Maassen_Kirchenasyl
-
Upload
59de44955ebd -
Category
Documents
-
view
201 -
download
0
Transcript of Maassen_Kirchenasyl
13
Der Schutz politisch Verfolgter durchden demokratischen Rechtsstaat unddie Gewährung von "Kirchenasyl"
Dr. Hans-Georg Maaßen, Regierungsdirektor, Bonn∗
A. Der Schutz politisch verfolgter Ausländerdurch die Bundesrepublik Deutschland
Asylgewährung ist unbestritten Staatsaufgabe. Vor einer Befas-
sung mit dem Thema "Kirchenasyl" sollte man sich deshalb ver-
gegenwärtigen, wie, in welchem Umfang und mit welchem
Rechtsschutzinstrumentarium versehen die Bundesrepublik
Deutschland politisch verfolgten Ausländern, Kriegs- und Bürger-
kriegsflüchtlingen und anderen Ausländern, denen im Heimat-
staat Menschenrechtsverletzungen drohen, Schutz gewährt. Die-
sen Schutzmechanismus zu erfassen, ist wesentlich, damit kein
ungerechtfertigtes Mißtrauen gegenüber den staatlichen Ent-
scheidungsinstanzen entsteht.
∗ Redaktionell überarbeitete, ergänzte und aktualisierte Fassung
eines Vortrages bei dem von der Hanns-Seidel-Stiftung und demBundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am17./18. November 1997 in Wildbad Kreuth veranstalteten Seminarzum Thema "Kirchenasyl - eine ethische und rechtliche Herausfor-derung unserer Demokratie". Der Vortrag geht zurück auf den inder Zeitschrift "Kirche und Recht" (Heft 1/ 1997, S. 37 ff. [885 S. 7ff.]) veröffentlichten Aufsatz "'Kirchenasyl' und Rechtsstaat".Der Beitrag gibt die persönliche Auffassung des Verfassers wie-der.
14
1. Nach Art. 16a Abs. 1 GG, der wörtlich dem früheren Art. 16
Abs. 2 Satz 2 GG entspricht, genießen politisch verfolgte Auslän-
der Asylrecht. Es handelt sich um ein individuelles und einklag-
bares Grundrecht von Ausländern. Dieses Grundrecht beinhaltet
für Asylbewerber prinzipiell ein Recht auf Aufenthalt, auf Durch-
führung eines Asylanerkennungsverfahrens, auf Rechtsschutz
gegen ablehnende Entscheidungen im Asylverfahren sowie auf
Sozialleistungen, soweit sie deren bedürfen. Der durch die Asyl-
rechtsreform des Jahres 1993 neugefaßte Art. 16a GG gewähr-
leistet,1 daß politisch verfolgte Ausländer weiterhin Schutz und
Zuflucht erhalten, stellt aber sicher, daß denjenigen Ausländern,
die eines Schutzes durch die Bundesrepublik Deutschland nicht
bedürfen, kein Asylrecht gewährt wird.2 Durch die Drittstaaten-,
die Herkunftsstaaten- und die Flughafenregelung wird der perso-
nelle Anwendungsbereich des Asylgrundrechts eingeschränkt
bzw. das Anerkennungsverfahren beschleunigt.
Die Drittstaatenregelung (Art. 16a Abs. 2 GG, § 26a AsylVfG) ist
das wichtigste Element der Asylrechtsreform von 1993.3 Hier-
nach kann sich auf das Asylgrundrecht nicht berufen, wer aus
einem sicheren Drittstaat nach Deutschland kommt (Art. 16a
Abs. 2 GG), da er bereits dort den begehrten Schutz hätte erlan-
gen können. Das Prinzip des sicheren Drittstaates beruht auf der
1 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.06.1993 (BGBl. I
S. 1002).2 Vgl. die Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drucks. 12/ 4152, S.
3.3 Vgl. hierzu Lehnguth/Maaßen: Der Ausschluß des Asylrechts nach
Art. 16a Abs. 2 GG, in: ZfSH/SGB 1995, S. 281 ff.
15
Überlegung, daß kein Flüchtling das Recht hat, sich den ihm ge-
nehmsten Schutzstaat auszusuchen. Vielmehr muß ein politi-
scher Flüchtling in dem ersten Staat um Schutz bitten, in dem
ihm dies möglich ist. Nimmt er den Schutz dieses Staates nicht
in Anspruch, sondern reist er in ein ihm genehmeres "Zuflucht-
land", so steht dies regelmäßig nicht mehr mit der unmittelbaren
Flucht vor dem Verfolger in Zusammenhang. Es handelt sich um
eine Weiterreise mit dem Ziel, bessere wirtschaftliche oder so-
ziale Möglichkeiten eines anderen Staates nutzen zu wollen. Die
Drittstaatenregelung entspricht europäischem Standard4 und wird
auch von anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union (wie
z. B. Belgien, Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden)
angewandt.5 Allerdings können aus einem sicheren Drittstaat
kommende Asylbewerber nach § 51 Abs. 1 AuslG Schutz vor der
Abschiebung in den Verfolgerstaat erhalten, wenn eine Rückfüh-
rung in einen sicheren Drittstaat nicht möglich ist.
Durch die Herkunftsstaatenregelung (Art. 16a Abs. 3 GG, § 29a
AsylVfG) werden Asylbewerber nicht von vornherein vom Asyl-
verfahren ausgeschlossen. Der Asylantrag eines Ausländers aus
einem sicheren Herkunftsstaat wird als offensichtlich unbegrün-
det angesehen, es sei denn, die von ihm angegebenen Tatsa-
chen und Beweismittel begründen die Annahme, daß ihm abwei-
4 Vgl. BVerfGE 94, 49; vgl. auch die Entschließung des Europäi-
schen Rates der Innen- und Justizminister vom 30. November/1.Dezember 1992 zu einem einheitlichen Konzept in bezug auf Auf-nahmedrittländer.
5 Vgl. Maaßen: Die Rechtsstellung des Asylbewerbers im Völker-recht, 1997, S. 205 ff. m. w. N.
16
chend von der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat politische
Verfolgung droht.
Deutschland hat mit dem neuen Art. 16a GG auch nach der Asyl-
rechtsreform des Jahres 1993 eine der großzügigsten Asylrechts-
verbürgungen in der Welt. Das Bundesverfassungsgericht
(BVerfG) hat die Reform in seinen drei Urteilen vom 14. Mai
1996 als verfassungskonform bestätigt.6 Die Tatsache, daß seit
Inkrafttreten des neuen Asylrechts bis Ende 1997 rund 580.000
Asylbewerber nach Deutschland kamen, zeigt, daß der Vorwurf,
Deutschland würde sich durch das neue Asylrecht gegenüber
Asylbewerbern "abschotten", jeder Grundlage entbehrt. Deutsch-
land nimmt derzeit rund 50 % aller im Bereich der Mitgliedstaa-
ten der Europäischen Union um Asyl nachsuchenden Ausländer
auf,7 von denen 1997 nur 4,9 % vom Bundesamt für die Aner-
kennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) als Asylberech-
tigte anerkannt wurden.8
6 BVerfGE 94, 49, 115, 166. Vgl. hierzu Schelter/Maaßen: Das
deutsche Asylrecht nach der Entscheidung von Karlsruhe, in: ZRP1996, S. 408; Maaßen/Wyl de: Folgerungen aus dem Asylurteildes Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1996 zur Drittstaa-tenregelung, in: ZAR 1996, S. 158; dies.: Folgerungen aus denAsylurteilen des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1996 zurHerkunftsstaaten- und Flughafenregelung, in: ZAR 1997, S. 9.
7 Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Aufzeichnung zur Auslän-derpolitik und zum Ausländerrecht in der BundesrepublikDeutschland, 1997, S. 91.
8 Vgl. die Pressemitteilung des Bundesministeriums des Innern vom12.01.1998, wonach lediglich 4,9 % der Asylbewerber vom Bun-desamt als Asylberechtigte anerkannt wurden und nur weitere5,7 % Abschiebungsschutz erhielten.
17
Das Asylrecht ist nicht das einzige Instrument, um schutzbedürf-
tigen Ausländern Schutz vor der Abschiebung in den Herkunfts-
staat zu geben. Ausländer, denen im Herkunftsstaat die Todes-
strafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behand-
lung oder Bestrafung droht, erhalten Abschiebungsschutz nach
§ 53 Abs. 1, 2, 4 AuslG, auch wenn diese Menschenrechtsver-
letzungen nicht Ausdruck politischer Verfolgung sind. Darüber hi-
naus kann nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zur Vermeidung einer
erheblichen konkreten und individuellen Gefahr für Leib, Leben
oder Freiheit von der Abschiebung eines Ausländers abgesehen
werden.
Ferner wird von der Möglichkeit zur Aufenthaltsgewährung bzw.
des Abschiebungsschutzes für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlin-
ge nach §§ 32, 54 AuslG von den Behörden der Länder großzü-
gig Gebrauch gemacht. Deutschland hatte im internationalen
Vergleich mit rund 350.000 Personen den größten Teil von Bür-
gerkriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien aufge-
nommen.9
2. Über die Gewährung von Asyl entscheiden in Deutschland
weisungsungebundene Bedienstete des Bundesamtes. Dies sind
in aller Regel Personen des gehobenen Verwaltungsdienstes, die
eine qualifizierte Verwaltungsausbildung erfahren haben und auf
9 Demgegenüber haben Griechenland, unmittelbarer Anrainer an
das Bürgerkriegsgebiet, lediglich 150 Personen, Großbritannien7.000, Frankreich 15.900, Spanien, 3.700 und Portugal 60 Perso-nen aufgenommen.
18
ihre Tätigkeit hin besonders geschult sind. Weisungsungebunden
heißt, weder die Leitung des Bundesamtes noch das Bundesmi-
nisterium des Innern kann einem Einzelentscheider eine Wei-
sung erteilen, wie er im konkreten Fall über einen Asylantrag zu
entscheiden hat.10 Im Asylverfahren wird vom Bundesamt jeder
Einzelfall unter den Gesichtspunkten politische Verfolgung, kon-
krete Foltergefahr, Gefahr der Todesstrafe sowie unmenschliche
oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eingehend an-
hand der individuellen Umstände geprüft.11 Die Bediensteten
sind auf Grund einer intensiven Aus- und Fortbildung12 Spezia-
listen für die von ihnen jeweils zu bearbeitenden Herkunftslän-
der. Bei der Entscheidungsfindung werden alle verfügbaren In-
formationen über die Situationen in den jeweiligen Herkunfts-
staaten herangezogen, namentlich die Lageberichte des Auswär-
tigen Amtes, Berichte von zwischenstaatlichen oder ausländi-
schen Einrichtungen, Stellungnahmen des Hohen Flüchtlings-
kommissars der Vereinten Nationen sowie Berichte von Men-
schenrechtsorganisationen. Das Bundesamt hält hierzu umfas-
sende Dokumentationen über die Rechts- und Menschenrechts-
10 Vgl. § 5 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG.11 Vgl. hinsichtlich der praktischen Ausgestaltung des Asylverfahrens
beim Bundesamt Griesbeck: Der Schutz vor politischer Verfolgungund weltweite Migration - Inhalt und Grenzen der Arbeit des Bun-desamtes, in: Asylpraxis Bd. 2, Bundesamt für die Anerkennungausländischer Flüchtlinge (Hrsg.), 1997, S. 13 (23 ff.).
12 Vgl. hierzu im einzelnen Jordan: Die Entwicklung der asylspezifi-schen Fortbildung beim Bundesamt, in: Bundesamt für die Aner-kennung ausländischer Flüchtlinge (Hrsg.), Asylpraxis Bd. 1, 1997,S. 77 ff.
19
situation in einzelnen Herkunftsländern sowie über die Recht-
sprechung einschließlich der dazugehörigen Rechtsgebiete be-
reit.13
3. Der Asylbewerber kann negative Entscheidungen des Bun-
desamtes in bis zu drei Instanzen von unabhängigen Gerichten
auf ihre inhaltliche Richtigkeit überprüfen lassen.
Bei einfach unbegründeten Asylanträgen hat die Einreichung
einer Klage gegen die negative Entscheidung des Bundesamtes
aufschiebende Wirkung, so daß der Ausländer bis zur gerichtli-
chen Entscheidung nicht ausreisen muß.14 Soweit der Asylantrag
vom Bundesamt als offensichtlich unbegründet oder als unbe-
achtlich abgelehnt worden ist, kann der Vollzug von Rückfüh-
rungsentscheidungen durch verwaltungsgerichtlichen Eilrechts-
schutz nach § 80 Abs. 5 VwGO ausgesetzt werden. Bei einer
negativen Entscheidung des Verwaltungsgerichts kann das Ge-
richt im Wege eines Abänderungsantrags nach § 80 Abs. 7
VwGO um erneute Entscheidung gebeten werden. Lediglich bei
Asylbewerbern, die aus einem sicheren Drittstaat eingereist sind,
ist eine Aussetzung der Abschiebungsentscheidung im Wege des
einstweiligen Rechtsschutzes nicht möglich, da diese Personen
von der Asylrechtsgewährung grundgesetzlich ausgenommen
sind.15
13 Vgl. hierzu Praschma, Gräfin: Informationsversorgung im Bundes-
amt, in: Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge(Hrsg.), Asylpraxis Bd. 2, 1997, S. 65 ff.
14 §§ 75, 38 Abs. 1 AsylVfG.15 Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG, § 34a Abs. 2 AsylVfG.
20
Vom verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutzverfahren, mit
dem im Falle offensichtlich unbegründeter oder unbeachtlicher
Asylanträge die Aussetzung der Abschiebung erreicht werden
kann, ist das eigentliche Klageverfahren vor dem Verwaltungsge-
richt, das sog. "Hauptsacheverfahren", zu unterscheiden. Soweit
das Eilrechtsschutzverfahren durchlaufen ist, finden mit dem ei-
gentlichen Klageverfahren insgesamt zwei verwaltungsgerichtli-
che Prüfungsverfahren in der ersten Instanz statt. Gegen eine
ablehnende Hauptsache-Entscheidung des Verwaltungsgerichts
kann die Zulassung der Berufung vor dem Oberverwaltungsge-
richt beantragt werden, es sei denn, das Verwaltungsgericht hat
die Klage als offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbe-
gründet abgelehnt (§ 78 AsylVfG). Gegen Berufungsurteile steht
dem betroffenen Ausländer die Revision zum Bundesverwal-
tungsgericht, falls sie zugelassen wird, und ansonsten die Nicht-
zulassungsbeschwerde zu (§§ 132, 133 VwGO).
