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Manuel Seitenbecher

MAHLER, MASCHKE & CO.

Rechtes Denken in der 68er-Bewegung?

Ferdinand SchöninghPaderborn · München · Wien · Zürich

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Gedruckt mit Unterstützung der Axel Springer Stiftung und der Potsdam Graduate School

Umschlagabbildungen: oben: Horst Mahler am 28. Januar 1971 im Landgericht Berlin-Moabit.unten: Horst Mahler auf einer NPD-Veranstaltung am 8.Juni 2002.(ullsteinbild)

Der Autor: Manuel Seitenbecher, Dr. phil., geboren 1982, Studium der Neueren und Alten Geschichte sowie des Öffentlichen Rechts in Berlin und Bergen/Norwegen; 2012 Promotion am Lehrstuhl Neuere Geschichte I der Universität Potsdam. Weitere Informationen zu Forschungen und Publikationen unter: www.manuel-seitenbecher.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Zugleich: Dissertation an der Universität Potsdam (2012) 1. Gutachter: Prof. Dr. Manfred Görtemaker 2. Gutachter: Prof. Dr. Thomas Brechenmacher

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Überset-zung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeich-nungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten.

© 2013 Ferdinand Schöningh, Paderborn(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

Internet: www.schoeningh.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, MünchenPrinted in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

E-Book ISBN 978-3-657-77704-4ISBN der Printausgabe 978-3-506-77704-1

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INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT UND DANKSAGUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

I. EINLEITUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

II. HISTORISCHE BEGRIFFSBEWERTUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

1. 1968 – Vom konstruierten Mythos überdeckt. Einordnungen und Begriffsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

2. Rechts/Links – Konservative Revolution – Extremismus/Radikalismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

III. INDIVIDUELLE WEGE IN DIE NEUE LINKE BIS ZUR ESKALATION DER 68ER-BEWEGUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

1. Bernd Rabehl, Rudi Dutschke und ihr Weg von der Subversiven Aktion in den SDS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

2. „Alte Keulen-Riege“ und Linkssozialisten – Horst Mahler, Tilman Fichter und die Haltung des SDS zur DDR bis 1966 . . . . . . . . 69

IV. DIE HAUPTJAHRE DER 68ER-BEWEGUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

1. Reinhold Oberlercher und die 68er-Bewegung in Hamburg . . . . . . . . 104 2. Grundlinien der Ideologie der 68er-Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 3. Zwischen Internationalismus und Nationalen Befreiungsbewegungen:

Die Neue Linke und die nationale Frage 1968 und danach . . . . . . . . . 170 4. Rechte und nationale Gruppen um 1968 und ihre Beziehungen

zur Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

V. NACH DEM ZERFALL DER BEWEGUNG: INDIVIDUELLE BIOGRAPHISCHE FORTGÄNGE IN DEN 70ER UND 80ER JAHREN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

1. Der Streit um die Organisationsfrage und die ideologische Aufsplitterung der Bewegung am Beispiel Bernd Rabehls . . . . . . . . . . 231

2. Die Gewaltfrage und Horst Mahlers Gang in den Terrorismus – und wieder heraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

3. Der erste „Renegat“ – Günter Maschkes Weg von Lenin zu Carl Schmitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

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6 INHALTSVERZEICHNIS

4. Wiederkehr der Vergangenheit, Antisemitismus oder Antizionismus? – Der Holocaust, Israel und die (Neue) Linke in den 60er und 70er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268

VI. ZWISCHEN ALTERNATIVEN ENTWÜRFEN UND DEM ANKOMMEN IN DER GESELLSCHAFT: DIE 80ER JAHRE . . . . . . . . . . 285

1. Nationalneutralistische Strömungen in der Friedensbewegung . . . . . 285 2. Jenseits der Grünen – Tilman Fichter, die SPD und die nationale

Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 3. Zurück in die Gesellschaft: Mahlers Staatsbejahung nach

der Haftentlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302

VII. ZEITALTER DER EXTREME? FRÜHERE 68ER IM UMFELD DER POLITISCHEN RECHTEN – VON DEN 90ER JAHREN BIS IN DIE GEGENWART . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

1. Tilman Fichter und der Hofgeismarer Kreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 2. Bernd Rabehl – „Vom SDS-Rebell zum FAZ-Rabehl“ bis hin

zum potentiellen Bundespräsidentschaftskandidaten von NPD und DVU. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314

3. Horst Mahlers Weg in die NPD und wieder rechts neben ihr heraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332

4. Reinhold Oberlercher – Vom Marxismus zur Ausrufung des Vierten Reichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344

5. Ideologische Muster im Vergleich zu 1968 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356

VIII. SCHLUSSBETRACHTUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385

ANMERKUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509

PERSONENREGISTER. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553

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VORWORT UND DANKSAGUNG

Die vorliegende Schrift ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation „Mahler, Maschke & Co.: Rechtes Denken in einer linken Bewegung? Biographische Entwick-lungen nach 1968 und deren Einbindung in den Kontext der 68er-Bewegung“, wel-che im Sommer 2012 an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam an-genommen wurde. Die Arbeit spiegelt den Stand des Frühjahrs 2012 wider und ist auch als Momentaufnahme zu verstehen; wer weiß schon, welche Entwicklungen und Wege beispielsweise ein Horst Mahler in den nächsten Jahren noch nehmen wird…

Mein Dank gilt in erster Linie meinem akademischen Betreuer Prof. Dr. Manfred Görtemaker. Er hat die Arbeit stets mit Rat und Tat unterstützt und durch Gewähr-leistung umfangreicher akademischer Freiheit wesentlich zum Gelingen des Vorha-bens beigetragen. Ein Vertrauensvorschuss, der heutzutage selten in der Welt der Geisteswissenschaft geworden ist und für dem ich ihm genauso danken möchte wie für die Möglichkeit, an seinem Lehrstuhl mehrere Semester Lehrerfahrung sammeln zu dürfen – generell sei dem gesamten Lehrstuhl Neuere Geschichte I sowie meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Thomas Brechenmacher für die inspirierende Zusammenar-beit gedankt. Die Anregung zu dieser Arbeit geht noch bis zu meinen Studienzeiten auf Prof. Dr. Michael Grüttner zurück – ihm sei hierfür wie für seine lebendigen und anspornenden Lehrveranstaltungen gedankt.

Ein besonderer Dank geht an die Stiftung Bildung und Wissenschaft im Stifterver-band für die Deutsche Wissenschaft: Ohne die Gewährung eines zweijährigen Pro-motionsstipendiums wäre die vorliegende Arbeit nicht zu realisieren gewesen. Ein Abschlussstipendium der Graduiertenförderung der Universität Potsdam hat schließ-lich für eine zeitnahe Vollendung der Dissertation gesorgt. Die Axel Springer Stiftung wie auch die Potsdam Graduate School förderten schließlich maßgeblich die Druck-legung der vorliegenden Arbeit. An dieser Stelle sei auch den Mitarbeitern der ver-schiedenen Archive für ihre kompetente Beratung gedankt – stellvertretend sei hier vor allem Ulrike Groß vom ‚APO-Archiv‘ der FU Berlin genannt, die stets einen Aus-weg aus dem Dickicht dieses besonderen Archives wusste und mit ihrer unkompli-zierten Art und Weise meine Arbeit deutlich erleichterte.

Zu Dank verpflichtet bin ich Markus Bodler, M.A., und Paul Köppen, M.A. Beide haben wesentliche Teile der Dissertation gelesen und mit Kritik und Anmerkungen zum Gelingen meines Vorhabens beigetragen. Für inhaltliche und sprachliche Fehler trage ich natürlich dennoch die alleinige Verantwortung. Ohne die Bereitschaft vieler Zeitzeugen und Protagonisten dieser Arbeit zu Gesprächen und Korrespondenzen wäre die Umsetzung der Arbeit zudem weit schwieriger gewesen. Hervorheben möchte ich in diesem Zusammenhang Prof. Dr. Henning Eichberg, der mir stets mit konstruktivem Rat zur Seite stand.

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8 VORWORT UND DANKSAGUNG

Vor allem sei jedoch meiner Familie und Freunden gedankt – sie haben mit ihrer Unterstützung und dem Glauben an mich und mein Vorhaben letztlich dafür gesorgt, dass jede Schwierigkeit gemeistert und die Arbeit erfolgreich zum Abschluss gebracht werden konnte. Insbesondere ohne die Unterstützung meiner Mutter, Heidi Seiten-becher, wäre die Arbeit nicht derart zu realisieren gewesen – ihr sei diese Arbeit ge-widmet.

Berlin, im Oktober 2012Manuel Seitenbecher

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manche meinenlechts und rinks

kann man nicht velwechsernwerch ein illtum

(Ernst Jandl, Lichtung)1

I. EINLEITUNG

Schon Ernst Jandl wies 1966 mit seinem ironischen Zitat auf die Nähe der politischen Pole hin. Für die Geschichte der deutschen 68er-Bewegung mag dieser attestierten Nähe auf den ersten Blick zunächst keine Bedeutung zukommen. Galt doch seit jeher als verbindender Grundgedanke der Ideologie der 68er-Bewegung „die linke Einstel-lung der Träger dieser Bewegung.“2 Herbert Marcuse, einer der ideologischen Väter der Bewegung, verstand seine leitgebende „befreiende Toleranz“ dementsprechend auch als „Intoleranz gegenüber Bewegungen von rechts […] und Duldung von Bewe-gungen von links.“3 Doch schon zeitgenössische Beobachter unterstellten den Akti-visten der 68er-Bewegung bei ihrer Vorgehensweise bzw. ihren Zielen eine Nähe zur antidemokratischen Rechten der Bundesrepublik bzw. gar den Nationalsozialisten, sprachen von der „rote[n] SA“4 und unterstellten dieser „faschis tische Methoden“.5 Solche Bewertungen beschränkten sich keineswegs nur auf die Politik oder die Presse des Axel Springer Verlags. Auch insbesondere sozialliberale Professoren wie Kurt Sontheimer, Erwin K. Scheuch und Richard Löwenthal bescheinigten der Bewegung, in Anlehnung an Habermas‘ Diktum vom „linken Faschismus“,6 einen totalitären Charakter, eine zunehmende „Übereinstimmung mit Rhetorik und Praxis der fa-schistischen Bewegungen der Frühphase“ oder auch eine geistige Nähe zu den Natio-nalrevolutionären der 20er Jahre.7 Pointiert schloss das deutsche Wirtschaftsmagazin Capital bereits 1967: „Die jungen Linken reden wie die alten Rechten.”8

