablehnende und zum Teil feindliche Haltung der

Amtskirchen gegenüber der Asylrechtsreform von 1993 bestätigt.

In der Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zu Entwick-

lungen in der Flüchtlings- und Asylpolitik vom 9. März 199548

sowie in dem ersten und zweiten Bericht der Kommission für

Ausländerfragen und ethnische Minderheiten des Rates der

Evangelischen Kirche in Deutschland49 wurde der Gesetzgeber

aufgefordert, die Asylrechtsreform in den wesentlichen Punkten

(etwa Drittstaatenregelung, Flughafenasylverfahren) rückgängig

zu machen. In keinem der Berichte und Forderungskataloge kam

zum Ausdruck, daß den Änderungen der verfassungsrechtlichen

Bestimmungen über das Asyl und den damit verbundenen ein-

fachgesetzlichen Regelungen eine zwingende Notwendigkeit für

die politisch Verantwortlichen in unserem Staat zugrunde lag, an-

gesichts der tatsächlichen Entwicklungen im Asylbereich endlich

zu handeln. Das BVerfG hat in seinen Grundsatzurteilen vom

14. Mai 1996 die Kritik an der Asylrechtsreform mit klaren Wor-

ten zurückgewiesen.50

C. Asylgewährung und die inneren Angele-genheiten der Kirchen

48 Pressemitteilung der Deutschen Bischofskonferenz vom

09.03.1995 (PRDD 95-001), "Erklärung der Deutschen Bischofs-konferenz zu Entwicklungen in der Flüchtlings- und Asylpolitik".

49 Vgl. EKD-Texte Nr. 51 und 55.50 BVerfGE 94, 49, 115, 166.

Page 22: Maassen_Kirchenasyl

34

1. Die von den Kirchen vertretene Beistandspflicht für ver-

folgte Ausländer hat sich - wie eingangs dargestellt - die Bundes-

republik Deutschland als Staatsaufgabe zu eigen gemacht. Im

Ver-hältnis zwischen Staat und Kirchen kann es mithin nicht

darum gehen, ob verfolgten Personen Schutz gewährt wird, son-

dern wer diesen Schutz zu gewähren hat.

In Deutschland obliegt die Asylgewährung und die Entschei-

dung über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern nach

der Verfassung und den Gesetzen allein dem Staat. Zwar ordnet

und verwaltet nach Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs.

3 Satz 1 WRV jede Religionsgemeinschaft ihre Angelegenheiten

selbständig, aber innerhalb der Schranken der für alle geltenden

Gesetze.51

a) Zu den eigenen Angelegenheiten der Kirchen gehören in

unserem Staat jedoch nicht Fragen des Ausländer- und Asyl-

rechts.52 Eine Zuständigkeit zur Asylgewährung und zur Ent-

scheidung über das Vorliegen von Abschiebungshindernissen ha-

ben die Kirchen auch nicht für sich beansprucht.53 Sie würde im

übrigen auch dem Grundsatz der inneren Souveränität eines

Staates zuwiderlaufen. Dem staatlichen Ausländer- und Asyl-

recht sind die Kirchen ebenso untergeordnet wie jeder andere

weltliche Verband. Kirchen, Kirchengemeinden oder kirchliche

51 Vgl. insbes. BVerfGE 46, 73 (95).52 Jacobs, in: ZevKR Bd. 35 (1990), S. 24 (37); Rothkegel, in: ZAR

1997, S. 121 (125) m.w.N.; Hofmann, a.a.O. (Fußn. 25), S. 366 ff.53 Vgl. etwa die von der EKD am 9./10.09.1994 verabschiedeten

Thesen zum Kirchenasyl, EKD-Pressemitteilung v. 10.09.1994,siehe Anhang 2. Vgl. auch Winter, in: KuR 885, S. 1 (2).

Page 23: Maassen_Kirchenasyl

35

Gruppen haben deshalb kein Recht zur Asylgewährung oder zur

Gewährung von Abschiebungsschutz.54

b) Fraglos zählt zu den eigenen Angelegenheiten der Kirchen

neben Lehre, Kultus, Seelsorge und anderen Bereichen der

Selbstbestimmung auch die Caritas als Gestalt "tätiger Näch-

stenliebe".55 Von den Kirchen getragene Krankenhäuser, Pflege-

einrichtungen56 und Schulen gehören als Ausdruck des kirchli-

chen Auftrages zum karitativen Wirken ebenso zu den eigenen

Angelegenheiten der Kirchen wie unter bestimmten Umständen

auch das Sammeln von Lumpen für karitative Zwecke.57 Ist nach

dem Selbstverständnis der Kirchen auch die Fürsorge für abge-

lehnte Asylbewerber und andere ausreisepflichtige Ausländer

Teil des kirchlichen Auftrages zur tätigen Nächstenliebe,58 so

erlaubt dies nicht die Schlußfolgerung, daß jede von den Kir-

chen gewählte Art der Fürsorge, also auch das "Kirchenasyl",

sich über den Gesichtspunkt der tätigen Nächstenliebe zu einer

eigenen Angelegenheit der Kirchen wandelt. Die Kirchen sind

nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV zur Regelung

ihrer eigenen Angelegenheiten berechtigt; dies begründet aber

kein Recht, im Wege der Regelung kirchlicher Angelegenheiten

54 Isensee, in: Listl/Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchen-

rechts, Bd. 2, 2. Aufl. 1995, S. 735; Münch, v., in: NJW 1995, S.565; Huber, in: ZAR 1988, S. 153 (155 f.).

55 Vgl. BVerfGE 24, 236 (247); 53, 366 (393); 57, 220 ( 242 f.); 70,138 ( 163).

56 BVerfGE 53, 366 (393); 57, 220 ( 242 f.); 70, 138 ( 163).57 BVerfGE 24, 236 (247).58 Vgl. das Gemeinsame Wort der Kirchen, a.a.O (Fußn. 24), S. 100,

Absatz 257.

Page 24: Maassen_Kirchenasyl

36

das Verhältnis zwischen den kirchlichen zu den gemeinsamen

Angelegenheiten von Kirche und Staat und zu den ausschließlich

staatlichen Angelegenheiten neu zu definieren.59

Ein gegenteiliger Standpunkt wird teilweise in der Literatur

eingenommen.60 Nach Ansicht von Geis61 und Siegmund62 ge-

hört "Kirchenasyl" als Ausdruck tätiger Nächstenliebe zum Kern

christlichen Auftrags und sei deshalb von Art. 4 GG geschützt.

Da Art. 137 Abs. 3 WRV auch die von Art. 4 GG geschützten In-

halte erfasse, habe das "Kirchenasyl" Anteil an der kirchlichen

Selbstverwaltungsgarantie. Obgleich diese Selbstverwaltungsga-

rantie nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV der

Schranke des für alle geltenden Gesetzes obliege, treffe nach

der vom BVerfG entwickelten "Wechselwirkungstheorie" ein dem

kirchlichen Selbstbestimmungsrecht Schranken ziehendes Ge-

setz seinerseits auf eine ebensolche Schranke, nämlich auf die

materielle Wertentscheidung der Verfassung, wobei allerdings

die Schranke des für alle geltenden Gesetzes im Lichte der

Selbstverwaltungsgarantie der Kirche auszulegen sei. Siegmund

59 Vgl. Gramlich, a.a.O. (Fußn. 25), S. 195 (204).60 So jüngst Geis, in: JZ 1997, S. 60 (62 ff.); Siegmund, a.a.O.

(Fußn. 25), S. 44 ff. (48), 66 ff.; in die gleiche Richtung denkenauch Huber, in: ZAR 1988, S. 153 (155 f.); Robbers, in: AöR1988, S. 31 (43); Kaltenborn, in: DVBl. 1993, S. 25 (27); Demand,a.a.O. (Fußn. 25), S. 31 f., Grote/Krauss, in: JuS 1997, S. 345(347), und Rothkegel, in: ZAR 1997, S. 121 (125).

61 Geis, in: JZ 1997, S. 60 (62 ff.).62 Siegmund, a.a.O. (Fußn. 25), S. 44 ff. (48), 66 ff.

Page 25: Maassen_Kirchenasyl

37

zieht hieraus den kühnen Schluß, Art. 4 GG enthalte ein "Grund-

recht auf Kirchenasyl".63

Von den Vertretern dieser Sichtweise wird für die zentrale

Frage, ob "Kirchenasyl" als eigene Angelegenheit der Kirchen

anzusehen sei, im wesentlichen auf den "Lumpensammlerbe-

schluß" des BVerfG verwiesen.64

In der Entscheidung ging es im wesentlichen darum, daß

ein kommerzieller Altwarenhändler die von der katholi-

schen Landjugend durchgeführten Altwarensammlungen,

deren Erlöse der Landjugend in Entwicklungsländern zu-

gute gekommen sind, als wettbewerbswidrig beanstandete,

weil in den Kirchen für diese Sammlung Werbung ge-

macht worden war. Infolge der karitativen Sammlungen

hätten etwa 90 % der kommerziellen Lumpensammler ih-

ren Betrieb einstellen müssen. Das von dem Altwaren-

händler angerufene Landgericht sah in der Kanzelwerbung

eine gegen die guten Sitten verstoßende Wettbewerbs-

handlung (§ 1 UWG). Die Landjugendbewegung habe sit-

tenwidrig gehandelt, weil sie mit der katholischen Kirche

eine wettbewerbsfremde Autorität für ihre Werbung einge-

spannt habe. Das BVerfG stellte fest, daß die landgericht-

liche Entscheidung verfassungswidrig war, weil die aus re-

ligiös-karitativen Motiven von der katholischen Landjugend

63 Siegmund, a.a.O. (Fußn. 25), S. 156.64 BVerfGE 24, 236 (247).

Page 26: Maassen_Kirchenasyl

38

veranstalteten Altmaterialsammlungen zu der durch Art. 4

Abs. 2 GG geschützten Religionsausübung gehören.

