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»Manche Gedichte in diesem Buch sind absurd, die kommen derWahrheit am nächsten. Man schreibt sie nicht absichtlich, sie werdeneinem eingeflüstert, sind also unbeabsichtigte Gedichte.« Die unbe-absichtigten Gedichte von Georg Kreisler haben es in sich. Schein-bar leichthin und beschwingt geschrieben, verweisen sie auf Ab-gründe und Absonderlichkeiten. Der Dichter ordnet die Welt,indem er sie erfindet. Er erfindet sie, um sie vorzeigen zu können.Kreisler erweist sich in diesem, seinem ersten ausschließlichen Lyrik-band als ein ebenso hellsichtiger wie subtiler Dichter. »Hüte dichvor Kompromissen! / Das sind keine Leckerbissen. // Meide jedeKonzilianz, / denn die nagt an der Substanz.«

Georg Kreisler wurde 1922 in Wien geboren und musste 1938 in dieUSA emigrieren. Seither ist er amerikanischer Staatsbürger. Er feiertseit den fünfziger Jahren große Erfolge als Autor, Komponist undSänger von makaberen Chansons, seit 2001 tritt er allerdings nichtmehr als Interpret der eigenen Songs auf. Er veröffentlichte außer-dem zahlreiche Theaterstücke, Opern, Romane, Satiren und Essays.2004 erhielt er den Richard-Schönfeld-Preis für literarische Satire.2009 erschien seine Autobiographie »Letzte Lieder«, im selben Jahrwurde seine Oper »Das Aquarium oder: Die Stimme der Vernunft«uraufgeführt. Georg Kreisler lebt mit seiner Ehefrau Barbara Petersin Salzburg.

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ZUFÄLLIG IN SAN FRANCISCOUnbeabsichtigte Gedichtevon Georg Kreisler

Verbrecher Verlag

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Erste AuflageVerbrecher Verlag Berlin 2010www.verbrecherei.de

© Verbrecher Verlag 2010Einbandentwurf: Sarah LamparterEinbandgrafik: Oliver GrajewskiSatz: Christian Walter

ISBN: 978-3-940426-46-8

Printed in Germany

Der Verlag dankt Vincent Exner und Doris Formanek.

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Inhalt

7 Vorwort

21 Der Anfang22 Erinnerung24 Wehret den Anfängen27 Der Regisseur28 Der Herr Professor Kritiker29 Ablehnung30 Zwei alte Tanten tanzen Tango32 Die andere Backe33 Ins Stammbuch34 Ein Ärgernis35 Einsamkeit37 Schwache Stunden38 Der kritische Moment39 Vergangenheit und Gegenwart40 Der Reim41 Mitgefühl42 Dichten43 Eine Frage44 An ein Kind46 Der Unbekannte48 Die Wahl50 Die Wahrheit51 Die Liebe52 Der Tausendsassa54 Der Pessimist

55 Zwischenwort

Gedichte I

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67 Der Vortrag69 Außenpolitik71 Es ist eine Lust, zu Leben74 Eine Beschreibung75 Ein Liebesbrief77 Der Komponist79 Das Leben81 Der Heimatlose83 Der Künstler84 Das Paradies86 Die Zukunft88 Ich, ganz Privat89 Bismarcks Geheimnis91 Die kleine dunkle Gasse94 Ich Tänzer96 Tatsachen98 Der Lauf der Zeit99 Das geheime Tor

101 Die Nation102 Freunde104 Ein Geschäftsmann weiß Rat107 Die Kunst108 Die Maschine110 Das Essigfach111 Das Ende

113 Nachwort

Gedichte II

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Vorwort

Manche Gedichte in diesem Buch sind absurd, die kommender Wahrheit am nächsten. Man schreibt sie nicht absichtlich,sie werden einem eingeflüstert, sind also unbeabsichtigte Ge-dichte. Ich fange jeden Morgen an zu dichten und höre erstabends damit auf, das heißt: Ich werfe das Gedichtete in denPapierkorb, und falls der Papierkorb schon voll ist, lege iches statt dessen in eine Schublade und vergesse es. Dann kommtes, ebenfalls unbeabsichtigt, in ein Buch wie dieses.