Seit den späten 80er und insbesondere in den 90er Jahren mehrten sich zudem die Stimmen, die von einer zunehmenden Konvertitenhaltung im Lager der früheren 68er sprachen. Für Peter Glotz kamen nun „viele ehemalige Linke rechts raus.“9 Ge-meint waren jedoch nur jene früheren Aktivisten aus dem Umfeld der Neuen Linken, die nun als Vertreter des sogenannten Establishments galten und dabei teils die poli-tischen Seiten wechselten: Allen voran Thomas Schmid in seiner Funktion als Chef-redakteur bzw. mittlerweile gar als Herausgeber des einst verhassten Springer-Blattes Die Welt, aber auch neue politische Führungspersönlichkeiten wie Jürgen Trittin oder Joschka Fischer, die im Zuge des rot-grünen Machtwechsels ihre Metamorphose vom einstigen Staatsgegner zum Staatsdiener endgültig abschlossen. Freilich kann man letztere Biographie wiederum mit Glotz auch schlicht positiv als „lebende[n] Beweis für die Integrationskraft der deutschen Demokratie“ begreifen.10

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I. EINLEITUNG10

Die Konvertitenthese schien zudem durch eine zunehmend kritische Betrachtungs-weise früherer Aktivisten auf die eigene politische Tätigkeit in den 60er und 70er Jah-ren Bestätigung zu erfahren; Gerd Koenen und Götz Aly seien hier stellvertretend ge-nannt. Doch natürlich sind die zeitgenössischen Äußerungen wie die attestierten Konversionen der jüngeren Vergangenheit auch Ausdruck der Zeitumstände: Die Fa-schismusanalogien von 1968, welche genauso von den Aktivisten der Bewegung ge-genüber dem Staat geäußert wurden, müssen vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und der zeitlichen Nähe zur nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands be-trachtet werden, die Entwicklungen seit den späten 80er Jahren vor der Folie der sich im Zuge des Zusammenbruchs des Ostblocks und der deutschen Wiedervereinigung verändernden politischen Landschaft sowie vor der noch weiter zurückreichenden Erosion der kommunistischen Splittergruppen der Bundesrepublik.

Wenn jedoch mehr als drei Jahrzehnte nach den eigentlichen Geschehnissen der Historiker Wolfgang Kraushaar von mittlerweile zwei elementaren Strömungen in-nerhalb der so genannten Alt-68er schrieb, von denen eine die der „völkisch-nationa-len Wiedererwecker“ sei, und gleichzeitig mit Gerd Koenen ein früherer Aktivist der Jahre um 1968 die Neue Rechte als „alter ego“ der Bewegung bezeichnete, so verwies dies auf gänzlich anders gelagerte biographische Entwicklungen bei Teilen der ehe-maligen 68er; zugleich stellt sich die Frage nach der partiellen Berechtigung des zeit-genössischen Vergleichs von jungen Linken und alten Rechten.11 Denn mit den Jahren 1998/99 richtete sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf Protagonisten der Bewe-gung, die nun zunächst im Umfeld der Neuen Rechten erschienen und einen natio-nalrevolutionären Impetus von 1968 behaupteten.

Ausgangspunkt war eine Veranstaltung der gemeinhin als rechts eingestuften schlagenden Verbindung Danubia über die 68er-Bewegung im Dezember 1998.12 Als Redner an deren „Bogenhausener Gesprächen“ nahmen auch Horst Mahler und Bernd Rabehl teil; Rabehl war als enger Weggefährte Rudi Dutschkes einer der füh-renden Protagonisten des antiautoritären Flügels der West-Berliner Bewegung gewe-sen, Mahler hatte sich als Ideologe und Rechtsanwalt zahlreicher angeklagter 68er hervorgetan und später die ‚Rote Armee Fraktion‘ (RAF) mitbegründet. Vor allem Rabehls Rede, in der er eine damalige nationalrevolutionäre Motivation von Rudi Dutschke und sich behauptete, sorgte für Aufsehen: So sei es ihr Ziel gewesen, „zu den nationalen Grundlagen von Sozialismus, Freiheit und Unabhängigkeit“ zurückzufin-den sowie in Solidarität mit Vietnam „die Ziele einer ‚nationalen Befreiung‘ auf Deutschland [zu] übertragen.“ Zudem sprach er von einem vermeintlichen „Schuld-pranger der deutschen Verbrechen im II. Weltkrieg“ und attestierte der Bundesrepu-blik, durch den „Import der Partisanenformationen der internationalen Bürgerkrie-ge“ und deren mangelnde Bereitschaft zur Integration vor der „grundlegende[n] Zerstörung von Volk und Kultur“ zu stehen.13 Durch die Veröffentlichung seiner Rede in der rechtskonservativen Jungen Freiheit, freilich zunächst ohne die Zustimmung Rabehls, erhielt diese eine zusätzliche Schärfe.14 Rabehls Äußerungen wurden insbe-sondere von seinen früheren Weggefährten auf der Linken als Propaganda gegen ver-

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11I. EINLEITUNG

meintliche Überfremdung mit völkisch-rassistischem Duktus ausgelegt. Dieser wie-derum hielt auch in der Folgezeit an seinen Ausführungen vor der Danubia fest und erblickte in der Neuen Rechten einen möglichen neuen Hoffnungsträger für seine eigenen Überzeugungen. Neben Veröffentlichungen in Verlagen und Publikationen der Neuen Rechten trat er zudem auch bei Veranstaltungen der NPD auf und gab deren Zeitschrift Deutsche Stimme ein Interview. Er galt nun endgültig vielen als rechtsradikaler Konvertit der 68er-Bewegung.

Verantwortlich für die Veröffentlichung von Rabehls Rede in der Jungen Freiheit war Horst Mahler. Nahezu zeitgleich mit der Danubia-Veranstaltung tat sich Mahler wiederholt mit Äußerungen hervor, die gemeinhin bei der radikalen Rechten verortet werden. So hatte er im November 1998 eine „Flugschrift an die Deutschen, die es noch sein wollen, über die Lage ihres Volkes“ veröffentlicht, in der er zum Schluss kam, die Migration in Deutschland sei bereits regelrecht zur „Landnahme“ verkom-men.15 Gleichzeitig gründete er eine nationale Sammlungsbewegung gegen die an-gebliche Überfremdung. Für Aufsehen sorgte schließlich auch die Veröffentlichung einer „Kanonische[n] Erklärung zur Bewegung von 1968“ im Frühjahr 1999, in der mit Bezug zu Rabehl die Ziele der Bewegung derart umgedeutet wurden, dass man bereits damals „allein für das Recht eines jeden Volkes auf nationalrevolutionäre und sozialrevolutionäre Selbstbefreiung“ eingetreten sei.16 Neben Mahler traten auch die beiden Alt-68er Günter Maschke und Reinhold Oberlercher als Verfasser der Erklä-rung auf. Maschke kann dabei als eine Art Vorreiter der Konvertiten von 1968 gelten: Aus der Subversiven Aktion kommend, einem Vorläufer der Bewegung, brach er be-reits Mitte der 70er Jahre mit seinen linken Anschauungen und wendete sich fortan verstärkt der Ideologie Carl Schmitts zu.

Auch Reinhold Oberlercher, selbsternannter „Theoretiker des Hamburger SDS und Auslöser der Hamburger Universitätsaufstandes“,17 tauchte bereits seit den 80er Jahren zunehmend im Umfeld der Rechten auf. Seit den frühen 90er Jahren radikali-sierte er schließlich seine Äußerungen mit stark völkisch-nationaler Rhetorik und bezeichnete beispielsweise fremdenfeindliche Übergriffe wie jene in Rostock-Lich-tenhagen vom August 1992 als deutsche Revolutionen in der Tradition von 1848 oder 1968.18 Oberlercher und Mahler gingen ab 1998 zeitweise einen gemeinsamen Weg: Beide traten als Ideologen des „Deutschen Kollegs“ auf, das sich selbst als „Schwert und Schild des Deutschen Geistes“ begriff und als deren Aufgabe man die Vorberei-tung der Wiedereinsetzung des vermeintlich nie untergegangenen Deutschen Reiches verstand.19 Gemeinsam mussten sie sich auch vor Gericht wegen Volksverhetzung und Leugnung des Holocausts verantworten. Mahler, der nach seinen früheren Par-teimitgliedschaften in der SPD und der KPD im Jahr 2000 kurzzeitig auch der NPD beigetreten war, wurde schließlich in mehreren ähnlichen Verfahren 2009 zu insge-samt zehn Jahren und zwei Monaten Haft verurteilt.

Einer der Ersten aus dem Umfeld der 68er-Bewegung, der sich Vorwürfen ausge-setzt sah, zur Neuen Rechten zu gehören, war der frühere West-Berliner SDS-Landes-vorsitzende Tilman Fichter. Hintergrund waren Fichters vehementes Insistieren auf

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I. EINLEITUNG12

der deutschen Wiedervereinigung seit den 80er Jahren und seine gleichzeitigen Vor-würfe gegenüber der Linken, in diesem Punkt versagt zu haben. Zudem wurden ihm Kontakte zur Rechten nachgesagt; so hatte er den ‚Hofgeismarer Kreis‘, einer wegen ihres Rekurses auf die ‚Konservative Revolution‘ der 20er Jahre umstrittenen Vereini-gung von Jungsozialisten, mit einer Stellungnahme vor dem Ausschluss aus der SPD bewahrt. Auch Bernd Rabehls Vortrag vor der Danubia soll über Kontakte des sozial-demokratischen Funktionärs Fichter zustande gekommen sein. Kritiker sahen darin den Beweis, dass Fichter das „politische Programm der intellektuellen Neofaschisten“ unterstützen würde.20