Geis zieht aus dieser Entscheidung folgende Schlußfolge-

rung:65 "Ist aber bereits der mittelbare Schutz der Nächstenliebe

(nämlich durch Verkauf gesammelter Altkleider und Spende des

Erlöses) grundrechtsgeschützt, dann ist es erst recht die karitati-

ve Hilfe, die Flüchtlingen unmittelbar durch christliche Gemein-

den gewährt wird".

Die Bezugnahme auf die rund dreißig Jahre alte "Lumpen-

sammlerentscheidung" macht deutlich, daß diese Entscheidung

singulär und ohne Nachfolge geblieben ist. Die sich auf diese

Entscheidung berufende Auffassung, daß "Kirchenasyl" Gegen-

stand des kirchlichen Selbstverwaltungsrechts ist, muß mit Nach-

druck zurückgewiesen werden.66

c.) Die "Lumpensammlerentscheidung" läßt den Schluß zu,

daß unter bestimmten Voraussetzungen karitative Sammlungen

zu den eigenen Angelegenheiten der Kirchen im Sinne von Art.

140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV zählen. Einzuräumen ist,

daß die Eigenschaft als "eigene Angelegenheit" nicht schon

durch den bloßen Außenbezug und mögliche Verletzungen staat-

lichen Rechts entfällt.67 Die Entscheidung, der wohlgemerkt eine

wettbewerbsrechtliche Auseinandersetzung zwischen der Kirche

und einem privaten Unternehmer zugrunde lag, enthält jedoch

65 Geis, in: JZ 1997, S. 60 (63).66 So auch Renck, in: NJW 1997, S. 2089; Hofmann, a.a.O. (Fußn.

25), S. 368.67 Vgl. Geis, in: JZ 1997, S. 60 (62 m. w. N.).

Page 27: Maassen_Kirchenasyl

39

keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß die Kirchen durch die Ausfül-

lung des Begriffs der tätigen Nächstenliebe Regelungsbereiche

in ihre Zuständigkeit ziehen können, die dem Staat vorbehalten

sind. Der offene Begriff der tätigen Nächstenliebe begründet kein

Recht, das Verhältnis zwischen eigenen kirchlichen und aus-

schließlich staatlichen Angelegenheiten einseitig neu zu definie-

ren.

Sofern Fürsorge gegenüber Fremden als Ausdruck tätiger

Nächstenliebe angesehen wird, so kann diesem Auftrag, ohne in

staatliche Zuständigkeiten einzugreifen, auch im Rahmen der be-

stehenden Rechtsordnung (etwa durch die Betreuung von Asyl-

bewerbern während des Asylverfahrens) nachgekommen wer-

den. Sieht man die Unterbringung von Ausländern als Ausfluß

der "tätigen Nächstenliebe" und als eigene Angelegenheit der

Kirchen an, dann kann dies nicht bedeuten, daß die Kirchen hin-

sichtlich des personalen Anwendungsbereichs völlig frei wären

und damit bestehende Pflichtenstellungen nach eigenem Belie-

ben auflösen können. So kann, um einen anderen Bereich bei-

spielhaft zu nehmen, die Kirche zwar Gefangenenseelsorge be-

treiben, sie kann aber nicht den Aufenthalt von Straftätern in

dem Sinne bestimmen, daß die Personen von der Kirche ver-

wahrt bzw. untergebracht werden.

d.) Anhaltspunkte enthält die "Lumpensammlerentscheidung"

auch nicht dafür, daß "Kirchenasyl" Ausdruck der Religionsaus-

übung im Sinne von Art. 4 Abs. 2 GG ist. In dieser Entscheidung,

die im übrigen im Schrifttum wegen der Ausdehnung des Schutz-

Page 28: Maassen_Kirchenasyl

40

bereiches von Art. 4 GG auf deutliche Kritik gestoßen ist,68

machte das BVerfG deutlich, daß es sich um eine Einzelfallent-

scheidung handelte, denn die grundsätzlichen Fragen zu den

Grenzen des Grundrechts der Religionsfreiheit wollte das Gericht

ausdrücklich nicht beantworten.69 Auch hat es festgestellt, daß

karitative Sammlungen der Kirchen nicht per se, sondern nur un-

ter bestimmten Voraussetzungen religiösen Charakter haben und

damit den Schutz des Art. 4 Abs. 2 GG beanspruchen dürfen.70

Von daher verbietet sich die Ableitung, daß, wenn das Lumpen-

sammeln unter Art. 4 GG fällt, dies erst recht für die kirchliche

Fürsorge für Ausländer und vor allem für die Gewährung von

"Kirchenasyl" gilt. Durch eine Verallgemeinerung der singulären

"Lumpensammlerentscheidung" kann die Frage des Inhalts und

der Reichweite von Art. 4 Abs. 2 GG nicht entschieden werden.71

Die auf einer extensiven Auslegung dieser Entscheidung fu-

ßende These von einer im Grundrecht auf Religionsausübungs-

freiheit wurzelnden Gewährung von "Kirchenasyl" ist auch nicht

zu Ende gedacht,72 denn einerseits käme ein derartiges Privileg

nicht nur den Kirchen, sondern auf Grund der verfassungsrechtli-

chen Gleichstellung von Religionsgemeinschaften und Weltan-

68 Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetzkommentar, Art. 4

Rdnr.103 f. m.w.N.69 BVerfGE 24, 236 (249).70 BVerfGE 24, 236 (249).71 Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetzkommentar, Art. 4 Rdnr.

157, hat zu Recht darauf hingewiesen, daß man bei der Anwen-dung von Art. 4 GG mit allgemeinen Formeln nicht weiter kommt.Vielmehr hängt hier die verfassungsrechtliche Lösung meist vonder konkreten Situation ab.

Page 29: Maassen_Kirchenasyl

41

schauungsgesellschaften selbst den "organisierten Atheisten" zu-

gute,73 und andererseits würde alles in den Schutzbereich des

Art. 4 Abs. 2 GG fallen, was nach dem aktuellen Empfinden der

Kirchen als "tätige Nächstenliebe" anzusehen wäre.74 Und nicht

nur das: Nimmt man weitere Bereiche des Selbstverständnisses

der kirchlichen Lehre hinzu, wie etwa die Bewahrung der Schöp-

fung, würde jeder gesellschaftliche Vorgang "zum rechtlich ab-

gesicherten Gegenstand kirchlicher Intervention in die staatliche

Verwaltung werden"75. Die Rechtsordnung stünde unter dem

Vorbehalt des kirchlichen Beliebens.

2. Wenn Kirchengemeinden oder Gemeindemitglieder Aus-

ländern, die nach negativem Abschluß des Asylverfahrens abge-

schoben werden sollen, in ihren Räumen Schutz vor dem Zugriff

der Behörden bieten, weil sie die Richtigkeit der getroffenen be-

hördlichen Entscheidungen bezweifeln, heißt dies im Klartext

nichts anderes, als daß sie sich nach Ausschöpfung des Rechts-

72 Hofmann, a.a.O. (Fußn. 25), S. 369.73 Renck, in: NJW 1997, S. 2089 (2091).74 Renck, in: NJW 1997, S. 2089 (2090); Hofmann, a.a.O. (Fußn.

25), S. 369.75 Renck, in: NJW 1997, S. 2089 (2090). So wird neuerdings unter

Berufung auf die These von Geis die Auffassung vertreten, daßhinsichtlich der im Flughafenasylverfahren (§ 18a AsylVfG) erfor-derlichen asylrechtskundigen Beratung von Asylbewerbern entge-gen den Bestimmungen des Rechtsberatungsgesetzes die Bera-tung auch durch kirchliche Sozialarbeiter und ehrenamtliche Mit-arbeiter der Kirchen erfolgen könne, weil die Beratung von Asyl-bewerbern Ausdruck der tätigen Nächstenliebe und damit eigeneAngelegenheit der Kirchen sei (Heinhold, in: ZAR 1997, S. 110,118 f.).