Einem Gedicht muß man gehorchen, während man esschreibt, denn in einem halbwegs guten Gedicht ist alles wahr,auch das Gegenteil. Man kann einem Gedicht gleichgültiggegenüberstehen, aber das Gedicht selbst ist dir gegenübernie gleichgültig, es fordert dich heraus. Meine Gedichte sindaber nicht nur unbeabsichtigt, sie sind auch verbesserungs-bedürftig, wie jedes Gedicht. Wer ein Gedicht schreibt, darfnicht sterben, denn er muß seine Gedichte immer weiter ver-bessern.

Viele Leute meinen, daß vor allem unsere Welt verbesse-rungsbedürftig ist und daß Gedichte lediglich ihren Teil bei-tragen können. Aber jeder Dichter weiß, daß er nichts beitra-gen kann, er kann höchstens seine Gedichte verbessern, nichtdie Welt, denn die Welt ändert sich nicht durch Nachdenken,sondern durch Taten. Allerdings, wer Taten vollbringen will,um die Welt zu verbessern, muß verrückt sein, zum Beispiel:

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Wozu wollte Napoleon die Welt erobern? Was hätte es ihmgenützt, wenn er erfolgreich gewesen wäre? Er hätte nach-denken sollen, damit hätte er Erfolg haben können. Phanta-sie ist gesund, und Napoleon war verrückt.

Gelegentlich muß man gegen seinen Willen tätig werden,um intelligenten Verrückten wie Napoleon das Handwerkzu legen, darauf weise ich auch in einigen meiner Gedichtehin. Wer aber unnötigerweise tätig wird, um Abenteuer zusuchen, ist auf einem der vielen Holzwege. Napoleon stehtheute unkommentiert in den Geschichtsbüchern, es hat ihnleider gegeben, das ist alles. Aber über Nachdenker wieNietzsche zerbricht man sich noch immer den Kopf. Die ha-ben überlebt und werden noch lange überleben, um uns zubegeistern.

Dichter überleben heutzutage nur selten. Shakespeare,zum Beispiel, war tot in dem Moment, in dem jugendlicheRegisseure ihre schmutzigen Hände nach ihm ausstreckten.Goethes Tod ist noch nicht amtlich bescheinigt, aber es kannnicht mehr lange dauern. Einige Komponisten wie Mozartoder Gershwin überleben, aber die meisten toten Überleben-den sind Architekten, denn Pyramiden oder Kathedralensind schwer zu zerstören.

Mir tut jedes Gedicht, das ich geschrieben habe, ein biß-chen leid, denn nichts wird so unhöflich abgefertigt wie einGedicht. Längere werden nicht zu Ende gelesen, kurze liestman naserümpfend von oben herab, und wenn die Zeilensich reimen, hält man sie für Kinderlektüre. Aber Kinder le-sen heute nicht mehr, sondern überlegen, ob sie Verbrecherwerden sollen oder nicht. Was generell übersehen wird, ist,daß ein gutes Gedicht unter anderem schön ist, manchmalso schön, daß es weh tut. Kein Gedicht ist eine Insel. Wir le-

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ben in einer Welt von »du oder ich«, und ein Gedicht heißt:Beide. Aber ich muß mich nicht rechtfertigen, denn es sindja unbeabsichtigte Gedichte.