Die Liste ehemaliger 68er, die heute im nationalen, rechten oder rechtsextremen Sektor verortet werden, ist mit dieser Aufzählung keineswegs zu Ende. Namen wie die des Ex-Kommunarden Rainer Langhans21 und des langjährigen DKP-Funktionärs Pe-ter Schütt22 fallen in diesem Kontext mit stark divergierender Berechtigung ebenso wiederholt wie jener des Frankfurter Aktivisten Werner Olles.23 Auch den auf Grund ihres Alters eher als Mentoren der Bewegung zu bezeichnenden Peter Furth und Klaus Rainer Röhl wird eine ähnliche Entwicklung bescheinigt.24 Im Sinne einer detaillierten Auseinandersetzung mit den ideologischen Werdegängen der Protagonisten be-schränkt sich diese Arbeit jedoch auf die Darlegung der in den zeitgenössischen Kon-text eingebundenen Biographien von Bernd Rabehl und Tilman Fichter, Horst Mahler und Reinhold Oberlercher. Auch Günter Maschke soll auf Grund seiner Vorreiterrolle als Konvertit von links nach rechts berücksichtigt werden. Da sein Bruch jedoch be-reits Mitte der 70er Jahre erfolgte und er während der Zeit um 1968 in Deutschland weniger wirkte als die Anderen, erfolgt hier eher eine kursorische Darstellung. Dage-gen muss auch der Lebenslauf Rudi Dutschkes mit eingebunden werden. Zwar erhebt diese Arbeit keinen Anspruch, eine Biographie Dutschkes darzustellen, noch kann man Dutschke als rechten Konvertiten der 68er-Bewegung bezeichnen. Doch die Be-rufung auf ihn für die nationalrevolutionäre Deutung von 1968, wie sie neben Rabehl eben auch Oberlercher und Mahler vornehmen, macht eine Auseinandersetzung mit relevanten Teilen von Dutschkes Ideologie unausweichlich – zumal auch Günter Bartsch bereits 1975 in einem Buch über die Neue Rechte (!) der 68er-Bewegung ein eigenes Kapitel widmete und über Aussagen von Dutschke und Rabehl zu dem Schluss kam, dass die Bewegung einen „ nationalistischen Impuls“ in sich getragen habe, „der nach außen als antiautoritärer Protest in Erscheinung“ getreten sei.25

Mittels der Darlegung dieser Biographien soll den Fragen nachgegangen werden, wie weit sich aus den Biographien bzw. den Verlautbarungen und Schriften der Prot-agonisten Brüche, Wandlungen oder Prozesse ergeben, oder ob auch Konstanten in deren Denken und Handeln sichtbar werden. Handelt es sich bei den nationalen Äu-ßerungen wie beim Auftauchen im Umfeld der Rechten um politische Konversionen, um einen Wechsel von links nach rechts, oder lassen sich auch Kontinuitäten in der Entwicklung und gar in der Ideologie feststellen? Welche zeitgenössischen Ereignisse und individuellen Erfahrungen haben über die Jahrzehnte zu dem zunächst ange-nommenen Bruch in den 90er Jahren geführt? Zugleich soll untersucht werden, wie

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13I. EINLEITUNG

weit eine eigenständige rechte Gruppierung von ehemaligen 68ern existiert und ob die Zuweisungen zu dieser Strömung für die einzelnen Personen zutreffend sind bzw. wie weit diese untereinander übereinstimmen bzw. differenzieren. Muss man eine homogen agierende Gruppierung von rechten 68ern annehmen, deren Unter-schiede sich bereits im Ziel, die eigene Ideologie subversiv zu verbreiten, erklären lassen, oder handelt es sich um heterogene Überzeugungen? Ist die Fremdzuordnung zur Rechten gar teils politisch motiviert und mehr auf Diffamierungen basierend? Und wie sehen die Eigenverortungen der genannten Aktivisten aus, wie rekonstruie-ren sie aus der Gegenwart die Vergangenheit und damit auch den eigenen Werdegang: Sehen sie bei sich Brüche oder Konstanten, verstehen sie sich heute als links oder als rechts?

In einem zweiten Schritt werden diese individuellen Ergebnisse mit der 68er-Be-wegung im Allgemeinen verknüpft: Wie weit liegen die jüngsten Äußerungen und Einstellungen der Protagonisten in deren Sozialisation durch die 68er-Bewegung be-gründet, was bedeutet dies für die Bewegung als Ganzes? Denn auch wenn die Reihe der potentiellen Wanderer von links nach rechts nach wie vor überschaubar ist, han-delt es sich bei den Genannten doch um führende Protagonisten der Bewegung. Die Bedeutungszumessung spiegelt sich fern der Posten, Schriften und Aktionen allein schon in zeitgenössischen Karikaturen und Flugblättern aus dem Milieu der Neuen Linken wider. So druckte Konkret 1969 eine Parodie von Leonardo da Vincis Bild „Das letzte Abendmahl“ ab: Neben Che Guevara, der dort Jesus verkörperte, saßen in getreuer Nachbildung seine zwölf Jünger aus der deutschen 68er-Bewegung, darunter Rudi Dutschke, Bernd Rabehl, Horst Mahler und Rainer Langhans.26

Zudem soll untersucht werden, in welchem Maß die nationalrevolutionären Beru-fungen auf 1968 zutreffend sind. Die Haltung zur nationalen Frage wird daher die Arbeit immer wieder begleiten. Lassen sich darüber hinaus eventuell vermeintlich rechte Motive auch in der 68er-Bewegung wiederfinden? Wie weit sind Übereinstim-mungen und Übergänge dieser politischen Positionen zu konstatieren? Kann man von einem ambivalenten rechten Denken in der Bewegung sprechen, das bei einigen früheren Aktivisten nun offen sichtbar geworden ist? Dabei soll und kann es auf Grund der Themenstellung nicht um einen systematischen Vergleich von rechts und links gehen, sondern um die Bewertung potentieller Ähnlichkeiten bei ausgewählten Themenfeldern wie der Einstellung zu den USA und Israel, beim Demokratiebild oder auch schlicht beim Vorgehen der Aktivisten. Doch selbst wenn sich keine allge-meinen Rückschlüsse auf die Bewegung im Ganzen ziehen lassen, können die selbst-ernannten Nationalrevolutionäre immer noch Ausdruck der jeher behaupteten Hete-rogenität der Bewegung sein.27 Eine Heterogenität, die für ein umfassendes, auch die Motivation einzelner Akteure sowie gegensätzliche Denkmodelle beinhaltendes Ver-ständnis von 1968 künftig stärker berücksichtigt werden muss. Gerade biographische Ansätze können hier als Kontrast zur bislang vorherrschenden homogenen Blickwei-se Abhilfe schaffen, trotz oder gerade wegen der Tatsache, dass es unumstrittene Wortführer und Ideologen in der Bewegung nicht gab. Spätestens im Fortgang der

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I. EINLEITUNG14

Lebensläufe der Aktivisten spiegelt sich diese Vielfalt schließlich wider. 1968 war eben mehr als nur ein kulturrevolutionärer Aufbruch oder eine Demokratiebewegung. In diesem Teil der Arbeit soll daher der Fokus nicht auf Folgen der Bewegung – was meist mehr ideologische Bewertung denn historische Aufarbeitung bedingt –, son-dern auf einen Teil der damals zugrundeliegenden Motivationen, Ideologien und Ziele gerichtet werden. Freilich stellt auch diese Studie damit nur einen Teil dessen dar, was man unter 1968 einordnen kann.

Die Studie beansprucht derart auch, einem Desiderat in der Forschung zur 68er-Bewegung und ihrem Nachklang zu begegnen. Gleichwohl ist kaum ein Ereignis in der Geschichte der Bundesrepublik Gegenstand so vieler Publikationen wie die 68er-Bewegung. Schon 1991 konstatierte Christoph Kleßmann eine wahre „Flut von Arti-keln“ über die Bewegung – ein Zustand, der sich insbesondere in Abständen von fünf Jahren zu den ‚Jubiläen‘ der Bewegung wiederholt.28 Folgerichtig sprach Alfons Söll-ner Ende 2008 über die vorangegangenen Veröffentlichungen, Tagungen und Ausstel-lungen zum 40. Jahrestag von 1968 davon, „dass die gedächtnispolitische Leistungsfä-higkeit der Deutschen einen neuen Rekord aufgestellt hat.“29 Dennoch wurde eine historische Aufarbeitung der damaligen Geschehnisse lange Zeit durch die Fülle an Publikationen von ehemaligen Protagonisten verdeckt, was letzteren auch in der Öf-fentlichkeit die Deutungshoheit über die eigene erlebte Zeit bewahrte und zugleich zu einer regelrechten „Welle der Memoirenliteratur“ führte.30 Die beanspruchte Deu-tungshoheit der damaligen Aktivisten wie auch ihre oftmals bis heute anhaltenden politischen Aktivitäten bewirken zugleich, dass eine historische Darstellung der 68er-Bewegung nie nur einfach eine Geschichte der Vergangenheit ist, sondern immer auch in die Gegenwart hineinreicht. Den Historiker Axel Schildt veranlasste dies gar, ironisch von einer „natürlichen Feindschaft“ zwischen Zeitzeugen und Zeithistori-kern zu sprechen.31

Eine fortschreitende Historisierung der Ereignisse ist seit Mitte der 1990er Jahre festzustellen, zunächst ausgelöst durch große Fachkonferenzen und die daraus fol-genden Sammelbände.32 Spätestens mit den jüngst immer zahlreicheren Einzelstudi-en33 zum Themenkomplex 1968 ist allmählich eine Angleichung der einstigen „Schief-lage zwischen autobiographischer Erinnerung […] und […] wissenschaftlicher Aufarbeitung“ wahrzunehmen.34 Neben dem Ablauf der überwiegend gebräuchli-chen 30-jährigen Sperrfrist für Sachakten aus den Archiven des Bundes bzw. der Län-der ist dies auch dem gewachsenen zeitlichen Abstand zu den Geschehnissen geschul-det: 1968 und die sechziger Jahre waren bereits gegen Ende des letzten Jahrtausends zeitlich weiter entfernt, als es die 68er von der Zeit des Nationalsozialismus waren, deren Aufarbeitung sie als so mangelhaft empfanden. Derart harren die Ereignisse einer kritischen Aufarbeitung, zumal mittlerweile Wissenschaftler nach rücken, die keine unmittelbaren Erlebnisse mit dieser vergangenen Zeit verbinden.