Page 30: Maassen_Kirchenasyl

42

weges als Oberinstanz im Asylverfahren verstehen:76 Sie neh-

men für sich die Kompetenz in Anspruch, bessere Kenntnisse

und Informationen zu besitzen als Bundesamt und Gerichte. Be-

denklich ist auch, daß sie sich einerseits als Anwalt der ausrei-

sepflichtigen Ausländer verstehen und andererseits wegen an-

geblich höherer Einsicht die Rolle eines Richters im Asylverfah-

ren für sich beanspruchen.77 Nicht ganz zu Unrecht hat man den

"Kirchenasyl"-Aktivisten Selbstjustiz vorgeworfen:78 der Ver-

gleich mit dem Opfer einer Straftat, das, unzufrieden mit dem

Urteil des Strafgerichts, das Recht selbst in die Hand nimmt,

drängt sich auf.

Die "Kirchenasyl"-Aktivisten berufen sich zur Legitimierung ih-

res Handelns darauf, daß der Staat in einer Reihe von Fällen auf

Grund des gewährten "Kirchenasyls" nachgegeben und die Aus-

länder nicht oder zumindest nicht sofort abgeschoben habe.79

76 Wassermann: Wenn Pfarrer die Oberinstanz im Asylverfahren

sein wollen, in: Die Welt v. 30.06.1993; ders.: Wenn Pfarrer sichals Helfer von Rechtsbrechern betätigen, in: Die Welt v.06.10.1992.

77 Vgl. hierzu auch Quaritsch: Recht auf Asyl, S. 49 f. Ein ähnlichesPhänomen findet man neuerdings in Unterhaltungssendungen pri-vater Fernsehanbieter, die mit Sendungen wie "Wir kämpfen fürSie" mit dem Mittel der "Prangerandrohung" Druck auf Behördenund Privatunternehmen ausüben, um angeblich berechtigte Forde-rungen von Einzelpersonen durchzusetzen wollen. Das LG Kölnhat lt. Handelsblatt v. 27.01.1998 diese Praxis als unzulässig an-gesehen.

78 Gres: Kirchen auf dem Weg zur Selbstjustiz?, in: Die Welt v.05.07.1994.

79 Nach einer Publikation der Ökumenischen Bundesarbeitsgemein-schaft Asyl in der Kirche, "Zufluchtsort Kirche - Eine empirischeUntersuchung über Erfolg und Mißerfolg von Kirchenasyl", S. 3,16, sollen in etwa 70 % der Fälle von "Kirchenasyl" Abschiebun-

Page 31: Maassen_Kirchenasyl

43

Abgesehen davon, daß diese Angaben von staatlicher Seite

nicht nachgeprüft werden können, weil hierüber keine staatliche

Statistik geführt wird, wird die entscheidende Frage, warum in

diesen Fällen nicht abgeschoben wurde, nicht beantwortet.80

Hieraus zu folgern, daß die vorangegangenen Asylentscheidun-

gen von Bundesamt und Gerichten falsch waren, ist deshalb un-

redlich, da die im Staat Verantwortlichen in aller Regel nur aus

politischen Gründen dem Druck von Kirchen und Medien nach-

geben.81 Ein derartiger Pressionserfolg ermutigt allerdings nach-

ahmende Aktionen, weil aus dem Nachgeben des Staates auf die

Richtigkeit der Gewährung von "Kirchenasyl" geschlossen wird.

D. Rechtsgehorsam und Gewissensfreiheit

1. Das Rechtsstaatsprinzip setzt als Selbstverständlichkeit die

Gehorsamspflicht der Bürger gegenüber der Staatsgewalt vor-

gen verhindert worden sein. Auf diese Angabe beruft sich kritik-und kommentarlos auch das "Gemeinsame Wort der Kirchen",a.a.O (Fußn. 24), S. 99, Absatz 255. Nach Heimbach-Steins (in:Stimmen der Zeit 1996, S. 291, S. 296) soll die Erfolgsquote garbei 90 % liegen. Kritisch gegenüber diesen Erfolgsmeldungen istselbst der Flüchtlingsexperte der Evangelischen Kirche im Rhein-land Gutheil, in: taz v. 01.02.1997:"Was da alles als Erfolg gezähltwird, müßte man sich sehr genau ansehen. Aus diesen Zahlen zuschließen, in 70 % der Fälle hätten sich die Ausländerbehördenwillkürlich Verfehlungen schuldig gemacht, halte ich für falsch".

80 Hund, in: DRiZ 1994, S. 362 (363); Hofmann, a.a.O. (Fußn. 25),S. 381.

81 Vgl. Münch, v., in: NJW 1996, S. 565 (566); Hofmann, a.a.O.(Fußn. 25), S. 381; Baldus, a.a.O. (Fußn. 25), der hinsichtlich derGewährung von "Kirchenasyl" in Sakralräumen zutreffend fest-stellt, daß die "Ausnutzung einer psychischen Barriere, die ... im-

Page 32: Maassen_Kirchenasyl

44

aus.82 Gehorsamspflicht und Staatsgewalt sind logisch untrenn-

bar. Deshalb ist es in einem demokratischen Rechtsstaat nicht

hinnehmbar, wenn einzelne Personen, Gruppen oder Institutio-

nen sich über Gesetze hinwegsetzen, weil sie diese als für sich

nicht verbindlich anerkennen, oder auf der Grundlage von demo-

kratisch zustande gekommenen Gesetzen getroffene Entschei-

dungen von Behörden und Gerichten negieren und ihre eigenen

Entscheidungen an deren Stelle setzen. Gesetzen darf grund-

sätzlich nicht zuwider gehandelt werden, unabhängig davon, ob

sie jedermann als "richtiges Recht" überzeugen. Gegen Gesetze

darf auch dann nicht verstoßen werden, wenn dem eigenen

Rechtsempfinden zufolge das geltende Ausländer- und Asylrecht

schutzbedürftige Ausländer nicht hinreichend schützt, oder wenn

die in diesen Gesetzen zum Ausdruck gebrachte ausländerpoliti-

sche Grundhaltung vom einzelnen generell abgelehnt wird.83

Rechtsgehorsam schuldet der einzelne auch gegenüber den

auf der Grundlage der Gesetze getroffenen behördlichen und ge-

richtlichen Entscheidungen. Hiergegen sind nur die von der

Rechtsordnung vorgesehenen Rechtsbehelfe möglich.

2. Von Menschen getroffene Entscheidungen können irrtums-

behaftet und deshalb fehlerhaft sein. Durch ein umfassendes

mer noch vor weltlichen Eingriffen in einen Sakralraum schützt,eine Form der vis compulsiva" darstellt.

82 Krüger, in: Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 960 ff.; vgl.zur Loyalitätspflicht der Kirchen aus dem Vertragskirchenrecht ge-genüber dem Rechtsstaat Baldus, a.a.O. (Fußn. 25).

83 Vgl. auch Goethes Maxime "Es ist besser, es geschehe dir Un-recht, als die Welt sei ohne Gesetz. Deshalb füge sich jeder demGesetze." (Maximen und Reflexionen, Nr. 113).

Page 33: Maassen_Kirchenasyl

45

Rechtsmittelsystem kann die Gefahr materiell falscher Entschei-

dungen verringert werden. Doch auch ein noch so verfeinertes

Verfahrensrecht kann nicht völlig ausschließen, daß im Einzelfall

inhaltlich falsche Entscheidungen getroffen werden. Hierbei han-

delt es sich um ein generelles Problem der Rechtsfindung. Auch

das beste Strafprozeßrecht kann fehlerhafte Entscheidungen

nicht völlig ausschließen. Fraglich kann sein, inwieweit unan-

fechtbare Entscheidungen aufzuheben sind, wenn sich nachträg-

lich herausstellt, daß sie materiell fehlerhaft sind. Diese Frage

stellt sich auch bei den Fällen von "Kirchenasyl", wenn behauptet

wird, daß bestandskräftige ausländerrechtliche- oder asylrechtli-

che Entscheidungen materiell fehlerhaft sind, weil Gesetze

falsch angewandt oder entscheidungserhebliche Tatsachen nicht

zureichend berücksichtigt worden sind. Damit ist das grundsätzli-

che Problem des Verhältnisses von materieller Gerechtigkeit zur

Rechtssicherheit angesprochen.

Materielle Gerechtigkeit und Rechtssicherheit sind wesentli-

che Säulen des Rechtsstaatsprinzips und können in einem Wi-

derstreit zueinander stehen.84 Der Grundsatz der Rechtssicher-

heit verlangt nicht nur einen geregelten Verlauf des Rechtsfin-

dungsverfahrens, sondern auch einen Abschluß, dessen Rechts-

beständigkeit gesichert ist.85 Die Rechtskraft gerichtlicher Ent-

scheidungen und die Bestandskraft von Verwaltungsakten dienen

84 BVerfGE 3, 225 (237); 7, 194 (196); vgl. auch BVerfGE 60, 253

(267).85 BVerfGE 2, 380 (403).