Einige Worte über meine Reime: Der Wiener JournalistKarl Kraus, dem in Wien noch heute nachgeweint wird, abernur in Wien, wo er 1936 starb, hat in seiner grenzenlosen Ei-telkeit und Selbstüberschätzung auch fragwürdige Gedichtegeschrieben. Interessant ist nur, daß er gleichzeitig versuchthat, sich wissenschaftlich über das Phänomen des Reims aus-zulassen. Nun weiß ich nicht, ob es einem Sprachwissen-schaftler je gelungen ist, aus dem Mythos »Reim« eine Wis-senschaft herauszukristallisieren, Karl Kraus ist es deutlichnicht gelungen, aber aus seinen Fehlern kann man lernen.So polemisiert er gegen den sogenannten »reinen Reim« undmeint, daß jeder Reim Widerstände überwinden sollte. Alsobeginnt er eines seiner Gedichte mit den Worten: »Man fragenicht, was all die Zeit ich machte«, damit es sich auf»krachte« reimt, das meint er wahrscheinlich mit »Wider-stände überwinden«. Er opfert die Schönheit der Sprache –»was all die Zeit ich machte« ist ein gräßlicher Satz – um zueinem Reim zu kommen. Aber ein guter Reim muß auf na-türliche Weise zustandekommen, ohne irgendwelche Satz-oder Wortverdrehungen, also ohne Widerstände.

Übrigens hat Karl Kraus sogar ein Gedicht über den Reimgeschrieben, in dem er sich ebenfalls widerspricht:

… was in des Wortglücks Augenblick, nicht aus Geschick, nur durch Geschick da ist und was von selbst gelingtaus Mutterschaft der Sprache springt: das ist der Reim. Nicht, was euch singt.

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Hier sagt er also, was von selbst gelingt, ist richtig, und faseltnicht mehr von Widerstand. An diesem Zitat merkt manauch, daß Kraus kein guter Dichter war, denn was ist der»Augenblick eines Wortglücks«? Was er meint, ist natürlichder glückliche Augenblick, in dem einem Dichter das richtigeWort einfällt. »Wortglück« ist falsch, denn das Wort ist janicht glücklich, sondern der Dichter oder, wenn man will,der Augenblick, wie bei »Mutterglück«.

Auch die zweite Zeile ist ungeschickt formuliert, denn dasWort »Geschick« hat zwei Bedeutungen, Schicksal und Ge-schicklichkeit. Kraus sagt aber nicht, wo er welche Bedeutungmeint. Meint er »nicht aus Geschicklichkeit, sondern durchSchicksal« oder meint er es umgekehrt? Auch »Mutterschaftder Sprache« ist eine unglückliche Formulierung, und waser mit dem Satz »nicht, was euch singt« meint, ist unerfind-lich. Nein, der Reim bleibt, wie gesagt, ein Mythos.

Genug von Karl Kraus! Ich glaube, in Wien erinnert mansich seiner nur aus Sentimentalität. Er war eine Modeerschei-nung, die Staub aufgewirbelt hat, hat einige Menschen gerech-terweise und viele ungerechterweise erbarmungslos kritisiertund erniedrigt und dadurch einerseits Ärger, andererseitsSchadenfreude verursacht, also viel Unheil angerichtet. Wasman von ihm weiß, wüßte man besser ohne ihn.

Ein Gedicht, wenn es nicht ausgerechnet von Karl Krausist, ist eine rundherum glückliche Sache, außer für den Dich-ter. Die meisten Leute glauben zu wissen, was sie sich wün-schen, dabei wünschen sie sich nur, was man ihnen einredet,ein Gedicht hingegen will nichts vom Leser, ein Gedicht mußder Mensch lesen wollen, über ein Gedicht muß er nachden-ken wollen. Und auch der Dichter will über sein Gedichtgrübeln, vor allem über die Frage, ob er es wegwerfen oder

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behalten will. Beides würde er ja bereuen. Der Leser bereutnichts, das ist nicht wie bei einer Oper, bei der man bereut,drei Stunden verschwendet zu haben.

Ein gewisser Max Beerbohm – leider nicht ich – hat gesagt:»Wenn man ein Schaf auf zwei Beine stellt, ist es deswegenkein Mensch. Aber wenn man eine ganze Schafherde aufzwei Beine stellt, ist es ein Publikum.« Das ist nicht nur ko-misch, sondern auch richtig, aber ein Gedicht wird nichtvom Publikum gelesen, sondern von einzelnen Menschen.Ein einzelner Mensch schaut in meine Seele und kann sichdazu Zeit nehmen. Und auch ich schaue in seine Seele, dennich richte meine Gedichte an ihn, nicht ans Publikum. DasPublikum ist grausam, fast so grausam wie ein Literaturkriti-ker, wobei ein Publikum, im Gegensatz zum Kritiker, intelli-gent ist. (Wohl kann auch ein Kritiker intelligent sein, abernicht, während er seine Kritik schreibt.) Der einzelne Leserist nicht grausam, wenn man ihn nicht dazu verführt.