Trotzdem bleibt 1968 über die Forschung hinaus wie eh und je auch gegenwärtig ein höchst kontroverses Thema, wie beispielsweise die jüngeren Veröffentlichungen von Kai Diekmann oder Götz Aly zeigen: Stellt für Diekmann Achtundsechzig den

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15I. EINLEITUNG

„Epochenbruch der deutschen Gesellschaft in Richtung Egozentrik, Mittelmaß und Faulheit“ dar, kommt Aly zum Schluss, dass die 68er „sich bei näherem Hinsehen als sehr deutsche Spätausläufer des Totalitarismus“ erweisen würden.35 Dagegen erblickt Albrecht von Lucke in 1968 zeitgleich zuvorderst ein Jahr der „weltweiten demokrati-schen Ausstrahlung“.36 Zudem sind durch die bisher eher selektiv verlaufende Histo-risierung von 1968 nach wie vor „weiße Flecken“ in der zugehörigen Geschichts-schreibung aufzufinden. So ist der von den Oberschulen ausgehende Protest genauso ein Forschungsdesiderat wie das (Re-)Agieren politisch zum SDS gegensätzlicher Studentenverbände wie dem Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS).37

Entscheidender für die vorliegende Arbeit ist das Fehlen von Abhandlungen über den biographischen Fortgang damaliger führender Protagonisten jenseits von Rudi Dutschke, wie auch das Zurücktreten des zugrundeliegenden Ideenfundaments und der damit anvisierten Ziele hinter damalige Ereignisse und gegenwärtigen Vereinnah-mungen der Bewegung für verschiedenste vermeintliche Folgen nach 1968.38 Letzte-res ist zweifellos der Heterogenität der Bewegung und dem damit einhergehenden vielfältigen theoretischen Denken innerhalb dieser geschuldet. Die Entwicklung ehe-maliger 68er bis hin zu potentiellen Positionen der Rechten und ihre ideengeschicht-liche Rückbindung an die 68er-Bewegung ist in der gegenwärtigen Forschung kein Gegenstand detaillierter Analysen gewesen. Zwar sind jüngst mit den Werken von Götz Aly, Leonard Landois und Steven Heimlich Publikationen erschienen, die gewis-se thematische Berührungspunkte mit der vorliegenden Arbeit aufweisen: Doch ver-sucht Landois vor allem über Rudi Dutschke ein auf Carl Schmitt zurückgehendes Staatsverständnis der Bewegung nachzuweisen, Aly geht es um den autobiographisch geprägten und polemisch geführten Nachweis der Nähe von den 68ern zu den Natio-nalsozialisten, und Heimlich geht der Frage nach, wie die Neue Rechte die 68er-Bewe-gung für sich instrumentalisiert. Und so bieten diese Publikationen eher die Möglich-keit der kritischen Reflexion ihrer Thesen, zumal ihnen allen einen starke Tendenz zur Polemik und Verallgemeinerung gemein ist.39

Während und unmittelbar nach den Ereignissen um 1968 finden sich dagegen un-ter der Vielfalt der Veröffentlichungen, mit denen bereits damals Beteiligte und Kriti-ker Einfluss auf die Deutung der Bewegung nehmen wollten, nicht wenige Publikati-onen, in denen eine Nähe zwischen Linken und Rechten konstatiert wurde. Zumindest die Schriften der eingangs erwähnten sozialliberalen und der Bewegung zunächst zu-geneigten Professoren um Sontheimer und Löwenthal können dabei durchaus auch heute noch gehaltvolle Ansatzpunkte liefern, auch wenn man sie freilich im zeitge-nössischen Kontext betrachten muss.40 Die Bewegung von 1968 darf nicht nur einsei-tig mit den Quellen und Schriften der Aktivisten aufgearbeitet werden; auch ihre Kri-tiker und Gegner müssen Berücksichtigung finden, und manche zeitgenössische Beobachtung ist wohl weit näher an den Ereignissen dran als die nachträglichen Ver-einnahmungen und Weichzeichnungen. Bedeutung erhalten diese Schriften zusätz-lich, weil die zeitgenössische Kritik an der Bewegung mit dem Verlauf der 70er Jahre und im Zuge des Kampfes um nachträgliche Deutungshoheit zunehmend als unwis-

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I. EINLEITUNG16

senschaftlich abgetan wurde und bis zum Auftauchen einiger 68er im Umfeld der Rechten in Vergessenheit geriet. Zweifellos lag dies auch daran, dass die gehaltvollen Aussagen Scheuchs, Sontheimers & Co. hinter Polemiken anderer Wissenschaftler verschwanden, die sowohl eine Gleichsetzung der Bewegung mit der NPD wie auch mit dem Nationalsozialismus betrieben: „Hitlers und Maos Söhne kämpfen – nach der Devise: getrennt marschieren, vereint schlagen – gegen den Parlamentarismus.“41

Der obsiegende Tenor war nun, dass Vergleiche der 68er-Bewegung mit totalitären und antidemokratischen Strömungen, nationalrevolutionären oder gar zeitgenössi-schen rechten Gruppierungen wider besseren Wissens vorgenommen worden seien – mit anderen Worten also Geschichtsfälschung darstellen –, sich schon auf Grund des hohen theoretischen Gehalts der Debatten innerhalb der Bewegung verbieten und daher nicht mehr als „Pamphletliteratur“ seien, die eine wissenschaftliche Aufar-beitung von 1968 lange behindert hätten.42 Doch eine bis heute anhaltende Kritik, die im Vergleich der Bewegung mit rechten Strömungen nur eine „Delegitimierung“ von 1968 erblickt oder auch gegenwärtigen Autoren wie Aly und Landois „ein gespaltenes Bewusstsein im Blick auf Demokratie“ unterstellt und diesen gleich jegliche Wissen-schaftlichkeit abspricht, entlarvt sich selbst als verklärende und fest statuierte ge-schichtspolitische Deutung, die keine abweichende Meinung und Kritik verträgt und so einer wirklichen Aufarbeitung des vermeintlichen Mythos 1968 entgegensteht.43 Natürlich muss gewährleistet sein, dass man vorsichtig ist mit allzu leichten Verglei-chen wie jenem, dass sowohl die 68er als auch die Nationalsozialisten sich als Bewe-gung verstanden. Mit derartigen Vergleichen stellt man sonst vorschnell Parallelen zwischen unterschiedlichen historischen Ereignissen und Prozessen dar, die in ihrem Kontext nicht haltbar sind.

Zum vielfältigen und kontroversen Forschungsstand zu 1968 tritt eine ähnlich un-übersichtliche Quellenlage. Meist lückenhafte Quellenbestände zur Bewegung finden sich in Archiven über die ganze Bundesrepublik verstreut, was neben der Heterogeni-tät auch auf den Bewegungscharakter zurückzuführen ist: Teils wurden die sponta-nen Vorgänge nicht dokumentiert, teils die existierenden Schriftstücke nicht von den offiziellen Archiven gesammelt.44 Für die vorliegende Arbeit wurde vor allem auf die Bestände des Archivs des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS) und des an der FU Berlin angegliederten Archivs „APO und soziale Bewegungen“ (APO-Archiv) zurückgegriffen. Hier befinden sich nicht nur umfangreiche Sammlungen wie die erhalten gebliebenen Unterlagen des SDS (APO-Archiv) oder des Sozialistischen An-waltskollektivs (SAK), sondern auch Sammlungen zu den Protagonisten dieser Ar-beit. Letzteres bedingt sich schon aus deren Aktionsschwerpunkten in Berlin bzw. Hamburg. Daneben wurden kleinere relevante Archivbestände wie die des Hochschularchivs der FU Berlin und des Archivs der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte (FZH) gesichtet. Einen wesentlichen Bestandteil des zugrundeliegen-den Materials bilden die zahlreichen Schriften von Rabehl, Mahler & Co. aus den 60er Jahren bis in Gegenwart: Von Monographien über Zeitungsartikel bis hin zu Beiträ-gen in größeren Fachzeitschriften wie Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte und Arti-

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17I. EINLEITUNG

keln in Periodika der linken und später auch rechten Subkultur – hier u.a. Rote Presse Korrespondenz oder Theorie und Klasse auf der einen, Sleipnir und Staatsbriefe auf der anderen Seite – bieten diese einen umfangreichen Einblick in die Ideologie ihrer Ver-fasser. Abgerundet wird der Quellenfundus durch Korrespondenzen und Interviews mit Rabehl, Fichter und Oberlercher sowie mit relevanten zeitgenössischen Wegbe-gleitern wie Peter Schütt und Henning Eichberg.45

Der Aufbau dieser Arbeit wird weitgehend chronologisch erfolgen, wobei sich ein-zelne zeitliche Sprünge durch das Nebeneinander der Biographien nicht vermeiden lassen. Zudem ist der Verlauf der Biographien in der Gliederung nicht strikt vonein-ander getrennt, da die parallel verlaufenen Werdegänge sich immer wieder begegnen und voneinander entfernen. Vor einem ideengeschichtlichen Ansatz sollen die Bio-graphien stets vor dem relevanten zeitgenössischen Kontext dargestellt und in die je-weilige individuelle Erfahrungswelt eingebettet werden. Nebeneinander, und wo es sich anbietet auch gemeinsam, werden diese zunächst bis etwa zum Jahresbeginn 1967 geschildert. Dieser Zeit zunehmender Radikalisierung folgt eine ausführliche ideengeschichtliche Betrachtung ausgewählter Themenpunkte im zeitlichen Umfeld der sogenannten Hauptzeit der Bewegung von 1967/68 – vom Demokratiebild über die Stellung zur nationalen Frage bis hin zu einem potentiellen Antiamerikanismus und -semitismus –, wobei die Protagonisten dieser Arbeit ebenso mit eingebunden werden wie die zeitgenössische Kritik. Um einerseits dem Eindruck der Gleichsetzung der Bewegung mit der Rechten um 1968 zu begegnen – insbesondere vor dem Hin-tergrund der zeitgenössischen Erfolge der NPD – und andererseits das Vorliegen eventueller Schnittstellen rechter Strömungen mit der Neuen Linken zu untersuchen, wird dieses Kapitel von einer Darstellung der heterogenen Rechten um 1968 und ih-rer Beziehung zur Bewegung abgerundet. Anschließend soll der chronologische Strang der Biographien wieder über die 70er und 80er Jahre bis in die Gegenwart fortgesetzt werden. Die Arbeit beschränkt sich so nicht nur auf die 68er-Bewegung und die jüngere Gegenwart, sondern soll auch einen Beitrag zum Fortgang der Lin-ken nach 1968 und den innerhalb dieser als relevant betrachteten Themen beisteuern. Im abschließenden Kapitel wird neben der biographischen Darstellung dann erneut ausführlich auf die gegenwärtige Ideologie der nun im rechten Spektrum auftau-chenden 68er eingegangen. Durch thematische und persönliche Überschneidungen sollen nicht einfach nur mehrere nebeneinander verlaufende Biographien entstehen, sondern diese stattdessen in einen gemeinsamen Kontext gesetzt werden. Doch zu-nächst soll mittels eines einführenden thematischen Kapitels das dieser Arbeit zu-grunde liegende Verständnis von 1968 als auch von Begriffen wie rechts/links darge-legt werden.