Nach Ausschöpfung des Rechtsweges kann wegen Verlet-
zung des Asylgrundrechts oder eines anderen Grundrechts das
Bundesverfassungsgericht angerufen werden, das auch durch
einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG eine unmittelbar
bevorstehende Abschiebung des Ausländers aussetzen kann.
Des weiteren kann der Ausländer nach der Spruchpraxis des Eu-
ropäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen ablehnende
Entscheidungen deutscher Gerichte auch die Europäische Kom-
mission für Menschenrechte anrufen, wenn er die Gefahr von
Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung
oder Bestrafung nach der Rückkehr im Herkunftsstaat geltend
21
macht.16 Die Kommission kann nach Art. 36 ihrer Verfahrensord-
nung einstweilige Maßnahmen anordnen, die für die Vertrags-
staaten zwar nicht bindend sind, aber in aller Regel befolgt wer-
den.17 Der Ausländer hat darüber hinaus die Möglichkeit, sich im
Wege der Petition an den Bundestag bzw. an die Parlamente der
Länder, die für die Durchsetzung der Aufenthaltsbeendigung
zuständig sind, zu wenden. Allerdings führt die Einlegung einer
Petition nicht dazu, daß hierdurch der Vollzug einer Abschiebung
bis zur Entscheidung über die Petition ausgesetzt wird.
Der Ausländer hat ferner die Möglichkeit, nach einem negativ
abgeschlossenen Asylverfahren einen Folgeantrag zu stellen
(§ 71 AsylVfG), der zu einer erneuten Prüfung des Asylantrags
führt, wenn sich insbesondere die der Asylentscheidung zugrun-
de liegende Sach- und Rechtslage nachträglich zugunsten des
Ausländers geändert hat oder neue Beweismittel vorliegen, die
eine dem Ausländer günstigere Entscheidung herbeigeführt hät-
ten. Soweit gegen den Ausländer eine Abschiebungsandrohung
oder -anordnung auf Grund des früheren negativ abgeschlosse-
16 Vgl. EGMR, Fall Soering, Urt. v. 07.07.1989, in: EuGRZ 1989, S.
314; Fall Cruz Varas u. a., Urt. v. 20.03.1991, in: EuGRZ 1991, S.203; Fall Vilvarajah u. a., Urt. v. 30.10.1991, in: NVwZ 1992, S.869; Fall Chahal, Urt. v. 15.11.1996, in: NVwZ 1997, S.1093; FallAhmed, Urt. v. 17.12.1996, in: NVwZ 1997, S. 1100; Fall H. L. R.gegen Frankreich, Urt. v. 29.04.1997, in: InfAuslR 1997, S. 333;Fall D. gegen das Vereinigte Königreich, Urt. v. 02.05.1997, in:InfAuslR 1997, S. 381.
17 Vgl. hierzu Oellers-Frahm: Zur Verbindlichkeit einstweiliger Anord-nungen der Europäischen Kommission für Menschenrechte, in:EuGRZ 1991, S. 197; Krüger: Vorläufige Maßnahmen nach Art. 36der Verfahrensordnung der Europäischen Kommission für Men-schenrechte (insbesondere in Ausweisungs- und Auslieferungs-fällen), in: EuGRZ 1996, S. 346.
22
nen Asylverfahrens noch wirksam ist, darf die Abschiebung erst
dann vollzogen werden, wenn das Bundesamt festgestellt hat,
daß weder eine geänderte Sach- und Rechtslage, noch Beweis-
mittel noch andere Wiederaufnahmegründe vorliegen, es sei
denn, der Folgeantrag ist offenkundig unschlüssig oder der Aus-
länder soll in einen sicheren Drittstaat abgeschoben werden
(§ 71 Abs. 5 Satz 2 AsylVfG). Durch diese Regelung wird sicher-
gestellt, daß ein abgelehnter Asylbewerber, der zur Ausreise ver-
pflichtet ist, erst nach einer Prüfung des Folgeantrags abgescho-
ben wird.
4. Diese Kurzdarstellung des deutschen Asylrechts soll deut-
lich machen, daß die Bundesrepublik Deutschland einen um-
fangreichen materiellrechtlichen Schutzmechanismus für Auslän-
der geschaffen hat, denen im Herkunftsstaat politische Verfol-
gung oder menschenrechtswidrige Behandlung droht. Dieser ma-
teriellrechtliche Schutz wird durch weitgehende, effektive verfah-
rensmäßige Verbürgungen, insbesondere durch gerichtlichen
Rechtsschutz, abgesichert. Diese materiellrechtlichen und ver-
fahrensmäßigen Garantien gehen dabei weit über das völker-
rechtlich Gebotene hinaus.18 Es ist deshalb entgegen dem von
"Kirchenasyl"-Aktivisten erweckten Eindruck gerade nicht so, daß
auf Grund der Asylrechtsreform von 1993 politisch Verfolgte kei-
ne Chance haben, daß sie des "Kirchenasyls" bedürfen, um eine
Abschiebung in den Verfolgerstaat zu verhindern.
18 Vgl. hierzu Maaßen: Die Rechtsstellung des Asylbewerbers im
Völkerrecht, 1997, passim.
23
Nach dem dargestellten staatlichen Schutzmechanismus für
verfolgte Ausländer wende ich mich jetzt dem eigentlichen The-
ma "Kirchenasyl" zu und muß, ehe ich danach fragen kann, ob
neben der Asylgewährung durch den Staat noch Raum für
”Kirchenasyl“ ist, feststellen, daß über Begriff wie Inhalt des so-
genannten Kirchenasyls weitgehend Unklarheit besteht.
B. Begriff und Inhalt des "Kirchenasyls"
1. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof
Karl Lehmann, erklärte in einem Interview mit der Zeitschrift DER
SPIEGEL19 "Weder im weltlichen noch im kirchlichen Recht gibt
es ein 'Kirchenasyl'", und versicherte in seinem Schreiben vom
16. Mai 1994 dem besorgten Bundesinnenminister:20 „Ich habe
klar festgestellt, daß es kein Recht auf ein 'Kirchenasyl' gibt; die
Befugnis des Staates zur Durchsetzung seiner Regelung wurde
ausdrücklich bejaht; Kirchen sind kein rechtsfreier Raum, die Po-
lizei hat durchaus Zutritt".
Ähnliche Aussagen findet man auch auf evangelischer Seite.
In den vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland in sei-
ner Sitzung am 9./ 10. September 1994 in Hannover verabschie-
deten "Thesen zum 'Kirchenasyl'" heißt es:21 "'Kirchenasyl' als
eine eigene Rechtsinstitution gibt es in der Bundesrepublik
Deutschland nicht. Die Kirche nimmt ein solches Recht auch
19 Der Spiegel 20/1994, S. 51.20 Abgdr. in: Christ und Welt - Rheinischer Merkur, v. 20.05.1994.21 EKD-Pressemitteilung v. 10.09.1994, siehe Anhang 2.
24
nicht in Anspruch. Sie darf auch nicht den Anschein eines sol-
chen Rechtes erzeugen durch ein Verhalten, mit dem die Scheu
staatlicher Organe vor dem Vollzug rechtmäßiger Maßnahmen in
kirchlichen Räumen ausgenutzt werden soll."
In die gleiche Richtung geht nach den Worten des Vorsitzen-
den der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Karl Lehmann,22
das im politischen Raum unterschiedlich aufgenommene23 "Ge-
meinsame Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch
Migration und Flucht" vom Juni 1997, wo man "sich den Begriff
Kirchenasyl bewußt nicht zu eigen gemacht habe". Zu dem im
"Gemeinsamen Wort" in Anführungszeichen gesetzten Thema
"Kirchenasyl" wird darauf hingewiesen, daß die Kirchen für sich
keinen rechtsfreien Raum in Anspruch nehmen und auch nicht
dem Staat das Recht bestreiten, seine Entscheidungen gegebe-
nenfalls auch innerhalb kirchlicher Räume durchzusetzen.24 "Kir-
chenasyl" wird danach in bezug auf die Durchführung staatlicher
22 FAZ v. 01.08.1997.23 Bemerkenswert ist, daß dieses Dokument bei CDU/ CSU und
Teilen der F.D.P. auf Kritik gestoßen ist (vgl. Stellungnahmen vonBundeskanzler Kohl, dem bayerischen Innenminister Beckstein,FAZ v. 07.07.1997, Bundesinnenminister Kanther, ap-Meldung v.04.07.1997, Bundesjustizminister Schmidt-Jortzig, "Die Welt" v.09.07.1997) während es von seiten der SPD und Bündnis 90/ DieGrünen begrüßt wurde (so die Stellungnahmen der innenpoliti-schen Sprecherin der SPD Sonntag-Wolgast, dpa-Meldung v.04.07.1997, und des Landesjustizministers Plottnitz, v., ap-Meldung v. 08.07.1997).
24 Gemeinsames Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durchMigration und Flucht, hrsg. vom Kirchenamt der EvangelischenKirche in Deutschland und dem Sekretariat der Deutschen Bi-schofskonferenz in Zusammenarbeit mit der ArbeitsgemeinschaftChristlicher Kirchen in Deutschland, 1997, S. 100, Absatz 257.
25
Asylverfahren und die Abschiebung ausreisepflichtiger Ausländer
weder als ein Verfahrens- noch als ein Vollstreckungshindernis
angesehen.
Auch im Schrifttum25 ist die Auffassung ganz herrschend,
daß das aus der frühchristlichen Kirche überlieferte und an das
25 Zur rechtlichen Diskussion vgl. Gramlich: Asyl in den Kirchen?, in:
Gedächtnisschrift für Günther Küchenhoff, 1987, S. 195; Robbers:Kirchliches Asylrecht?, in: AöR Bd. 113 (1988), S. 30; Huber:Sanctuary: Kirchenasyl im Spannungsverhältnis von strafrechtli-cher Verfolgung und verfassungsrechtlicher Legitimation, in: ZAR1988, S. 153; Jacobs: Kirchliches Asylrecht, in: ZevKR Bd. 35(1990), S. 24; Just (Hrsg.): Asyl von unten, 1993; Kaltenborn: Kir-chenasyl, in: DVBl. 1993, S. 25; Barwig/Bauer (Hrsg.): Asyl amHeiligen Ort, 1994; Mühleisen: Eine notwendige Spannung - Das"Kirchenasyl", Die Grundrechte und die Demokratie, in: HerderKorrespondenz 1994, S. 350; Winter: 'Kirchenasyl' als Herausfor-derung für Staat und Kirche, in: KuR 885, S. 1; Münch, v.: "Kir-chenasyl": ehrenwert, aber kein Recht, in: NJW 1995, S. 565;ders., "Kirchenasyl": Wer soll das bezahlen, in: NJW 1995, S.2271; Beck-Kadima/Huot (Hrsg): Kirche und Asyl, 1996; Demand:Kirchenasyl - Rechtsinstitut oder Protestform, 1996;Guth/Rappenecker (Hrsg.): Kirchenasyl, 1996; Heimbach-Steins:Kirchenasyl, in: Stimmen der Zeit 1996, S. 291; Reuter: Subsidiä-rer Menschenrechtsschutz: Bemerkungen zum Kirchenasyl ausprotestantischer Sicht, in: ZRP 1996, S. 97; Roßkopf: Kirchenasyl- Geschichte, Rechtsnatur, aktuelle Situation, in: AWR-Bull. 1996,S. 93; Geis: Kirchenasyl im demokratischen Rechtsstaat, in: JZ1997, S. 60; Grote/Kraus: Der praktische Fall - Öffentliches Recht:Kirchenasyl, in: JuS 1997, S. 345; Lisken: "Kirchenasyl" gegenAbschiebung, in: Lindenau (Hrsg.), Symposion 1995 der Düssel-dorfer Gesellschaft für Rechtsgeschichte, 1997, S. 9;Radtke/Radtke: "Kirchenasyl" und die strafrechtliche Verantwort-lichkeit von Mitgliedern des Kirchenvorstandes, in: ZevK Bd. 42(1997), S. 23; Renck: Bekenntnisfreiheit und Kirchenasyl, in: NJW1997, S. 2089; Rothkegel: Kirchenasyl - Wesen und rechtlicherStandort, in: ZAR 1997; S. 121; Siegmund: VerfassungsrechtlicheAspekte des Kirchenasyls, 1997; Hofmann: "Kirchenasyl" und zi-viler Ungehorsam, in: Wandel durch Beständigkeit, Festschrift fürJens Hacker, hrsg. von Kick u.a.,1998, S. 363; Baldus: Kirchen-asyl und Vertragskirchenrecht, erscheint demnächst in der NVwZ.
26
überkommene Asylrecht griechisch-römischer Tempel anknüp-
fende Kirchenasyl, das geflohene Straftäter auf Grund der Heilig-
keit des Ortes vor dem Zugriff der staatlichen Gewalt schützte,26
von den Rechtsordnungen der europäischen Staaten spätestens
seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr anerkannt wird und von der
evangelischen Kirche und der katholischen Kirche27 als inner-
kirchliches Recht aufgegeben worden ist.28
2. Worüber wird aber diskutiert, wenn das historische Kirchen-
asyl nach allgemeiner Ansicht als Rechtsinstitut nicht mehr be-
steht?
Bei den derzeit in der Öffentlichkeit diskutierten Fällen29 von
"Kirchenasyl" handelt es sich um eine aus den USA importierte
26 Vgl. zur Geschichte des Kirchenasyls etwa Robbers, in: AöR Bd.
113 (1988), S. 30(32 ff.); Jacobs, in: ZevKR Bd. 35 (1990), S. 24ff.; Dudda: Das Asylrecht im Alten Testament, in: ZAR 1996, S.32; Bader: Asyl im Alten Testament, in: Guth/Rappenecker(Hrsg.), a.a.O., S. 17.
