Marcel Berni Außer Gefecht · 2020. 8. 28. · Tonkin Cochin-China Annam CHINA BURMA SÜDVIETNAM...

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Leben, Leiden und Sterben »kommunistischer« Gefangener in Vietnams amerikanischem Krieg Marcel Berni Außer Gefecht

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  • Leben, Leiden und Sterben »kommunistischer« Gefangener in

    Vietnams amerikanischem Krieg

    Marcel Berni

    Außer Gefecht

    http://www.hamburger-edition.de

  • 150km0Ho-Chi-Minh-Pfad

    N g h e A n

    To n k i n

    C o c h i n -C h i n a

    A n n a m

    C H I N A

    B U R M A

    S Ü D V I E T N A M

    N O R D V I E T N A M

    K A M B O D S C H A

    L A O S

    T H A I L A N D( S i a m )

    H a i n a n

    Mekong

    Roter Fluss

    Sông Hông

    Mek

    ong

    Saigon

    Phnom Penh

    Bangkok

    Hanoi

    Vientiane

    Tonlé Sap

    Golf von Tonkin

    G o l f v o nT h a i l a n d

    S ü d -c h i n e s i s c h e s

    M e e r

    S ü d c h i n e s i s c h e sM e e r

    Mekong-DeltaPhu Quoc

    Con Son

    17. Breitengrad(Demarkationslinie)

    Thai Nguyen

    Ha Tinh

    Vinh

    Dong Hoi

    Tam Ky

    Quang Ngai

    Dak To

    Tuy Hoa

    Nha TrangCam Ranh

    Dalat

    Kratie

    SnuolLac Ninh

    Can ThoRach Gia

    My Tho

    Phan ThietHoa Da

    Phan Rang

    Bien HoaTay Ninh

    Chau Doc

    Ha Tien

    Kontum

    Pleiku

    Ban Me Thuot

    Sam Nuea

    Bun Tai

    LuangPrabang

    Dien Bien Phu

    Haiphong

    Vung Tau

    Bac Lieu

    Ca Mau

    Sihanoukville

    Battambang

    Siem Reap

    HueQuang TriKhe Sanh

    Udon Thani(Udorn)

    Nakhon Ratchasima(Korat)

    Savannakhet

    Paksé

    Da Nang

    Qui Nhon

    Lai Chau

    Hong Gai

    Ninh Binh

    Lao CaiCao Bang

    Nam Dinh

    Sa Pa

    Lang Son

    Yen Bai

    Nanning

    Longzhou

    Thuan Nghiep

    HauDuon

    IV. CTZ

    III. CTZ

    II. CTZ

    I. CTZ

    N

    S

  • Marcel Berni

    Außer GefechtLeben, Leiden und Sterben

    »kommunistischer« Gefangener inVietnams amerikanischem Krieg

    Hamburger Edition

  • Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbHVerlag des Hamburger Instituts für SozialforschungMittelweg 3620148 Hamburgwww.hamburger-edition.de

    © der E-Book-Ausgabe 2020 by Hamburger EditionISBN 978-3-86854-986-7E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde

    © der deutschen Ausgabe 2020 by Hamburger EditionISBN 978-3-86854-348-3

    Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras unter Verwendung eines Fotosaus den National Archives at College Park: »Gefangene während einerVerschiebung zum Sammelpunkt, 1965«Karten: Peter Palm, Berlin

  • »Sollte ein amerikanischer Soldat so niederträchtig und infam sein,einen [Gefangenen] zu verletzen […], so fordere ich euch ernsthaftauf, ihn zu einer so schweren und exemplarischen Bestrafung zubringen, wie es die Schwere dieses Verbrechens erfordert […]. Denndurch ein solches Verhalten bringen [die Soldaten] Schande, Entwür-digung und Ruin über sich und ihr Land.«

    George Washington an die Northern Expeditionary Force, 1775(zit. n. Nowlan, The American Presidents, S. 43)

    »Sie [die GIs] hatten kein Ziel oder genauer: es gab keine Sache,für die sie kämpften. […] Sie wussten nicht die Namen der meistenDörfer. Sie wussten nicht, welche Dörfer ›kritisch‹ waren. Sie wusstennichts von der Strategie. Sie wussten nichts von den Grundregelnder Kriegführung, von den Geboten von Fairness und Anstand. Wennsie Gefangene machten, was selten geschah, so wussten sie nicht,welche Fragen sie ihnen zu stellen hatten und ob sie einen Ver-dächtigen freilassen oder prügeln sollten. […] Sie wussten nicht zuunterscheiden zwischen gut und böse.«

    Tim O’Brien, 1978(Die Verfolgung, S. 284)

  • Inhalt

    Einleitung 9

    Fokus, Fragestellungen und Aufbau 20Quellendiskussion und Forschungsstand 25Akteure, Begriffe und Zahlen 40

    Hehre Versprechen –»Kommunistische« Gefangene im Zivil-, Kriegs- und Militärrecht 54

    Kriegsrechtliche Grundsätze 56Feldhandbücher 77Direktiven 89Verordnungen 100Broschüren 103»Kommunistische« Gefangene im südvietnamesischen Zivilrecht 106Juristischer Anspruch versus militärische Wirklichkeiten 112

    (Keine) Gefangene(n) machen –Der Umgang mit »kommunistischen« Gefangenen im Feld 125

    Die Rolle des Offizierskorps 129»Body Count« 140Keine Gnade 149Rache 159Willkürliche Gefangennahmen 163

    »Flexible Auffassung der Gesetze« –Folter, Misshandlungen und Morde 176

    Folter 178Misshandlungen 195Sexuelle Gewalt 207Gefangenenmorde 216Verbrechen der ARVN und der südvietnamesischen Polizei 228Phoenix, CIA und SOG 240

  • Leben hinter Stacheldraht –Lager, Verhörzentren und Gefängnisse 255

    Kriegsgefangenenlager 263Verhörzentren 276Nationalgefängnisse 284Provinz- und Distriktgefängnisse 295Kritik des IKRK 303

    Ein offenes Geheimnis –Verbrechen an »kommunistischen« Gefangenenin amerikanischen Medien 311

    »Jetzt ist dir nicht mehr zum Lachen« (1965–1967) 315Im Tigerkäfig (1968–1970) 322»Hölle auf Erden« (1970–1973) 329