Page 34: Maassen_Kirchenasyl

46

der Rechtssicherheit.86 Damit wäre es nicht vereinbar, wenn

rechts- oder bestandskräftige Entscheidungen wegen angeblicher

materieller Unrichtigkeit immer wieder angegriffen werden

könnten.87 Das BVerfG hat dem Prinzip der Rechtssicherheit ei-

ne so zentrale Bedeutung für den Rechtsstaat beigemessen, daß

"die Möglichkeit einer im Einzelfall vielleicht unrichtigen Ent-

scheidung in Kauf genommen werden muß".88 Der Gesetzgeber

handelt deshalb nicht willkürlich, wenn er dem Grundsatz der

Rechtssicherheit im Verfahrensrecht den Vorrang gibt.89 Das

BVerfG hat dies für das Asylverfahrensrecht ausdrücklich bestä-

tigt.90 Dem hiermit kollidierenden Prinzip der materiellen Ge-

rechtigkeit wird im Rahmen des in den Verfahrensordnungen

vorgesehenen Wiederaufnahmeverfahrens, das im Asylverfah-

rensrecht durch das Folgeantragsverfahren seine besondere

Ausgestaltung gefunden hat, Rechnung getragen. Dies bedeutet,

daß auf Grund des aus dem Rechtsstaatsprinzip sich ergeben-

den Grundsatzes der Rechtssicherheit eine Verpflichtung zur Be-

folgung bestandskräftiger negativer Entscheidungen über Asy-

lanträge auch dann besteht, wenn "Kirchenasyl" gewährende

Gemeinden angebliche materielle Fehler der Entscheidungen

rügen.

86 BVerfGE 47, 146 (165); 60, 253 (269).87 Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des

Staatsrechts, Bd. I, § 24, Rdnr. 82 f.88 BVerfGE 2, 380 (403); vgl. auch BVerfGE 7, 194 (196).89 Vgl. BVerfGE 7, 194 (196); 11, 263 (265); 19, 150 (166); 20, 230

(235).

Page 35: Maassen_Kirchenasyl

47

Nach der Rechtsprechung des BVerfGs zum Unrecht in der

NS-91 und SED-Diktatur92 kann sich lediglich dann ein überposi-

tives Recht und sogar eine Pflicht zum Verstoß gegen positives

Recht ergeben, wenn der Widerspruch zwischen Gerechtigkeit

und positivem Recht ein unerträgliches Maß erreicht. In diesen

Fällen hat die materielle Gerechtigkeit Vorrang vor der Rechtssi-

cherheit und der Pflicht des einzelnen zum Rechtsgehorsam.

Dabei kommt es aber auch darauf an, daß das Unrecht und sein

erhebliches Gewicht nicht nur in der Phantasie der Protestieren-

den existieren, sondern auch für Dritte erkennbar, also offenkun-

dig sind.93 Das BVerfG94 hat zur Bestimmung dieser Fälle die

von Radbruch95 entwickelte Formel übernommen:

"Der Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit

dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Sat-

zung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang

hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist,

es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes

zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß

90 BVerfGE 60, 253 (269, 295 f.), danach dienen Verfahrensvor-

schriften, die trotz politischer Verfolgung die Asylanerkennungversagen, dem Prinzip der Rechtssicherheit.

91 Vgl. BVerfGE 3, 225 (232 f.); 6, 132 (198); 6, 389 (414 f.); 23, 98(106); 54, 53 (67 f.).

92 Vgl. BVerfGE 95, 96 (133 ff.).93 Vgl. auch Klein: Ziviler Ungehorsam im demokratischen Rechts-

staat?, in: Rüthers/Stern (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung imVerfassungsstaat, Festausgabe zum zehnjährigen Jubiläum derGesellschaft für Rechtspolitik, 1984, S. 177 (179).

94 BVerfGE 3, 225 (232 f.); 6, 132 (198); 6, 389 (414 f.); 95, 96(134).

95 Radbruch, in: Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, S. 345.

Page 36: Maassen_Kirchenasyl

48

das Gesetz 'als unrichtiges Recht' der Gerechtigkeit zu

weichen hat."

Im Rechtsstaat des Grundgesetzes ist für dieses Recht zur

Verweigerung des Rechtsgehorsams kein Raum.

Im Unterschied zum Grundgesetz wird im Neuen Testament

die Pflicht zum Rechtsgehorsam und zum Gehorsam gegenüber

den Entscheidungen des Staates und seiner Organe ausdrücklich

betont:

"Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den

schuldigen Gehorsam." (Röm 13, 1)

"Erinnere sie daran, sich den Herrschern und Machtha-

bern unterzuordnen und ihnen zu gehorchen." (Tit 3, 1)

"Unterwerft euch um des Herrn willen jeder menschli-

chen Ordnung: dem Kaiser, weil er über allen steht,

den Statthaltern, weil sie von ihm entsandt sind, um die

zu bestrafen, die Böses tun, und die auszuzeichnen,

die Gutes tun." (1 Petr 2, 13 f.)96

Andererseits gilt auch diese Gehorsamspflicht nicht aus-

nahmslos. Die von Radbruch geprägte Formel erscheint als zeit-

gemäße Konkretisierung der Forderung "Man muß Gott mehr ge-

horchen als den Menschen" (Apg 5, 29);97 eine Forderung, die

96 Vgl. dazu auch den Katechismus der Katholischen Kirche, Ziff.

1900: "Die Gehorsamspflicht verlangt von allen, der Autorität dieihr gebührende Ehre zu erweisen und die Personen, die ein Amtausüben, zu achten und ihnen - je nach Verdienst - Dankbarkeitund Wohlwollen entgegenzubringen."

97 Vgl. auch den Katechismus der Katholischen Kirche, Ziff. 2242:"Der Bürger hat die Gewissenspflicht, die Vorschriften der staatli-

Page 37: Maassen_Kirchenasyl

49

allerdings im demokratischen Rechtsstaat Gesetzesverstöße

nicht legitimiert.

Nationalsozialismus und SED-Sozialismus haben gezeigt,

daß es für Christen wie für Nichtchristen gleichermaßen schwie-

rig ist, in den Fällen von offenkundigem Unrecht dem Staat den

Rechtsgehorsam aufzukündigen. Nur Wenige hatten die Zivil-

courage, ungerechtes Recht als Unrecht zu benennen, zu wider-

sprechen oder Widerstand zu leisten. Diese Versäumnisse der

Vergangenheit können im demokratischen Rechtsstaat nicht da-

durch nachgeholt werden, daß demokratisch zustande gekom-

mene Gesetze nicht befolgt werden. Während in einer Diktatur

die Verweigerung des Rechtsgehorsam geboten sein kann, ist

der Rechtsgehorsam für den demokratischen Rechtsstaat eine

Grundvoraussetzung.

3. Die Autorität des Staates im Bereich des Ausländer- und

Asylrechts wird durch eine Reihe von Strafvorschriften ge-

schützt. Handlungen im Zusammenhang mit "Kirchenasyl" kön-

nen gegen zahlreiche Strafvorschriften98 verstoßen:99

chen Autoritäten nicht zu befolgen, wenn diese Anordnungen denForderungen der sittlichen Ordnung, den Grundrechten des Men-schen oder den Weisungen des Evangeliums widersprechen."

98 Vgl. hierzu auch Robbers: Strafrecht und Verfassung beim Kir-chenasyl, in: Barwig/Bauer (Hrsg.), a.a.O., S. 117 ff.; ders., in:AöR Bd. 113 (1988), S. 30 (48 ff.); Huber: Kirchenasyl im Span-nungsverhältnis von strafrechtlicher Verfolgung und verfassungs-rechtlicher Legitimation, in: Barwig/Bauer (Hrsg.), a.a.O., S. 99(99-102); ders., in: ZAR 1988, S. 153 f.

99 Der Tagespresse kann entnommen werden, daß die Strafverfol-gungsbehörden "Kirchenasyl"-Aktivisten in zunehmendem Maßestrafrechtlich zur Verantwortung ziehen, vgl. etwa SZ v.

Page 38: Maassen_Kirchenasyl

50

a) Nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG macht sich ein Auslän-

der strafbar, wenn er sich ohne Aufenthaltsgenehmi-

gung oder Duldung in Deutschland aufhält. Das Ver-

stecken ausreisepflichtiger Ausländer wird regelmäßig

als Beihilfe i. S. d. § 27 Abs. 1 StGB zu § 92 Abs. 1

Nr. 1 AuslG zu bewerten sein. Gegebenenfalls kann

auch Anstiftung zum illegalen Aufenthalt vorliegen.

b) Nach § 92a Abs. 1 AuslG wird die qualifizierte Beihilfe

oder Anstiftung zu einer Straftat nach § 92 Abs. 1 Nr.

1, 2 oder 6 oder Abs. 2 AuslG mit Freiheitsstrafe bis zu

fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Eine qualifi-

zierte Beihilfe oder Anstiftung liegt insbesondere vor,

wenn der Täter, wie oftmals bei den Fällen von "Kir-

chenasyl", wiederholt oder zugunsten von mehr als

fünf Ausländern handelt.

c) Nach § 92a Abs. 2 AuslG wird mit Freiheitsstrafe von

sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft, wer in den

Fällen des Absatzes 1 gewerbsmäßig oder als Mitglied

26.10.1996 (Regensburg: Pfarrer im Visier der Justiz), "Die Welt"v. 02.11.1996 (Köln: Prozeß gegen Pfarrer wegen Kirchenasyl),FR v. 12.12.1996 (Berlin: Unter Tatverdacht: Pfarrer und Gemein-de), FR v. 18.12.1997 (Hamburg: Ermittlungen gegen Pastor we-gen Kirchenasyls), "Rheinische Post" v. 21.01.1998 (Pfarrer alsMenschenschmuggler in Haft), FR v. 26.02.1998 (Goslar: Kir-chenasyl hat für Pastor strafrechtliche Folgen). Wassermann(Nicht das Urteil ist der Skandal, sondern der Aufruf zum Wider-stand - Zum Kölner Behindertenurteil, in: NJW 1998, S. 730, 731)stellt dagegen fast resignierend fest, "das sogenannte Kirchenasylz. B. wird so häufig gewährt, daß viele müde geworden sind, auchnur auf dessen Rechtswidrigkeit aufmerksam zu machen".