27 Die katholische Kirche hat das Kirchenasyl in den neuen CodexIuris Canonici (CIC) von 1983 bewußt nicht mehr aufgenommen,vgl. hierzu Reinhardt, in: Münsterischer Kommentar zum CodexIuris Canonici, Anm. 2 zu Can. 1213; Jacobs, in: ZevKR Bd. 35(1990), S. 30 (33); Robbers, in: AöR Bd. 113 (1988), S. 30 (38 f.).Da dieser Befund von "Kirchenasyl"-Befürwortern für unbefriedi-gend gehalten wird, wird vereinzelt versucht, das "Kirchenasyl" inandere Bestimmungen des CIC hineinzuinterpretieren (vgl. Guth:Kirchenasyl und kirchliches Recht, in: Guth/Rappenecker (Hrsg.),a.a.O., S. 47 [51 f.]).
28 Vgl. etwa Robbers, in: AöR Bd. 113 (1988), S. 30 (37 ff.); Jacobs,in: ZevKR Bd. 35 (1990), S. 24 (30 ff.); Roßkopf, in: AWR-Bull.1996, S. 93 (95 ff.); Winter, in: KuR 885, S. 1.
29 Nach Angaben der sog. Ökumenischen Bundesarbeitsgemein-schaft Asyl in der Kirche befanden sich in Deutschland AnfangDezember 1996 rund 200 ausreisepflichtige Ausländer in 45 Kir-chengemeinden im "Kirchenasyl" (vgl. FR v. 06.12.1996). Im ge-
27
Erscheinungsform,30 die mit dem historischen Kirchenasyl nichts
als den Namen teilt. Vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländern,
die der Ausreiseaufforderung freiwillig nicht nachkommen wollen
und deshalb zwangsweise zurückzuführen sind, wird von Kir-
chengemeinden, Pfarrern oder einzelnen Gemeindemitgliedern
Unterkunft in kirchlichen Räumen gewährt, um hierdurch die
Abschiebung dieser Personen zu verhindern oder zu verzögern.
Teilweise werden die Personen vor den Behörden in kirchlichen
Räumen versteckt; in vielen Fällen wird die Medienöffentlichkeit
gesucht,31 da die Behörden erfahrungsgemäß davor zurück-
scheuen, rechtmäßige Entscheidungen zu vollziehen, wenn sie
vor laufenden Kameras von Kirchen- und Medienvertretern mo-
ralisch diskreditiert werden.32 Die "Kirchenasyl"-Gewährenden
rechtfertigen ihr Verhalten entweder damit, entgegen den Fest-
stellungen der staatlichen Behörden und Gerichte davon über-
zeugt zu sein, daß den Ausländern im Falle der Abschiebung
samten Jahr 1997 sollen 334 Ausländer in 92 Kirchengemeinden”Kirchenasyl“ erhalten haben (vgl. Der Spiegel v. 21.05.1998).
30 Vgl. dazu Robbers, in: AöR Bd. 113 (1988), S. 30 (31); Huber, in:ZAR 1988, S. 153; Niebch: Sanctuary in Deutschland 1993, in:Barwig/Bauer (Hrsg.), a.a.O., S. 17 (30); Burkhard: KirchlichesAsyl in den USA, in: Guth/Rappenecker, a.a.O., S. 80.
31 In den von der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Hessenund Nassau empfohlenen "Gesichtspunkten zum Asyl in Kirchen-gemeinden" heißt es dementsprechend: "Der Erfolg eines Asyls inKirchengemeinden hängt wesentlich davon ab, ob es gelingt, dieÖffentlichkeit davon zu überzeugen, daß diese Abschiebungsan-drohung rückgängig gemacht werden muß. Deshalb muß die Öf-fentlichkeitsarbeit überzeugend und fundiert sein."
32 Vgl. zum Wirkmechanismus des "Kirchenasyls" Hofmann, a.a.O.(Fußn. 25), S. 372, der zum Ergebnis kommt, daß es sich "beiLicht besehen um eine besonders effektive Form der Abschie-bungsvereitelung handelt".
28
Gefahr für Leib oder Leben drohe, oder damit, daß sie die gel-
tenden asyl- und ausländerrechtlichen Vorschriften ablehnen und
entgegen der Rechtslage für die betroffenen Ausländer ein Auf-
enthaltsrecht fordern. Als Beispiel für diese Verhaltensmotivation
mag die Aussage eines Hamburger Pfarrers gelten:33
"Mir macht es moralische Probleme, wenn Leute ab-
geschoben werden. Aber ich habe gar keine Beden-
ken, jemanden vor Abschiebung zu schützen. (...)
Asylgesetze sind Gesetze, aber kein Recht mehr.
Ich beziehe mich auf die Rechte des Menschen, wie
sie in der Bibel beschrieben sind."
"Kirchenasyl" in dieser Erscheinungsform ist ein Aliud zu dem
historischen Kirchenasyl, das dem flüchtigen nicht politischen
Straftäter Schutz vor Blutrache oder unmenschlichen Strafen
(wie z. B. Verstümmelung) in einem Staatswesen gewährte, das
in keiner Weise den heutigen rechtsstaatlichen und menschen-
rechtlichen Standards entsprach. Die Verwendung des Aus-
drucks "Kirchenasyl" für diese Erscheinungsform der Abschie-
bungsverhinderung ist unaufrichtig, da hierdurch der weder histo-
risch noch rechtlich zu begründende Anschein historischer Konti-
nuität und Legitimität erweckt wird,34 um über das im folgenden
dargestellte Problem einer mangelnden rechtlichen Grundlage
33 Pfarrer Stauffer, "taz" v. 05.05.1994.34 Vgl. Jacobs, in: ZevKR Bd. 35 (1990), S. 24 (36).
29
dieses Verhaltens hinwegzuhelfen.35 Von den Kirchen wird des-
halb in letzter Zeit der Ausdruck "Kirchenasyl" in Anführungszei-
chen gesetzt oder durch den Ausdruck "Asyl in der Kirche" er-
setzt.
3. So klar und unmißverständlich die Kirchen erklären, daß
das historische Kirchenasyl als Rechtsinstitut nicht mehr besteht,
so unklar und mißverständlich sind doch die Äußerungen von
Kirchenvertretern zu der mit dem Namen "Kirchenasyl" etiket-
tierten Erscheinungsform der Abschiebungsvereitelung. Die Pa-
lette der Äußerungen ist groß: Ablehnung,36 Verständnis für ein
Verhalten mit möglichen strafrechtlichen Konsequenzen,37 Billi-
gung eines an sich rechtmäßigen Verhaltens38 oder die Auffor-
derung zur Gewährung von "Kirchenasyl" als "Erfüllung einer
moralischen Pflicht"39. Dabei wird zur Begründung dieser Hal-
35 Vgl. etwa Landau: Traditionen des Kirchenasyls, in: Barwig/Bauer
(Hrsg.), a.a.O., S. 47; Theler: Kirchenasyl als eine Form des Wi-derstandes, in: Beck-Kadima/Huot (Hrsg.), a.a.O., S.29 ff.
36 Präsidentin des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken, RitaWaschbüsch, Die Welt v. 17.05.1994.
37 So heißt es hierzu bspw. in der Stellungnahme der Kirchenleitungder Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau vom 12.07.1994:"Die Kirchenleitung hat dafür Verständnis, daß Kirchengemeindenals ultima ratio Flüchtlinge aufnehmen, um sie vor Abschiebungzu schützen."
38 So der Präses der Evangelischen Kirche Deutschlands, Schmude,FAZ v. 17.05.1994; Kardinal Sterzinsky, Schutzraum Kirche, unv.Manuskript eines Vortrages in der Katholischen Akademie Stutt-gart-Hohenheim am 20.09.1996.
39 So Landesbischof Huber, FR v. 19.05.1994, da nach seiner An-sicht die Asylrechtsreform zur Folge habe, daß Flüchtlinge vonAbschiebung bedroht sind, die bei Rückkehr in ihre Heimat um ihrLeben fürchten müßten. So wohl auch Kardinal Wetter, StuttgarterZeitung v. 21.05.1994.
30
tung auf die christliche Beistandspflicht für bedrängte Menschen
hingewiesen.40
Dieser Zwiespalt in den Äußerungen von Kirchenvertretern
wird durch beachtliche diplomatische Formulierungskunst in dem
"Gemeinsamen Wort der Kirchen zu den Herausforderungen
durch Migration und Flucht" überspielt, wenn dort zum einen den
"Kirchenasyl"-Aktivisten Mut zugesprochen wird durch Aussagen
wie
"Es ist verständlich und auch legitim, wenn Kirchen-
gemeinden in bestimmten Einzelfällen nach gewis-
senhafter Prüfung zu dem Ergebnis gelangen, sich
schützend vor einen Menschen stellen zu müssen,
um zu vermeiden, daß ihm der ihm zustehende
Grundrechtsschutz versagt wird. (...) Kirchenge-
meinden, die sich für die Verwirklichung dieser Men-
schen- und Grundrechte einsetzen, stellen daher
den Rechtsstaat nicht in Frage, sondern leisten ei-
nen Beitrag zum Erhalt des Rechtsfriedens und der
Grundwerte unserer Gesellschaft. Sie verdienen für
ihr Eintreten für ethische Prinzipien, die zu den
40 Vgl. hierzu etwa die von der EKD am 9./10.09.1994 verabschie-
deten Thesen zum Kirchenasyl, EKD-Pressemitteilung v.10.09.1994, siehe Anhang 2; EKD Texte Nr. 55, Asylsuchendeund Flüchtlinge, 2. Bericht zur Praxis des Asylverfahrens und desSchutzes vor Abschiebung, 1995, S. 40. Vgl. auch das Gemein-same Wort der Kirchen, a.a.O (Fußn. 24), S. 100, Absatz 257.
31
Grundlagen unseres Glaubens gehören, grundsätz-
lich die Unterstützung und Anerkennung."41
und man zum anderen versucht, sich den Rücken gegenüber
dem Staat freizuhalten, durch Aussagen wie
"Weder nehmen die Kirchen damit aber für sich ei-
nen rechtsfreien Raum in Anspruch noch bestreiten
sie dem Staat das Recht, seine Entscheidungen ge-
gebenenfalls auch innerhalb kirchlicher Räume
durchzusetzen." Und: "Diejenigen, die aus einem
Gewissenskonflikt heraus weitergehen und sich zu
einem begrenzten Verstoß gegen bestehende
Rechtsvorschriften entschließen, müssen dafür frei-
lich wie bei allen Aktionen zivilen Ungehorsams
auch selbst die Verantwortung tragen".42
So vieldeutig dieses entschiedene "Jein"43 der Kirchen zum "Kir-
chenasyl" ist, so eindeutig geht hieraus hervor, daß die Kirchen
die rechtliche und politische Verantwortung für Fälle von "Kir-
chenasyl" bei den Kirchengemeinden und den handelnden "Kir-
chenasyl"-Aktivisten und nicht bei sich selbst sehen. Auch wird
von den Kirchen regelmäßig hervorgehoben, daß sich die Ge-
meinden bei "Kirchenasyl"-Fällen auf das Jedermann-Grund-
recht der Gewissensfreiheit berufen können; die "Glaubensfrei-
41 Gemeinsames Wort der Kirchen, a.a.O. (Fußn. 24), S. 99 f. (Abs.
256, 257).42 Gemeinsames Wort der Kirchen, a.a.O. (Fußn. 24), S. 100 (Abs.
257).43 Hofmann, a.a.O. (Fußn. 25), S. 365.
32
heit" wird in den kirchlichen Stellungnahmen ausgespart, offen-
sichtlich um einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den
"Kirchenasyl"-Fällen und den Amtskirchen nicht aufkommen zu
lassen.44 Wenn aber "Kirchenasyl" von den Amtskirchen in den
Zusammenhang gebracht wird mit ihrem Selbstverständnis, "im-
mer dort mahnend einzugreifen, wo Rechte von Menschen ver-
letzt sind und sich eine kirchliche Beistandspflicht für bedrängte
Menschen ergibt"45, dann trifft die Amtskirchen auch eine Ver-
antwortung für das Handeln ihrer Amtsträger und Kirchenge-
meinden in den Fällen von "Kirchenasyl". Es handelt sich bei
"Kirchenasyl"-Fällen und damit im Zusammenhang stehenden
Rechtsverletzungen gerade nicht um ein bloßes Handeln von
Privatpersonen, die dafür "selbst die Verantwortung tragen"46
müssen. Vielmehr wird hierdurch die sich aus dem Vertragskir-
chenrecht ergebende Loyalitätspflicht der Kirchen gegenüber
dem Rechtsstaat berührt.47
44 So hat Kardinal Sterzinsky ("Der einzelne, die Gemeinde, die Kir-
che - Wer trägt die Verantwortung beim Kirchenasyl?, unv. Manu-skript eines Vortrages beim 3. Bundestreffen der Kirchenasylinitia-tiven vom 8. - 10.03.1996) im Zusammenhang mit "Kirchenasyl"deutlich gemacht, daß ein einzelner sich nur dann auf eine Glau-bensüberzeugung berufen kann, wenn er von der Gemeinschaftder Glaubenden hierzu das Einverständnis erlangt habe, da derchristliche Glaube nicht nur ein Individual-, sondern auch ein Ge-meinschaftsglaube sei.
45 Gemeinsames Wort der Kirchen, a.a.O. (Fußn. 24), S. 100 (Abs.257).
46 Gemeinsames Wort der Kirchen, a.a.O. (Fußn. 24), S. 100 (Abs.257).
47 Zutreffend Baldus, a.a.O. (Fußn. 25).
33
Die "Kirchenasyl"-Aktivisten finden sich in ihrem Verhalten
auch durch die ablehnende und zum Teil feindliche Haltung der
Amtskirchen gegenüber der Asylrechtsreform von 1993 bestätigt.