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II. HISTORISCHE BEGRIFFSBEWERTUNGEN

1. 1968 – Vom konstruierten Mythos überdeckt. Einordnungen und Begriffsbestimmungen

Wer sich mit „1968“ beschäftigt, steht zunächst vor dem Problem überhaupt erst ein-mal zu bezeichnen, was unter dieser Chiffre verstanden werden soll. Vermehrt wird jenes Problem noch durch den Umstand, dass es mittlerweile zum Allgemeinplatz geworden ist, 1968 als Mythos zu bezeichnen. Vor allem in der öffentlichen Debatte hält sich diese Klassifizierung, welche eine historisch korrekte und lückenlose Dar-stellung der Ereignisse und Ursachen jener Zeit überdeckt. Zu Recht sprach Oskar Negt bereits 1995 davon, dass „Achtundsechzig […] mit jedem mediengesteuerten Rückerinnerungsdatum zusätzlich verdreht, perspektivisch verzerrt und retuschiert wird“.1 Und trotz der zunehmenden Historisierung hält sich die Charakterisierung als Mythos bis heute.2

Zweifellos scheinen zunächst einige Gründe die Benennung von 1968 als Mythos zu rechtfertigen. Insbesondere durch die Vielfältigkeit der Geschehnisse wie auch durch deren Gleichzeitigkeit wurde diese Einordnung gefördert. Das Untersuchungs-objekt 1968 war eben mehr als nur das Jahr ‘68; es steht als Begriff für eine Reihe von Ereignissen und Auseinandersetzungen in den verschiedensten Ländern weltweit. Ebenso wenig lässt sich die Chiffre ‘68 nur auf einen Kreis bestimmter Länder mit ähnlichen Ereignissen und Motiven derer Akteure anwenden. Auch Deklarationen der Geschehnisse als soziale Bewegung oder Generation und die Vielzahl an Bezeich-nungen von 68er-Bewegung über Studentenbewegung, APO oder antiautoritäre Be-wegung bis hin zu eher wertenden Titulierungen als „So zialrevolte“3 oder gar einer „glücklich gescheiterten Umgründung“4 der Bundesrepublik mehren noch den My-thos, indem mit teils gegensätzlichen Kategorisierungen der gleiche Oberbegriff, eben „1968“, vereinnahmt wird – mögen auch die Mehrheit der Bezeichnungen ihre jeweilige (Teil-)Berechtigung besitzen. Der Mythos ‘68 fungiert so, je nach Sicht, als positive wie negative Identitätsstiftung für die Bundesrepublik.5 Von einer histori-schen Aufarbeitung entfernt man sich so freilich.

Auch die Medien trugen zu dem Umstand der Mythologisierung bei, indem sie die unterschiedlichen Auffassungen von ‘68 zwischen den Polen „Fundamentalliberali-sierung“6 und Werteverfall7 in Artikeln und Sendungen vervielfältigten und so nicht halfen die Kon troversen zum Ende zu führen, sondern sie noch forcierten. Es liegt in der Logik der Massenmedien, dass diese besonders über das Neue, Spektakuläre und Kontroverse berichten. Und so war und ist sowohl die zeitgenössische als auch die gegenwärtige Berichterstattung bezüglich ‘68 zumeist auf medial wirksame Protest-formen wie sit-ins und Happenings oder den zu Ikonen stilisierten Vorbildern und Wortführern der Bewegung wie Ernesto Che Guevara und Rudi Dutschke reduziert.

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II. HISTORISCHE BEGRIFFSBEWERTUNGEN20

Die öffentliche Meinung von 1968 wird so überwiegend durch ein von den Medien vermitteltes Zerrbild bestimmt. Und nicht zuletzt hat die Ambivalenz der Ereignisse, welche sich beispielsweise im Gegensatz des kulturellen Amerikanismus beim gleich-zeitigen politischen Antiamerikanismus widerspiegelt, zur Konstituierung des My-thos beigetragen und die gegenteiligen Beurteilungen von ‘68 erst möglich gemacht.

Um der weiteren Mystifizierung von 1968 durch diese Arbeit zu begegnen, soll nun zunächst dargelegt werden, wer und was in der vorliegenden Untersuchung unter 1968 subsumiert wird und welche Deutungsansätze hierfür hilfreich sind.

1968 – Herkunft und Eingrenzung eines Begriffs

Seit den späten 70er Jahren hat sich der Begriff „1968“ als Kennzeichnung der dama-ligen Geschehnisse etabliert – auch wenn in der Bundesrepublik das Jahr 1967 mit dem 2. Juni und dem Tod Benno Ohnesorgs sowie der folgenden Massenmobilisie-rung das weit bedeutendere Jahr gewesen ist. Zur Jahresmitte 1968 war der Höhe-punkt der Bewegung dagegen schon vorbei und diese im Zerfall begriffen. Tatsächlich war ein Jahrzehnt nach den Ereignissen nicht das Jahr ‘68, sondern eben 1967 der Fixpunkt in der retrospektiven Betrachtung. „Zehn Jahre danach“8 erschienen gleich mehrere Publikationen zur Bewegung und dem als Schlüsseljahr wahrgenommenen Jahr 1967.9 Erst in Folge dieses ersten „runden Geburtstags“ der Bewegung wandelte sich allmählich die Wahrnehmung, fortan war vom Jahr „1967, das wir heute ‚1968‘ nennen“ die Rede.10

Ursächlich war hierfür einerseits die internationale Perspektive des Jahres: Neben zahlreichen Vorfällen auf der ganzen Welt, vom Prager Frühling und dessen Nieder-schlagung über die sogenannte Tet-Offensive der vietnamesischen FNL bis hin zur Ermordung Martin Luther Kings, war 1968 in anderen Ländern das dominierende Bewegungsjahr, allen voran in Frankreich.11 Mittels der internationalen Einbettung der deutschen Ereignisse begann man ab diesem Zeitpunkt auch in der Bundesrepu-blik von der „68er-Generation“ zu sprechen.12 Gleichzeitig besaß man damit nun ein griffiges „Distanz- und Kontrastetikett“ für die damaligen Akteure und deren Sympa-thisanten gegenüber nachrückenden Strömungen.13 Den Neuen Sozialen Bewegun-gen wie auch der Hausbesetzerbewegung gab die Bezeichnung „68er“ die Möglich-keit, sich strikt von diesen abzugrenzen und sich selbst eine eigene Identität mit eigenen Proteststilen und Ideologien zu geben. Die Selbstbezeichnung wiederum konnte gleichermaßen eine einende Funktion innerhalb der zerstrittenen Linken wie auch eine Abgrenzung gegenüber missliebigen Erscheinungen ausüben, beispielswei-se gegenüber dem Linksterrorismus und den Deutschen Herbst von 1977. Die 68er-Bewegung konnte derart in ihrer historischen Bedeutung hervorgehoben werden.

Der Gebrauch der Jahreszahl „1968“ erweckt jedoch den Anschein, als ob sich sämtliche relevanten Ereignisse nur unmittelbar um dieses Jahr herum abgespielt hätten. Wolfgang Kraushaar schreibt in diesem Sinne vom „Jahr, das alles verändert

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1. EINORDNUNGEN UND BEGRIFFSBESTIMMUNGEN 21

hat.“14 Die Bezeichnung ist Bestandteil des Mythos. Derart wird eine Teilung der Ge-schichte der Bundesrepublik in zwei Epochen möglich: jene vor ‘68, die als Zeit des Stillstandes oder der Wertebewahrung galt und jene nach der vermeintlichen Zäsur, welche als Epoche der Demokratisierung oder Liberalisierung bzw. des Werteverfalls angesehen wurde. Durch die dadurch entstandene Vorstellung der „Wegscheide des rebellischen Jahres 1968“ traten die 60er Jahre als eigenständige Dynamik zurück und wurden zur Vorgeschichte der Revolte reduziert.15

Mittlerweile haben allerdings mehrere Studien dargelegt, dass die 60er Jahre im Ganzen als Jahrzehnt des dynamischen Wandels angesehen werden müssen. 1968 ist somit nur ein Bestandteil dieses Prozesses, wenn auch zweifellos dessen spektakulärer Kulminationspunkt.16 Weitreichende strukturelle Veränderungen in der Bundesrepu-blik lassen sich bis in die späten 50er Jahre zurückführen, vom Anstieg der Geburten-rate über die Zunahme des tertiären Dienstsektors über deutliche Lohnsteigerungen und die damit verbundenen Änderungen im Konsumverhalten der Bevölkerung bis hin zu Massenmedialisierung, -motorisierung und -tourismus. Neben der Etablie-rung der sogenannten „Erlebnisgesellschaft“, welche sich durch „persönliches Er-folgsstreben, Freizeitorientierung, Konsumorientierung, Individualismus, betonte Ablehnung aller militärischen Disziplin, Sachlichkeit, Materialismus“ auszeichnete, war auch die Zunahme einer kritischen Öffentlichkeit zu konstatieren.17 Bereits in den 50er Jahren gab es massenhafte öffentliche Unmutsbekundungen wie die gegen die Westintegration und Wiederbewaffnung der Bundesrepublik gerichtete „Ohne-Mich“-Bewegung oder die ab 1960 einsetzenden „Ostermärsche“ gegen die Stationie-rung von Atomwaffen im eigenen Land.18 Die Teilnehmerzahlen an Demonstrationen und Kundgebungen waren Ende der 50er Jahre teilweise weit höher als jene der Pro-testaktionen um 1968.19 Schon die Schwabinger Krawalle der sogenannten Gammler von 1962 gelten als Synonym „für den subkulturellen Protest gegen die Erstarrung der bestehenden Ordnung“.20 Mit der Spiegel-Affäre von 1962 und den folgenden lan-desweiten Protesten gegen die Polizeimaßnahmen festigte sich eine kritische Öffent-lichkeit sowohl in den Medien als auch in der Bevölkerung, welche die Bewahrung von demokratischen Grundrechten wie die Pressefreiheit gegenüber staatlichen Ein-griffen als elementar ansah.21

Auch die spezifischen Themen der 68er-Bewegung lassen sich bis in die frühen 60er Jahre zurückverfolgen, sei es die Entwicklung des Selbstverständnis einer Neuen Lin-ken oder die Reformierung der Bildungspolitik, seien es die späteren Kampagnen ge-gen den Axel Springer Verlag oder gegen die Notstandsgesetze.22 Und auch die Thema-tisierung der nationalsozialistischen Vergangenheit begann nicht erst um 1968, sondern reicht gut ein Jahrzehnt zurück.23 Die Betonung der 60er Jahre als Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels hat auch nicht zwangsläufig zur Folge, die Bedeutung der Bewegung für diesen Wandel zu vernachlässigen oder sie gar als dessen „Störfak-tor“ zu betrachten.24 Vielmehr relativiert die Eingliederung von 1968 in den histori-schen Prozess der 60er Jahre auch den von Kritikern überschätzten Einfluss der Bewe-gung und deren Verantwortlichkeit für Entwicklungen in den folgenden Jahrzehnten.

