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JAN E AU STE N

Northanger AbbeyRoman

Aus dem Englischen übersetzt von Andrea Ott

Nachwort von Hans Pleschinski

manesse verlag

zürich

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Vorbemerkung der Autorin zu Northanger Abbey

Dieser kleine Roman wurde im Jahre 1803 be-endet und sollte eigentlich sofort veröffentlichtwerden. Er wurde an einen Verleger verkauft,ja sogar in der Zeitung angekündigt, und war-um die Sache nicht weiterbetrieben wurde, hatdie Autorin nie in Erfahrung bringen können.Daß ein Verleger etwas des Kaufs für wert er-achtet, nicht aber der Veröffentlichung, er-scheint mir doch seltsam. Doch das betrifftAutorin und Publikum nur insofern, als nun beimanchen Textpassagen, die nach dreizehn Jah-ren ein wenig veraltet sind, eine gewisse Vor-sicht geboten ist. Die Leser werden ersucht zubedenken, daß dreizehn Jahre vergangen sind,seit das Buch fertiggestellt, und noch viel mehr,seit es begonnen wurde, und daß sich in dieserZeit Orte, Umgangsformen, Bücher und An-sichten beträchlich verändert haben.1

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kapitel 1

Niemand, der Catherine Morland als Kind ge-kannt hatte, wäre auf den Gedanken gekom-men, daß sie zur Romanheldin bestimmt sei.Die familiären Verhältnisse, die Eigenschaftender Eltern, Catherines Aussehen und Veran-lagung sprachen sämtlich gegen sie. Der Vaterwar Geistlicher, weder verkannt noch verarmt,ein hochanständiger Mann, obwohl er Richardhieß,2 und hatte niemals gut ausgesehen. Er be-saß ein ansehnliches Einkommen, zudem zweigute Pfründe und neigte nicht im geringstendazu, seine Töchter einzusperren.3 Die Mutterwar eine praktisch veranlagte, vernünftige Frauvon ausgeglichener Wesensart und, was nochbemerkenswerter ist, robuster Konstitution. Siehatte bereits drei Söhne, als Catherine geborenwurde, und anstatt zu sterben, als sie letztere indie Welt setzte – wie man füglich hätte erwar-ten dürfen –, lebte sie weiter, bekam noch sechsKinder, sah diese heranwachsen und erfreutesich bester Gesundheit .4 Eine Familie mit zehnKindern gilt immer als prächtig, solange es für

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alle genügend Köpfe, Arme und Beine gibt,aber recht viel mehr Anspruch auf diese Be-zeichnung hatten die Morlands nicht, denn siewaren samt und sonders unscheinbar, und Ca-therine war jahrelang so unscheinbar wie dieanderen. Sie wirkte dünn und linkisch, hatteeine fahle, farblose Haut, dunkles, strähnigesHaar und ausgeprägte Gesichtszüge – so viel zuihrer äußeren Erscheinung. Dem Wesen nachschien sie nicht minder untauglich zur Heldin.Sie liebte Knabenspiele und zog Kricket nichtnur den Puppen vor, sondern auch den edlerenFreuden der Kindheit wie der Aufzucht einerHaselmaus, dem Füttern eines Kanarienvogelsoder dem Wässern eines Rosenstrauchs. Nein,nach dem Garten stand ihr der Sinn ganz undgar nicht, und wenn sie überhaupt Blumenpflückte, so nur aus Lust am Unfug – zumin-dest schloß man das aus ihrer Vorliebe, immerjene Blumen zu nehmen, die sie nicht nehmendurfte. – Dies also waren ihre Neigungen, undihre Fähigkeiten waren ebenso außergewöhn-lich. Sie lernte oder begriff etwas erst dann,wenn man es ihr beibrachte, und mitunternicht einmal dann, denn oft war sie unaufmerk-sam und gelegentlich auch begriffsstutzig. IhreMutter brauchte drei Monate, um ihr «Des