Page 39: Maassen_Kirchenasyl

51

einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung sol-

cher Taten verbunden hat, handelt. Bei der Gewäh-

rung von "Kirchenasyl" dürfte der Tatbestand der ban-

denmäßigen Begehung durchaus in Betracht zu ziehen

sein. Eine Bande ist eine Gruppe von mindestens zwei

Mitgliedern. Mit fortgesetzter Begehung ist die Bege-

hung mehrerer selbständiger, im einzelnen noch un-

gewisser Taten gemeint.

d) Nach § 92b Abs. 1 AuslG wird mit Freiheitsstrafe von

einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft, wer in den

Fällen des § 92a Abs. 1 AuslG gewerbsmäßig und als

Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Bege-

hung solcher Taten verbunden hat, handelt.

e) Nach § 84 Abs. 1 AsylVfG wird mit Freiheitsstrafe bis

zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer einen

Ausländer verleitet oder dabei unterstützt, im Asylver-

fahren vor dem Bundesamt oder im gerichtlichen Ver-

fahren unrichtige oder unvollständige Angaben zu ma-

chen, um seine Anerkennung als Asylberechtigter oder

die Feststellung, daß die Voraussetzungen des § 51

Abs. 1 AuslG vorliegen, zu ermöglichen. Ein beson-

ders schwerer Fall, der mit Freiheitsstrafe bis zu fünf

Jahren bestraft wird, liegt in der Regel vor, wenn der

Täter wiederholt oder zugunsten von mehr als fünf

Ausländern handelt. Parallel zu § 92a Abs. 2, § 92b

AuslG wird die Verleitung zur mißbräuchlichen Asy-

Page 40: Maassen_Kirchenasyl

52

lantragstellung nach § 84 Abs. 3 AsylVfG bei gewerbs-

oder bandenmäßiger Begehung mit Freiheitsstrafe von

sechs Monaten bis zu zehn Jahren und nach § 84a

AsylVfG bei gewerbs- und bandenmäßiger Begehung

mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren

bedroht.

f) Nach § 85 AsylVfG machen sich Asylbewerber u. a.

strafbar, wenn sie wiederholt einer Aufenthaltsbe-

schränkung zuwiderhandeln. In den Fällen von "Kir-

chenasyl" kann eine Beihilfe oder Anstiftung zu dieser

Straftat gegeben sein.

g) Soweit durch die Gewährung von "Kirchenasyl" ab-

sichtlich oder wissentlich vereitelt wird, daß ein Aus-

länder wegen vorangegangener Straftaten (etwa nach

dem AuslG und AsylVfG) bestraft wird, oder die Voll-

streckung einer bereits verhängten Strafe vereitelt

wird, kommt Strafvereitelung nach § 258 Abs. 1, 2

StGB in Frage.

h) Wenn durch die Gewährung von "Kirchenasyl" der ille-

gale Voraufenthalt von Ausländern abgesichert oder,

bei illegal eingereisten Ausländern, der weitere illegale

Verbleib gesichert werden soll, kann Begünstigung

vorliegen, die nach § 257 Abs. 1 StGB mit Freiheits-

strafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft

wird.

Page 41: Maassen_Kirchenasyl

53

i) "Kirchenasyl" kann u. U. auch als Widerstand gegen

Vollstreckungsbeamte nach § 113 StGB zu beurteilen

sein, wenn polizeiliche Maßnahmen zur Abschiebung

des Ausländers mit Gewalt oder durch Drohung mit

Gewalt verhindert werden.

j) Soweit die Gewährung von "Kirchenasyl" mit der Be-

gehung von Straftaten im Zusammenhang steht, kann

der Zusammenschluß von Gemeindemitgliedern zur

gemeinschaftlichen auf bestimmte Dauer ausgerich-

teten Gewährung von "Kirchenasyl" als Bildung einer

kri-minellen Vereinigung (§ 129 StGB) zu werten sein.

4. Die Ansicht ist verbreitet, daß im Hinblick auf die ethisch

motivierte Zielsetzung eine Bestrafung wegen "Kirchenasyls"

nicht in Betracht kommen könne.100 Gegenüber derartigen Straf-

freiheitsüberlegungen ist jedoch Vorsicht geboten.

a) Den "Kirchenasyl"-Gewährenden steht kein gesetzlicher

Rechtfertigungsgrund zur Seite. Sie können sich weder auf den

Rechtfertigungsgrund der Nothilfe (§ 32 StGB) berufen, da das

staatliche Handeln in aller Regel keinen rechtswidrigen Eingriff in

die Rechtsgüter des Ausländers darstellt, noch auf den des Not-

stands (§ 34 StGB), denn nach dem für die Einschätzung der

Gefahrenlage zuständigen Bundesamt bzw. den angerufenen

100 Vgl. Robbers, in: AöR Bd. 113 (1988), S. 30 (46 ff., 51); Roßkopf,

in: AWR-Bull. 1996, S. 103 ff.; Huber, in: ZAR 1988, S. 153 ff.;Winter, in: KuR 885, S. 1 (5 f.);.

Page 42: Maassen_Kirchenasyl

54

Gerichten steht fest, daß eine § 34 StGB begründende Gefah-

rensituation gerade nicht besteht.101 Der verschiedentlich ver-

wendete Begriff des "zivilen Ungehorsams"102 begründet außer-

halb des exzeptionellen Falls des Art. 20 Abs. 4 GG keinen

Rechtfertigungsgrund; der dahinter stehende Gedanke ist mit

den Grundprinzipien des demokratischen Rechtsstaates unver-

einbar,103 er verletzt die innerstaatliche Friedenspflicht, verstößt

gegen das Prinzip der Gleichheit aller vor dem Gesetz und setzt

sich über das Mehrheitsprinzip hinweg, das für ein demokratisch

verfaßtes Gemeinwesen konstituierend ist.104

b) Auch Art. 4 Abs. 1 GG steht einer Bestrafung wegen Straf-

taten, die im Zusammenhang mit "Kirchenasyl" verwirklicht wur-

den, nicht entgegen. Dabei kann dahinstehen, ob die Gewährung

von "Kirchenasyl" Ausdruck der Freiheit des Glaubens, des Ge-

wissens oder der des religiösen oder weltanschaulichen Bekennt-

nisses ist (Art. 4 Abs. 1 GG), da es hier im wesentlichen nur um

die Frage geht, ob und inwieweit im Falle der Verwirklichung ei-

nes Straftatbestandes Art. 4 Abs. 1 GG zur Straflosigkeit führen

kann. Zwar sind die Freiheitsverbürgungen des Art. 4 Abs. 1 GG

vorbehaltlos, aber nicht schrankenlos garantiert.105 So darf die

Ausübung der Freiheiten nicht in Widerspruch zu anderen Wert-

101 Jacobs, in: ZevKR Bd. 35 (1990), S. 24 (40); Radtke/Radtke, in:

ZevK Bd. 42 (1997), S. 23 (49 ff.).102 Vgl. etwa BVerfGE 73, 206 (250-252).103 BGHSt 23, 46 (56 ff.); vgl. auch Hirsch, Strafrecht und Überzeu-

gungstäter, 1996, S. 33.104 Vgl. hierzu auch die ausführlichen Darlegungen von Hofmann,

a.a.O. (Fußn. 25), S. 382 ff.105 Vgl. BVerfGE 32, 98 (107); 33, 23 (29); 52, 223 (247).

Page 43: Maassen_Kirchenasyl

55

entscheidungen der Verfassung geraten und zu fühlbaren Beein-

trächtigungen des Gemeinwesens oder der Grundrechte anderer

führen.106 Dies bedeutet, daß durch die in Art. 4 Abs. 1 GG ver-

bürgten Freiheiten die Rechtsgehorsamspflicht des Bürgers nicht

in das Belieben von Glauben und Gewissen gestellt wird. Die in

der verfassungsrechtlichen Literatur durchgängig zu findende

Aussage, daß in exzeptionellen Konfliktfällen der staatliche

Strafanspruch bei glaubens- oder gewissensmotivierten Handlun-

gen zurückstehen muß, ist für den Strafrechtsanwender wenig

hilfreich und läßt entgegen dem gerade im Strafrecht so wichti-

gen Bestimmtheitsgebot Art und Umfang des verfassungsrecht-

lich gebotenen Strafverzichts offen.