    Verdrängte Taten –Immunität für Täter und fehlende Konsequenzen 336

    Institutionelle Blockaden 340Ermittlungsverfahren und Tatbestände 348Urteile und Reaktionen 353

    Conclusio 361

    Epilog 375

    Dank 385

    Anhang 388

    Abkürzungen 388Aufstellung militärrechtlich relevanter Leitfäden 391Quellen- und Literaturverzeichnis 395

    Ungedruckte Quellen 395Periodika 398Literatur 399Internet 422Filme 424Abbildungsrechte 425Register 429

    Zum Autor 443

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    Einleitung

    »Der Soldat, ob Freund oder Feind, ist für den Schutz der Schwachenund Unbewaffneten verantwortlich. Das ist die Essenz und der Grundseines Seins. Wenn er dieses heilige Vermächtnis verletzt, entweihter nicht nur sein gesamtes Selbstverständnis, sondern bedroht auchdas Fundament der internationalen Gesellschaft.«

    Douglas MacArthur, 19461

    »In keinem der beiden jüngsten Kriege, in denen sich die VereinigtenStaaten befanden, weder im Zweiten Weltkrieg noch in Korea,stellte die Behandlung von Gefangenen ein so ernsthaftes Problemdar wie in Vietnam.«

    Neil Sheehan, 19652

    Eigentlich hätte es eine ruhige Patrouille im Hinterland der südvietna-mesischen Provinz Long An werden sollen. Als die Männer des Zugesvon First Lieutenant James B. Duffy in der Abenddämmerung des4. September 1969 das Dorf Phouc Tan Hung 70 Kilometer südwest-lich von Saigon erreichten, war die Wahrscheinlichkeit, auf den Viet-cong zu treffen, ausgesprochen gering. Nur ein Prozent der zwei Mil-lionen Bodenoperationen der amerikanischen Truppen hatten in denbeiden letzten Jahren zu Kontakten mit dem Gegner geführt.3 Doch

    1 MacArthur, Reminiscences, S. 295. Alle Zitate wurden – sofern nicht andersvermerkt – vom Autor ins Deutsche übertragen.

    2 Sheehan, Vietnam: The Unofficial Brutality, in: The New York Times, 30. 09.1965, S. 4.

    3 Greiner, Krieg ohne Fronten, S. 187. Greiner gibt auf S. 460, als Ort des imFolgenden zu beschreibenden Vorfalls die Ortschaft Binh Phuoc in der Pro-vinz Phuoc Long an und datiert ihn auf den 7. September 1969. Den Aktender Vietnam War Crimes Working Group und diversen Artikeln zufolgefand das Verbrechen jedoch am 4. und 5. September 1969 statt und ereignetesich im Ort Phuoc Tan Hung, Binh Phuoc Distrikt, Long An Provinz. SieheNA, RG 319, Records of the Army Staff, Office of the Deputy Chief of Stafffor Personnel (ODCSPER), Records of the Vietnam War Crimes WorkingGroup, War Crimes Allegations Case Files, Box 3 War Crimes Allegations

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    auch in einer Periode mit niedriger Kampfintensität war die Ge-fahr für die Soldaten der C Company, 2nd Battalion (mechanized),47th Infantry Regiment, 3rd Brigade, 9th Infantry Division, omniprä-sent. Es waren weniger Kämpfe, Scharmützel oder Feuerwechsel mitdirekter Feindeinwirkung, die den GIs auf ihren Patrouillen zusetzten,als vielmehr die Anschläge und Fallen des Gegners. Zwischen Januar1967 und September 1968 war in der »Republik Vietnam«, besser be-kannt als Südvietnam, fast ein Fünftel aller amerikanischen Verlusteauf das Konto von Minen und Sprengfallen gegangen. Im Juli 1969 wa-ren 41 Prozent aller getöteten Marines Opfer von improvisierten Ex-plosionsladungen geworden.4 Was Amerikas Marineinfanteristen imNorden Südvietnams Probleme bereitete, war auch für Duffys Män-ner im südlichsten Teil der III. Corps Tactical Zone (CTZ) zur Haupt-gefahr avanciert. Bis zum Kriegsende sollte die 9th Infantry Divisionin der Provinz Long An 755 Tote zu beklagen haben.5

    Am gefährlichsten war das Durchkämmen von Dörfern und Wei-lern. Aus diesem Grund begegneten viele US-Infanteristen schon baldallen südvietnamesischen Zivilisten mit Misstrauen und Geringschät-zung. Unberechenbare Nadelstichoperationen und die ständige Angstvor Minen und Hinterhalten schürten Hass und Rachegelüste undführten zu Frustration. Da der Gegner offene Feldschlachten vermied,ließ sich das Schlachtfeld in Südvietnam nicht begrenzen – weder ter-ritorial noch sozial. Die daraus resultierende Hilflosigkeit prägte diemilitärische Operationsplanung der einzigen Heeresdivision, die inden USA mobilisiert wurde, und mit der Zeit die gesamte amerikani-sche Wahrnehmung des Vietnamkrieges.

    In Fort Riley (Kansas) ausgebildet, hatten die Soldaten der 9th In-fantry Division den Auftrag, für Sicherheit in den umliegenden Dör-fern zu sorgen und die Insurgenten des Vietcong zurückzudrängen. In

    Case File thru Brown Allegation, Folder: Duffy-Lanasa Incident, o. A., Sum-mary of Key Developments During Duffy Case, o. D., S. 1; ebd., Departmentof the Army, Staff Communications Division, Telefax von Frank T. Mildren,18. 12. 1969, S. 1; Shabecoff, 6-Month Term Set in Vietnam Death, in: The NewYork Times, 01. 04.1970, S. 1; Falk/Kolko/Lifton, Crimes of War, S. 239, 244.

    4 Lewy, America in Vietnam, S. 309; Greiner, Krieg ohne Fronten, S. 186;Spector, After Tet, S. 54; Clodfelter, Vietnam in Military Statistics, S. 237.

    5 Siehe Falk/Kolko/Lifton, Crimes of War, S. 248; o. A., Tan Am Base, Vietnam,Feb 12, 1000 Hrs, in: Scanlan’s Monthly, April 1970, S. 7.