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Bettlers Bitte»5 einzutrichtern, und am Endekonnte Sally, die nächstjüngere Schwester, esbesser aufsagen als sie. Nicht daß Catherinedurchweg begriffstutzig war, keineswegs – dieFabel vom Hasen und seinen vielen Freunden6

konnte sie so schnell wie jedes andere Mäd-chen in England auswendig. Die Mutter woll-te sie ein Instrument erlernen lassen, und Ca-therine war fest davon überzeugt, sie werdeFreude daran haben, denn sie klimperte gernauf den Tasten des alten, verstaubten Spinettsherum. Also fing sie mit acht Jahren an. Sienahm ein Jahr lang Unterricht, dann hielt sie esnicht mehr aus, und Mrs. Morland, die sichnicht darauf versteifte, daß ihre Töchter sichentgegen ihren Fähigkeiten oder NeigungenBildung und Können aneigneten, erlaubte ihraufzuhören. Der Tag, an dem der Musiklehrerentlassen wurde, war einer der glücklichsten inCatherines Leben. Sie zeichnete nicht über-mäßig gern, doch wenn sie von ihrer Mutterdas Umschlagblatt eines Briefes7 bekam odersonst eines Stückchen Papiers habhaft wurde,tat sie, was ihr möglich war, und zeichneteHäuser und Bäume, Hühner und Küken, undalles sah ziemlich gleich aus. Schreiben undRechnen lernte sie bei ihrem Vater, Französisch

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bei ihrer Mutter; in beiden Fächern erbrachtesie keine bemerkenswerten Leistungen, und siedrückte sich vor den Unterrichtsstunden, wannimmer sie konnte. Welch ein ungewöhnlicher,seltsamer Charakter! Denn trotz dieser Anzei-chen von Widerspenstigkeit im Alter von zehnJahren war sie weder hartherzig noch übellau-nig, nur selten eigensinnig, fast nie streitsüch-tig und sehr lieb zu den Kleinen – mit gering-fügigen tyrannischen Ausfällen. Außerdem warsie laut und wild, haßte Zwang und Reinlich-keit und tat nichts lieber auf Erden, als den grü-nen Abhang hinterm Haus hinunterzukullern.

Das also war Catherine Morland mit zehn.Mit fünfzehn besserte sich ihr Aussehen; siefing an, sich das Haar einzudrehen und warte-te ungeduldig auf ihren ersten Ball; ihre Hautwurde glatter, die Züge weicher, runder undrosiger, der Blick lebhafter und die Figur aus-geprägter. Ihre Liebe zum Schmutz wich einerNeigung zum Putz, und sie wurde sowohl rein-licher als auch klüger; manchmal schnapptesie zu ihrer Freude Bemerkungen von Vaterund Mutter über ihre körperliche Vervoll-kommnung auf. «Catherine wächst sich zu ei-nem recht ansehnlichen Mädchen aus – heutesieht sie regelrecht hübsch aus», solche Worte

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drangen hin und wieder an ihr Ohr, und wiewillkommen waren diese Töne! «Regelrechthübsch» auszusehen ist für ein Mädchen, dasdie ersten fünfzehn Jahre seines Lebens un-scheinbar war, eine so hocherfreuliche Verbes-serung, wie sie ein von Geburt an schönesweibliches Wesen niemals erlangen kann.