Gewiß kann aus den Freiheiten des Art. 4 Abs. 1 GG kein

strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund hergeleitet werden;107 ge-

gen das glaubens- oder gewissensmotivierte Handeln muß Not-

wehr zum Schutz des durch die verletzte Strafrechtsnorm ge-

schützten Rechtsgutes möglich sein. Bei relevanten glaubens-

oder gewissensmotivierten Handlungen kann aus Art. 4 Abs. 1

GG allenfalls ein Entschuldigungsgrund oder ein Strafmilde-

rungsgrund abgeleitet werden.108

106 BVerfGE 33, 23 (29).107 So Lenckner, in: Schönke/Schröder, Kommentar zum Strafge-

setzbuch, 25. Aufl. 1997, Vorbem §§ 32 ff., Rdnr. 119; Hirsch, in:Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl. 1994, Vor § 32, Rdnr.224; vgl. auch Radtke/Radtke, in: ZevK Bd. 42 (1997), S. 23 (49ff.).

108 Vgl hierzu Hirsch, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl.1994, Vor § 32, Rdnr. 221; Lenckner, in: Schönke/Schröder,Kommentar zum Strafgesetzbuch, 25. Aufl. 1997, Vorbem §§ 32

Page 44: Maassen_Kirchenasyl

56

Teilweise wird die Straflosigkeit von "Kirchenasyl" unter Be-

rufung auf die Entscheidung des BVerfGs vom 19. Oktober 1971

("Gesundbeter-Fall")109 behauptet.110

Das BVerfG hatte in dieser Entscheidung die Verurteilung

eines Ehemannes, der Angehöriger der religiösen "Verei-

nigung des evangelischen Brüdervereins" war, wegen un-

terlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB) aufgehoben. Die-

ser hatte es unterlassen, bei seiner Ehefrau, die der glei-

chen Glaubensgemeinschaft angehörte, seinen Einfluß in

der Weise geltend zu machen, sich ärztlichem Rat ent-

sprechend in ein Krankenhaus zu begeben und dort eine

Bluttransfusion vornehmen zu lassen. Der Ehemann fühlte

sich in Übereinstimmung mit seiner Frau an die Lehre des

Brüdervereins gebunden, daß in einem solchen Fall das

Gebet zu Gott der "bessere Weg" sei. Die Frau starb, hät-

te aber durch ärztliche Hilfe gerettet werden können. Das

BVerfG entschied, das Verhalten des Ehemannes sei zwar

zu mißbilligen, es sei aber "nicht mehr in dem Maße vor-

ff., Rdnr. 118 m.w.N.; Tröndle, in: Strafgesetzbuch, 48. Aufl. 1997,§ 46, Rdnr. 19a; vgl. auch Radtke/Radtke, in: ZevK Bd. 42 (1997),S. 23 (52 ff.).

109 BVerfGE 32, 98 ff.110 Vgl. etwa Huber, in: ZAR 1988, S. 153 (157); ders.: Kirchenasyl

im Spannungsverhältnis von strafrechtlicher Verfolgung und ver-fassungsrechtlicher Legitimation, in: Barwig/Bauer (Hrsg.), a.a.O.(Fußn. 25), S. 99 (108 ff.); ders.: Asylschutz ist Menschenrecht, in:Just (Hrsg.), a.a.O., S. 91 (102 ff.); Winter, in: KuR 885, S. 1 (5f.); Lisken, a.a.O. (Fußn. 25), S. 9 f.; Demand, a.a.O. (Fußn. 25),S. 34 f.; Rothkegel, in: ZAR 1997, S. 121 (127 f.); wohl auch Rob-bers, in: AöR Bd. 133 (1988), S. 30 (46).

Page 45: Maassen_Kirchenasyl

57

werfbar, daß es gerechtfertigt wäre, mit der schärfsten der

Gesellschaft zu Gebote stehenden Waffe, dem Strafrecht,

gegen den Täter vorzugehen".111

Aus diesem Beschluß des BVerfGs können Gesichtspunkte,

die für eine Straflosigkeit von Straftaten im Zusammenhang mit

"Kirchenasyl" sprechen, nicht hergeleitet werden. Im Gegenteil.

Im "Gesundbeter-Fall" des BVerfG ging es nicht um ein Bege-

hungs-, sondern um ein Unterlassungsdelikt (dazu nachfolgend

unter I.); der Rechtsgutsträger, die Ehefrau, hatte das Unterlas-

sen gebilligt (II.); das Unterlassen beruhte auf einer Glaubens-

überzeugung (III.), die an sich billigenswert ist (IV.); schließlich

konnte der Konflikt zwischen Glaubensüberzeugung und Rechts-

gehorsam nicht durch ein rechtmäßiges Alternativverhalten ge-

löst werden (V.).

I.) Der Berücksichtigung von Glaubens- und Gewissensent-

scheidungen bei Unterlassungsdelikten ist zuzustimmen, da es in

der Tat unvertretbar sein kann, jemanden gegen seine Gewis-

sensentscheidung durch Strafdrohung zu einer Handlung zu

zwingen, die er ablehnt.112 Die Ausdehnung der Glaubens- und

Gewissensentscheidung auf Begehungsdelikte wird auch von der

h. M. in der Strafrechtswissenschaft abgelehnt, da auf diese Wei-

se der Schutz der Bürger durch das Strafrecht weithin zur Dispo-

111 BVerfGE 32, 98 (109).112 Vgl. auch BGHSt 32, 367 (381).

Page 46: Maassen_Kirchenasyl

58

sition des Glaubens- und Gewissenstäters gestellt würde.113 So

können beispielsweise der Verrat von Staatsgeheimnissen aus

Gewissengründen oder religiös motivierte Ritualtötungen nicht

durch Art. 4 Abs. 1 GG entschuldigt werden. Auch die im Zu-

sammenhang mit der Gewährung von "Kirchenasyl" verwirklich-

ten Straftaten können als Begehungsstraftaten nicht durch Art. 4

GG entschuldigt werden.114

II.) In dem "Gesundbeterfall" hat die später verstorbene Ehe-

frau die zu ihren Gunsten gebotene Handlung selbst abgelehnt

und damit das Unterlassen des Ehemannes gebilligt. Zu fordern

ist deshalb, daß bei glaubens- oder gewissensmotivierten Unter-

lassungsdelikten der Rechtsgutsträger das Unterlassen billigt.

Andernfalls müßte auch jemand straflos bleiben, der einen Ver-

unglückten sterben läßt, weil er das Unglück als göttliche Strafe

ansieht, der der Mensch ihren Lauf lassen müsse.115 Strafrechts-

normen, die die Rechtsgüter Dritter schützen, können, auch

wenn ein positives Handeln geboten ist, nicht zur Disposition des

Glaubens- und Gewissenstäters gestellt werden. Bei den im Zu-

sammenhang mit "Kirchenasyl" in Betracht kommenden Strafta-

113 Vgl. etwa Lenckner, in: Schönke/Schröder, Kommentar zum

Strafgesetzbuch, 25. Aufl. 1997, Vorbem §§ 32 ff., Rdnr. 119;Hirsch, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl. 1994, Vor§ 32, Rdnr. 221; Jescheck/Weigend, in: Lehrbuch des Strafrechts,5. Aufl. 1996, S. 506.

114 Vgl. auch Muckel: Religiöse Freiheit und staatliche Letztentschei-dung, 1997, S. 161, Fußn. 249; Hofmann, a.a.O. (Fußn. 25), S.385.

115 Jescheck/Weigend, a.a.O., 5. Aufl. 1996, S. 506; Peters, Anmer-kung zu BVerfGE 32, 98, in: JZ 1972, S.85 (86); Blumenthal, v.,Anmerkung zu BVerfGE 32, 98, in: MDR 1972, S. 759.

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ten fehlt die Zustimmung des Rechtsgutsträgers, der bei diesen

Normen der Staat ist.

III.) Die Handlung muß auf einer Glaubens- oder Gewissens-

überzeugung beruhen, die im Widerspruch steht zu den gesetzli-

chen Verhaltensforderungen. Zwischen dem vom Glauben oder

Gewissen geforderten Handeln oder Unterlassen und der vom

Gesetz ausgehenden Handlungs- oder Unterlassungsforderung

muß also ein Konflikt bestehen. Im "Gesundbeter-Fall" stand die

sich aus § 323c StGB (unterlassene Hilfeleistung) ergebende

Handlungspflicht im Widerspruch zu der Glaubenshaltung, eine

Bluttransfusion abzulehnen. Beim "Kirchenasyl" liegt ein derarti-

ger Konflikt zwischen Glaubens- bzw. Gewissensforderung einer-

seits und gesetzlicher Verhaltensanforderung andererseits nicht

vor. Der Staat vertritt ebenso wie die Kirchen die Auffassung,

daß Ausländer, denen im Herkunftsstaat politische Verfolgung,

Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder

Behandlung droht, dorthin nicht abgeschoben werden dürfen. Der

Staat teilt nicht nur diese Forderung der Kirchen, er hat sie sich

selbst zu eigen gemacht, indem er rechtliche Grundlagen und ein

rechtsstaatliches Verfahren geschaffen hat, um diesem Recht,

ggf. bis zur obersten Gerichtsinstanz dieses Staates, Durchset-

zungskraft zu verleihen. Wenn Kirchengemeinden rechtskräftig

abgelehnte Asylbewerber in kirchlichen Räumen vor der Ab-

schiebung schützen, dann geht es nicht um unterschiedliche Ver-

haltensforderungen von Glauben bzw. Gewissen einerseits und

Gesetz andererseits, sondern um die unterschiedliche Auslegung

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und Bewertung der Sachverhaltsumstände des Einzelfalls.116 Die

Frage, ob ein Kirchenmitglied eine Gefahrenlage, deren Nichtbe-

stehen bereits in einem rechtsstaatlichen Verfahren festgestellt

wurde, besser beurteilen kann, ist ebensowenig eine Frage der

Grundrechte des Art. 4 GG wie die Frage, ob in einem strafrecht-

lichen Zusammenhang eine Ampel rot oder grün angezeigt hat.