In der Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz zu Entwick-
lungen in der Flüchtlings- und Asylpolitik vom 9. März 199548
sowie in dem ersten und zweiten Bericht der Kommission für
Ausländerfragen und ethnische Minderheiten des Rates der
Evangelischen Kirche in Deutschland49 wurde der Gesetzgeber
aufgefordert, die Asylrechtsreform in den wesentlichen Punkten
(etwa Drittstaatenregelung, Flughafenasylverfahren) rückgängig
zu machen. In keinem der Berichte und Forderungskataloge kam
zum Ausdruck, daß den Änderungen der verfassungsrechtlichen
Bestimmungen über das Asyl und den damit verbundenen ein-
fachgesetzlichen Regelungen eine zwingende Notwendigkeit für
die politisch Verantwortlichen in unserem Staat zugrunde lag, an-
gesichts der tatsächlichen Entwicklungen im Asylbereich endlich
zu handeln. Das BVerfG hat in seinen Grundsatzurteilen vom
14. Mai 1996 die Kritik an der Asylrechtsreform mit klaren Wor-
ten zurückgewiesen.50
C. Asylgewährung und die inneren Angele-genheiten der Kirchen
48 Pressemitteilung der Deutschen Bischofskonferenz vom
09.03.1995 (PRDD 95-001), "Erklärung der Deutschen Bischofs-konferenz zu Entwicklungen in der Flüchtlings- und Asylpolitik".
49 Vgl. EKD-Texte Nr. 51 und 55.50 BVerfGE 94, 49, 115, 166.
34
1. Die von den Kirchen vertretene Beistandspflicht für ver-
folgte Ausländer hat sich - wie eingangs dargestellt - die Bundes-
republik Deutschland als Staatsaufgabe zu eigen gemacht. Im
Ver-hältnis zwischen Staat und Kirchen kann es mithin nicht
darum gehen, ob verfolgten Personen Schutz gewährt wird, son-
dern wer diesen Schutz zu gewähren hat.
In Deutschland obliegt die Asylgewährung und die Entschei-
dung über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern nach
der Verfassung und den Gesetzen allein dem Staat. Zwar ordnet
und verwaltet nach Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs.
3 Satz 1 WRV jede Religionsgemeinschaft ihre Angelegenheiten
selbständig, aber innerhalb der Schranken der für alle geltenden
Gesetze.51
a) Zu den eigenen Angelegenheiten der Kirchen gehören in
unserem Staat jedoch nicht Fragen des Ausländer- und Asyl-
rechts.52 Eine Zuständigkeit zur Asylgewährung und zur Ent-
scheidung über das Vorliegen von Abschiebungshindernissen ha-
ben die Kirchen auch nicht für sich beansprucht.53 Sie würde im
übrigen auch dem Grundsatz der inneren Souveränität eines
Staates zuwiderlaufen. Dem staatlichen Ausländer- und Asyl-
recht sind die Kirchen ebenso untergeordnet wie jeder andere
weltliche Verband. Kirchen, Kirchengemeinden oder kirchliche
51 Vgl. insbes. BVerfGE 46, 73 (95).52 Jacobs, in: ZevKR Bd. 35 (1990), S. 24 (37); Rothkegel, in: ZAR
1997, S. 121 (125) m.w.N.; Hofmann, a.a.O. (Fußn. 25), S. 366 ff.53 Vgl. etwa die von der EKD am 9./10.09.1994 verabschiedeten
Thesen zum Kirchenasyl, EKD-Pressemitteilung v. 10.09.1994,siehe Anhang 2. Vgl. auch Winter, in: KuR 885, S. 1 (2).
35
Gruppen haben deshalb kein Recht zur Asylgewährung oder zur
Gewährung von Abschiebungsschutz.54
b) Fraglos zählt zu den eigenen Angelegenheiten der Kirchen
neben Lehre, Kultus, Seelsorge und anderen Bereichen der
Selbstbestimmung auch die Caritas als Gestalt "tätiger Näch-
stenliebe".55 Von den Kirchen getragene Krankenhäuser, Pflege-
einrichtungen56 und Schulen gehören als Ausdruck des kirchli-
chen Auftrages zum karitativen Wirken ebenso zu den eigenen
Angelegenheiten der Kirchen wie unter bestimmten Umständen
auch das Sammeln von Lumpen für karitative Zwecke.57 Ist nach
dem Selbstverständnis der Kirchen auch die Fürsorge für abge-
lehnte Asylbewerber und andere ausreisepflichtige Ausländer
Teil des kirchlichen Auftrages zur tätigen Nächstenliebe,58 so
erlaubt dies nicht die Schlußfolgerung, daß jede von den Kir-
chen gewählte Art der Fürsorge, also auch das "Kirchenasyl",
sich über den Gesichtspunkt der tätigen Nächstenliebe zu einer
eigenen Angelegenheit der Kirchen wandelt. Die Kirchen sind
nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV zur Regelung
ihrer eigenen Angelegenheiten berechtigt; dies begründet aber
kein Recht, im Wege der Regelung kirchlicher Angelegenheiten
54 Isensee, in: Listl/Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchen-
rechts, Bd. 2, 2. Aufl. 1995, S. 735; Münch, v., in: NJW 1995, S.565; Huber, in: ZAR 1988, S. 153 (155 f.).
55 Vgl. BVerfGE 24, 236 (247); 53, 366 (393); 57, 220 ( 242 f.); 70,138 ( 163).
56 BVerfGE 53, 366 (393); 57, 220 ( 242 f.); 70, 138 ( 163).57 BVerfGE 24, 236 (247).58 Vgl. das Gemeinsame Wort der Kirchen, a.a.O (Fußn. 24), S. 100,
Absatz 257.
36
das Verhältnis zwischen den kirchlichen zu den gemeinsamen
Angelegenheiten von Kirche und Staat und zu den ausschließlich
staatlichen Angelegenheiten neu zu definieren.59
Ein gegenteiliger Standpunkt wird teilweise in der Literatur
eingenommen.60 Nach Ansicht von Geis61 und Siegmund62 ge-
hört "Kirchenasyl" als Ausdruck tätiger Nächstenliebe zum Kern
christlichen Auftrags und sei deshalb von Art. 4 GG geschützt.
Da Art. 137 Abs. 3 WRV auch die von Art. 4 GG geschützten In-
halte erfasse, habe das "Kirchenasyl" Anteil an der kirchlichen
Selbstverwaltungsgarantie. Obgleich diese Selbstverwaltungsga-
rantie nach Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV der
Schranke des für alle geltenden Gesetzes obliege, treffe nach
der vom BVerfG entwickelten "Wechselwirkungstheorie" ein dem
kirchlichen Selbstbestimmungsrecht Schranken ziehendes Ge-
setz seinerseits auf eine ebensolche Schranke, nämlich auf die
materielle Wertentscheidung der Verfassung, wobei allerdings
die Schranke des für alle geltenden Gesetzes im Lichte der
Selbstverwaltungsgarantie der Kirche auszulegen sei. Siegmund
59 Vgl. Gramlich, a.a.O. (Fußn. 25), S. 195 (204).60 So jüngst Geis, in: JZ 1997, S. 60 (62 ff.); Siegmund, a.a.O.
(Fußn. 25), S. 44 ff. (48), 66 ff.; in die gleiche Richtung denkenauch Huber, in: ZAR 1988, S. 153 (155 f.); Robbers, in: AöR1988, S. 31 (43); Kaltenborn, in: DVBl. 1993, S. 25 (27); Demand,a.a.O. (Fußn. 25), S. 31 f., Grote/Krauss, in: JuS 1997, S. 345(347), und Rothkegel, in: ZAR 1997, S. 121 (125).
61 Geis, in: JZ 1997, S. 60 (62 ff.).62 Siegmund, a.a.O. (Fußn. 25), S. 44 ff. (48), 66 ff.
37
zieht hieraus den kühnen Schluß, Art. 4 GG enthalte ein "Grund-
recht auf Kirchenasyl".63
Von den Vertretern dieser Sichtweise wird für die zentrale
Frage, ob "Kirchenasyl" als eigene Angelegenheit der Kirchen
anzusehen sei, im wesentlichen auf den "Lumpensammlerbe-
schluß" des BVerfG verwiesen.64
In der Entscheidung ging es im wesentlichen darum, daß
ein kommerzieller Altwarenhändler die von der katholi-
schen Landjugend durchgeführten Altwarensammlungen,
deren Erlöse der Landjugend in Entwicklungsländern zu-
gute gekommen sind, als wettbewerbswidrig beanstandete,
weil in den Kirchen für diese Sammlung Werbung ge-
macht worden war. Infolge der karitativen Sammlungen
hätten etwa 90 % der kommerziellen Lumpensammler ih-
ren Betrieb einstellen müssen. Das von dem Altwaren-
händler angerufene Landgericht sah in der Kanzelwerbung
eine gegen die guten Sitten verstoßende Wettbewerbs-
handlung (§ 1 UWG). Die Landjugendbewegung habe sit-
tenwidrig gehandelt, weil sie mit der katholischen Kirche
eine wettbewerbsfremde Autorität für ihre Werbung einge-
spannt habe. Das BVerfG stellte fest, daß die landgericht-
liche Entscheidung verfassungswidrig war, weil die aus re-
ligiös-karitativen Motiven von der katholischen Landjugend
63 Siegmund, a.a.O. (Fußn. 25), S. 156.64 BVerfGE 24, 236 (247).
38
veranstalteten Altmaterialsammlungen zu der durch Art. 4
Abs. 2 GG geschützten Religionsausübung gehören.
Geis zieht aus dieser Entscheidung folgende Schlußfolge-
rung:65 "Ist aber bereits der mittelbare Schutz der Nächstenliebe
(nämlich durch Verkauf gesammelter Altkleider und Spende des
Erlöses) grundrechtsgeschützt, dann ist es erst recht die karitati-
ve Hilfe, die Flüchtlingen unmittelbar durch christliche Gemein-
den gewährt wird".
Die Bezugnahme auf die rund dreißig Jahre alte "Lumpen-
sammlerentscheidung" macht deutlich, daß diese Entscheidung
singulär und ohne Nachfolge geblieben ist. Die sich auf diese
Entscheidung berufende Auffassung, daß "Kirchenasyl" Gegen-
stand des kirchlichen Selbstverwaltungsrechts ist, muß mit Nach-
druck zurückgewiesen werden.66
c.) Die "Lumpensammlerentscheidung" läßt den Schluß zu,
daß unter bestimmten Voraussetzungen karitative Sammlungen
zu den eigenen Angelegenheiten der Kirchen im Sinne von Art.
140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV zählen. Einzuräumen ist,
daß die Eigenschaft als "eigene Angelegenheit" nicht schon
durch den bloßen Außenbezug und mögliche Verletzungen staat-
lichen Rechts entfällt.67 Die Entscheidung, der wohlgemerkt eine
wettbewerbsrechtliche Auseinandersetzung zwischen der Kirche
und einem privaten Unternehmer zugrunde lag, enthält jedoch
65 Geis, in: JZ 1997, S. 60 (63).66 So auch Renck, in: NJW 1997, S. 2089; Hofmann, a.a.O. (Fußn.
25), S. 368.67 Vgl. Geis, in: JZ 1997, S. 60 (62 m. w. N.).
39
keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß die Kirchen durch die Ausfül-
lung des Begriffs der tätigen Nächstenliebe Regelungsbereiche
in ihre Zuständigkeit ziehen können, die dem Staat vorbehalten
sind. Der offene Begriff der tätigen Nächstenliebe begründet kein
Recht, das Verhältnis zwischen eigenen kirchlichen und aus-
schließlich staatlichen Angelegenheiten einseitig neu zu definie-
ren.
Sofern Fürsorge gegenüber Fremden als Ausdruck tätiger
Nächstenliebe angesehen wird, so kann diesem Auftrag, ohne in
staatliche Zuständigkeiten einzugreifen, auch im Rahmen der be-
stehenden Rechtsordnung (etwa durch die Betreuung von Asyl-
bewerbern während des Asylverfahrens) nachgekommen wer-
den. Sieht man die Unterbringung von Ausländern als Ausfluß
der "tätigen Nächstenliebe" und als eigene Angelegenheit der
Kirchen an, dann kann dies nicht bedeuten, daß die Kirchen hin-
sichtlich des personalen Anwendungsbereichs völlig frei wären
und damit bestehende Pflichtenstellungen nach eigenem Belie-
ben auflösen können. So kann, um einen anderen Bereich bei-
spielhaft zu nehmen, die Kirche zwar Gefangenenseelsorge be-
treiben, sie kann aber nicht den Aufenthalt von Straftätern in
dem Sinne bestimmen, daß die Personen von der Kirche ver-
wahrt bzw. untergebracht werden.
d.) Anhaltspunkte enthält die "Lumpensammlerentscheidung"
auch nicht dafür, daß "Kirchenasyl" Ausdruck der Religionsaus-
übung im Sinne von Art. 4 Abs. 2 GG ist. In dieser Entscheidung,
die im übrigen im Schrifttum wegen der Ausdehnung des Schutz-
40
bereiches von Art. 4 GG auf deutliche Kritik gestoßen ist,68
machte das BVerfG deutlich, daß es sich um eine Einzelfallent-
scheidung handelte, denn die grundsätzlichen Fragen zu den
Grenzen des Grundrechts der Religionsfreiheit wollte das Gericht
ausdrücklich nicht beantworten.69 Auch hat es festgestellt, daß
karitative Sammlungen der Kirchen nicht per se, sondern nur un-
ter bestimmten Voraussetzungen religiösen Charakter haben und
damit den Schutz des Art. 4 Abs. 2 GG beanspruchen dürfen.70
Von daher verbietet sich die Ableitung, daß, wenn das Lumpen-
sammeln unter Art. 4 GG fällt, dies erst recht für die kirchliche
Fürsorge für Ausländer und vor allem für die Gewährung von
"Kirchenasyl" gilt. Durch eine Verallgemeinerung der singulären
"Lumpensammlerentscheidung" kann die Frage des Inhalts und
der Reichweite von Art. 4 Abs. 2 GG nicht entschieden werden.71
Die auf einer extensiven Auslegung dieser Entscheidung fu-
ßende These von einer im Grundrecht auf Religionsausübungs-
freiheit wurzelnden Gewährung von "Kirchenasyl" ist auch nicht
zu Ende gedacht,72 denn einerseits käme ein derartiges Privileg
nicht nur den Kirchen, sondern auf Grund der verfassungsrechtli-
chen Gleichstellung von Religionsgemeinschaften und Weltan-
68 Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetzkommentar, Art. 4
Rdnr.103 f. m.w.N.69 BVerfGE 24, 236 (249).70 BVerfGE 24, 236 (249).71 Herzog, in: Maunz/Dürig, Grundgesetzkommentar, Art. 4 Rdnr.