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    den Mangrovenwäldern und auf den von Wasserwegen und Kanälendurchzogenen Reisfeldern war dies für Duffys Männer keine einfacheAufgabe. Außerdem gab es einen gewissen Erfolgsdruck, hatte dochdie Operation »Speedy Express« in der angrenzenden Provinz DinhTuong vier Monate zuvor mit einer »Killed-in-Action«-Relation von1 :37 alle Rekorde der amerikanischen Tötungsquoten gebrochen – aufeinen getöteten Amerikaner kamen 37 Gegner.6 Gefangene wurdenbei solchen Operation nur selten gemacht; die Devise von Duffys Vor-gesetztem lautete: »Je mehr du tötest, desto effizienter bist du.«7 ImSeptember 1969 war die Operation »Speedy Express« jedoch abge-schlossen und die anbrechende Regenzeit hatte die Stimmung derTruppe getrübt. Trotzdem konnte die 3rd Brigade der 9th Infantry Di-vision für die beiden vorangegangenen Monate einen »Body Count«von 842 vorweisen, 199 Zivilgefangene sowie 40 Kriegsgefangene wur-den festgenommen, und die Soldaten hatten 18 Waffen konfisziert.8

    Die Operation »Complete Victory (Toan Thang III)« war in vollemGange, und die Männer waren motiviert, »den Feind mit aggressiven[…] Operationen aufzuspüren und ihn am Einsatz von Mann undMittel zu hindern«.9 So stellte sich die allgemeine Lage dar, als DuffysZug an jenem Septemberabend 1969 das Dorf Phouc Tan Hung er-reichte.

    Dort angekommen, griffen Duffys Männer einen im Bunker sei-ner Hütte versteckten Bauern auf, den 22-jährigen Do Van Man, der

    6 Greiner, Krieg ohne Fronten, S. 396, 407–409. Nick Turse spricht für denApril 1969 von einer Tötungsquote von 134 :1 zugunsten der 9th Infantry Di-vision. Siehe Turse, Kill Anything That Moves, S. 209; Fitzgerald, Learning toForget, S. 27–30.

    7 Howard D. Turner, zit. n. o. A., Tan Am Base, Vietnam, Feb 12, 1000 Hrs, in:Scanlan’s Monthly, April 1970, S. 6. Zum Druck, in Duffys Einheit einen ho-hen »Body Count« zu erzielen, siehe auch Falk, o. T., S. 44–45; Allison, Mili-tary Justice in Vietnam, S. 111; King, The Death of the Army, S. 106.

    8 NA, RG 472, U.S. Forces in Southeast Asia, USARV, 9th Infantry Div./3rd Bri-gade, Asst. Chief of Staff S-3, Entry # P 859: Operational Reports, LessonsLearned (ORLL); 05/1967–08/1970, May 1967 thru October 1968, Box 7, Fol-der: 9th Inf Div, 3d Bde, S-3, ORLL Cmd Rpts, 1 July 69–31 Oct 69; 3D BrigadeORLL, 1 July 1969–31 October 1969, 9th Infantry Division, o. D., S. 9. Sieheauch ebd., Combat Statistics, [Anhang], o. D., S. 1.

    9 Ebd., Combat Statistics, [Anhang], S. 1.

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    dort mit seiner Frau, den vier gemeinsamen Kindern und seinemSchwiegervater lebte. Duffy, ein schlanker, 23 Jahre alter Infanterieof-fizier und begnadeter Baseballspieler aus dem kalifornischen Clare-mont, bezichtigte den Mann, ein untergetauchter Kämpfer des Viet-cong zu sein. Nachdem er die Identitätskarte des Mannes vor dessenAugen zerrissen hatte, fragte er seine Männer, wie der »kommunisti-sche Gefangene« am besten zu verhören und eliminieren sei.10 DerKompaniekommandeur, Captain Howard D. Turner, habe ihn an-gewiesen, keine Gefangenen zu machen – ein Vorgehen, das gemäßden Aussagen Duffys und seiner Kameraden »gang und gäbe« war.11

    Schließlich wies er seine Männer an, den Vietnamesen im Beisein sei-ner Familie bis auf die Unterhose zu entkleiden und an einen Pfahl zufesseln. Dort wurde der Gefangene verhört, ohnmächtig geschlagen,mit Dreck beschmiert und die Nacht über hängen gelassen. »Wir woll-ten einfach ein bisschen Spaß haben« – so die Begründung für dieMisshandlung von einem der Männer.12 Am nächsten Tag sollte der

    10 NA, RG 319, Records of the Army Staff, Office of the Deputy Chief of Stafffor Personnel (ODCSPER), Records of the Vietnam War Crimes WorkingGroup, War Crimes Allegations Case Files, Box 3 War Crimes AllegationsCase File thru Brown Allegation, Folder: Duffy-Lanasa Incident – Corres-pondence – Udall (Chunko Letter), Brief von George D. Chunko an unbe-kannt, o. D. [September 1969], S. 2; Falk/Kolko/Lifton, Crimes of War, S. 241,245; o. A., Tan Am Base, Vietnam, Feb 12, 1000 Hrs, in: Scanlan’s Monthly,April 1970, S. 1, 3, 5.

    11 O. A., Life Sentence Surprises Army Jury: Officer’s Guilt Reconsidered, in:The Washington Post, zit. n. NA, RG 319, Records of the Army Staff, Office ofthe Deputy Chief of Staff for Personnel (ODCSPER), Records of the Viet-nam War Crimes Working Group, War Crimes Allegations Case Files, Box 3War Crimes Allegations Case File thru Brown Allegation, Folder: Duffy-La-nasa Incident – Press, S. A7. Siehe auch Shabecoff, 4 Officers Testify Policy inVietnam Is »No Prisoners«, in: The New York Times, 28. 03. 1970, S. 1, 13;Falk/Kolko/Lifton, Crimes of War, S. 247, 254; King, The Death of the Army,S. 106.

    12 NA, RG 319, Records of the Army Staff, Office of the Deputy Chief of Stafffor Personnel (ODCSPER), Records of the Vietnam War Crimes WorkingGroup, War Crimes Allegations Case Files, Box 3 War Crimes AllegationsCase File thru Brown Allegation, Folder: Duffy-Lanasa Incident – Corres-pondence – Udall (Chunko Letter), Brief von George D. Chunko an unbe-kannt, o. D. [September 1969], S. 2–4 (Zitat S. 4); Falk/Kolko/Lifton, Crimesof War, S. 242; Turse, »Kill Anything That Moves«, S. 807–808.