Im Ampelfall kann im Hinblick auf Art. 4 GG allenfalls die Frage

von Bedeutung sein, ob die an das Überfahren der roten Ampel

geknüpfte Strafe sittlich hinnehmbar ist. Genauso ist es keine

Frage der Ethik, ob dem Ausländer im Herkunftsstaat tatsächlich

politische Verfolgung droht oder nicht. Das Besserwissen darum,

ob die Ampel rot anzeigte, oder um das tatsächliche Bestehen

einer Verfolgungssituation und der Wettbewerb mit dem Staat

um die besseren Kenntnisse eines Geschehen, das Tausende

von Kilometern von einer Kirchengemeinde entfernt abläuft, ist

kein Gegenstand einer ernsthaften Glaubens- oder Gewissens-

entscheidung. Es handelt sich um eine andere Bewertung eines

Lebenssachverhaltes. Das Gewissen wird hier für die sittlich irre-

levante "bessere Wahrheit" von bloßen Geschehensabläufen be-

müht.117 Genauso wenig kann sich auf Art. 4 Abs. 1 GG stützen,

116 Dies übersehen u. a. Robbers, in: AöR Bd. 133 (1988), S. 30 (44

ff.); Jacobs, in: ZevKR Bd. 35 (1990), S. 24 (38 f.); Kaltenborn, in:DVBl. 1993, S. 25 (28); Winter, in: KuR 885, S. 1 (4); Roßkopf, in:AWR-Bull 1996, S. 93 (103 f.); Kraus: Kirchenasyl und staatlicheGrundrechtsordnung, in: Guth/Rappenecker (Hrsg.), a.a.O., S. 58(60 ff.). Sie nehmen in den Fällen von "Kirchenasyl" ohne nähereBegründung einen Gewissenskonflikt an. Wie hier auch Muckel,a.a.O. (Fußn. 114), S. 160 f.

117 Bergmann, in: Seifert/Hömig (Hrsg.), Taschenkommentar zumGrundgesetz, 5. Aufl. 1995, Art. 4, Rdnr. 8. So auch Hofmann,a.a.O. (Fußn. 25), S. 385; ders.: Glaube und Politik in Zeiten der

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61

wer einen verurteilten Strafgefangenen befreit, weil er der An-

sicht ist, daß die Inhaftierung von Unschuldigen nicht mit seinem

Gewissen zu vereinbaren sei. Auch hier besteht kein eigentlicher

Gewissenskonflikt; das Gewissen wird lediglich zur Beurteilung

eines Lebenssachverhalts (Verstoß gegen Strafgesetz durch den

Verurteilten) herangezogen.

IV.) Das Motiv des Täters muß mit den Grundsätzen der

Rechtsgemeinschaft in Einklang stehen. Es darf nicht dem ordre

public widersprechen. Dies dürfte beispielsweise dann anzuneh-

men sein, wenn aus religiösen Gründen ein Ritualmord oder Ri-

tualselbstmord nicht verhindert wird. Aber auch dann, wenn die

mit der Gewährung von "Kirchenasyl" verfolgten Ziele dahin gin-

gen, Abschiebungen unabhängig von dem Vorliegen politischer

Verfolgung oder anderer Abschiebungshindernisse zu verhin-

dern, weil die Abschiebung von Ausländern generell für unmora-

lisch gehalten wird, stünde dieses Motiv mit der geltenden

Rechtsordnung in einem für den Staat nicht hinnehmbaren Wi-

derspruch.118

Kulturrevolution, in: ZfP 1996, S. 434 (442). Zutreffend auch derEinwurf von Hund, in: DRiZ 1994, S. 362 (363): "Diese prinzipielleBesserwisserei von Kirchenleuten und juristischen Laien darf dochwohl nicht im Ernst zur Grundlage einer Gewissensentscheidungerhoben werden".

118 In der Tat dürfte es in vielen Fällen von "Kirchenasyl" nicht darumgehen, die unterstützten Ausländer vor politischer Verfolgung oderMenschenrechtsverletzungen im Herkunftsland zu schützen, son-dern ihnen wegen der schlechten wirtschaftlichen Bedingungenund Arbeitsmarktverhältnisse in der Heimat ein Aufenthaltsrecht inDeutschland zu verschaffen, vgl. Griesbeck, a.a.O. (Fußn. 11), S.62 f.; Hofmann, a.a.O. (Fußn. 25), S. 388.

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V.) Schließlich darf auch keine rechtmäßige Alternative zur

Lösung des Gewissenskonflikts gegeben sein.119 Eine Alternati-

ve ist gegeben, wenn ein anderes Verhalten möglich wäre, bei

dem der Gewissensanforderung entsprochen werden kann, ohne

daß es zum Rechtsbruch kommt. Bei den Fällen von "Kirchen-

asyl" ist rechtmäßiges Alternativverhalten immer möglich, da ins-

besondere durch Anträge nach § 80 Abs. 7 VwGO und § 32

BVerfGG im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes sowie

durch das Folgeantragsverfahren (§ 71 AsylVfG) rechtliche In-

strumente zur Korrektur ggf. unanfechtbarer Entscheidungen zur

Verfügung stehen.

Nach allem kann aus Art. 4 Abs. 1 GG kein Entschuldigungs-

oder Strafmilderungsgrund in bezug auf Straftaten im Zusam-

menhang mit "Kirchenasyl" hergeleitet werden.120 Zutreffend hat

v. Campenhausen zum "Gesundbeter-Beschluß" des BVerfG an-

gemerkt:121

"Aus dem Zusammenhang gerissen und verallgemeinert

kann das Zitat aber als Argument für Straffreiheit oder

Strafmilderung des religiös motivierten Überzeugungstä-

ters dienen. Dann wäre die Geltung des Strafrechts und

damit eine der großen freiheitsschützenden Errungen-

119 Vgl. Bethge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staats-

rechts, § 137, Rdnr. 35; Preuß, in: Alternativkommentar GG, Art.4 Rdnr. 43.

120 Vom Ergebnis her u. a. auch Bergmann, in: Seifert/Hömig (Hrsg.),a.a.O., Art. 4, Rdnr. 8; Scholz: Das sogenannte Kirchenasyl ver-letzt Gesetz und Verfassung, in: Welt am Sonntag v. 15.05.1994.

121 A. Campenhausen, Freiherr von, in: Isensee/Kirchhoff (Hrsg.),Handbuch des Staatsrechts, § 136, Rdnr. 58.

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schaften des Rechtsstaates in bedrohlicher Weise in Frage

gestellt. Die Folgen wären nicht abzusehen, zumal neuar-

tige Religionsgemeinschaften dem traditionellen Sittenko-

dex fremd oder feindlich gegenüberstehen."

E. Gewissensfreiheit durch Rechtsgehorsam

1. Die Religions-, Glaubens- und Gewissensfreiheit ist eine

Errungenschaft des modernen aufgeklärten Staates. Die Kriege

und Bürgerkriege in diesem Jahrhundert und die an vielen Orten

der Welt feststellbaren Menschenrechtsverletzungen zeigen, daß

diese Freiheiten ein sehr kostbares Gut sind. Das Grundrecht auf

Asyl dient auch dem Schutz der Ausländer, die in ihren Heimat-

staaten verfolgt werden, weil sie dort diese Freiheiten für sich in

Anspruch genommen haben, das dortige System dies aber nicht

billigte. Die Religions-, Glaubens- und Gewissensfreiheit findet

durch das Asylgrundrecht eine Ergänzung.

Die Erfahrung hat gezeigt, daß nur der demokratische

Rechtsstaat diese Freiheiten gewährleisten und schützen kann.

Der demokratische Rechtsstaat ist ein fragiles Gebilde. Er stützt

sich nicht auf Bajonette, sondern auf den Konsens des ganz

überwiegenden Teils der Bevölkerung. Er lebt davon, daß demo-

kratisch zustande gekommene Gesetze und auf diesen beruhen-

de Entscheidungen der Behörden und Gerichte anerkannt und

befolgt werden. Die selektive Befolgung von Regeln mißachtet

diese Grundprinzipien.

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Unsere Zeit ist geprägt vom zunehmenden Verfall der Werte.