157, hat zu Recht darauf hingewiesen, daß man bei der Anwen-dung von Art. 4 GG mit allgemeinen Formeln nicht weiter kommt.Vielmehr hängt hier die verfassungsrechtliche Lösung meist vonder konkreten Situation ab.
41
schauungsgesellschaften selbst den "organisierten Atheisten" zu-
gute,73 und andererseits würde alles in den Schutzbereich des
Art. 4 Abs. 2 GG fallen, was nach dem aktuellen Empfinden der
Kirchen als "tätige Nächstenliebe" anzusehen wäre.74 Und nicht
nur das: Nimmt man weitere Bereiche des Selbstverständnisses
der kirchlichen Lehre hinzu, wie etwa die Bewahrung der Schöp-
fung, würde jeder gesellschaftliche Vorgang "zum rechtlich ab-
gesicherten Gegenstand kirchlicher Intervention in die staatliche
Verwaltung werden"75. Die Rechtsordnung stünde unter dem
Vorbehalt des kirchlichen Beliebens.
2. Wenn Kirchengemeinden oder Gemeindemitglieder Aus-
ländern, die nach negativem Abschluß des Asylverfahrens abge-
schoben werden sollen, in ihren Räumen Schutz vor dem Zugriff
der Behörden bieten, weil sie die Richtigkeit der getroffenen be-
hördlichen Entscheidungen bezweifeln, heißt dies im Klartext
nichts anderes, als daß sie sich nach Ausschöpfung des Rechts-
72 Hofmann, a.a.O. (Fußn. 25), S. 369.73 Renck, in: NJW 1997, S. 2089 (2091).74 Renck, in: NJW 1997, S. 2089 (2090); Hofmann, a.a.O. (Fußn.
25), S. 369.75 Renck, in: NJW 1997, S. 2089 (2090). So wird neuerdings unter
Berufung auf die These von Geis die Auffassung vertreten, daßhinsichtlich der im Flughafenasylverfahren (§ 18a AsylVfG) erfor-derlichen asylrechtskundigen Beratung von Asylbewerbern entge-gen den Bestimmungen des Rechtsberatungsgesetzes die Bera-tung auch durch kirchliche Sozialarbeiter und ehrenamtliche Mit-arbeiter der Kirchen erfolgen könne, weil die Beratung von Asyl-bewerbern Ausdruck der tätigen Nächstenliebe und damit eigeneAngelegenheit der Kirchen sei (Heinhold, in: ZAR 1997, S. 110,118 f.).
42
weges als Oberinstanz im Asylverfahren verstehen:76 Sie neh-
men für sich die Kompetenz in Anspruch, bessere Kenntnisse
und Informationen zu besitzen als Bundesamt und Gerichte. Be-
denklich ist auch, daß sie sich einerseits als Anwalt der ausrei-
sepflichtigen Ausländer verstehen und andererseits wegen an-
geblich höherer Einsicht die Rolle eines Richters im Asylverfah-
ren für sich beanspruchen.77 Nicht ganz zu Unrecht hat man den
"Kirchenasyl"-Aktivisten Selbstjustiz vorgeworfen:78 der Ver-
gleich mit dem Opfer einer Straftat, das, unzufrieden mit dem
Urteil des Strafgerichts, das Recht selbst in die Hand nimmt,
drängt sich auf.
Die "Kirchenasyl"-Aktivisten berufen sich zur Legitimierung ih-
res Handelns darauf, daß der Staat in einer Reihe von Fällen auf
Grund des gewährten "Kirchenasyls" nachgegeben und die Aus-
länder nicht oder zumindest nicht sofort abgeschoben habe.79
76 Wassermann: Wenn Pfarrer die Oberinstanz im Asylverfahren
sein wollen, in: Die Welt v. 30.06.1993; ders.: Wenn Pfarrer sichals Helfer von Rechtsbrechern betätigen, in: Die Welt v.06.10.1992.
77 Vgl. hierzu auch Quaritsch: Recht auf Asyl, S. 49 f. Ein ähnlichesPhänomen findet man neuerdings in Unterhaltungssendungen pri-vater Fernsehanbieter, die mit Sendungen wie "Wir kämpfen fürSie" mit dem Mittel der "Prangerandrohung" Druck auf Behördenund Privatunternehmen ausüben, um angeblich berechtigte Forde-rungen von Einzelpersonen durchzusetzen wollen. Das LG Kölnhat lt. Handelsblatt v. 27.01.1998 diese Praxis als unzulässig an-gesehen.
78 Gres: Kirchen auf dem Weg zur Selbstjustiz?, in: Die Welt v.05.07.1994.
79 Nach einer Publikation der Ökumenischen Bundesarbeitsgemein-schaft Asyl in der Kirche, "Zufluchtsort Kirche - Eine empirischeUntersuchung über Erfolg und Mißerfolg von Kirchenasyl", S. 3,16, sollen in etwa 70 % der Fälle von "Kirchenasyl" Abschiebun-
43
Abgesehen davon, daß diese Angaben von staatlicher Seite
nicht nachgeprüft werden können, weil hierüber keine staatliche
Statistik geführt wird, wird die entscheidende Frage, warum in
diesen Fällen nicht abgeschoben wurde, nicht beantwortet.80
Hieraus zu folgern, daß die vorangegangenen Asylentscheidun-
gen von Bundesamt und Gerichten falsch waren, ist deshalb un-
redlich, da die im Staat Verantwortlichen in aller Regel nur aus
politischen Gründen dem Druck von Kirchen und Medien nach-
geben.81 Ein derartiger Pressionserfolg ermutigt allerdings nach-
ahmende Aktionen, weil aus dem Nachgeben des Staates auf die
Richtigkeit der Gewährung von "Kirchenasyl" geschlossen wird.
D. Rechtsgehorsam und Gewissensfreiheit
1. Das Rechtsstaatsprinzip setzt als Selbstverständlichkeit die
Gehorsamspflicht der Bürger gegenüber der Staatsgewalt vor-
gen verhindert worden sein. Auf diese Angabe beruft sich kritik-und kommentarlos auch das "Gemeinsame Wort der Kirchen",a.a.O (Fußn. 24), S. 99, Absatz 255. Nach Heimbach-Steins (in:Stimmen der Zeit 1996, S. 291, S. 296) soll die Erfolgsquote garbei 90 % liegen. Kritisch gegenüber diesen Erfolgsmeldungen istselbst der Flüchtlingsexperte der Evangelischen Kirche im Rhein-land Gutheil, in: taz v. 01.02.1997:"Was da alles als Erfolg gezähltwird, müßte man sich sehr genau ansehen. Aus diesen Zahlen zuschließen, in 70 % der Fälle hätten sich die Ausländerbehördenwillkürlich Verfehlungen schuldig gemacht, halte ich für falsch".
80 Hund, in: DRiZ 1994, S. 362 (363); Hofmann, a.a.O. (Fußn. 25),S. 381.
81 Vgl. Münch, v., in: NJW 1996, S. 565 (566); Hofmann, a.a.O.(Fußn. 25), S. 381; Baldus, a.a.O. (Fußn. 25), der hinsichtlich derGewährung von "Kirchenasyl" in Sakralräumen zutreffend fest-stellt, daß die "Ausnutzung einer psychischen Barriere, die ... im-
44
aus.82 Gehorsamspflicht und Staatsgewalt sind logisch untrenn-
bar. Deshalb ist es in einem demokratischen Rechtsstaat nicht
hinnehmbar, wenn einzelne Personen, Gruppen oder Institutio-
nen sich über Gesetze hinwegsetzen, weil sie diese als für sich
nicht verbindlich anerkennen, oder auf der Grundlage von demo-
kratisch zustande gekommenen Gesetzen getroffene Entschei-
dungen von Behörden und Gerichten negieren und ihre eigenen
Entscheidungen an deren Stelle setzen. Gesetzen darf grund-
sätzlich nicht zuwider gehandelt werden, unabhängig davon, ob
sie jedermann als "richtiges Recht" überzeugen. Gegen Gesetze
darf auch dann nicht verstoßen werden, wenn dem eigenen
Rechtsempfinden zufolge das geltende Ausländer- und Asylrecht
schutzbedürftige Ausländer nicht hinreichend schützt, oder wenn
die in diesen Gesetzen zum Ausdruck gebrachte ausländerpoliti-
sche Grundhaltung vom einzelnen generell abgelehnt wird.83
Rechtsgehorsam schuldet der einzelne auch gegenüber den
auf der Grundlage der Gesetze getroffenen behördlichen und ge-
richtlichen Entscheidungen. Hiergegen sind nur die von der
Rechtsordnung vorgesehenen Rechtsbehelfe möglich.
2. Von Menschen getroffene Entscheidungen können irrtums-
behaftet und deshalb fehlerhaft sein. Durch ein umfassendes
mer noch vor weltlichen Eingriffen in einen Sakralraum schützt,eine Form der vis compulsiva" darstellt.
82 Krüger, in: Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 960 ff.; vgl.zur Loyalitätspflicht der Kirchen aus dem Vertragskirchenrecht ge-genüber dem Rechtsstaat Baldus, a.a.O. (Fußn. 25).
83 Vgl. auch Goethes Maxime "Es ist besser, es geschehe dir Un-recht, als die Welt sei ohne Gesetz. Deshalb füge sich jeder demGesetze." (Maximen und Reflexionen, Nr. 113).
45
Rechtsmittelsystem kann die Gefahr materiell falscher Entschei-
dungen verringert werden. Doch auch ein noch so verfeinertes
Verfahrensrecht kann nicht völlig ausschließen, daß im Einzelfall
inhaltlich falsche Entscheidungen getroffen werden. Hierbei han-
delt es sich um ein generelles Problem der Rechtsfindung. Auch
das beste Strafprozeßrecht kann fehlerhafte Entscheidungen
nicht völlig ausschließen. Fraglich kann sein, inwieweit unan-
fechtbare Entscheidungen aufzuheben sind, wenn sich nachträg-
lich herausstellt, daß sie materiell fehlerhaft sind. Diese Frage
stellt sich auch bei den Fällen von "Kirchenasyl", wenn behauptet
wird, daß bestandskräftige ausländerrechtliche- oder asylrechtli-
che Entscheidungen materiell fehlerhaft sind, weil Gesetze
falsch angewandt oder entscheidungserhebliche Tatsachen nicht
zureichend berücksichtigt worden sind. Damit ist das grundsätzli-
che Problem des Verhältnisses von materieller Gerechtigkeit zur
Rechtssicherheit angesprochen.
Materielle Gerechtigkeit und Rechtssicherheit sind wesentli-
che Säulen des Rechtsstaatsprinzips und können in einem Wi-
derstreit zueinander stehen.84 Der Grundsatz der Rechtssicher-
heit verlangt nicht nur einen geregelten Verlauf des Rechtsfin-
dungsverfahrens, sondern auch einen Abschluß, dessen Rechts-
beständigkeit gesichert ist.85 Die Rechtskraft gerichtlicher Ent-
scheidungen und die Bestandskraft von Verwaltungsakten dienen
84 BVerfGE 3, 225 (237); 7, 194 (196); vgl. auch BVerfGE 60, 253
(267).85 BVerfGE 2, 380 (403).
46
der Rechtssicherheit.86 Damit wäre es nicht vereinbar, wenn
rechts- oder bestandskräftige Entscheidungen wegen angeblicher
materieller Unrichtigkeit immer wieder angegriffen werden
könnten.87 Das BVerfG hat dem Prinzip der Rechtssicherheit ei-
ne so zentrale Bedeutung für den Rechtsstaat beigemessen, daß
"die Möglichkeit einer im Einzelfall vielleicht unrichtigen Ent-
scheidung in Kauf genommen werden muß".88 Der Gesetzgeber
handelt deshalb nicht willkürlich, wenn er dem Grundsatz der
Rechtssicherheit im Verfahrensrecht den Vorrang gibt.89 Das
BVerfG hat dies für das Asylverfahrensrecht ausdrücklich bestä-
tigt.90 Dem hiermit kollidierenden Prinzip der materiellen Ge-
rechtigkeit wird im Rahmen des in den Verfahrensordnungen
vorgesehenen Wiederaufnahmeverfahrens, das im Asylverfah-
rensrecht durch das Folgeantragsverfahren seine besondere
Ausgestaltung gefunden hat, Rechnung getragen. Dies bedeutet,
daß auf Grund des aus dem Rechtsstaatsprinzip sich ergeben-
den Grundsatzes der Rechtssicherheit eine Verpflichtung zur Be-
folgung bestandskräftiger negativer Entscheidungen über Asy-
lanträge auch dann besteht, wenn "Kirchenasyl" gewährende
Gemeinden angebliche materielle Fehler der Entscheidungen
rügen.
86 BVerfGE 47, 146 (165); 60, 253 (269).87 Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des
Staatsrechts, Bd. I, § 24, Rdnr. 82 f.88 BVerfGE 2, 380 (403); vgl. auch BVerfGE 7, 194 (196).89 Vgl. BVerfGE 7, 194 (196); 11, 263 (265); 19, 150 (166); 20, 230
(235).
47
Nach der Rechtsprechung des BVerfGs zum Unrecht in der
NS-91 und SED-Diktatur92 kann sich lediglich dann ein überposi-
tives Recht und sogar eine Pflicht zum Verstoß gegen positives
Recht ergeben, wenn der Widerspruch zwischen Gerechtigkeit
und positivem Recht ein unerträgliches Maß erreicht. In diesen
Fällen hat die materielle Gerechtigkeit Vorrang vor der Rechtssi-
cherheit und der Pflicht des einzelnen zum Rechtsgehorsam.