Mrs. Morland war eine herzensgute Frauund hätte sich liebend gern darum gekümmert,daß ihre Kinder so wurden, wie sie werden soll-ten, aber sie war von Wochenbett und Unter-richt für die Kleinen so stark in Anspruch ge-nommen, daß die älteren Töchter unweigerlichauf sich selbst gestellt blieben. So war es nichtverwunderlich, daß Catherine, von Natur auskeine Romanheldin, bis zum Alter von fünf-zehn Jahren lieber Kricket und Schlagball spiel-te, ritt und über die Wiesen lief, als Bücherlas – zumindest soweit es sich um Lehr- undErbauungsbücher handelte, denn solange sienicht so etwas wie «nützliches Wissen» ent-hielten, solange es sich nur um Geschichtenund nicht um Betrachtungen handelte, hattesie nichts gegen Bücher. Doch zwischen fünf-zehn und siebzehn bereitete sie sich auf ihrenAuftritt als Romanheldin vor und las alle Bü-cher, die Heldinnen lesen müssen, um ihr Ge-

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dächtnis mit jenen für die Wechselfälle ihres er-eignisreichen Lebens so zweckdienlichen underbaulichen Zitaten zu versorgen.

Von Pope lernte sie, jene zu verurteilen, «… die spötteln über andrer Menschen

Leid.»8

Von Gray, daß «…so manche Blume blühet ungesehn,verschwendet ihren Duft in leere Luft.»9

Von Thompson, daß «… es ein köstlich Amt ist, junges Denkenzu lehren, wie es wachsen soll.»10

Und Shakespeare verdankte sie eine Füllevon Erkenntnissen, unter anderem, daß

«… Dinge, leicht wie Luft,sind für die Eifersucht Beweis, so starkwie Bibelsprüche.»11

Daß «… der arme Käfer, den dein Fuß

zertritt, fühlt körperlich ein Leiden, ganz so groß, als wenn ein Riese stirbt.»12

Ferner, daß eine verliebte junge Frau immeraussieht

«… wie die Geduld auf einer Gruft, dem Grame lächelnd.»13

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In dieser Hinsicht machte sie also durchaus be-friedigende Fortschritte – und auch auf vielenanderen Gebieten kam sie bestens voran; sieselbst verfaßte zwar keine Sonette, aber sie rangsich dazu durch, welche zu lesen, und wiewohlkeine Aussicht darauf bestand, daß sie eineGästeschar durch ein selbstkomponiertes Prä-ludium für Pianoforte hinriß, vermochte sieimmerhin den Darbietungen anderer ohne all-zu große Ermüdung zu lauschen. Ihre größteSchwäche war der Bleistift – sie verstand nichtsvom Zeichnen, nicht einmal so viel, daß siees wagen konnte, eine Profilskizze von ihremLiebsten anzufertigen, um durch die Zeichnungentlarvt zu werden.14 Hierin blieb sie erbärm-lich weit hinter den hohen Ansprüchen einerHeldin zurück. Zur Zeit jedoch ahnte sie nochnichts von ihrer Armseligkeit, denn sie hatte garkeinen Liebsten, den sie hätte porträtieren kön-nen. Sie hatte das Alter von siebzehn Jahrenerreicht, ohne einem einzigen edlen Jünglingbegegnet zu sein, der ihre empfindsame Seeleerweckt hätte, und ohne ihrerseits jemandemechte Leidenschaft eingeflößt oder auch nureine mehr als mäßige und flüchtige Bewunde-rung erregt zu haben. Das war in der Tat höchstmerkwürdig! Aber Merkwürdiges läßt sich im

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allgemeinen erklären, wenn man der Ursachesorgsam auf den Grund geht. Es gab nicht einenLord in der Nachbarschaft, ja nicht einmal ei-nen Baronet. Es gab nicht eine Familie in ihrerBekanntschaft, die einen Knaben aufgezogenund gefördert hatte, der einst zufällig auf ihrerSchwelle gefunden worden war, nicht einenjungen Mann unbekannter Herkunft. Ihr Vaterhatte kein Mündel und der Gutsherr keineKinder.

Aber wenn eine junge Dame zur Roman-heldin werden soll, können auch hundert wi-dernatürliche Nachbarsfamilien sie nicht daranhindern. Irgend etwas muß und wird gesche-hen, damit ein Held ihren Weg kreuzt.