Es gibt Menschen, die sind bettelarm und merken es nicht,die sind auch Dichter, und es gibt Menschen, die sind stein-reich und merken es nicht, und auch die sind Dichter. Dennum ein Dichter zu sein, muß man keine Gedichte schreiben,man muß sie nur spüren. Wer tatsächlich Gedichte schreibenwill, muß das Handwerk beherrschen und darf kein Patriotsein. Er darf nie mit gutem Beispiel vorangehen, sondernnur zurück. Er sollte niemandem etwas befehlen und nieman-dem gehorchen. Er sollte so wenig Erfahrung haben wie mög-lich, Kinder wären gute Dichter, wenn sie keine Kinder wä-ren. Er sollte Fehler machen, denn wer keine Fehler macht,macht auch sonst nichts, kurz, dichten ist so gut wie unmög-lich. Aber Gedichte lesen kann man.

Die meisten Dichter nimmt man erst ernst, wenn man ihre

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Gedichte auswendig kann und sie gelegentlich zitiert. Dannkann ein Gedicht Folgen haben, so ähnlich wie der Apfel,den Eva Adam schenkte: Es kann aus Lesern Menschen ma-chen. Ich kann mir vorstellen, daß es auf anderen bewohnba-ren Planeten keine Dichter gibt, daß also dichten ein Privilegder Erde ist. Sollten wir auf einem fremden Planeten landen,würden wir auch nicht nach Dichtern suchen, sondern nachWasser, Waffen und Warenhäusern. Auf unserem Planetenbeschäftigen sich statt dessen Wissenschaftler mit Tatsachen,die keine sind, und Dichter beschäftigen sich mit Wissen-schaftlern, die keine sind. Dichten hat sicher Gründe, aberich kenne sie nicht.

Deutsche Gedichte sind immer wieder vertont worden,aber zum Beispiel in Amerika, dem Land meiner Anfänge,geschieht das selten. Dort schreibt man entweder ein Gedichtoder einen Liedertext, man ist poet oder lyricist. GlücklichesAmerika, denn einem guten Gedicht ist nichts hinzuzufügen,und wenn man es trotzdem vertont, leidet es. Geniale Kom-ponisten wie Schubert oder Schumann haben sich darumnicht gekümmert, sie waren vom Gedicht inspiriert undschrieben drauf los. Vertont man ein schwaches Gedicht mitguter Musik, dann stört der Text, wie zum Beispiel bei Schu-berts Lied vom Lindenbaum. Würde man da nur SchubertsMusik spielen, wäre es schöner. Gute Lieder sind selteneGlücksfälle, so ähnlich wie gute Politiker.

Schlechte Politiker können gefährlicher werden als gute.Ein schlechter Politiker hält seine Phantasie für falsch, unddas kann schlimme Folgen haben. Ohne Phantasie hättenwir keine Musik, und wer seine Häuser nicht auf Sand baut,der baut überhaupt keine Häuser. In der Politik spricht manmanchmal von Visionen, aber da sie unsichtbar sind, wendet

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man ihnen den Rücken zu, und auch wenn einer von seinenVisionen spricht, glaubt er nicht, was er sagt, er glaubt höchs-tens seinem Redenschreiber. Phantasie ist eng an Inspirationgebunden, und ein Politiker braucht keine Inspiration, außerum einen Konkurrenten zu beseitigen. Es gibt keine größe-ren Gegensätze als Politiker und Dichter, und wenn man ent-deckt, daß beide Menschen sind, fragt man sich, ob der liebeGott das weiß.