Dabei kommt es aber auch darauf an, daß das Unrecht und sein
erhebliches Gewicht nicht nur in der Phantasie der Protestieren-
den existieren, sondern auch für Dritte erkennbar, also offenkun-
dig sind.93 Das BVerfG94 hat zur Bestimmung dieser Fälle die
von Radbruch95 entwickelte Formel übernommen:
"Der Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit
dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Sat-
zung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang
hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist,
es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes
zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß
90 BVerfGE 60, 253 (269, 295 f.), danach dienen Verfahrensvor-
schriften, die trotz politischer Verfolgung die Asylanerkennungversagen, dem Prinzip der Rechtssicherheit.
91 Vgl. BVerfGE 3, 225 (232 f.); 6, 132 (198); 6, 389 (414 f.); 23, 98(106); 54, 53 (67 f.).
92 Vgl. BVerfGE 95, 96 (133 ff.).93 Vgl. auch Klein: Ziviler Ungehorsam im demokratischen Rechts-
staat?, in: Rüthers/Stern (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung imVerfassungsstaat, Festausgabe zum zehnjährigen Jubiläum derGesellschaft für Rechtspolitik, 1984, S. 177 (179).
94 BVerfGE 3, 225 (232 f.); 6, 132 (198); 6, 389 (414 f.); 95, 96(134).
95 Radbruch, in: Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, S. 345.
48
das Gesetz 'als unrichtiges Recht' der Gerechtigkeit zu
weichen hat."
Im Rechtsstaat des Grundgesetzes ist für dieses Recht zur
Verweigerung des Rechtsgehorsams kein Raum.
Im Unterschied zum Grundgesetz wird im Neuen Testament
die Pflicht zum Rechtsgehorsam und zum Gehorsam gegenüber
den Entscheidungen des Staates und seiner Organe ausdrücklich
betont:
"Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den
schuldigen Gehorsam." (Röm 13, 1)
"Erinnere sie daran, sich den Herrschern und Machtha-
bern unterzuordnen und ihnen zu gehorchen." (Tit 3, 1)
"Unterwerft euch um des Herrn willen jeder menschli-
chen Ordnung: dem Kaiser, weil er über allen steht,
den Statthaltern, weil sie von ihm entsandt sind, um die
zu bestrafen, die Böses tun, und die auszuzeichnen,
die Gutes tun." (1 Petr 2, 13 f.)96
Andererseits gilt auch diese Gehorsamspflicht nicht aus-
nahmslos. Die von Radbruch geprägte Formel erscheint als zeit-
gemäße Konkretisierung der Forderung "Man muß Gott mehr ge-
horchen als den Menschen" (Apg 5, 29);97 eine Forderung, die
96 Vgl. dazu auch den Katechismus der Katholischen Kirche, Ziff.
1900: "Die Gehorsamspflicht verlangt von allen, der Autorität dieihr gebührende Ehre zu erweisen und die Personen, die ein Amtausüben, zu achten und ihnen - je nach Verdienst - Dankbarkeitund Wohlwollen entgegenzubringen."
97 Vgl. auch den Katechismus der Katholischen Kirche, Ziff. 2242:"Der Bürger hat die Gewissenspflicht, die Vorschriften der staatli-
49
allerdings im demokratischen Rechtsstaat Gesetzesverstöße
nicht legitimiert.
Nationalsozialismus und SED-Sozialismus haben gezeigt,
daß es für Christen wie für Nichtchristen gleichermaßen schwie-
rig ist, in den Fällen von offenkundigem Unrecht dem Staat den
Rechtsgehorsam aufzukündigen. Nur Wenige hatten die Zivil-
courage, ungerechtes Recht als Unrecht zu benennen, zu wider-
sprechen oder Widerstand zu leisten. Diese Versäumnisse der
Vergangenheit können im demokratischen Rechtsstaat nicht da-
durch nachgeholt werden, daß demokratisch zustande gekom-
mene Gesetze nicht befolgt werden. Während in einer Diktatur
die Verweigerung des Rechtsgehorsam geboten sein kann, ist
der Rechtsgehorsam für den demokratischen Rechtsstaat eine
Grundvoraussetzung.
3. Die Autorität des Staates im Bereich des Ausländer- und
Asylrechts wird durch eine Reihe von Strafvorschriften ge-
schützt. Handlungen im Zusammenhang mit "Kirchenasyl" kön-
nen gegen zahlreiche Strafvorschriften98 verstoßen:99
chen Autoritäten nicht zu befolgen, wenn diese Anordnungen denForderungen der sittlichen Ordnung, den Grundrechten des Men-schen oder den Weisungen des Evangeliums widersprechen."
98 Vgl. hierzu auch Robbers: Strafrecht und Verfassung beim Kir-chenasyl, in: Barwig/Bauer (Hrsg.), a.a.O., S. 117 ff.; ders., in:AöR Bd. 113 (1988), S. 30 (48 ff.); Huber: Kirchenasyl im Span-nungsverhältnis von strafrechtlicher Verfolgung und verfassungs-rechtlicher Legitimation, in: Barwig/Bauer (Hrsg.), a.a.O., S. 99(99-102); ders., in: ZAR 1988, S. 153 f.
99 Der Tagespresse kann entnommen werden, daß die Strafverfol-gungsbehörden "Kirchenasyl"-Aktivisten in zunehmendem Maßestrafrechtlich zur Verantwortung ziehen, vgl. etwa SZ v.
50
a) Nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG macht sich ein Auslän-
der strafbar, wenn er sich ohne Aufenthaltsgenehmi-
gung oder Duldung in Deutschland aufhält. Das Ver-
stecken ausreisepflichtiger Ausländer wird regelmäßig
als Beihilfe i. S. d. § 27 Abs. 1 StGB zu § 92 Abs. 1
Nr. 1 AuslG zu bewerten sein. Gegebenenfalls kann
auch Anstiftung zum illegalen Aufenthalt vorliegen.
b) Nach § 92a Abs. 1 AuslG wird die qualifizierte Beihilfe
oder Anstiftung zu einer Straftat nach § 92 Abs. 1 Nr.
1, 2 oder 6 oder Abs. 2 AuslG mit Freiheitsstrafe bis zu
fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Eine qualifi-
zierte Beihilfe oder Anstiftung liegt insbesondere vor,
wenn der Täter, wie oftmals bei den Fällen von "Kir-
chenasyl", wiederholt oder zugunsten von mehr als
fünf Ausländern handelt.
c) Nach § 92a Abs. 2 AuslG wird mit Freiheitsstrafe von
sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft, wer in den
Fällen des Absatzes 1 gewerbsmäßig oder als Mitglied
26.10.1996 (Regensburg: Pfarrer im Visier der Justiz), "Die Welt"v. 02.11.1996 (Köln: Prozeß gegen Pfarrer wegen Kirchenasyl),FR v. 12.12.1996 (Berlin: Unter Tatverdacht: Pfarrer und Gemein-de), FR v. 18.12.1997 (Hamburg: Ermittlungen gegen Pastor we-gen Kirchenasyls), "Rheinische Post" v. 21.01.1998 (Pfarrer alsMenschenschmuggler in Haft), FR v. 26.02.1998 (Goslar: Kir-chenasyl hat für Pastor strafrechtliche Folgen). Wassermann(Nicht das Urteil ist der Skandal, sondern der Aufruf zum Wider-stand - Zum Kölner Behindertenurteil, in: NJW 1998, S. 730, 731)stellt dagegen fast resignierend fest, "das sogenannte Kirchenasylz. B. wird so häufig gewährt, daß viele müde geworden sind, auchnur auf dessen Rechtswidrigkeit aufmerksam zu machen".
51
einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung sol-
cher Taten verbunden hat, handelt. Bei der Gewäh-
rung von "Kirchenasyl" dürfte der Tatbestand der ban-
denmäßigen Begehung durchaus in Betracht zu ziehen
sein. Eine Bande ist eine Gruppe von mindestens zwei
Mitgliedern. Mit fortgesetzter Begehung ist die Bege-
hung mehrerer selbständiger, im einzelnen noch un-
gewisser Taten gemeint.
d) Nach § 92b Abs. 1 AuslG wird mit Freiheitsstrafe von
einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft, wer in den
Fällen des § 92a Abs. 1 AuslG gewerbsmäßig und als
Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Bege-
hung solcher Taten verbunden hat, handelt.
e) Nach § 84 Abs. 1 AsylVfG wird mit Freiheitsstrafe bis
zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wer einen
Ausländer verleitet oder dabei unterstützt, im Asylver-
fahren vor dem Bundesamt oder im gerichtlichen Ver-
fahren unrichtige oder unvollständige Angaben zu ma-
chen, um seine Anerkennung als Asylberechtigter oder
die Feststellung, daß die Voraussetzungen des § 51
Abs. 1 AuslG vorliegen, zu ermöglichen. Ein beson-
ders schwerer Fall, der mit Freiheitsstrafe bis zu fünf
Jahren bestraft wird, liegt in der Regel vor, wenn der
Täter wiederholt oder zugunsten von mehr als fünf
Ausländern handelt. Parallel zu § 92a Abs. 2, § 92b
AuslG wird die Verleitung zur mißbräuchlichen Asy-
52
lantragstellung nach § 84 Abs. 3 AsylVfG bei gewerbs-
oder bandenmäßiger Begehung mit Freiheitsstrafe von
sechs Monaten bis zu zehn Jahren und nach § 84a
AsylVfG bei gewerbs- und bandenmäßiger Begehung
mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren
bedroht.
f) Nach § 85 AsylVfG machen sich Asylbewerber u. a.
strafbar, wenn sie wiederholt einer Aufenthaltsbe-
schränkung zuwiderhandeln. In den Fällen von "Kir-
chenasyl" kann eine Beihilfe oder Anstiftung zu dieser
Straftat gegeben sein.
g) Soweit durch die Gewährung von "Kirchenasyl" ab-
sichtlich oder wissentlich vereitelt wird, daß ein Aus-
länder wegen vorangegangener Straftaten (etwa nach
dem AuslG und AsylVfG) bestraft wird, oder die Voll-
streckung einer bereits verhängten Strafe vereitelt
wird, kommt Strafvereitelung nach § 258 Abs. 1, 2
StGB in Frage.
h) Wenn durch die Gewährung von "Kirchenasyl" der ille-
gale Voraufenthalt von Ausländern abgesichert oder,
bei illegal eingereisten Ausländern, der weitere illegale
Verbleib gesichert werden soll, kann Begünstigung
vorliegen, die nach § 257 Abs. 1 StGB mit Freiheits-
strafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft
wird.
53
i) "Kirchenasyl" kann u. U. auch als Widerstand gegen
Vollstreckungsbeamte nach § 113 StGB zu beurteilen
sein, wenn polizeiliche Maßnahmen zur Abschiebung
des Ausländers mit Gewalt oder durch Drohung mit
Gewalt verhindert werden.
j) Soweit die Gewährung von "Kirchenasyl" mit der Be-
gehung von Straftaten im Zusammenhang steht, kann
der Zusammenschluß von Gemeindemitgliedern zur
gemeinschaftlichen auf bestimmte Dauer ausgerich-
teten Gewährung von "Kirchenasyl" als Bildung einer
kri-minellen Vereinigung (§ 129 StGB) zu werten sein.
4. Die Ansicht ist verbreitet, daß im Hinblick auf die ethisch
motivierte Zielsetzung eine Bestrafung wegen "Kirchenasyls"
nicht in Betracht kommen könne.100 Gegenüber derartigen Straf-
freiheitsüberlegungen ist jedoch Vorsicht geboten.
a) Den "Kirchenasyl"-Gewährenden steht kein gesetzlicher
Rechtfertigungsgrund zur Seite. Sie können sich weder auf den
Rechtfertigungsgrund der Nothilfe (§ 32 StGB) berufen, da das
staatliche Handeln in aller Regel keinen rechtswidrigen Eingriff in
die Rechtsgüter des Ausländers darstellt, noch auf den des Not-
stands (§ 34 StGB), denn nach dem für die Einschätzung der
Gefahrenlage zuständigen Bundesamt bzw. den angerufenen
100 Vgl. Robbers, in: AöR Bd. 113 (1988), S. 30 (46 ff., 51); Roßkopf,
in: AWR-Bull. 1996, S. 103 ff.; Huber, in: ZAR 1988, S. 153 ff.;Winter, in: KuR 885, S. 1 (5 f.);.
54
Gerichten steht fest, daß eine § 34 StGB begründende Gefah-
rensituation gerade nicht besteht.101 Der verschiedentlich ver-
wendete Begriff des "zivilen Ungehorsams"102 begründet außer-
halb des exzeptionellen Falls des Art. 20 Abs. 4 GG keinen
Rechtfertigungsgrund; der dahinter stehende Gedanke ist mit
den Grundprinzipien des demokratischen Rechtsstaates unver-
einbar,103 er verletzt die innerstaatliche Friedenspflicht, verstößt
gegen das Prinzip der Gleichheit aller vor dem Gesetz und setzt
sich über das Mehrheitsprinzip hinweg, das für ein demokratisch
verfaßtes Gemeinwesen konstituierend ist.104
b) Auch Art. 4 Abs. 1 GG steht einer Bestrafung wegen Straf-
taten, die im Zusammenhang mit "Kirchenasyl" verwirklicht wur-
den, nicht entgegen. Dabei kann dahinstehen, ob die Gewährung
von "Kirchenasyl" Ausdruck der Freiheit des Glaubens, des Ge-
wissens oder der des religiösen oder weltanschaulichen Bekennt-
nisses ist (Art. 4 Abs. 1 GG), da es hier im wesentlichen nur um
die Frage geht, ob und inwieweit im Falle der Verwirklichung ei-
nes Straftatbestandes Art. 4 Abs. 1 GG zur Straflosigkeit führen
kann. Zwar sind die Freiheitsverbürgungen des Art. 4 Abs. 1 GG
vorbehaltlos, aber nicht schrankenlos garantiert.105 So darf die
Ausübung der Freiheiten nicht in Widerspruch zu anderen Wert-
101 Jacobs, in: ZevKR Bd. 35 (1990), S. 24 (40); Radtke/Radtke, in:
ZevK Bd. 42 (1997), S. 23 (49 ff.).102 Vgl. etwa BVerfGE 73, 206 (250-252).103 BGHSt 23, 46 (56 ff.); vgl. auch Hirsch, Strafrecht und Überzeu-
gungstäter, 1996, S. 33.104 Vgl. hierzu auch die ausführlichen Darlegungen von Hofmann,
a.a.O. (Fußn. 25), S. 382 ff.105 Vgl. BVerfGE 32, 98 (107); 33, 23 (29); 52, 223 (247).