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II. HISTORISCHE BEGRIFFSBEWERTUNGEN22

Die zunehmende Kennzeichnung der 60er Jahre als Jahrzehnt des Wandels und der 68er-Bewegung als deren Ausdruck verhindert jedoch nicht, dass in der Forschung ein Dissens über die Dauer der 68er-Bewegung vorherrscht. Die Einstufungen rei-chen dabei von Anselm Doering-Manteuffel, der 1968 „im Übergang von den 50ern zu den 60er Jahren“ beginnen lässt, bis hin zu Gerd Langguth und Norbert Frei, für die 1968 im späten Frühling begann und etwa zwölf bzw. achtzehn Monate währte.25 Sinnvoll scheint eine doppelte Definition dieser Chiffre: eine lange, welche die Dyna-mik der 60er Jahre einbezieht und 1968 als langwährenden Prozess im Sinne Doe-ring-Manteuffels versteht, und eine kurze, welche die Eskalation und Ereignisdichte zwischen dem 2. Juni 1967 und dem Tod Benno Ohnesorgs bis zur Verabschiedung der Notstandsgesetze am 30. Mai 1968 berücksichtigt.26 Der 2. Juni 1967 fungierte so in Anlehnung an Pierre Bourdieu als „kritisches Ereignis“ denn als eigentlicher Be-ginn der Bewegung: Der durch die Kugel eines Polizisten herbeigeführte Tod Oh-nesorgs synchronisierte die bereits vorhandene latente Krisen- und Proteststimmung unter verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Akteuren, schuf so eine vom „kritischen Ereignis“ zum „kritischen Moment“ fortschreitende Krise und führte zur Solidarisierung weiterer gesellschaftlicher Kreise, insbesondere unter den Intellektu-ellen.27 Das „kritische Ereignis“ setzt also die vorherige Existenz gesellschaftlicher Un-ruhe voraus und sorgt im wesentlichem für Massenmobilisierung. Erst dieses Zusam-menspiel von langer und kurzer Deutung wird dem historischen Ort von 1968 gerecht. Für die biographische Annäherung an die damaligen Aktivisten bedeutet dies, dass die politische Einbindung der Geschehnisse schon weit vor dem Jahr 1968 beginnen muss; zumal selbst Rudi Dutschke den „Beginn unserer Kulturrevolution“ auf den 18. Dezember 1964 mit der Demonstration gegen den Staatsbesuch des kon-golesischen Ministerpräsidenten Moise Tschombé in Westberlin zurückdatierte.28

1968 als Chiffre für eine globale Bewegung?

Es ist mittlerweile üblich geworden, die Ereignisse um 1968 als „globale Rebellion“, „erste weltgesellschaftliche Bewegung“ oder gar als „Revolution im Weltsystem“ zu deuten.29 Auch die zeitgenössische Wahrnehmung ging bereits von einer „Weltrevolu-tion der Jugend“ aus.30 Dementsprechend erschien in den letzten Jahren eine Vielzahl an wichtigen Publikationen, in denen entweder international vergleichende Einzel-studien vorgenommen oder der Komplex 1968 in verschiedenen relevanten Ländern mit den jeweiligen nationalen Spezifika dargestellt wurde.31 Kann bei all dieser be-haupteten Globalität der Bewegung ein spezifisch nationaler Ansatz, wie er in dieser Arbeit vorgenommen wird, überhaupt ertragreich sein? Eine intensivere Betrachtung zeigt, dass die 68er-Bewegungen der einzelnen Länder keineswegs so global waren, wie es die oben genannten Zitate vermuten lassen.

Zwar gibt es zunächst einige Argumente für die These des globalen Charakters. Vor allem die weltweite Gleichzeitigkeit der Protestaktionen – im Jahr 1968 hat es in min-

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1. EINORDNUNGEN UND BEGRIFFSBESTIMMUNGEN 23

destens 56 Ländern Studentenproteste gegeben, darunter auch Staaten in Afrika und Asien – stellt natürlich ein gehöriges Argument für die Globalität der Bewegungen dar.32 Und auch der Krieg in Vietnam und die Tet-Offensive, die so genannte Kultur-revolution in China und die von Kuba ausgegangenen Guerillabewegungen können unter dem Ereignisblock 1968 subsumiert werden. Doch gleichzeitig stellt sich hier das Problem der Vergleichbarkeit. Denn letztlich sind die Unterschiede zwischen Pro-testen in Ländern der Dritten Welt, Maos Sicherung der Macht durch eine als Kultur-revolution verbrämte brutale Ausschaltung alter Eliten und der Rebellion von Teilen der Bevölkerung in Ländern beidseits der Blockkonfrontation des Kalten Krieges zu groß, als dass sie relevante Aufschlüsse für Einzelstudien geben können. Maximal kann man von einer Zunahme bzw. einem neuem Klima des Aufbegehrens sprechen, welches weltweit Verbreitung fand – eben der „Zeitgeist“ von 1968. Ein Vergleich mit Protesten in Polen und der CSSR zeigt dies: In Osteuropa kämpften die Demonstran-ten um grundlegende Rechte wie die der Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit – Rechte, die in den Staaten der westlichen Bewegungen längst etabliert waren. Eine Diskrepanz, die auch in den Äußerungen des tschechoslowakischen Studentenfüh-rers Jan Karvan deutlich wird: „Freunde aus Westeuropa haben mir oft vorgehalten, dass wir mit unseren Forderungen nur für die bürgerlich-demokratischen Freiheiten kämpfen. […] Für uns sind die klassischen bürgerlichen Freiheiten von größter Be-deutung.“33

Auch der Anspruch der 68er verweist auf eine globale Bewegung. Zur Selbstwahr-nehmung der Aktivisten gehörte die Identifikation mit den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt wie auch der Anspruch, „eine Welt {zu] gestalten, wie sie die Welt noch nie gesehen hat“. Rudi Dutschke sprach stellvertretend für eine Vielzahl von Aktivisten davon, dass man die revolutionäre Arbeit „unter weltgeschichtlichen Be-dingungen“ betreibe.34 Als im Februar 1968 der Internationale Vietnamkongress in West-Berlin stattfand, ließ Dutschke unter dem Beifall der Anwesenden nichts weni-ger als die Weltrevolution hochleben.35

Doch schon ein Blick auf die thematischen Inhalte lässt die These der globalen Bewegung wanken, selbst wenn man sie auf die westeuropäischen und nordameri-kanischen Bewegungen reduziert. Zwar gab es verbindende Themen und Ideologien: Überall verstand man sich als Teil der Neuen Linken, auch waren die Jugend und insbesondere die Studentenschaft Träger des Protests. Viele Protestformen wie sit-ins und go-ins entstanden in den USA und wurden von den europäischen Bewegun-gen übernommen. Die Unterstützung der Befreiungsbewegungen der Dritten Welt und die Gegnerschaft zum Vietnamkrieg der USA einte die Bewegungen thematisch und bildeten eine Art „Sockel des Gemeinsamen“36 – freilich waren die amerikani-schen Studenten durch drohende Einberufungsbefehle weit stärker vom Krieg be-troffen als die nur moralisch agierenden europäischen Studenten. Doch ansonsten dominierten national spezifische Themen – in Deutschland waren dies vor allem die Kampagnen gegen die Notstandsgesetze und den Springer-Verlag. Welch hohe Be-deutung diesen Themen zukam, zeigt das abrupte Ende der Bewegung: Als es der

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Bewegung weder gelang, die Verabschiedung der Notstandsgesetze Ende Mai 1968 zu verhindern, noch trotz tagelanger Unruhen Ostern 1968 die publizistische Macht des Springer-Verlags auch nur einzuschränken, ebbte die Bewegung rasch ab und zerfiel. Gleiches gilt analog für Frankreich, wo nach dem Scheitern des kurzen Pari-ser Mai die Bewegung ebenfalls zerfiel. Dabei hätte es mit der Ermordung des ame-rikanischen Präsidentschaftsanwärters und linken Hoffnungsträgers Robert Kenne-dy, den Unruhen und dem folgenden Massaker an Demonstranten in Mexiko kurz vor der dortigen Olympiade im Oktober 1968, den tagelangen und vom Fernsehen ausführlich gefilmten brutalen Straßenschlachten zwischen Demonstranten und über 20.000 Polizisten in Chicago während des demokratischen Nominierungspar-teitages für die kommende Präsidentschaftswahl und dem Einmarsch von War-schauer-Pakt-Staaten in Prag genügend mobilisierende Themen für eine globale Bewegung gegeben.

Auch der zeitliche Ablauf widerspricht der These der Globalität. Während die An-fänge in den USA bereits um 1960 liegen und mit etwas Verzögerung dann auch für die Bundesrepublik zu konstatieren sind, brach die Unruhe in Frankreich – allerdings umso eruptiver – erst im Frühjahr 1968 aus. Während in der Bundesrepublik und in Frankreich die Bewegung im Sommer 1968 schon wieder größtenteils Geschichte war, gilt als „Italiens 68 […] das Jahr 1969.“37 Und während es in Italien und Frank-reich zeitweise gelang, ein Bündnis von Studenten und Arbeitern herzustellen, war man davon in der Bundesrepublik und den USA weit entfernt – der Riss in der Bevöl-kerung war hier viel tiefer. In England und vor allem in den Niederlanden wiederum war der Protest überwiegend kulturell geprägt, beispielsweise durch die sogenannten Provos, während es in Frankreich einen Moment den Anschein hatte, dass die Bewe-gung das Land in eine Staatskrise führen würde.

Schließlich waren die Bewegungen auch vor allem Segmente des jeweiligen natio-nalen sozialen Systems und der jeweiligen Geschichte des Landes – sie waren „das je-weilige Erbe der Väter.“38 Die Bundesrepublik Deutschland war geprägt von ihrer nationalsozialistischen, Italien von der faschistischen, Frankreich und England wie-derum von ihrer kolonialistischen Vergangenheit. Genauso standen eher autoritäre Traditionen wie jene in Frankreich und der Bundesrepublik den betont liberalen wie in den Niederlanden und Skandinavien gegenüber. Die Bewegungen in den ehemali-gen Achsenmächten Deutschland, Italien und Japan hoben sich ihrerseits in Intensi-tät und im Ausmaß der Gewalt, insbesondere durch den folgenden Terrorismus, von den anderen Bewegungen ab. Zugleich eigneten sich Vergangenheit und nationale Mythen auch jeweils als positive Bezugspunkte. Einprägsamstes Beispiel ist hier zwei-fellos die im Pariser Mai ‘68 anzutreffenden Assoziationen mit den Barrikaden der Pariser Commune von 1871 bis hin zur Französischen Revolutionen,39 während in der Bundesrepublik die Rätekommunisten der frühen Weimarer Republik wichtige Anknüpfungspunkte für die Aktivisten boten. Auch Tom Hayden, einer der damals führenden Aktivisten des amerikanischen SDS, kam daher rückblickend zum Schluss: „Wir halten zwar die Neue Linke für eine universelle Vereinigung, aber ich glaube,