Individualinteressen werden ohne Rücksicht auf die berechtigten

Interessen Dritter oder der Gemeinschaft durchgesetzt. Von

Grundpflichten oder von der Pflicht zum Rechtsgehorsam zu

sprechen, erscheint in einem derartigen Klima fossil. Wird in ei-

nem demokratischen Rechtsstaat die Rechtsgehorsamspflicht

mehr und mehr aufgekündigt, werden die Möglichkeiten des

Staates zum Schutz der Rechtsgüter des einzelnen vor Eingrif-

fen Dritter nachhaltig untergraben.

2. Die Kirchen genießen in Deutschland in ethischen Fragen

immer noch hohe Autorität. Wenn gerade von Kirchenvertretern

im Zusammenhang mit "Kirchenasyl" zur Verweigerung des

Rechtsgehorsams aufgerufen wird oder zumindest die Rechtsge-

horsamsverweigerung gebilligt wird, so fordert dies zum Mitma-

chen auf. Das Verhalten der Kirchen gegenüber "Kirchenasyl"

fördert das Klima fehlender Rechtstreue.122 Hierdurch fühlen

sich jene bestätigt, die aus ideologischen Gründen den Staat und

seine Gesetze ablehnen und ihn bekämpfen. Schließlich kann

die Haltung der Kirchen gegenüber "Kirchenasyl" von dem Teil

der Bevölkerung, der sich zunehmend darin benachteiligt sieht,

daß er sich immer noch rechtstreu verhält, während andere ohne

Konsequenzen um des eigenen Vorteils willen Rechtsnormen

mißachten, als Ermutigung zur Kündigung des Rechtsgehorsams

122 Vgl. zu den Auswirkungen des "Kirchenasyls" auf die Akzeptanz

gerichtlicher Entscheidungen Wassermann, in: NJW 1998, S. 730f.

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65

verstanden werden.123 "Kirchenasyl" ist damit das genaue Ge-

genteil von dem, was das "Gemeinsame Wort der Kirchen zu

den Herausforderungen durch Migration und Flucht" glauben ma-

chen möchte: Es ist kein "Beitrag zum Erhalt des Rechtsfrie-

dens"124.

Daß der Staat die Grundrechte gewähren und vor Eingriffen

Dritter schützen kann, liegt im Interesse aller. Nicht zuletzt auch

im Interesse der Kirchen, denn im Klima eines zunehmenden In-

dividualismus und einer Entchristlichung der Gesellschaft können

sich Freiheiten auch gegen die Kirchen kehren. Die Kirchen sind

deshalb aufgerufen, durch ihr Verhalten dazu beizutragen, daß

der Staat auch in Zukunft den Schutz der Grundrechte sicher-

stellen kann.

"Kirchenasyl" ist auch Ausdruck eines simplen wie gefährli-

chen Leitmotivs unserer Zeit, das sich fast epidemisch ausge-

breitet hat: Der Verstoß gegen Rechtsnormen wird, wenn er ei-

nem vermeintlich hehren Ziel dient, als legitim angesehen. Dies

galt in den siebziger und achtziger Jahren für die Blockade von

Militäreinrichtungen und für Aktionen gewalttätiger Pazifisten ge-

gen die Stationierung von Mittelstreckenraketen und gilt heute

für die Dauerdemonstrationen gegen Castor-Transporte, bei de-

123 Zur Erosion der Bereitschaft zum Rechtsgehorsam trägt auch bei,

wer "Kirchenasyl"-Aktivisten als "Helden unserer Zeit" bezeichnetund erklärt "Die Ermittlungen wegen des Verdachts auf 'Beihilfezum illegalen Aufenthalt' könnten die Verfolgten wie eine Aus-zeichnung tragen" (so ein namhafter Redakteur der SZ am04.12.1996, zit. nach der Homepage der "Bürgerinitiative Asyl Re-gensburg" v. 13.01.1997, http://www.donau.de/vereine/bia/bi.htm).

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66

nen Eisenbahnunfälle und andere Bedrohungen von Menschen-

leben billigend in Kauf genommen werden, um angebliche, aber

von Experten bestrittene Strahlenschäden zu verhindern, wie

auch für die gewaltsamen Aktionen französischer Landwirte und

Arbeitsloser, um ihre aus subjektiver Sicht berechtigten Forde-

rungen durchzusetzen, aber auch für die militanten amerikani-

schen Abtreibungsgegner, die nicht vor der Tötung von Men-

schen zurückschrecken, um ihrem Gewissen entsprechend Men-

schenleben im embryonalen Stadium zu retten.125 Wird aber das

Vorliegen von Rechtsverstößen oder deren Ahndung von den

Motiven und Zielen des Täters abhängig gemacht oder gänzlich

an das "Rechtsempfinden" lautstarker Gruppen geknüpft, dann

ist dies die Abdankung des Rechtsstaats zugunsten der Willkür.

Die Rechtsordnung bietet den Kirchen und ihren Mitgliedern

ausreichend Raum, sich ohne Rechtsbruch für asylsuchende

Ausländer einzusetzen. Kirchliche Stellen wie auch engagierte

Bürger können Asylbewerber während des Asylverfahrens be-

treuen, materiell wie ideell unterstützen und hinsichtlich der Gel-

tendmachung des Asylrechts im Verfahren vor dem Bundesamt

und vor den Gerichten beraten und ihnen juristischen Beistand

zukommen lassen. Von diesen Möglichkeiten wird vielfach auch

Gebrauch gemacht. Der dem kirchlichen Selbstverständnisse

entsprechende karitative Auftrag des Beistands für Bedürftige

kann deshalb im Rahmen des Rechts erfüllt werden. Es bedarf

124 Gemeinsames Wort der Kirchen, a.a.O. (Fußn. 24), S. 100 (Abs.

257).125 Vgl. hierzu Conrad, "Die Welt" v. 11.02.1998.

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67

mithin keines "Kirchenasyls", um dieser Beistandspflicht nachzu-

kommen.

Spätestens seit der Asylrechtsreform des Jahres 1993 ist auf

kirchlicher Seite eine sehr distanzierte, teilweise sogar eine Kon-

frontationen herausfordernde Haltung gegenüber der staatlichen

Asylpolitik feststellbar. Besonders bedauerlich ist es, wenn den

politisch Verantwortlichen und den in Asylangelegenheiten zu-

ständigen Behörden und Gerichten moralisches Versagen vorge-

worfen wird. Der Staat nimmt seine Verantwortung zum Schutz

der politisch Verfolgten sehr ernst. Im Hinblick darauf, daß er für

die Asylgewährung ausschließlich zuständig, aber auch verant-

wortlich ist, sollten die Kirchen ihn in der Asylpolitik als Partner

begreifen. Der Staat hat allerdings auch seinen zahlreichen an-

deren Verpflichtungen in verantwortungsvoller Weise zu genü-

gen. Die Kirchen, die keine vergleichbare Verantwortung für den

Arbeitsmarkt, die Volkswirtschaft, für die innere und äußere Si-

cherheit, um nur einige Beispiele zu nennen, tragen, sollten bei

der Wahl des Tones und der Art ihrer Kritik an der staatlichen

Asylpolitik berücksichtigen, daß der Staat auf Grund all dieser

Verpflichtungen die Caritas nicht zur alleinigen Richtschnur

staatlichen Handelns machen kann. In dem erforderlichen part-

nerschaftlichen Verhältnis zwischen Staat und Kirchen darf kein

Raum dafür sein, unerfüllte asylpolitische Forderungen durch

Fälle von "Kirchenasyl" zu demonstrieren126 und den Staat fort-

126 Wenn die Kirchen "eine Anfrage an die Politik" richten wollen, "ob

die im Ausländer- und Asylrecht getroffenen Regelungen in jedemFall die Menschen, die zu uns gekommen sind, beschützen (Ge-

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laufend vor laufenden Kameras durch die Verweigerung des

Rechtsgehorsams vorzuführen. Partnerschaft zwischen kirchli-

chen Stellen, engagierten Bürgern und Staat verlangt ein Mitein-

ander. Oder anders gewendet: "Pflicht der Bürger ist es, gemein-

sam mit den Behörden im Geist der Wahrheit, Gerechtigkeit, So-

lidarität und Freiheit zum Wohl der Gesellschaft beizutragen"127.

Zweifellos sind die mit dem "Kirchenasyl" verbundenen Zielset-

zungen gut gemeint. Die Neben- und Auswirkungen für die ge-

samte Rechtsordnung werden jedoch entweder nicht hinreichend

bedacht oder schlichtweg ausgeblendet. Wenn heute kirchliche

Kreise unter Berufung auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit

im Zusammenhang mit "Kirchenasyl" Rechtsnormen mißachten,

kann dieses Verhalten schon morgen von anderen Kräften für

sich beansprucht werden. Der gut gemeinte Zweck entschuldigt

keinen Rechtsbruch. Auch für das "Kirchenasyl" gilt: Das Gutge-

meinte ist der größte Feind des Guten.

meinsames Wort, a.a.O. Fußn. 24, S. 100, Abs. 257), dann ist"Kirchenasyl" hierzu das falsche Instrument.

127 Katechismus der Katholischen Kirche, Ziff. 2239.