55
entscheidungen der Verfassung geraten und zu fühlbaren Beein-
trächtigungen des Gemeinwesens oder der Grundrechte anderer
führen.106 Dies bedeutet, daß durch die in Art. 4 Abs. 1 GG ver-
bürgten Freiheiten die Rechtsgehorsamspflicht des Bürgers nicht
in das Belieben von Glauben und Gewissen gestellt wird. Die in
der verfassungsrechtlichen Literatur durchgängig zu findende
Aussage, daß in exzeptionellen Konfliktfällen der staatliche
Strafanspruch bei glaubens- oder gewissensmotivierten Handlun-
gen zurückstehen muß, ist für den Strafrechtsanwender wenig
hilfreich und läßt entgegen dem gerade im Strafrecht so wichti-
gen Bestimmtheitsgebot Art und Umfang des verfassungsrecht-
lich gebotenen Strafverzichts offen.
Gewiß kann aus den Freiheiten des Art. 4 Abs. 1 GG kein
strafrechtlicher Rechtfertigungsgrund hergeleitet werden;107 ge-
gen das glaubens- oder gewissensmotivierte Handeln muß Not-
wehr zum Schutz des durch die verletzte Strafrechtsnorm ge-
schützten Rechtsgutes möglich sein. Bei relevanten glaubens-
oder gewissensmotivierten Handlungen kann aus Art. 4 Abs. 1
GG allenfalls ein Entschuldigungsgrund oder ein Strafmilde-
rungsgrund abgeleitet werden.108
106 BVerfGE 33, 23 (29).107 So Lenckner, in: Schönke/Schröder, Kommentar zum Strafge-
setzbuch, 25. Aufl. 1997, Vorbem §§ 32 ff., Rdnr. 119; Hirsch, in:Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl. 1994, Vor § 32, Rdnr.224; vgl. auch Radtke/Radtke, in: ZevK Bd. 42 (1997), S. 23 (49ff.).
108 Vgl hierzu Hirsch, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl.1994, Vor § 32, Rdnr. 221; Lenckner, in: Schönke/Schröder,Kommentar zum Strafgesetzbuch, 25. Aufl. 1997, Vorbem §§ 32
56
Teilweise wird die Straflosigkeit von "Kirchenasyl" unter Be-
rufung auf die Entscheidung des BVerfGs vom 19. Oktober 1971
("Gesundbeter-Fall")109 behauptet.110
Das BVerfG hatte in dieser Entscheidung die Verurteilung
eines Ehemannes, der Angehöriger der religiösen "Verei-
nigung des evangelischen Brüdervereins" war, wegen un-
terlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB) aufgehoben. Die-
ser hatte es unterlassen, bei seiner Ehefrau, die der glei-
chen Glaubensgemeinschaft angehörte, seinen Einfluß in
der Weise geltend zu machen, sich ärztlichem Rat ent-
sprechend in ein Krankenhaus zu begeben und dort eine
Bluttransfusion vornehmen zu lassen. Der Ehemann fühlte
sich in Übereinstimmung mit seiner Frau an die Lehre des
Brüdervereins gebunden, daß in einem solchen Fall das
Gebet zu Gott der "bessere Weg" sei. Die Frau starb, hät-
te aber durch ärztliche Hilfe gerettet werden können. Das
BVerfG entschied, das Verhalten des Ehemannes sei zwar
zu mißbilligen, es sei aber "nicht mehr in dem Maße vor-
ff., Rdnr. 118 m.w.N.; Tröndle, in: Strafgesetzbuch, 48. Aufl. 1997,§ 46, Rdnr. 19a; vgl. auch Radtke/Radtke, in: ZevK Bd. 42 (1997),S. 23 (52 ff.).
109 BVerfGE 32, 98 ff.110 Vgl. etwa Huber, in: ZAR 1988, S. 153 (157); ders.: Kirchenasyl
im Spannungsverhältnis von strafrechtlicher Verfolgung und ver-fassungsrechtlicher Legitimation, in: Barwig/Bauer (Hrsg.), a.a.O.(Fußn. 25), S. 99 (108 ff.); ders.: Asylschutz ist Menschenrecht, in:Just (Hrsg.), a.a.O., S. 91 (102 ff.); Winter, in: KuR 885, S. 1 (5f.); Lisken, a.a.O. (Fußn. 25), S. 9 f.; Demand, a.a.O. (Fußn. 25),S. 34 f.; Rothkegel, in: ZAR 1997, S. 121 (127 f.); wohl auch Rob-bers, in: AöR Bd. 133 (1988), S. 30 (46).
57
werfbar, daß es gerechtfertigt wäre, mit der schärfsten der
Gesellschaft zu Gebote stehenden Waffe, dem Strafrecht,
gegen den Täter vorzugehen".111
Aus diesem Beschluß des BVerfGs können Gesichtspunkte,
die für eine Straflosigkeit von Straftaten im Zusammenhang mit
"Kirchenasyl" sprechen, nicht hergeleitet werden. Im Gegenteil.
Im "Gesundbeter-Fall" des BVerfG ging es nicht um ein Bege-
hungs-, sondern um ein Unterlassungsdelikt (dazu nachfolgend
unter I.); der Rechtsgutsträger, die Ehefrau, hatte das Unterlas-
sen gebilligt (II.); das Unterlassen beruhte auf einer Glaubens-
überzeugung (III.), die an sich billigenswert ist (IV.); schließlich
konnte der Konflikt zwischen Glaubensüberzeugung und Rechts-
gehorsam nicht durch ein rechtmäßiges Alternativverhalten ge-
löst werden (V.).
I.) Der Berücksichtigung von Glaubens- und Gewissensent-
scheidungen bei Unterlassungsdelikten ist zuzustimmen, da es in
der Tat unvertretbar sein kann, jemanden gegen seine Gewis-
sensentscheidung durch Strafdrohung zu einer Handlung zu
zwingen, die er ablehnt.112 Die Ausdehnung der Glaubens- und
Gewissensentscheidung auf Begehungsdelikte wird auch von der
h. M. in der Strafrechtswissenschaft abgelehnt, da auf diese Wei-
se der Schutz der Bürger durch das Strafrecht weithin zur Dispo-
111 BVerfGE 32, 98 (109).112 Vgl. auch BGHSt 32, 367 (381).
58
sition des Glaubens- und Gewissenstäters gestellt würde.113 So
können beispielsweise der Verrat von Staatsgeheimnissen aus
Gewissengründen oder religiös motivierte Ritualtötungen nicht
durch Art. 4 Abs. 1 GG entschuldigt werden. Auch die im Zu-
sammenhang mit der Gewährung von "Kirchenasyl" verwirklich-
ten Straftaten können als Begehungsstraftaten nicht durch Art. 4
GG entschuldigt werden.114
II.) In dem "Gesundbeterfall" hat die später verstorbene Ehe-
frau die zu ihren Gunsten gebotene Handlung selbst abgelehnt
und damit das Unterlassen des Ehemannes gebilligt. Zu fordern
ist deshalb, daß bei glaubens- oder gewissensmotivierten Unter-
lassungsdelikten der Rechtsgutsträger das Unterlassen billigt.
Andernfalls müßte auch jemand straflos bleiben, der einen Ver-
unglückten sterben läßt, weil er das Unglück als göttliche Strafe
ansieht, der der Mensch ihren Lauf lassen müsse.115 Strafrechts-
normen, die die Rechtsgüter Dritter schützen, können, auch
wenn ein positives Handeln geboten ist, nicht zur Disposition des
Glaubens- und Gewissenstäters gestellt werden. Bei den im Zu-
sammenhang mit "Kirchenasyl" in Betracht kommenden Strafta-
113 Vgl. etwa Lenckner, in: Schönke/Schröder, Kommentar zum
Strafgesetzbuch, 25. Aufl. 1997, Vorbem §§ 32 ff., Rdnr. 119;Hirsch, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl. 1994, Vor§ 32, Rdnr. 221; Jescheck/Weigend, in: Lehrbuch des Strafrechts,5. Aufl. 1996, S. 506.
114 Vgl. auch Muckel: Religiöse Freiheit und staatliche Letztentschei-dung, 1997, S. 161, Fußn. 249; Hofmann, a.a.O. (Fußn. 25), S.385.
115 Jescheck/Weigend, a.a.O., 5. Aufl. 1996, S. 506; Peters, Anmer-kung zu BVerfGE 32, 98, in: JZ 1972, S.85 (86); Blumenthal, v.,Anmerkung zu BVerfGE 32, 98, in: MDR 1972, S. 759.
59
ten fehlt die Zustimmung des Rechtsgutsträgers, der bei diesen
Normen der Staat ist.
III.) Die Handlung muß auf einer Glaubens- oder Gewissens-
überzeugung beruhen, die im Widerspruch steht zu den gesetzli-
chen Verhaltensforderungen. Zwischen dem vom Glauben oder
Gewissen geforderten Handeln oder Unterlassen und der vom
Gesetz ausgehenden Handlungs- oder Unterlassungsforderung
muß also ein Konflikt bestehen. Im "Gesundbeter-Fall" stand die
sich aus § 323c StGB (unterlassene Hilfeleistung) ergebende
Handlungspflicht im Widerspruch zu der Glaubenshaltung, eine
Bluttransfusion abzulehnen. Beim "Kirchenasyl" liegt ein derarti-
ger Konflikt zwischen Glaubens- bzw. Gewissensforderung einer-
seits und gesetzlicher Verhaltensanforderung andererseits nicht
vor. Der Staat vertritt ebenso wie die Kirchen die Auffassung,
daß Ausländer, denen im Herkunftsstaat politische Verfolgung,
Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder
Behandlung droht, dorthin nicht abgeschoben werden dürfen. Der
Staat teilt nicht nur diese Forderung der Kirchen, er hat sie sich
selbst zu eigen gemacht, indem er rechtliche Grundlagen und ein
rechtsstaatliches Verfahren geschaffen hat, um diesem Recht,
ggf. bis zur obersten Gerichtsinstanz dieses Staates, Durchset-
zungskraft zu verleihen. Wenn Kirchengemeinden rechtskräftig
abgelehnte Asylbewerber in kirchlichen Räumen vor der Ab-
schiebung schützen, dann geht es nicht um unterschiedliche Ver-
haltensforderungen von Glauben bzw. Gewissen einerseits und
Gesetz andererseits, sondern um die unterschiedliche Auslegung
60
und Bewertung der Sachverhaltsumstände des Einzelfalls.116 Die
Frage, ob ein Kirchenmitglied eine Gefahrenlage, deren Nichtbe-
stehen bereits in einem rechtsstaatlichen Verfahren festgestellt
wurde, besser beurteilen kann, ist ebensowenig eine Frage der
Grundrechte des Art. 4 GG wie die Frage, ob in einem strafrecht-
lichen Zusammenhang eine Ampel rot oder grün angezeigt hat.
Im Ampelfall kann im Hinblick auf Art. 4 GG allenfalls die Frage
von Bedeutung sein, ob die an das Überfahren der roten Ampel
geknüpfte Strafe sittlich hinnehmbar ist. Genauso ist es keine
Frage der Ethik, ob dem Ausländer im Herkunftsstaat tatsächlich
politische Verfolgung droht oder nicht. Das Besserwissen darum,
ob die Ampel rot anzeigte, oder um das tatsächliche Bestehen
einer Verfolgungssituation und der Wettbewerb mit dem Staat
um die besseren Kenntnisse eines Geschehen, das Tausende
von Kilometern von einer Kirchengemeinde entfernt abläuft, ist
kein Gegenstand einer ernsthaften Glaubens- oder Gewissens-
entscheidung. Es handelt sich um eine andere Bewertung eines
Lebenssachverhaltes. Das Gewissen wird hier für die sittlich irre-
levante "bessere Wahrheit" von bloßen Geschehensabläufen be-
müht.117 Genauso wenig kann sich auf Art. 4 Abs. 1 GG stützen,
116 Dies übersehen u. a. Robbers, in: AöR Bd. 133 (1988), S. 30 (44
ff.); Jacobs, in: ZevKR Bd. 35 (1990), S. 24 (38 f.); Kaltenborn, in:DVBl. 1993, S. 25 (28); Winter, in: KuR 885, S. 1 (4); Roßkopf, in:AWR-Bull 1996, S. 93 (103 f.); Kraus: Kirchenasyl und staatlicheGrundrechtsordnung, in: Guth/Rappenecker (Hrsg.), a.a.O., S. 58(60 ff.). Sie nehmen in den Fällen von "Kirchenasyl" ohne nähereBegründung einen Gewissenskonflikt an. Wie hier auch Muckel,a.a.O. (Fußn. 114), S. 160 f.
117 Bergmann, in: Seifert/Hömig (Hrsg.), Taschenkommentar zumGrundgesetz, 5. Aufl. 1995, Art. 4, Rdnr. 8. So auch Hofmann,a.a.O. (Fußn. 25), S. 385; ders.: Glaube und Politik in Zeiten der
61
wer einen verurteilten Strafgefangenen befreit, weil er der An-
sicht ist, daß die Inhaftierung von Unschuldigen nicht mit seinem
Gewissen zu vereinbaren sei. Auch hier besteht kein eigentlicher
Gewissenskonflikt; das Gewissen wird lediglich zur Beurteilung
eines Lebenssachverhalts (Verstoß gegen Strafgesetz durch den
Verurteilten) herangezogen.