  • 13

    Gefangene erschossen werden. Einem GI des Zuges gingen jedochDuffys Befehle derart geben den Strich, dass er sich aus Protest davon-machte: Specialist 4 George D. Chunko wollte mit dem sich abzeich-nenden Mordgeschehen offenkundig nichts zu tun haben.13

    Am nächsten Morgen band Specialist 4 John R. Lanasa den Ge-peinigten los und eskortierte ihn zu einem nahe gelegenen Waldab-schnitt. Zuvor war er von Duffy angewiesen worden, mit dem Planfortzufahren und den Gefangenen zu erschießen.

    Beim Wald angekommen, zog Lanasa sein M-16-Sturmgewehr,zielte auf den Kopf von Do Van Man und drückte aus nächster Näheab. Das Gewehr klickte, versagte aber seinen Dienst. Das Opfer sankzu Boden und bangte um sein Leben. Der Sergeant repetierte; diesesMal funktioniert seine Waffe, und die Kugel schlug zwischen den Au-gen des Opfers ein. Lanasa, der wegen seiner Vergangenheit als Rodeo-Reiter in Louisiana von seinen Kameraden nur »Cowboy« genanntwurde, meinte nach seiner Tat: »Ich wollte schon immer einem Gook

    13 NA, RG 319, Records of the Army Staff, Office of the Deputy Chief of Stafffor Personnel (ODCSPER), Records of the Vietnam War Crimes WorkingGroup, War Crimes Allegations Case Files, Box 3 War Crimes AllegationsCase File thru Brown Allegation, Folder: Duffy-Lanasa Incident – Corres-pondence – Udall (Chunko Letter), Brief von George D. Chunko an unbe-kannt, o. D. [September 1969], S. 3, 5.

    Abb. 1 John R. Lanasa (links) mit RechtsberaterJohn Calvino und Psychiater Dr. Stanley Portnow

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    [Schlitzauge, MB] zwischen die Augen schießen.«14 Danach feuerteder ebenfalls anwesende Funker David G. Walstadt noch 14 Mal aufden leblosen Körper, ein weiterer GI schoss drei Mal auf die Leiche.Unmittelbar nach der Tat berichteten Duffys Männer dem Brigade-hauptquartier, dass ein flüchtender Gefangener erschossen worden seiund sie einen »Body Count« zu melden hätten.15

    Specialist 4 George D. Chunko sollte später schreiben, dass DuffysEntscheidung, den Vietnamesen als feindlichen Gefangenen zu be-handeln, vorsätzlich gefallen war. Er selbst sei von der Tat »absolut an-gewidert« gewesen. Duffy habe ein »böswilliges Vergnügen« an denMisshandlungen und dem anschließenden Mord gezeigt.16

    Zur Anklage im »Duffy-Lanasa-Vorfall«, wie der Gefangenen-mord von der US Army beschönigend genannt wurde, kam es auszwei Gründen: erstens, weil die Ehefrau von Do Von Man die Leicheihres Mannes entdeckt hatte, und zweitens, weil Chunko die Gescheh-nisse in einem Brief festhielt, der den Weg zu dem Abgeordneten Mor-ris K. Udall fand. Udall, Demokrat und Veteran des Zweiten Welt-kriegs, hatte bereits zuvor für eine Aufarbeitung amerikanischer

    14 John R. Lanasa, zit. n. Falk/Kolko/Lifton, Crimes of War, S. 241. Siehe auch,o. A., Tan Am Base, Vietnam, Feb 12, 1000 Hrs, in: Scanlan’s Monthly, April1970, S. 2.

    15 NA, RG 319, Records of the Army Staff, Office of the Deputy Chief of Stafffor Personnel (ODCSPER), Records of the Vietnam War Crimes WorkingGroup, War Crimes Allegations Case Files, Box 3 War Crimes AllegationsCase File thru Brown Allegation, Folder: Duffy-Lanasa Incident, o. A., Sum-mary of Key Developments During Duffy Case, o. D., S. 1–4; ebd., Depart-ment of the Army, Staff Communications Division, Telefax von Frank T. Mil-dren, 18. 12. 1969, S. 1–2; Shabecoff, 6-Month Term Set in Vietnam Death, in:The New York Times, 01. 04. 1970, S. 1; ders., 4 Officers Testify Policy in Viet-nam Is »No Prisoners«, in: The New York Times, 28. 03. 1970, S. 1, 13; o. A.,2 GIs Tell Court-Martial They Shot Viet Prisoner, in: The Washington Post,25. 03. 1970, S. A9; Falk/Kolko/Lifton, Crimes of War, S. 244; Turse, »Kill Any-thing That Moves«, S. 336, 803.

    16 NA, RG 319, Records of the Army Staff, Office of the Deputy Chief of Stafffor Personnel (ODCSPER), Records of the Vietnam War Crimes WorkingGroup, War Crimes Allegations Case Files, Box 3 War Crimes AllegationsCase File thru Brown Allegation, Folder: Duffy-Lanasa Incident – Corres-pondence – Udall (Chunko Letter), Brief von George D. Chunko an unbe-kannt, o. D. [September 1969], S. 3, 4; Turse, »Kill Anything That Moves«,S. 804–806.

  • 15

    Kriegsverbrechen plädiert. Nun verlangte er vom Heeresminister eineunverzügliche Aufklärung. Die Vorwürfe in Chunkos Brief warennämlich »so konkret«, dass sie eine »prompte und sorgfältige Unter-suchung« verlangten, nicht zuletzt, weil die Vorwürfe von einem totenGI stammten.17

    Der Sanitätssoldat George D. Chunko war nämlich 48 Stundennach dem Verfassen seines Briefes durch Splitter tödlich verwundetworden. Seine Eltern vermuteten einen Mord, weshalb sie den Brief anUdall weiterleiteten.18 Ab diesem Zeitpunkt konnte ein Verfahren voreinem Militärgericht nicht mehr verhindert werden. Die Army fürch-tete sich vor »großem Interesse«, und der zuständige Lieutenant Ge-neral Frank T. Mildren warnte vor Prozessbeginn, dass dieser Fall dasPotenzial habe, nicht nur das Heer, sondern das gesamte Verteidi-gungsdepartement in ein schlechtes Licht zu rücken.19 Seine Warnung

    17 NA, RG 319, Records of the Army Staff, Office of the Deputy Chief of Stafffor Personnel (ODCSPER), Records of the Vietnam War Crimes WorkingGroup, War Crimes Allegations Case Files, Box 3 War Crimes AllegationsCase File thru Brown Allegation, Folder: Duffy-Lanasa Incident – Corres-pondence – Udall (Chunko Letter), Brief von Morris K. Udall an Stanley R.Resor, 30. 09. 1969, S. 1.