Mr. Allen, dem in der Gegend von Fuller-ton, jenem Dorf in Wiltshire, in dem die Mor-lands wohnten, der meiste Grund gehörte, soll-te seiner Gicht wegen nach Bath zur Kur reisen,und seine Gattin, eine gutmütige Frau, die MissMorland gern hatte und wahrscheinlich wußte,daß eine junge Dame, der im eigenen Dorf kei-ne Abenteuer widerfahren, diese in der Frem-de suchen muß, lud sie ein mitzukommen.

Mr. und Mrs. Morland willigten nur zu gernein, und Catherine war überglücklich.

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kapitel 2

Zusätzlich zu dem, was wir über CatherineMorlands körperliche und geistige Gaben zudem Zeitpunkt, da sie den Fährnissen und Fall-stricken eines sechswöchigen Aufenthalts inBath ausgesetzt werden sollte, bereits gesagt ha-ben, wollen wir – falls die folgenden Seiten wo-möglich kein hinreichendes Bild von Cathe-rines Charakter vermitteln – zur Aufklärungdes Lesers vielleicht noch festhalten, daß sie einliebevolles Herz besaß, ein fröhliches und of-fenes Wesen ohne Dünkel oder Geziertheit (siehatte gerade die Unbeholfenheit und Schüch-ternheit des kleinen Mädchens abgelegt), einangenehmes und, wenn sie sich schön machte,sogar hübsches Äußeres sowie einen Verstand,der so naiv und ungebildet war, wie es der weib-liche Verstand mit siebzehn eben zu sein pflegt.

Als die Stunde der Abreise näherrückte, wirdMrs. Morland, die Mutter, natürlich tiefbesorgtgewesen sein. Tausend bange Vorahnungen alldes Unheils, das ihre geliebte Catherine infolgedieser schrecklichen Trennung ereilen mochte,werden ihr das Herz abgedrückt und sie in denletzten Tagen ihres Zusammenseins in Tränenertränkt haben, und beim letzten Zwiegespräch

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in ihrem Privatgemach werden allerlei nütz-liche Lehren und gute Ratschläge von ihrenweisen Lippen geflossen sein. Gewiß wird sie indiesem Augenblick durch Warnungen vor dengewalttätigen Männern des hohen und niede-ren Adels, die sich ein Vergnügen daraus ma-chen, junge Damen in entlegene Bauernhäuserzu entführen, ihr übervolles Herz erleichterthaben. Wer dächte nicht so? Doch Mrs. Mor-land wußte so wenig über Lords und Baronets,daß sie von deren klassischer Ruchlosigkeit undüblen Ränken keine Ahnung hatte und nichtdie geringste Gefahr für ihre Tochter witterte.Ihre Ermahnungen beschränkten sich auf fol-gende Punkte: «Bitte, Catherine, wickle dirabends, wenn du aus dem Ballsaal kommst, im-mer ein warmes Tuch um den Hals, und es wäreschön, wenn du über deine Ausgaben Buch füh-ren würdest; ich gebe dir dafür dieses Heft mit.»

Sally oder vielmehr Sarah (denn welche jun-ge Dame aus einigermaßen guter Familie hätteim Alter von sechzehn Jahren noch nicht ihrenNamen nach Kräften verändert?) war umstän-dehalber zu diesem Zeitpunkt die engste Freun-din und Vertraute ihrer Schwester. Doch be-merkenswerterweise bestand sie weder darauf,daß Catherine ihr mit jeder Post schrieb, noch

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nahm sie ihr das Versprechen ab, ihr jedenneuen Bekannten oder sämtliche fesselndenUnterhaltungen, die Bath mit sich brachte, ein-gehend zu schildern. Alles, was diese wichtigeReise betraf, wurde seitens der Morlands miteiner Nüchternheit und Gelassenheit erledigt,die eher den gewöhnlichen Gefühlen des All-tagslebens entsprachen als der Überempfind-lichkeit und labilen Gemütsverfassung, welchedie erste Trennung einer Heldin von ihrer Fa-milie eigentlich hätte hervorrufen müssen. DerVater händigte ihr weder eine unbeschränk-te Zahlungsanweisung an seinen Bankier aus,noch drückte er ihr eine Hundertpfundnotein die Hand; er gab ihr nur zehn Guineenund versprach ihr mehr, wenn sie Bedarf habensollte.