Ich merke: Wenn man ein Vorwort schreibt, besteht dieGefahr, daß man sich in Spekulationen verirrt. Man versucht,Gerechtigkeit walten zu lassen, aber Gerechtigkeit gibt esnicht, es gibt nur Meinungen. Da ich jeden Tag irgendetwasNeues erfahre, was soll da meine Meinung? Wie drücke ichsie aus, wenn ich nicht weiß, ob ich sie nicht morgen ändernmuß? Sprache ist bekanntlich der größte Feind der Realität,und neue Erfahrungen gleichen oft alten Erfahrungen, dieman bisher anders interpretiert hat. Das alles soll ein Gedichtsein?

Humor ist eine Ausnahme, ich weiß nur nicht wovon. Vorallem muß man Zeit dazu haben. Wer arbeitet, lacht selten,das gilt vor allem für professionelle Humoristen. Humoristi-sche Gedichte sind eigentlich ein Widerspruch in sich, dennin Gedichten legt man sich bloß, und Humor ist eher eineArt von Rüstung gegen den Ernst. Zeit für Humor zu haben,nützt nichts, wenn man zum Beispiel seinen Urlaub in Ho-tels mit Animation verbringt. Animation ist der beste Beweisfür den Ernst des Lebens.

Liedertexte sind mit Gedichten nicht zu vergleichen, auchwenn die Verfasser manchmal so tun als ob. Sie kommen an-ders zustande, denn man geht von der Musik aus, ob sie schonkomponiert ist oder nicht, Gedichte gehen vom Dichter aus.

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Liedertexte haben nie etwas mit Liebe zu tun, auch wennder Text von Liebe handelt, bestenfalls, denn selten geht dannLiebe von der Musik aus. In guten Gedichten, hingegen, gehtes immer nur um Liebe, auch wenn die Gedichte an der Ober-fläche nichts mit Liebe zu tun haben. Deswegen schreibenVerliebte oft schlechte Gedichte. Das Streben, sich auszudrü-cken, hat eben verschiedene Gründe.

Apropos, ich hoffe, ich drücke mich hier klar aus. Wennnicht, macht es auch nichts, denn dann treiben meine Ge-dichte die Unklarheit so weit, daß alles klar wird. ExtremeKrankheiten brauchen extreme Heilmittel, hat Hippokratesgesagt, und wenn jemand nicht merkt, daß ich fühle, was ichmeine, hat er eine extreme Krankheit. Wenn man genügendviele Gedichte liest, sind die meisten Krankheiten am nächs-ten Morgen besser. Dann braucht man keinen Arzt, dennÄrzte sind schlechte Heilmittel. Gedichte sind das, was derMusik am nächsten kommt, also der Versuch, etwas auszu-drücken, was sich nicht ausdrücken läßt.

Gedichte sollten zum Leser nach Hause kommen, bei ihmPlatz nehmen, mit ihm frühstücken, aber heutzutage ladendie Leute lieber ihre Bank zum Frühstück ein. Sie meinen,das sei notwendig, aber Notwendigkeit ist oft nur eine fauleAusrede, auch für Banken. Für mich ist es manchmal not-wendig, ein Gedicht zu schreiben, aber wenn ich es dannnicht tue, geschieht gar nichts, und wenn man seine Bankimmer mit sich führt oder nach Hause einlädt, hat es auchkeine Folgen. Es hängt davon ab, ob man ein Optimist oderein Pessimist ist, beide haben Unrecht, weil sie versuchen,in die Zukunft zu schauen, und recht hat, wer die Gegenwartgenießt.

Was die Zukunft betrifft, kann man Gedichte mit dem

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Chaos vergleichen, denn Chaos ist die Gegenwart und dieZukunft. In der Vergangenheit ist alles in Ordnung. Chaosist originell, es kann nicht kopiert werden, denn jedes Chaosist anders. Ordnung ist immer dasselbe, und ein ordentlichesGedicht ist nicht ordentlich. In anderen Worten: Ein Gedichtist ein Mensch, ist Chaos. Es hat Sorgen, Humor und eineSeele. Es vergißt seine Eltern nicht, und eines Tages stirbt es.Manche sterben jung, andere werden hunderte Jahre alt, undnatürlich gibt es jede Menge Fehlgeburten.