    18 Ebd.; Greiner, Krieg ohne Fronten, S. 460; Turse, Kill Anything That Moves,S. 226; ders., »Kill Anything That Moves«, S. 806; Falk/Kolko/Lifton, Crimesof War, S. 245; o. A., Tan Am Base, Vietnam, Feb 12, 1000 Hrs, in: Scanlan’sMonthly, April 1970, S. 4.

    19 NA, RG 319, Records of the Army Staff, Office of the Deputy Chief of Stafffor Personnel (ODCSPER), Records of the Vietnam War Crimes Working

    Abb. 2 Die Ehefrau und ein Kind von Do Van Man

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    sollte sich bewahrheiten: Insbesondere die Printmedien interessiertensich brennend für den Prozess. Außerdem waren gegen Ende 1969 di-verse Berichte des Journalisten Seymour M. Hersh zum Massaker vonMy Lai (4)20 in amerikanischen Zeitungen erschienen und hatten dieÖffentlichkeit aufgerüttelt.

    Weil es sich bei dem Opfer Do Van Man um einen Zivilisten han-delte, wurde beschlossen, den Fall nicht als Kriegsverbrechen, sondernunter dem Tatbestand des Mordes zur Anklage zu bringen. Nach denZeugenaussagen beriet das achtköpfige Militärgericht knapp zweiStunden, ehe es James B. Duffy des vorsätzlichen Mordes, der Ver-schwörung zum Mord und des ungebührenden Verhaltens für schul-dig sprach. Ein solcher Schuldspruch zog gemäß Militärrecht eine le-benslange Freiheitsstrafe nach sich. Die Geschworenen verlangtendaraufhin eine Anpassung ihres Urteils. Einen Tag später modifizier-ten die Richter die Strafe und verurteilten Duffy wegen fahrlässigerTötung zu sechs Monaten harter Arbeit in Haft und einer Buße von1500 Dollar.21 John R. Lanasa und die restlichen Platoon-Mitgliederwurden entweder gar nicht angeklagt oder aber freigesprochen. ImVerlauf des Prozesses hatte sich zudem herausgestellt, dass der Ermor-

    Group, War Crimes Allegations Case Files, Box 3 War Crimes AllegationsCase File thru Brown Allegation, Folder: Duffy-Lanasa Incident, Departmentof the Army, Staff Communications Division, Telefax Frank T. Mildren,18. 12. 1969, S. 3.

    20 Beim Massaker von My Lai (4) hatten Soldaten der Americal Division am16. März 1968 etwa 500 unschuldige vietnamesische Zivilisten massakriert.Mit »My Lai« bezeichneten die Amerikaner eine Verwaltungseinheit in SonMy und unterschieden die dortigen Weiler mit Ziffern. Im Falle von »My Lai(4)« handelte es sich um die Siedlungen in Xom Lang und Binh Tay. Da aufamerikanischen Militärkarten mit dieser Begrifflichkeit operiert wurde, wirdder Einfachheit halber im Folgenden jeweils der amerikanischen Diktion ge-folgt. Siehe hierzu Greiner, Krieg ohne Fronten, S. 287–288.

    21 NA, RG 319, Records of the Army Staff, Office of the Deputy Chief of Stafffor Personnel (ODCSPER), Records of the Vietnam War Crimes WorkingGroup, War Crimes Allegations Case Files, Box 3 War Crimes AllegationsCase File thru Brown Allegation, Folder: Duffy-Lanasa Incident, Press Relea-ses, Special Wire Service News, Court-Martial, 14. 07. 1970, S. 1–2; Shabecoff,6-Month Term Set in Vietnam Death, in: The New York Times, 01. 04. 1970,S. 1, 6; Turse, »Kill Anything That Moves«, S. 809–810; Allison, Military Jus-tice in Vietnam, S. 112; King, The Death of the Army, S. 106.

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    dete kein Soldat des Vietcong war, sondern ein Fahnenflüchtiger derverbündeten südvietnamesischen Truppen.

    Im Zuge der Verhandlungen bekamen die Prozessbeobachter fer-ner einiges über den Umgang mit Gefangenen mit. So äußerte sichDuffys Vorgesetzter wie folgt: »Es wurde fast zur Regel, keine Gefan-genen zu nehmen […]. Damit meinen wir, den Kerl zu erschießen –gib ihm keine Chance. Töte ihn, bevor er sich ergeben kann.«22 DerAngeklagte pflichtete der Argumentation seines Captains bei:

    »Es gab nur eine Sache, die mich verärgert hat (und ebenso vieleandere Mitglieder des Zuges). Das war die Gefangennahme vonPersonen, von denen wir wussten, dass sie VC [Vietcong] waren,die dann später von der Brigade als unschuldige Zivilisten wiederfreigelassen werden mussten. […] Ich beschloss, keine weiterenGefangenen mehr zu machen. Wenn möglich, würde ich keine Si-tuationen mehr zulassen, in denen wir Gefangene machen muss-ten. Das sagte ich allen meinen Truppenführern und meinenKompanieführern. Meinen Männern sagte ich, dass sie, wenn siejemanden angreifen wollten, nicht aufhören sollten zu schießen,bis alle tot waren. Wenn sie auf jemanden schießen wollten, solltensie ihn besser töten. Niemand hat jemals etwas gegen diese Vorge-hensweise gesagt, und ich denke, die meisten Männer waren damiteinverstanden. Mein Kompanieführer dachte genauso wie ich.«23

    Duffys Anwalt versuchte dessen Tat mit dem armeeinternen Druck zuentschuldigen und erhoffte sich zudem mit dem Argument der Be-fehlsbefolgung eine Strafmilderung. Duffy habe nach Treu und Glau-ben und in Übereinstimmung mit der Forderung nach einem hohen»Body Count« gehandelt, als er die Exekution befahl. Diese Verteidi-gungsstrategie, die Entgleisungen von Duffy und seinen Männern mitBefehlen von oben zu erklären, scheiterte aber vor dem Militärgericht.Es wies darauf hin, dass es ein gültiges Kriegs- und Militärrecht gebeund ein Einsatz in Südvietnam in keinem rechtsfreien Raum statt-

    22 Howard D. Turner, zit. n. Falk/Kolko/Lifton, Crimes of War, S. 247. Sieheauch o. A., Tan Am Base, Vietnam, Feb 12, 1000 Hrs, in: Scanlan’s Monthly,April 1970, S. 6.