Unter diesen wenig verheißungsvollen Vor-zeichen vollzog sich der Abschied, und die Rei-se begann. Sie verlief in schicklicher Ruhe,sicher und ohne Zwischenfälle. Weder Räu-ber noch Unwetter zeigten sich erbötig, undkein glücklicher Unfall15 verhalf ihnen zur Be-kanntschaft mit dem Helden. Es geschah nichtsBeunruhigenderes, als daß Mrs. Allen einmalbefürchtete, sie habe ihre hölzernen Überschu-he im letzten Gasthof vergessen, und diese Be-

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fürchtung erwies sich zum Glück als unbe-gründet.

Sie kamen in Bath an. Catherine war voll ge-spannter Freude; sie hatte die Augen hier undda und überall, als sie die vornehmen, beein-druckenden Randbezirke erreichten und späterdurch die Straßen fuhren, die sie ins Hotel führ-ten. Sie war gekommen, um glücklich zu sein,und sie war bereits glücklich.

Bald hatten sie in der Pulteney Street einebehagliche Wohnung gefunden.

Es wird nun Zeit, Mrs. Allen zu beschreiben,damit der Leser abschätzen kann, auf welcheWeise ihr Tun und Treiben dereinst der inRomanen üblichen Notlage Vorschub leistenund was sie vermutlich dazu beitragen wird, daßdie arme Catherine in all das verzweifelte Elendstürzt, das ein dritter Band zu bieten vermag –sei es durch Unverschämtheit, ordinäres Be-nehmen oder Eifersucht, sei es dadurch, daß sieihre Briefe abfängt, ihren Ruf schädigt oder sieaus dem Haus wirft.16

Mrs. Allen gehörte zu jener großen Scharweiblicher Wesen, deren Gegenwart keine an-dere Regung auslöst als Verwunderung dar-über, daß es auf Erden überhaupt Männer gibt,die sie gern genug haben, um sie zu heiraten.

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Sie besaß weder Schönheit noch Intelligenz,weder Talente noch gutes Benehmen. Nur ihrevornehme Erscheinung, eine stets gelassene,träge Gutmütigkeit und ihre Oberflächlichkeitkonnten erklären, daß die Wahl eines klugen,vernünftigen Mannes wie Mr. Allen auf sie ge-fallen war. In einer Hinsicht jedoch war siewunderbar geeignet, eine junge Dame in dieGesellschaft einzuführen – sie wollte nämlichgenauso dringend überall hingehen und allesselbst sehen wie jede beliebige junge Dame.Mode war ihre Leidenschaft. Sie hatte eineharmlose Freude daran, sich elegant zu klei-den, und erst nachdem drei oder vier Tage langausgekundschaftet worden war, was man zurZeit gerade trug, und die Anstandsdame nachder neuesten Mode gekleidet war, konnte un-sere Heldin den ersten Schritt ins Leben tun.Auch Catherine machte einige Einkäufe, undals dies alles geregelt war, nahte der entschei-dende Abend, der sie in die Upper Rooms17, dieFestsäle für die bessere Gesellschaft, führensollte. Der beste Friseur am Platze schnitt undlegte ihr das Haar, sie wurde sorgfältig ange-kleidet, und Mrs. Allen und ihre Zofe erklärten,sie sehe genauso aus, wie es sich gehöre. Der-gestalt ermutigt, hoffte Catherine, sich zumin-

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dest ohne Mißbilligung in der Menge bewegenzu können. Was Bewunderung anlangte, sowar sie ihr zwar immer willkommen, aber siewar nicht unbedingt darauf angewiesen.