Kein Mensch weiß, wo er ist und warum, außer von sei-nem persönlichen Standpunkt aus. Er kann seinen Stand-punkt einem anderen Menschen mitteilen, und beide könnendann behaupten, daß sie einander verstehen, aber ich be-zweifle das. Wenn ich es glaubte, würde ich keine Gedichteschreiben. Die Behauptung »ich bin jetzt in meiner Woh-nung« impliziert unzählige Nebenbehauptungen, etwa dieMöblierung der Wohnung, wie lange man sie schon hat, viel-leicht sogar die Kindheit mit allem, was dazugehört, und ebendas sind die Gedichte, sie sind die Nebenbehauptungen derBehauptung. Sie sind, was der andere nicht verstanden hat.Ein gutes Gedicht besteht aus lauter Nebenbehauptungen,und weil diese Nebenbehauptungen weitere Nebenbehaup-tungen enthalten, ist jedes Gedicht verbesserungsbedürftig.Vor Gedichten müßte man eigentlich warnen, andererseitssind Gedichte unsere wunderschöne Welt. Wenn man ehrlichwäre und die nötige Zeit hätte, müßte man immer weiter-schauen und weiterdichten.

Genau genommen, bedeutet also ein Gedicht gar nichts,weil es die wesentliche Behauptung ausläßt. Es öffnet dieTür zu einer Welt, in die man lieber nicht übersiedelnmöchte, aber wenn man klug ist, geht man hinein und läßt

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das Gedicht siegen. Der Dichter selbst siegt nie, er hat dieMacht, ein Gedicht zu schreiben, aber sonst keine, will meis-tens auch keine. Ich, zum Beispiel, bereue alles, was ich je ge-schrieben habe. Das mag dem Leser seltsam vorkommen,aber es ist so.

Warum schreibe ich überhaupt, werde ich oft gefragt, unddann antworte ich: Wenn man einmal angefangen hat, hörtman nicht mehr auf. Und warum habe ich angefangen? Teil-weise, weil ich auf mich neugierig war, und teilweise, weilman beim Schreiben mit einer Welt in Verbindung tritt, dieman vorher nicht kannte. Allerdings tritt man mit dieserWelt erst in Verbindung, wenn man das Handwerk des Schrei-bens beherrscht, und das Handwerk ist nicht leicht, vor al-lem weil es keine Lehrer gibt.

Aber die Hauptsache ist: Schreiben bereut man, es ist einemasochistische Tätigkeit. Franz Kafka verfügte, daß manseine Werke nach seinem Tod verbrennen möge. SeinFreund Max Brod tat uns den Gefallen, dies nicht zu tun.So weit wie Kafka würde ich nicht gehen, wer weiß, wie ichmich nach meinem Tod fühlen werde, aber ich kann ihn ver-stehen. Die ständige Unzufriedenheit mit dem eigenen Ge-schreibsel ist schwer zu ertragen, so unzufrieden mit seinerArbeit ist kein Rechtsanwalt, kein Arzt, kein Maurer, keinTischler. Deswegen berührt mich auch keine schlechte Kri-tik, die Kritiker haben ja recht, wenn auch aus falschenGründen, sage ich mir. Eine gute Kritik berührt mich natür-lich auch nicht, denn da hat der Kritiker Unrecht.

Reue ist etwas anderes als bloße Erinnerung. Wenn ich totbin, werden manche Leute schlechte Erinnerungen an michhaben, aber bereuen wird mich niemand. Mußte er unbe-dingt dichten? werden manche, vielleicht noch zu meinen

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Lebzeiten, fragen. Das ist der Jammer mit Dichtern, sie re-signieren nicht, sie dichten weiter, und eine Revolution istnirgends in Sicht. Beim Liederschreiben ist das anders, ob-wohl ich auch meine Lieder bereue. Ich bereue alles. Ichweiß, auch Wissenschaftlern bleiben Enttäuschungen nichterspart, aber sie werden wenigstens gedruckt, ohne die Zei-tungskritiker verachten zu müssen, sie können sich wichtigfühlen, man gibt ihnen Labors, stellt ihnen Assistenten zurSeite, und es gibt viele Rätsel in der Welt, mit denen sie sichbeschäftigen können. Der Dichter hat nur ein Rätsel: Sichselbst.