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1. EINORDNUNGEN UND BEGRIFFSBESTIMMUNGEN 25

dass jede nationale Bewegung sich auf der Grundlage ihrer spezifischen kulturellen Erfahrung entwickelt hat.“40

Was jedoch vor allem gegen die Charakterisierung von 1968 als die eine internatio-nale Bewegung spricht, ist das Fehlen einer grenzüberschreitenden organisatorischen Einheit der Gruppierungen. Weder existierte ein länderübergreifend anerkannter führender Verband oder eine Führungspersönlichkeit im globalen Kontext, noch wurden Aktionen miteinander abgestimmt. Zwar gab es einige wenige Veranstaltun-gen, bei denen sich Aktivisten vieler Länder versammelten, so beispielsweise der In-ternationale Vietnam-Kongress am 17./18. Februar 1968 in West-Berlin. Doch genau-so wie einzelne Erfahrungsübermittlungen durch Aufenthalte von Aktivisten in anderen Ländern – u.a. weilte eine Delegation des SDS im Mai 1968 in Paris – sind solche vernetzten Aktionen eben Ausnahmen gewesen. Der Mangel an organisatori-scher Vernetzung und strategischen Zielen wurde bei einer vom deutschen SDS und der

‚International Confederation for Disarmament and Peace‘ (ICDP) veranstalteten

Konferenz in Ljubljana im August 1968 besonders deutlich. Teilnehmer aus Frank-reich, den USA, der Bundesrepublik, Spanien, Finnland, Kanada und der Schweiz konnten sich auch nach intensiven Diskussionen nicht auf eine gemeinsame politi-sche Agenda verständigen.41 Auch das länderübergreifende Aufgreifen nationaler Themen beschränkte sich auf Sympathie- und Solidaritätserklärungen nach beson-ders dramatischen oder spektakulären Ereignissen wie beispielsweise nach dem At-tentat auf Rudi Dutschke.42

Und so war es vor allem das noch junge Medium Fernsehen, das den Eindruck einer Globalität der Proteste vermittelte: In bisher nicht gekannter Geschwindigkeit erreichten die Bilder der Aufständischen die Aktivisten anderer Länder, so dass letz-tere Themen aufgreifen, sich solidarisieren und als Teil einer internationalen Pro-testbewegung verstehen konnten. Erst die Medien verstärkten den Zeitgeist und die Gleichzeitigkeit der Ereignisse und ermöglichten so die Imagination der globalen Bewegung. 1968 schien das vom Medientheoretiker Marshall McLuhan prophezeite „globale Dorf“ Wirklichkeit geworden zu sein.43 Die Internationalität von ‘68 ist letztlich differenziert zu betrachten. 1968 war eben beides: global und lokal. Der Ansatz einer globalen oder lokalen Betrachtungsweise ist daher abhängig vom Un-tersuchungsgegenstand. Gerade theoriegeschichtliche und die Heterogenität der einzelnen Bewegungen berücksichtigende Darstellungen müssen ihren Fokus zu-nächst auf die nationalen Besonderheiten legen, da diese sonst hinter einem verall-gemeinernden globalen Zusammenhang zurücktreten und den Mythos 1968 mehr fördern denn dekonstruieren. Erst wenn diese Besonderheiten umfassend aufgear-beitet sind, kann ein globaler Vergleich neue Erkenntnisse über deren Stellenwert im internationalen Kontext der Chiffre ‘68 bringen44 – was freilich den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. 1968 wird hier deshalb als Konglomerat nationaler Bewe-gungen mit lokalen Spezifika und gemeinsamen Merkmalen, denn als globale Er-scheinung verstanden.

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Soziale Bewegung und 68er-Generation – kurze Kritik der vorherrschenden Deutungsmodelle

Eine in der Forschung weit verbreitete Interpretation besagt, dass 1968 Ausdruck einer sozialen Bewegung war. Unstrittig ist es zunächst, von ‘68 als Bewegung zu sprechen: Die Heterogenität der Akteure, das Fehlen einer verbindlichen Organisa-tion, die Protestdynamik gegen Bestehendes sowie die Existenzbindung an einzel-ne Themen – im Falle der 68er vor allem an die Notstandsgesetze – sprechen be-reits dafür. Der Begriff der „sozialen Bewegung“ ist jedoch noch weit enger gefasst. Obwohl konstatiert wird, dass geradezu eine „notorische Unschärfe des Gegen-standes soziale Bewegungen“ existiere,45 hat sich dennoch in Teilen der 68er-For-schung eine einigermaßen einheitliche Definition durchgesetzt. Demnach ist eine soziale Bewegung

„ein auf gewisse Dauer gestelltes und durch kollektive Identität abgestütztes Handlungs-system mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen, welche sozialen Wan-del mit Mitteln des Protests – notfalls bis hin zur Gewaltanwendung – herbeiführen, ver-hindern oder rückgängig machen wollen. Sozialer Wandel bedeutet in diesem Zusammenhang eine grundlegende Veränderung gesellschaftlicher Ordnung.“46

Sozialer Wandel fungiert hier als Schlüsselbegriff.Ferner wird bei sozialen Bewegungen eine eigene Agenda und Vision vorausge-

setzt, die das „Stadium der bloßen Negativkoalition“ überschreitet.47 Soziale Bewe-gungen können somit nicht überwiegend durch ihre Haltung gegen etwas existieren, da sonst die bewusste Gesellschaftsgestaltung fehlen würde. Doch abseits des utopi-schen Weltveränderungsanspruches der 68er-Bewegung ist die Existenz eines exakten positiven Programms als Ersatz für die bekämpften Streitgegenstände bei dieser zu verneinen. Die aktuelle Gesellschaftsform wurde abgelehnt und eine bessere gefor-dert, ohne dass ersichtlich wurde, wie diese aussehen sollte. Rudi Dutschke erwiderte im November 1967 auf die Frage, mit welchem politisch-gesellschaftlichem System er das bestehende ersetzen wolle:

„Ein Dutschke will keine Antwort geben. Das wäre genau die manipulative Antwort, die ich nicht zu geben bereit bin; denn was soll es bedeuten, als einzelner Antwort zu geben, wenn die gesamtgesellschaftliche Bewusstlosigkeit bestehen bleibt. Sie muss durchbro-chen werden.“48

Lediglich auf die in der Spontaneität der Menschen innewohnenden Kräfte wurde vage verwiesen. Demnach könne eine neue Gesellschaftsordnung nicht bereits vorge-geben sein, sondern „nur im praktischen Kampf, in der ständigen Vermittlung von Reflexion und Aktion, von Theorie und Praxis“ erarbeitet werden.49 Insofern war 1968 vor allem eine Anti-Bewegung: Sie war gegen Notstandsgesetze, den Springer-Verlag und den Vietnamkrieg, gegen Hierarchien und Bürokratie und schließlich auch gegen Imperialismus und Kapitalismus. Ironischerweise bezeichnet deshalb auch ausgerechnet Gilcher-Holtey die 68er-Bewegung als „negative Koalition von Kritikern der etablierten Ordnung“ – und widerspricht damit der gängigen Definiti-

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1. EINORDNUNGEN UND BEGRIFFSBESTIMMUNGEN 27

on einer sozialen Bewegung, deren Übernahme auf das Ereignis 1968 sie wie kaum jemand sonst vertritt.50

Auch die Betonung des Netzwerkcharakters der sozialen Bewegungen ist für die 68er-Bewegung teils kritisch zu sehen, wird doch die Spontaneität der Aktionen ver-deckt.51 Das Konstrukt der sozialen Bewegung erweckt zudem den Anschein einer weitestgehend homogen agierenden Gruppierung; divergierende Ansichten und ein-zelne Personen verschwinden dahinter. Doch vor allem ist es fraglich, ob es dem Kern der Aktivisten tatsächlich nur um die Herbeiführung „sozialen Wandel[s] mittels öf-fentlicher Proteste“ gegangen ist, wie Gilcher-Holtey meint.52 Revolutionäre Ansprü-che, das Ziel der radikalen Umwälzung des Bestehenden, lassen sich mit dem Konzept des sozialen Wandels nur schwer vereinbaren. Und so negieren deren Verfechter bei der 68er-Bewegung nicht nur die Möglichkeit der Gewaltanwendung, sondern auch den revolutionären Impetus. Demnach seien „revolutionär gesinnte Strömungen in sozialen Bewegungen [zwar] anzutreffen“, zugleich werde das Gesamtbild der Bewe-gungen aber durch „[m]oderate und reformorientierte Strömungen“ geprägt.53 Die Darstellung der 68er-Bewegung als rein moderate Reformkraft käme allerdings einer Banalisierung dieser gleich und hat zugespitzt „mehr mit einer Geschichtsschreibung von Siegern zu tun, als mit Wissenschaft.“54 Selbst Verfechter dieses Ansatzes müssen daher einwenden, dass er nur begrenzt anwendbar ist, da die „Ereignisse von 1968 […] eine aufs engste verzahnte Kette von Aktionen und Reaktionen [bilden], die […] nicht in ihrer Gesamtheit als soziale Bewegung angesprochen werden kann.“55 Er-kenntnisreich ist er für die Erklärung der Mobilisierungsdynamik und der Zusam-mensetzung des Protests. Auch bei der Darstellung einzelner Zielsetzungen, auf die der Rahmen des sozialen Wandels passt, ist er hilfreich – sofern derart keine Verabso-lutierung der Methodik betrieben wird. Schon bei der Zurechenbarkeit vermeintli-cher Folgen sozialer Bewegungen stellt sich jedoch wieder ein Problem, konkurrieren diese doch stets mit anderen Faktoren gesellschaftlichen Wandels wie strukturellen Entwicklungen in der Gesellschaft.

Der Ansatz der sozialen Bewegung ist für biographische wie ideengeschichtliche Ansätze daher nur bedingt geeignet. Auch beim konkurrierenden Generationenmo-dell treten die handelnden Akteure zu Gunsten einer angenommenen Gruppierung zurück. Beim Genera tionenmodell müssen zunächst zwei verschiedene Ansätze un-terschieden werden: erstens das Verständnis von 1968 als Ausdruck eines Generatio-nenkonflikts, sowie zweitens die Identifizierung einer sogenannten 68er-Generation. Der angenommene Generationenkonflikt basierte einerseits auf der Scheidelinie des Nationalsozialismus, welche die älteren Generationen von den nachgeborenen und deshalb von persönlicher Schuld unbelasteten jüngeren Generationen trennen wür-de, sowie auf dem kulturrevolutionären Aspekt mit der Herausbildung einer neuen Jugendkultur, welche sich in Musik, Mode und Aussehen stark von dem bisher Be-kannten unterschied.56 Auf den Generationenkonflikt soll hier nicht weiter einge-gangen werden, er wird bei den biographischen Darstellungen noch teils eine Rolle spielen.