Mrs. Allen brauchte so lange zum Anziehen,daß sie den Ballsaal erst spät betraten. Es warHochsaison, der Saal überfüllt, und die bei-den Damen zwängten sich hinein, so gut esging. Was Mr. Allen betraf, so begab sich diesergeradewegs in den Spielsaal und ließ sie denPöbel allein genießen. Mehr um die Unver-sehrtheit ihres neuen Kleides besorgt als umdas Wohlergehen ihres Schützlings, bahnte sichMrs. Allen ihren Weg durch die Menschen-menge an der Tür, so zügig es die erforderlicheUmsicht gestattete; doch Catherine hielt sichdicht neben ihr und hatte sich viel zu fest imArm ihrer Freundin eingehängt, um von denwiderstreitenden Strömungen einer Abend-gesellschaft fortgerissen zu werden. Zu ihremgroßen Erstaunen stellte sie fest, daß der Wegdurch den Saal nicht das geeignete Mittel war,um das Gedränge hinter sich zu lassen; es schienvielmehr immer dichter zu werden, je weitersie vorankamen. Sie hatte angenommen, wennsie erst einmal mit heiler Haut die Tür passierthätten, würden sie leicht Plätze finden, von

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denen sie den anderen bequem beim Tanzenzusehen könnten. Dies traf mitnichten zu, undselbst als sie sich mit unermüdlichem Eifer bisans Ende des Saales durchgekämpft hatten,waren sie noch immer in der gleichen Lage.Von den Tanzenden sahen sie nichts als diehoch aufragenden Federbüsche einiger Damen.Sie schoben sich weiter – schon kam etwas Bes-seres in Sicht, und durch fortgesetzte Müheund Geschicklichkeit gelangten sie schließlichin den Gang hinter der obersten Sitzreihe. Hierstanden etwas weniger Leute als unten, undvon hier hatte Miss Morland einen verhältnis-mäßig guten Blick auf die Gesellschaft unter ihrund die Gefahren der soeben überstandenenDurchquerung. Es war ein herrlicher Anblick,und zum ersten Mal an diesem Abend hatte siedas Gefühl, auf einem Ball zu sein. Sie sehntesich danach zu tanzen, doch sie kannte nieman-den im Saal. Mrs. Allen tat, was in einem sol-chen Fall in ihrer Macht stand, sie äußerte abund zu in aller Seelenruhe: «Ich wollte, Siekönnten tanzen, meine Liebe – ich wollte, Siehätten einen Tanzpartner.» Eine Weile fühltesich ihre junge Freundin deshalb zu Dank ver-pflichtet, aber diese Wünsche wiederholtensich so oft und erwiesen sich als so völlig wir-

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kungslos, daß Catherine es schließlich müdewurde und sich nicht mehr bedankte.

Doch war ihnen auf der Anhöhe, die sie somühsam erklommen hatten, keine lange Ruhe-pause vergönnt. Schon bald setzte sich alles inRichtung Tee in Bewegung, und sie mußtensich wie die anderen wieder hinauszwängen.Catherine verspürte allmählich so etwas wieEnttäuschung – sie war es leid, ständig von ir-gendwelchen Leuten herumgestoßen zu wer-den, deren Allerweltsgesichter nichts Interes-santes an sich hatten und von denen sie keinenkannte, so daß ihr im Verdruß des Eingesperrt-seins nicht einmal der Trost blieb, mit einemMitgefangenen eine Silbe zu wechseln; als sieendlich im Tea Room anlangten, empfand siees als noch peinlicher, daß es keine Gruppe gab,zu der sie gehörten, keine Bekannten, die siein Anspruch nehmen konnten, und keinenHerrn, der ihnen beistand. Von Mr. Allen warnichts zu sehen, und nachdem sie vergebensnach einem vorteilhafteren Platz Ausschau ge-halten hatten, mußten sie sich am Ende einesTisches niederlassen, an dem schon eine größe-re Gesellschaft saß, mit der sie nichts zu tunhatten, und dort konnten sie sich mit nieman-dem sonst unterhalten als miteinander.