Während man ein Gedicht zu Papier bringt, ist man alleinund, ganz ähnlich, wenn man verfolgt wird, ins Exil gehtoder träumt, ist man allein. Ich erinnere mich genau an dieZeit, als ich ins Exil ging und bis heute dort blieb. Das sindsiebzig Jahre Exil, wer macht mir das nach? Exil darf mannicht mit Einsamkeit verwechseln, Einsamkeit ist traurig,man vermißt Freunde, Menschen, Geselligkeit. Im Exil sindFreunde, Menschen, Geselligkeit tot, sie kommen nie wieder,und selbst wenn sie wiederkommen, sind es andere. Exil istnicht traurig, sondern definitiv.

Ich erinnere mich, daß meine Eltern und ich an der Schiffs-reling standen und träumten. Es war ein langsames Schiffvon Genua nach Los Angeles mit vielen Zwischenstationen,35 Tage lang. Ich war sechzehn Jahre alt und träumte neugie-rig, mein Vater war 54 Jahre alt und träumte von seinem fürimmer verlorenen Leben. Meine Mutter versuchte zu träu-men, was mein Vater träumte.

Keiner von uns dachte an eine Rückkehr. Wir wußten auchnicht, daß eine Rückkehr unser Exil nur bekräftigen würde,denn eine Rückkehr ist erst recht Exil. Ein Heimatloser hat

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keine Heimat, aber ein Exilant glaubt, eine zu haben. Er hatnicht mit denjenigen gerechnet, die in der sogenannten Hei-mat geblieben sind. Er weiß nicht, daß die Seßhaften auchkeine Heimat haben, aber meinen, sie verteidigen zu müssen,vor allem gegen den zurückgekehrten Exilanten, der für sieein Fremder geworden ist. Sie sagen dann entweder »ich binstolz, ein Deutscher zu sein« oder sie sagen »ich schämemich, ein Deutscher zu sein«, beides sinnlos aus Gründen,auf die ich hier nicht eingehen muß. Sie sind auch vorläufignicht aus der Welt zu schaffen.

Heimat ist eine schlechte Gewohnheit. Ein Kulturkreis,in den man hineingeboren wird, ist grundsätzlich etwas an-deres, aber sich des Kulturkreises zu schämen oder stolz aufihn zu sein, ist Unsinn. Es ist ganz leicht, einem Kulturkreisanzugehören, es ist nur schwer, wenn er einem gewaltsamentzogen wird. Meiner wurde mir vor siebzig Jahren entzo-gen, und ich habe versucht, wieder hineinzukommen, aberes ist mir nicht gelungen. Das sollte man bei meinen Gedich-ten berücksichtigen.

Ich bedaure das nicht und will auch nicht deswegen be-dauert werden. Ein starker Mensch ist stark, und ein schwa-cher Mensch ist schwach, beides kein Kunststück, nicht zubedauern, und so ist es auch mit Exilanten. Die Zeit gehtüber sie hinweg, sie schreiben Gedichte oder sie komponie-ren oder malen Bilder, entweder um sie zu verkaufen odernur in ihren Gedanken. Um acht Uhr früh ist alles zu spät.

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GEDICHTE I

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Der Anfang

Ich bin jetzt altund sterbe bald.Die Behörden können mir nichts mehr tun. Denn ich bin reifund wanke steifins Irgendwo, mich auszuruhn.

Aus eins mach keins! Zwar Goethe meint’sganz anders, doch ich bleib dabei.Aus null mach acht! Aus Tag mach Nacht!Ich bin erlöst und pflichtenfrei.

Mein Leben warmir nie ganz klar.Ich bin der Sprößling einer Sphinx und muß jetzt wenbesuchen gehnund schließ die Augen rechts und links.

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