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Auch der Begriff der 68er-Generation basiert auf der Annahme generationeller Unterschiede und Prägungen, um so die Zugehörigkeit zu 1968 definieren zu kön-nen. Bis heute gilt für die Generationenforschung Karl Mannheims Beitrag aus den 1920er Jahren als grundlegend. Mannheim unterscheidet dabei zwischen Generati-onslagerung, Generationszusammenhang und Generationseinheiten: Während Generationslagerung zunächst nur die für benachbarte Geburtsjahrgänge entste-hende ähnliche Lage „im historischen Strom gesellschaftlichen Geschehens“ meint, bestimmt der Generationszusammenhang jene verwandten Lagerungen im histo-risch-sozialen Raum, welche die Möglichkeit haben, „an denselben Ereignissen, Le-bensgehalten, usw. zu partizipieren und noch mehr, von derselben Art der Bewusst-seinsschichtung aus dies zu tun“, die also an der gleichen historisch-aktuellen Problematik orientiert sind. Die Generationseinheiten wiederum umfassen jene Gruppierung, die diese Problematik einheitlich verarbeiten und gemeinsam darauf reagieren. Dabei können sich durchaus „mehrere, polar sich bekämpfende Genera-tionseinheiten bilden“, die lediglich eine gemeinsame Grundstimmung eint.57 An der unreflektierten Übernahme von Mannheims Generationsmodell äußert sich innerhalb der Generationenforschung Kritik. Mannheims Generationenansatz muss vor dem Hintergrund der mittlerweile gewandelten Gegebenheiten der dama-ligen Zeit gesehen werden. Insbesondere seine Fixierung auf männliche Jugendge-nerationen, wonach die Jugendphase die einzige generationsprägende Zeit im Le-ben eines Menschen sei, gilt mittlerweile als obsolet und ist dem Eindruck der historischen bündischen Jugend geschuldet.58

Eine Modifizierung von Mannheims Modell ist das der politischen Generationen. Insbesondere die 68er werden oft als letzte oder gar einzige politische Generation der Bundesrepublik beschrieben.59 Geprägt wurde der Begriff von Helmut Fogt. Demnach sind unter politische Generationen „diejenigen Mitglieder einer Alters-gruppe oder Kohorte [zu fassen], die – mit bestimmten Schlüsselereignissen kon-frontiert – zu einer gleichgesinnten bewussten Auseinandersetzung mit den Leitide-en und Werten der politischen Ordnung gelangten, in der sie aufwuchsen“.60 Politische Generationen würden ferner einen Kanon an gleichen Einstellungen und Verhaltensdispositionen bilden, die für die gesamte weitere politische Grundhaltung der einzelnen Angehörigen prägend seien. Aktualisiert wurde dieser Ansatz vor al-lem von Ulrich Herbert, der unter politischen Generationen jene versteht, die ihr Auftreten mit „politischem Engagement und nachhaltiger Wirksamkeit verbanden“ und teils gar einen revolutionären Selbstauftrag verfolgten.61 Die 68er-Bewegung gilt in Teilen der Forschung hierfür als herausragendes Beispiel, da sie wie kaum eine andere generationelle Formierung an historischen Bezugsereignissen orientiert ge-wesen sei und sich selbst als politische Erneuerungskraft begriff, die bereit war not-falls auch unter der Zunahme von Gewalt die Zukunft nach den eigenen Prämissen zu gestalten.62

So treffend diese Zuschreibungen sind, bleibt auch das Diktum von der 68er Gene-ration problematisch und stößt bei der Analyse der Ereignisse an seine Grenzen. Be-

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reits die Unbestimmbarkeit des quantitativen Verhältnisses zwischen öffentlich auf-tretenden Aktivisten und schweigender Mehrheit ist ein Problem, welches auch nicht durch die Annahme von Generationseinheiten gelöst werden kann. Analog der The-orie der „Schweigespirale“ von Elisabeth Noelle-Neumann erfahren öffentlichkeits-wirksam handelnde Generationseinheiten zunehmende Aufmerksamkeit, während die „stillen“ Teile der gleichen Generationslagerung immer mehr zurückgedrängt und schließlich nicht mehr wahrgenommen werden. Die obsiegende Generationsein-heit kann nun die Deutungshoheit über die komplette Generation für sich beanspru-chen. Vor allem aber bleibt die Abgrenzung der einzelnen Altersgruppen vage und geschieht willkürlich.

Und so variieren die Eingrenzungen der Alterskohorten, aus denen sich die 68er Generation rekrutiert habe, teils erheblich: von der in der Forschung verbreitetsten Charakterisierung der Jahrgänge 1938 bis 1948 über die in den 40er Jahren Gebore-nen bis hin zu den Alterskohorten von 1945 bis 1954.63 Wo soll also exakt der Schnitt der Generationszugehörigkeit angesetzt werden? Zumal sich Generationen auch im-mer gegenseitig durchdringen:64 Die gleichen Alterskohorten, die unter dem Signum 68er-Generation zusammengefasst werden, firmieren auch als „vaterlose Generati-on“65 oder „Generation der Kriegskinder“.66 Nach sämtlichen Eingrenzungen dürfte man beispielsweise weder die Gründerin des „Aktionsrates zur Befreiung der Frau“ Helke Sander noch den ebenfalls 1937 geborenen Tilman Fichter zur 68er-Generati-on zählen, von Horst Mahler ganz zu schweigen; und nach den zahlreichen Grenzzie-hungen ab den 40er Jahren wäre auch Bernd Rabehl kein 68er. Entscheidend ist letzt-lich, ob man die Deklarierung eines Einzelnen als 68er auf Grund biologischer Kriterien, wie es in Ansätzen eher durch das Generationenmodell praktiziert wird, oder mittels ideologischer Attribute vornimmt – bzw. ob die Ereigniszugehörigkeit oder die Geburtsjahre konstitutiv sind.

Für die historische Aufarbeitung der Ereignisse noch problematischer ist es, wenn die 68er-Generation wie oft üblich nicht eine Erlebnis-, sondern eine Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft bezeichnet.67 Entscheidend ist demnach nicht, ob man beispielsweise am 2. Juni 1967 bei der Demonstration gegen den persischen Schah teilgenommen hat, sondern ob man sich rückblickend mit diesen Ereignissen identi-fiziert. Dies hat jedoch zur Folge, dass es sich bei den 68ern mittlerweile „um eine wundersame nachholende Vermehrung der Erzählgeneration“ gegenüber den wirkli-chen Aktivisten handelt, und die 68er-Generation mit zunehmender zeitlicher Dis-tanz eher wächst als schrumpft.68 Der Generationenbegriff wirkt so, je nach Bewer-tung der Ereignisse, als Fremd- und Selbstbezeichnung im Sinne von Abgrenzung bzw. Identitätsverortung.

Die eigentlichen Aktivisten und Ziele treten jedoch derart hinter die generationelle Vereinnahmung des Ereignisses zurück. Dennoch kann der Generationenansatz durchaus gewinnbringend für eine biographische wie ideengeschichtliche Arbeit über 1968 sein, beispielsweise wenn man die heterogenen Strömungen innerhalb der Bewegung als Ausdruck verschiedener Generationseinheiten auffasst und so von

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mehreren nebeneinander existierenden 68er-Generationen ausgeht.69 Diese durchaus auch nachträglich konstruierte Einheit kann sich dann auch in einer nationalrevolu-tionären Generationseinheit ausdrücken, ohne dass diese gleich stellvertretend für die gesamte Bewegung agiert haben muss. Erkenntnisse könnte der Generationenan-satz zudem in der Prägung der Akteure – sei es durch 1968 oder auch durch frühere und spätere Ereignisse – erbringen, vor allem bezüglich der Frage nach biographi-schen Konstanten und Brüchen und dem Festhalten an bestimmten Themen. Auch die These der „Ineinanderrückung der Generationen“, die eine Fixierung auf die Ge-schichte der Eltern meint, und die Transgenerationalität, welche vor allem unter dem Gesichtspunkt der Schuldübertragung zu betrachten ist, kann ein Ansatzpunkt für die Dominanz des Nationalsozialismus in der 68er-Bewegung wie auch für eventuel-le Konversionen sein.70

Verständnis des „68er“

Die Vielfalt der unter 1968 einzuordnenden Ereignisse wie auch die künstliche Ver-größerung der Zugehörigkeit durch den Topos der 68er-Generation machen es not-wendig zu bestimmen, wen man als 68er versteht. Für eine Darlegung der eigentli-chen Motive und Ideologien können dies weder die „Tangential-Achtundsechziger“ noch die sich retrospektiv zu 68ern stilisierenden Personen sein; diese wurden ledig-lich durch die Bewegung geprägt.71 Die Frage, wer zur Bewegung gehörte, beschäftigte schon den damaligen Kern der Aktivisten. Spöttisch unterschied man sich von den „Halb-Bewegten“ und „Anpolitisierten“.72 Durch den Bewegungscharakter kann man keinen eindeutig definierten Mitgliederstamm benennen. Und so variieren auch die Schätzungen über die Zahl der Beteiligten erheblich: Oskar Negt spricht von hun-derttausenden teilnehmenden Studenten und Jugendlichen, Gerd Koenen schätzt das Kernpotential auf maximal 20.000 Aktive und Heinz Bude und Wolfgang Kraushaar grenzen das Volumen bereits bei 10.000 mobilisierbaren Teilnehmern ein.73

Auch wenn Umfragen aus dem Juni/Juli 1968 ergeben, dass ca. die Hälfte der knapp 300.000 Studenten an einer politischen Demonstration teilgenommen haben, so sagt dies weder etwas über die politische Richtung dieser Demonstrationen aus, noch etwas über die regelmäßige Teilnahme an Aktionen der 68er-Bewegung oder über die Bereitschaft, für diese eigene Ziele zurückzustellen.74 Sowohl die Aussagen damaliger Wortführer als auch die Zahlenordnungen der Demonstrationen wider-sprechen einer solch hohen Aktivistenzahl. Rudi Dutschke sprach von „fünfzehn bis zwanzig Menschen“ in Westberlin, die „ihre gesamte Zeit und Tätigkeit“ der Bewe-gung widmeten, weiteren „150 bis 200 Aktive[n]“ aus dem Umfeld des SDS und insgesamt „vier- bis fünftausend wirklich engagierte[n] Menschen, […] die teilneh-men an den Aktionen und bereit sind, dafür auch Konsequenzen zu ziehen.“75 Groß-demonstrationen wie jene nach dem Internationalen Vietnamkongress wiesen bis zu 12.000 Teilnehmern auf; wohlgemerkt in diesem Fall mit den teilnehmenden inter-