    23 James B. Duffy, zit. n. Falk/Kolko/Lifton, Crimes of War, S. 250–251. Sieheauch o. A., Tan Am Base, Vietnam, Feb 12, 1000 Hrs, in: Scanlan’s Monthly,April 1970, S. 8.

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    finde.24 Einer der Militärrichter erteilte allen Anträgen auf Strafmilde-rung aufgrund illegaler Befehle oder asymmetrischer Kriegskonstella-tion eine deutliche Absage.25

    Duffys Anwalt sprach nach der Anpassung des Schuldspruches voneinem Präzedenzfall für die anstehenden Verfahren um das Massakervon My Lai (4). Andere Prozessbeobachter sahen sich in ihren Vermu-tungen bestätigt, dass Rassismus gegenüber Vietnamesen weitverbreitetwar und dass insbesondere amerikanische Infanteristen ungenügendmit dem Kriegsrecht vertraut waren. Duffy selbst meinte hierzu: »Ichweiß für meinen Fall, dass die Zugführer nie eine Anleitung zur Be-handlung von Gefangenen erhielten. […] Es gab nie eine Aufforderung,Gefangene zu machen. Das Einzige, was wir ständig gehört haben, war,einen höheren Body Count zu erreichen, mehr VC zu töten!«26

    Dass Medien wie die New York Times27 und die Washington Post28

    wiederholt über die neuesten Wendungen im Duffy-Prozess berichte-ten, betrachteten einige als Hexenjagd. So etwa der pensionierte Bri-gadier General Samuel Lyman Atwood (»S.L.A.«) Marshall. Er sprach

    24 Shabecoff, Nature of Vietnam War Held No Murder Defense, in: The NewYork Times, 29. 03. 1970, S. 16; ders., Murder Verdict Eased in Vietnam, in:The New York Times, 31. 03. 1970, S. 1, 4. Shabecoff verwendet in seinem Ar-tikel für Duffys Anwalt den falschen Namen Henry B. Rosenblatt, der kor-rekte Name lautet Henry B. Rothblatt.

    25 Peter S. Wondolowski, zit. n. Shabecoff, Nature of Vietnam War Held NoMurder Defense, in: The New York Times, 29. 03. 1970, S. 16.

    26 James B. Duffy, zit. n. Falk/Kolko/Lifton, Crimes of War, S. 253. Siehe auchHerman, Atrocities in Vietnam, S. 7.

    27 Shabecoff, 6-Month Term Set in Vietnam Death, S. 1, 6, in: The New YorkTimes, 01. 04. 1970; ders., Murder Verdict Eased in Vietnam, in: The NewYork Times, 31. 03. 1970, S. 1, 4; ders., Nature of Vietnam War Held No MurderDefense, in: The New York Times, 29. 03.1970, S. 16; ders., Officer is Guiltyin Vietnam Death, in: The New York Times, 30. 03. 1970, S. 1, 5; ders., 4 Of-ficers Testify Policy in Vietnam Is »No Prisoners«, in: The New York Times,28. 03. 1970, S. 1, 13; o. A., Officer Testifies He Allowed Killing, in: The NewYork Times, 27. 03. 1970, S. 4.

    28 O. A., Life Sentence Surprises Army Jury: Officer’s Guilt Reconsidered, in:The Washington Post, zit. n. NA, RG 319, Records of the Army Staff, Office ofthe Deputy Chief of Staff for Personnel (ODCSPER), Records of the VietnamWar Crimes Working Group, War Crimes Allegations Case Files, Box 3 WarCrimes Allegations Case File thru Brown Allegation, Folder: Duffy-LanasaIncident – Press, S. A1, A7; o. A., 2 GIs Tell Court-Martial They Shot Viet Pri-soner, in: The Washington Post, 25. 03. 1970, S. A9.

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    von einem »bedauernswerten Unfall«, einem »absurden« Urteil undeiner Militärgerichtsbarkeit, die aus Angst vor öffentlichem Aufruhreine übertriebene Strafe verhängte: »Diese Vorkommnisse scheinendarauf hinzuweisen, dass das Militär dieses Landes, insbesondere dieArmy, durch den öffentlichen Lärm und Pressedruck aus dem My-Lai-Vorfall an dem Punkt angelangt ist, an dem Reaktionen nichtmehr mit dem Gewissen oder gar mit der Vernunft vereinbar sind.«29

    Telford Taylor, ehemaliger Ankläger bei den Kriegsverbrecherprozes-sen in Nürnberg, hob hingegen die »Unzulänglichkeiten militärge-richtlicher Verfahren« hervor.30 Duffys Anwalt wiederum sah seinenKlient zu Unrecht auf der Anklagebank sitzen. Die Hauptschuld ander Tat trage vielmehr die Befehlskultur der Army.31

    Das von Duffys Männern im September 1969 begangene Kriegs-verbrechen an Do Van Man illustriert viele Facetten, die für denUmgang amerikanischer und südvietnamesischer Einheiten mit Ge-fangenen im Vietnamkrieg typisch sind: willkürliche Gefangennah-men, Empathieverweigerung, überschießende Hass- und Rachegelüste,Selbstermächtigung sowie mangelnde militär- und kriegsrechtlicheKonsequenzen. All dies lässt sich für viele alliierte Operationen vorund nach Duffys Patrouille nachweisen, unabhängig davon, ob essich dabei um militärische oder zivile Einsätze handelte. Eine unsi-chere Quellenlage,32 Übersetzungsprobleme sowie mangelndes Inte-

    29 Marshall, Lieutenant’s Trial Points Up Need for Judicial Changes, in: ThePhiladelphia Inquirer, 03. 04. 1970, unpaginiert, zit. n. NA, RG 319, Recordsof the Army Staff, Office of the Deputy Chief of Staff for Personnel(ODCSPER), Records of the Vietnam War Crimes Working Group, War Cri-mes Allegations Case Files, Box 3 War Crimes Allegations Case File thruBrown Allegation, Folder: Duffy-Lanasa Incident, Press Releases, Folder:Duffy-Lanasa, Press Releases.