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Kaum hatten sie Platz genommen, beglück-wünschte sich Mrs. Allen, daß sie ihr Kleid vorSchaden bewahrt hatte. «Wie schrecklich, wennes zerrissen wäre, nicht wahr?» sagte sie. «Einso feiner Musselin! Ich habe im ganzen Saalnichts gesehen, was mir so gut gefallen hätte,das sage ich Ihnen.»

«Wie unangenehm», flüsterte Catherine,«daß wir hier gar keine Bekannten haben!»

«Ja, meine Liebe», erwiderte Mrs. Allen inheiterster Gemütsruhe, «das ist wirklich über-aus unangenehm!»

«Was sollen wir nur tun? Die Herren undDamen hier am Tisch machen ein Gesicht, alsfragten sie sich, was wir hier zu suchen haben –sie scheinen uns als aufdringlich zu empfin-den.»

«Ja, tatsächlich. Das ist überaus unangenehm.Ich wollte, wir hätten hier einen großen Be-kanntenkreis.»

«Ich wäre schon froh, wenn wir überhauptirgendeinen Bekannten hätten, jemanden, zudem wir gehen könnten.»

«Das ist wahr, meine Liebe, wenn wir Be-kannte hätten, würden wir uns sofort zu ihnensetzen. Letztes Jahr waren die Skinners hier –ich wollte, sie wären jetzt auch in Bath.»

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Jane Austen

Northanger AbbeyRoman

Gebundenes Buch, Leinen mit Schutzumschlag, 448 Seiten,9,0 x 15,0 cmISBN: 978-3-7175-2092-4

Manesse

Erscheinungstermin: September 2008

Ein Meisterwerk der geistreichen Unterhaltung – ironisch, spritzig, klug «Northanger Abbey» ist ein Glanzstück der geistreichen Unterhaltung. Vorrangig als Satire aufden Schauerroman gedacht, zeigt der Roman die Meisterin der lebendigen Dialoge und derironischen Figurenzeichnung auf der Höhe ihrer Kunst. «Von scharfer Zunge, aber zärtlichemHerzen» (Virginia Woolf), zündet Jane Austen hier einmal mehr ein Feuerwerk an Pointen. Catherine Morland ist zwar jung, doch weder auffallend hübsch noch besonders elegant oderwenigstens vermögend, und obendrein ein wahrer Ausbund an Naivität. Romanheldinnensehen gemeinhin anders aus. Die Schöntuereien koketter Freundinnen verwechselt sie mitZuneigung, die Gefallsucht eitler Gecken mit standesgemäßer Noblesse. Doch die Erfahrunglehrt sie alsbald, daß nicht alles edel ist, was glänzt. Indem sie sich auf ihr Gefühl und ihreintuitive Menschenkenntnis verläßt, gelangt sie schließlich zu jenem fröhlichen Eigensinn, derdas andere Geschlecht im Nu zu bezaubern vermag.Jane Austen (1775-1817) ist eine Klassikerin eigenen Ranges. Niemand stiftet auf amüsantereWeise unter Liebenden zuerst Verwirrung und zuletzt Ehen. Auch in «Northanger Abbey»geht es um das, was Männer und Frauen aneinander zweifeln läßt und sie nach vielenBewährungsproben in beidseits gereiftem Verständnis zusammenführt. «Bleibend frisch,aufmüpfig bissig, klar komponiert sind die Gesellschaftsbilder Jane Austens», schreibt HansPleschinski im Nachwort: «nie zähflüssig sentimental, sondern stets mit der ironischenBrechung, daß das Leben auch als aufwendige Komödie gesehen werden kann.» Mit „Northanger Abbey“ sind nunmehr sämtliche Austen-Romane in unserer Bibliothek derWeltliteratur erhältlich.