IV.) Das Motiv des Täters muß mit den Grundsätzen der
Rechtsgemeinschaft in Einklang stehen. Es darf nicht dem ordre
public widersprechen. Dies dürfte beispielsweise dann anzuneh-
men sein, wenn aus religiösen Gründen ein Ritualmord oder Ri-
tualselbstmord nicht verhindert wird. Aber auch dann, wenn die
mit der Gewährung von "Kirchenasyl" verfolgten Ziele dahin gin-
gen, Abschiebungen unabhängig von dem Vorliegen politischer
Verfolgung oder anderer Abschiebungshindernisse zu verhin-
dern, weil die Abschiebung von Ausländern generell für unmora-
lisch gehalten wird, stünde dieses Motiv mit der geltenden
Rechtsordnung in einem für den Staat nicht hinnehmbaren Wi-
derspruch.118
Kulturrevolution, in: ZfP 1996, S. 434 (442). Zutreffend auch derEinwurf von Hund, in: DRiZ 1994, S. 362 (363): "Diese prinzipielleBesserwisserei von Kirchenleuten und juristischen Laien darf dochwohl nicht im Ernst zur Grundlage einer Gewissensentscheidungerhoben werden".
118 In der Tat dürfte es in vielen Fällen von "Kirchenasyl" nicht darumgehen, die unterstützten Ausländer vor politischer Verfolgung oderMenschenrechtsverletzungen im Herkunftsland zu schützen, son-dern ihnen wegen der schlechten wirtschaftlichen Bedingungenund Arbeitsmarktverhältnisse in der Heimat ein Aufenthaltsrecht inDeutschland zu verschaffen, vgl. Griesbeck, a.a.O. (Fußn. 11), S.62 f.; Hofmann, a.a.O. (Fußn. 25), S. 388.
62
V.) Schließlich darf auch keine rechtmäßige Alternative zur
Lösung des Gewissenskonflikts gegeben sein.119 Eine Alternati-
ve ist gegeben, wenn ein anderes Verhalten möglich wäre, bei
dem der Gewissensanforderung entsprochen werden kann, ohne
daß es zum Rechtsbruch kommt. Bei den Fällen von "Kirchen-
asyl" ist rechtmäßiges Alternativverhalten immer möglich, da ins-
besondere durch Anträge nach § 80 Abs. 7 VwGO und § 32
BVerfGG im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes sowie
durch das Folgeantragsverfahren (§ 71 AsylVfG) rechtliche In-
strumente zur Korrektur ggf. unanfechtbarer Entscheidungen zur
Verfügung stehen.
Nach allem kann aus Art. 4 Abs. 1 GG kein Entschuldigungs-
oder Strafmilderungsgrund in bezug auf Straftaten im Zusam-
menhang mit "Kirchenasyl" hergeleitet werden.120 Zutreffend hat
v. Campenhausen zum "Gesundbeter-Beschluß" des BVerfG an-
gemerkt:121
"Aus dem Zusammenhang gerissen und verallgemeinert
kann das Zitat aber als Argument für Straffreiheit oder
Strafmilderung des religiös motivierten Überzeugungstä-
ters dienen. Dann wäre die Geltung des Strafrechts und
damit eine der großen freiheitsschützenden Errungen-
119 Vgl. Bethge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staats-
rechts, § 137, Rdnr. 35; Preuß, in: Alternativkommentar GG, Art.4 Rdnr. 43.
120 Vom Ergebnis her u. a. auch Bergmann, in: Seifert/Hömig (Hrsg.),a.a.O., Art. 4, Rdnr. 8; Scholz: Das sogenannte Kirchenasyl ver-letzt Gesetz und Verfassung, in: Welt am Sonntag v. 15.05.1994.
121 A. Campenhausen, Freiherr von, in: Isensee/Kirchhoff (Hrsg.),Handbuch des Staatsrechts, § 136, Rdnr. 58.
63
schaften des Rechtsstaates in bedrohlicher Weise in Frage
gestellt. Die Folgen wären nicht abzusehen, zumal neuar-
tige Religionsgemeinschaften dem traditionellen Sittenko-
dex fremd oder feindlich gegenüberstehen."
E. Gewissensfreiheit durch Rechtsgehorsam
1. Die Religions-, Glaubens- und Gewissensfreiheit ist eine
Errungenschaft des modernen aufgeklärten Staates. Die Kriege
und Bürgerkriege in diesem Jahrhundert und die an vielen Orten
der Welt feststellbaren Menschenrechtsverletzungen zeigen, daß
diese Freiheiten ein sehr kostbares Gut sind. Das Grundrecht auf
Asyl dient auch dem Schutz der Ausländer, die in ihren Heimat-
staaten verfolgt werden, weil sie dort diese Freiheiten für sich in
Anspruch genommen haben, das dortige System dies aber nicht
billigte. Die Religions-, Glaubens- und Gewissensfreiheit findet
durch das Asylgrundrecht eine Ergänzung.
Die Erfahrung hat gezeigt, daß nur der demokratische
Rechtsstaat diese Freiheiten gewährleisten und schützen kann.
Der demokratische Rechtsstaat ist ein fragiles Gebilde. Er stützt
sich nicht auf Bajonette, sondern auf den Konsens des ganz
überwiegenden Teils der Bevölkerung. Er lebt davon, daß demo-
kratisch zustande gekommene Gesetze und auf diesen beruhen-
de Entscheidungen der Behörden und Gerichte anerkannt und
befolgt werden. Die selektive Befolgung von Regeln mißachtet
diese Grundprinzipien.
64
Unsere Zeit ist geprägt vom zunehmenden Verfall der Werte.
Individualinteressen werden ohne Rücksicht auf die berechtigten
Interessen Dritter oder der Gemeinschaft durchgesetzt. Von
Grundpflichten oder von der Pflicht zum Rechtsgehorsam zu
sprechen, erscheint in einem derartigen Klima fossil. Wird in ei-
nem demokratischen Rechtsstaat die Rechtsgehorsamspflicht
mehr und mehr aufgekündigt, werden die Möglichkeiten des
Staates zum Schutz der Rechtsgüter des einzelnen vor Eingrif-
fen Dritter nachhaltig untergraben.
2. Die Kirchen genießen in Deutschland in ethischen Fragen
immer noch hohe Autorität. Wenn gerade von Kirchenvertretern
im Zusammenhang mit "Kirchenasyl" zur Verweigerung des
Rechtsgehorsams aufgerufen wird oder zumindest die Rechtsge-
horsamsverweigerung gebilligt wird, so fordert dies zum Mitma-
chen auf. Das Verhalten der Kirchen gegenüber "Kirchenasyl"
fördert das Klima fehlender Rechtstreue.122 Hierdurch fühlen
sich jene bestätigt, die aus ideologischen Gründen den Staat und
seine Gesetze ablehnen und ihn bekämpfen. Schließlich kann
die Haltung der Kirchen gegenüber "Kirchenasyl" von dem Teil
der Bevölkerung, der sich zunehmend darin benachteiligt sieht,
daß er sich immer noch rechtstreu verhält, während andere ohne
Konsequenzen um des eigenen Vorteils willen Rechtsnormen
mißachten, als Ermutigung zur Kündigung des Rechtsgehorsams
122 Vgl. zu den Auswirkungen des "Kirchenasyls" auf die Akzeptanz
gerichtlicher Entscheidungen Wassermann, in: NJW 1998, S. 730f.
65
verstanden werden.123 "Kirchenasyl" ist damit das genaue Ge-
genteil von dem, was das "Gemeinsame Wort der Kirchen zu
den Herausforderungen durch Migration und Flucht" glauben ma-
chen möchte: Es ist kein "Beitrag zum Erhalt des Rechtsfrie-
dens"124.
Daß der Staat die Grundrechte gewähren und vor Eingriffen
Dritter schützen kann, liegt im Interesse aller. Nicht zuletzt auch
im Interesse der Kirchen, denn im Klima eines zunehmenden In-
dividualismus und einer Entchristlichung der Gesellschaft können
sich Freiheiten auch gegen die Kirchen kehren. Die Kirchen sind
deshalb aufgerufen, durch ihr Verhalten dazu beizutragen, daß
der Staat auch in Zukunft den Schutz der Grundrechte sicher-
stellen kann.
"Kirchenasyl" ist auch Ausdruck eines simplen wie gefährli-
chen Leitmotivs unserer Zeit, das sich fast epidemisch ausge-
breitet hat: Der Verstoß gegen Rechtsnormen wird, wenn er ei-
nem vermeintlich hehren Ziel dient, als legitim angesehen. Dies
galt in den siebziger und achtziger Jahren für die Blockade von
Militäreinrichtungen und für Aktionen gewalttätiger Pazifisten ge-
gen die Stationierung von Mittelstreckenraketen und gilt heute
für die Dauerdemonstrationen gegen Castor-Transporte, bei de-
123 Zur Erosion der Bereitschaft zum Rechtsgehorsam trägt auch bei,
wer "Kirchenasyl"-Aktivisten als "Helden unserer Zeit" bezeichnetund erklärt "Die Ermittlungen wegen des Verdachts auf 'Beihilfezum illegalen Aufenthalt' könnten die Verfolgten wie eine Aus-zeichnung tragen" (so ein namhafter Redakteur der SZ am04.12.1996, zit. nach der Homepage der "Bürgerinitiative Asyl Re-gensburg" v. 13.01.1997, http://www.donau.de/vereine/bia/bi.htm).
66
nen Eisenbahnunfälle und andere Bedrohungen von Menschen-
leben billigend in Kauf genommen werden, um angebliche, aber
von Experten bestrittene Strahlenschäden zu verhindern, wie
auch für die gewaltsamen Aktionen französischer Landwirte und
Arbeitsloser, um ihre aus subjektiver Sicht berechtigten Forde-
rungen durchzusetzen, aber auch für die militanten amerikani-
schen Abtreibungsgegner, die nicht vor der Tötung von Men-
schen zurückschrecken, um ihrem Gewissen entsprechend Men-
schenleben im embryonalen Stadium zu retten.125 Wird aber das
Vorliegen von Rechtsverstößen oder deren Ahndung von den
Motiven und Zielen des Täters abhängig gemacht oder gänzlich
an das "Rechtsempfinden" lautstarker Gruppen geknüpft, dann
ist dies die Abdankung des Rechtsstaats zugunsten der Willkür.
Die Rechtsordnung bietet den Kirchen und ihren Mitgliedern
ausreichend Raum, sich ohne Rechtsbruch für asylsuchende
Ausländer einzusetzen. Kirchliche Stellen wie auch engagierte
Bürger können Asylbewerber während des Asylverfahrens be-
treuen, materiell wie ideell unterstützen und hinsichtlich der Gel-
tendmachung des Asylrechts im Verfahren vor dem Bundesamt
und vor den Gerichten beraten und ihnen juristischen Beistand
zukommen lassen. Von diesen Möglichkeiten wird vielfach auch
Gebrauch gemacht. Der dem kirchlichen Selbstverständnisse
entsprechende karitative Auftrag des Beistands für Bedürftige
kann deshalb im Rahmen des Rechts erfüllt werden. Es bedarf
124 Gemeinsames Wort der Kirchen, a.a.O. (Fußn. 24), S. 100 (Abs.
257).125 Vgl. hierzu Conrad, "Die Welt" v. 11.02.1998.
67
mithin keines "Kirchenasyls", um dieser Beistandspflicht nachzu-
kommen.
Spätestens seit der Asylrechtsreform des Jahres 1993 ist auf
kirchlicher Seite eine sehr distanzierte, teilweise sogar eine Kon-
frontationen herausfordernde Haltung gegenüber der staatlichen
Asylpolitik feststellbar. Besonders bedauerlich ist es, wenn den
politisch Verantwortlichen und den in Asylangelegenheiten zu-
ständigen Behörden und Gerichten moralisches Versagen vorge-
worfen wird. Der Staat nimmt seine Verantwortung zum Schutz
der politisch Verfolgten sehr ernst. Im Hinblick darauf, daß er für
die Asylgewährung ausschließlich zuständig, aber auch verant-
wortlich ist, sollten die Kirchen ihn in der Asylpolitik als Partner
begreifen. Der Staat hat allerdings auch seinen zahlreichen an-
deren Verpflichtungen in verantwortungsvoller Weise zu genü-
gen. Die Kirchen, die keine vergleichbare Verantwortung für den
Arbeitsmarkt, die Volkswirtschaft, für die innere und äußere Si-
cherheit, um nur einige Beispiele zu nennen, tragen, sollten bei
der Wahl des Tones und der Art ihrer Kritik an der staatlichen
Asylpolitik berücksichtigen, daß der Staat auf Grund all dieser
Verpflichtungen die Caritas nicht zur alleinigen Richtschnur
staatlichen Handelns machen kann. In dem erforderlichen part-
nerschaftlichen Verhältnis zwischen Staat und Kirchen darf kein
Raum dafür sein, unerfüllte asylpolitische Forderungen durch
Fälle von "Kirchenasyl" zu demonstrieren126 und den Staat fort-
126 Wenn die Kirchen "eine Anfrage an die Politik" richten wollen, "ob
die im Ausländer- und Asylrecht getroffenen Regelungen in jedemFall die Menschen, die zu uns gekommen sind, beschützen (Ge-
68
laufend vor laufenden Kameras durch die Verweigerung des
Rechtsgehorsams vorzuführen. Partnerschaft zwischen kirchli-
chen Stellen, engagierten Bürgern und Staat verlangt ein Mitein-
ander. Oder anders gewendet: "Pflicht der Bürger ist es, gemein-
sam mit den Behörden im Geist der Wahrheit, Gerechtigkeit, So-
lidarität und Freiheit zum Wohl der Gesellschaft beizutragen"127.
Zweifellos sind die mit dem "Kirchenasyl" verbundenen Zielset-
zungen gut gemeint. Die Neben- und Auswirkungen für die ge-
samte Rechtsordnung werden jedoch entweder nicht hinreichend
bedacht oder schlichtweg ausgeblendet. Wenn heute kirchliche
Kreise unter Berufung auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit
im Zusammenhang mit "Kirchenasyl" Rechtsnormen mißachten,
kann dieses Verhalten schon morgen von anderen Kräften für
sich beansprucht werden. Der gut gemeinte Zweck entschuldigt
keinen Rechtsbruch. Auch für das "Kirchenasyl" gilt: Das Gutge-
meinte ist der größte Feind des Guten.
meinsames Wort, a.a.O. Fußn. 24, S. 100, Abs. 257), dann ist"Kirchenasyl" hierzu das falsche Instrument.
127 Katechismus der Katholischen Kirche, Ziff. 2239.