    30 Taylor, Nuremberg and Vietnam: Who Is Responsible for War Crimes, S. 383.31 O. A., Life Sentence Surprises Army Jury: Officer’s Guilt Reconsidered, in:

    The Washington Post, zit. n. NA, RG 319, Records of the Army Staff, Office ofthe Deputy Chief of Staff for Personnel (ODCSPER), Records of the VietnamWar Crimes Working Group, War Crimes Allegations Case Files, Box 3 WarCrimes Allegations Case File thru Brown Allegation, Folder: Duffy-LanasaIncident – Press, S. A1.

    32 Nick Turse hält fest, dass insbesondere in der »Causa Duffy« die betreffen-den Militärgerichtsakten entweder nie angefertigt wurden oder aber in denfreigegebenen Archivbeständen fehlen. Siehe Turse, »Kill Anything ThatMoves«, S. xxvii, 34.

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    resse haben Historiker bis heute davon abgehalten, sich eingehendmit dem Leben, Leiden und Sterben vietnamesischer Gefangenerauseinanderzusetzen. Obgleich es bereits während des Krieges man-nigfaltige Hinweise für weitverbreitete Folter, Misshandlungen undMorde gab, wurden solche Vergehen bis heute nicht komparativ auf-gearbeitet. Im Gegensatz dazu haben sich insbesondere amerika-nische Autoren und Zeitzeugen auf das Schicksal gefangener ameri-kanischer Soldaten in der »Demokratischen Republik Vietnam« –besser bekannt als Nordvietnam – gestürzt. Dies führte zu einer Flutvon Selbstzeugnissen und Studien und beschäftigt die amerikanischeGesellschaft bis heute.33

    Nach wie vor ist ein ungebrochenes akademisches Interesse amVietnamkrieg zu beobachten, das unter einem dünnen Firnis des Ver-gessens auch die breitere Öffentlichkeit weiterhin fesselt. TausendeAbhandlungen, Artikel, Aufsätze, Memoiren, Gedichte und Quellen-sammlungen, aber auch Filme, Kriegsspiele und sogar Musicals sindin den vergangenen 50 Jahren entstanden und verleihen dem amerika-nischem Trauma im südostasiatischen Dschungel einen scheinbar dif-ferenzierten Ausdruck. Doch existiert bis jetzt keine einzige wissen-schaftliche Studie zu »kommunistischen« Gefangenen in Südvietnam.Ihr Leiden harrte bisher einer Untersuchung und wurde in Studiennur am Rande angesprochen oder aber ganz durch das Schicksal ihreramerikanischen Leidensgenossen verdrängt. Diesem Manko möchtedie vorliegende Arbeit entgegenwirken.

    Fokus, Fragestellungen und Aufbau

    Bei dieser Arbeit handelt es sich um die erste Monografie, die sich demUmgang mit »kommunistischen« Gefangenen im Vietnamkrieg wid-met. Dem aus (nord-)vietnamesischer Perspektive als »amerikani-scher Krieg« bezeichneten Konflikt gingen im zwanzigsten Jahrhun-dert ein »japanischer« sowie ein »französischer« Krieg voraus, die

    33 Die wohl besten Bücher zu amerikanischen Gefangenen in Nordvietnamsind diejenigen von Kiley/Rochester, Honor Bound und Davis/Office of theSecretary of Defense, The Long Road Home.

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    durch ähnlich schrankenlose Gewalttaten im Umgang mit Gefange-nen charakterisiert sind. Insofern wird es auch um die Kontinuitätenund Brüche dieser interpersonalen Gewalt gehen, die von Bodentrup-pen und Zivilpersonen an Gefangenen verübt wurde.

    Interpersonale Gewalt an Gefangenen meint hier konkret die in-tendierte physische und psychische Schädigung einer oder mehrererPersonen, die von den Tätern im Bewusstsein um die Identität undVerletzlichkeit ihrer Opfer begangen wurde. Die Frage nach derSelbstermächtigung zu solchen Gewaltakten und den Gründen, wes-halb viele Täter in Anbetracht der Schutzlosigkeit ihrer Opfer der Ver-suchung erlagen, Gewalttaten zu verüben, steht dabei im Zentrum.Aus einer kriegssoziologischen Perspektive wird das »Wie« ebenso zuklären sein wie das »Warum«. Denn diese Art der Gewalt wurde nichtnur in der unmittelbaren Kriegssituation ausgeübt, sondern insbe-sondere auch im rückwärtigen Raum, in Gefängnissen, Gefangenen-lagern oder Verhörzentren, wo weder Täter noch ihre Komplizen eineunmittelbare Bedrohung oder ein Handeln im Affekt geltend machenkonnten. Im Gegenteil: In solchen Räumen konnte – überspitzt for-muliert – in Ruhe und unter professioneller Anleitung gefoltert, miss-handelt und getötet werden. Die Ausnahmesituation Krieg und dieVulnerabilität von Gefangenen schienen Gelegenheitsfenster und Er-möglichungsbedingungen zu öffnen, in denen Gefangene zu Sünden-böcken für erlittene Verluste und zu wehrlosen Objekten wurden, andenen Gewalt straffrei angewendet werden konnte. Dabei war sowohlTätern als auch Opfern während des gesamten Krieges bewusst, dassGewalt gegenüber Gefangenen im Zivil-, Kriegs- und Militärrechtstrengstens untersagt war.

    Dieser Prozess einer De-facto-Entrechtlichung von Gefangenenwird im Folgenden auf empirischer Basis ebenso zu beschreiben seinwie die damit verbundene Frage nach der Rolle ziviler und militäri-scher Vorgesetzter, also von Personen mit Befehlsgewalt, die Miss-handlungen an Gefangenen billigend in Kauf nahmen und ihre Auf-sichtspflichten verletzten, um den Zusammenhalt und die Schlagkraftder eigenen Gruppe nicht zu gefährden. Insbesondere der militärischeKader kann sich dem Vorwurf nicht entziehen, gewusst zu haben, dassFolter und andere Formen exzessiver Gewalt die alliierten Kriegszielekonterkarierten. Nach dem Urteil des Historikers George Kassimeriszerstörte nichts »die moralische Legitimation für den amerikanischen

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    Krieg in Vietnam so stark wie die Komplizenschaft amerikanischerStreitkräfte bei der Folter«.34

    Weil die dürftige Quellenlage für eine transnationale Gewaltge-schichte aus Täter- und Opferperspektive im Rahmen einer quantita-tiven Analyse nicht ausreicht, haben die im Folgenden dargestelltenFallbeispiele mehr als nur illustrativen Charakter. Nach Jörg Babe-rowski kommt es »auf das Geschehen selbst […] an, wenn manverstehen will, was Gewalt ist und was sie anrichtet«.35 Anhand der ku-mulativen Analyse von Einzelfällen wird es möglich, auf übergeord-nete Motivationen und Gründe zu schließen. In der Auseinanderset-zung mit den Quellen sollen deshalb folgende Fragen im Zentrum derAnalyse stehen: Wer war für die Gefangenen verantwortlich? Weshalbkam es zu Verbrechen an Gefangenen? Wie wurden diese Verbrechenbegangen? Welche Faktoren begünstigten bzw. hemmten extralegaleGewaltanwendungen? Wer wusste um die Gewalttaten und wie wur-den Täter sanktioniert? Zur Beantwortung dieser Fragen müssen ins-besondere die schwerwiegenden Kriegsverbrechen Folter und Mord inden Blick genommen werden.36

    Das erste Kapitel umreißt die juristischen Kodifizierungen im gel-tenden Zivil-, Kriegs- und Militärrecht im Umgang mit Gefangenen.Dafür werden hauptsächlich die entsprechenden zivil- und militärju-ristischen Erlasse der 1960er und 1970er Jahre analysiert. Der Fokusliegt dabei auf dem Kriegsrecht, einem Synonym dafür, was Zivilistenheute unter dem juristischen Sammelbegriff des humanitären Völker-rechts subsumieren und von Angehörigen der Streitkräfte als »Law ofArmed Conflict« bezeichnet wird. Weil viele dieser Kodifizierungen inFeldhandbüchern, Direktiven, Verordnungen und anderen Erlassenauf den spezifischen Kriegsschauplatz Südvietnam heruntergebro-chen wurden, berücksichtigt die Analyse auch diesen Teil des inter-nen Militärrechts. Da die US Army schnell zur militärrechtlich be-stimmenden Autorität für alle alliierten Bodenstreitkräfte wurde unddamit auch dem südvietnamesischen Militärrecht ihren Stempel auf-

    34 Kassimeris, The Barbarisation of Warfare, A User’s Manual, S. 16. Siehe auchders., The Warrior’s Dishonour, S. 12.

    35 Baberowski, Räume der Gewalt, S. 139.36 Siehe Grossman, On Killing, S. 199–202. Für Vietnam siehe auch Milam, Not

    a Gentleman’s War, S. 115–138.

  • 23

    drückte, werden insbesondere die Vorgaben des amerikanischen Hee-res miteinbezogen.

    Ebenso soll die sich andeutende Divergenz zwischen juristischerTheorie und gelebter Praxis thematisiert werden. So beschäftigen sichdie Kapitel zwei und drei mit den Gründen für das Untergraben die-ser Vorgaben sowie den damit verbundenen Auswirkungen. Im Zen-trum wird dabei der faktische Umgang mit Gefangenen im Rahmenmilitärischer Operationen stehen. Wie zu zeigen sein wird, hatten mi-litärische wie auch zivile Vorgesetzte, die Militärdoktrin sowie situa-tive Faktoren einen Einfluss darauf, ob und wie rechtliche Vorschrif-ten in der Praxis umgesetzt wurden. Kapitel drei vertieft diese Analyseund rückt individuelle und kollektive Gewalteruptionen an Gefange-nen in den Kontext einer lokalen Gewaltkultur. Dafür ist es unver-meidbar, auch besonders schwere Verbrechen an Gefangenen wieFolter, Misshandlungen, Morde und sexuelle Gewalt in den Fokus zunehmen.

    Der interpretative Zugang soll dabei unter Hinzuziehung vontheoretischen Konzepten der jüngeren Gewaltforschung erfolgen. Anden dargestellten Beispielen werden sowohl autotelische Gewalt – Ge-walt, die ihren Sinn ausschließlich in sich selbst findet – wie auchexemplarische Gewalt – Gewalt, die insbesondere anderen gegenüberdemonstriert, wozu die Täter fähig sind – sowie situative Gewalt – vonder unmittelbar situativen Dynamik geprägte Gewalt – sichtbar. Dieseextralegalen kriegerischen Gewaltformen hatten zudem einen kom-munikativen Charakter – sowohl nach außen für den »Gegner« alsauch nach innen, für die eigene Truppe und zuweilen auch für dieHeimatfront – und dienten nicht zuletzt der »Vergemeinschaftung«auf Täterseite. Darüber hinaus ist von einem spezifischen südvietna-mesischen Gewaltraum zu sprechen, der den Umgang mit Gefange-nen maßgeblich mitbestimmte. Denn die räumliche Wahrnehmungdieses Krieges prägte nicht nur den Referenzrahmen aller handelndenAkteure, sondern begünstigte auch die verschiedensten Gewalttatenals Signale der eigenen Raumdurchdringung, die auf konventionell-militärischem Weg nicht zu erreichen war: Dschungelgegenden mitdichter Vegetation, Mangrovenwälder, bewaldete Hügellandschaften,Reisfelder und Flussgebiete verunmöglichten große Feldschlachtenund begünstigten aufgrund der »Unsichtbarkeit« des realen Gegnerseine veritable Hatz auf »Ersatzfeinde«.

  • 24

    In diese Analyse ist auch die Rolle der verbündeten Streitkräfte deramerikanischen Truppen miteinzubeziehen. Dabei kommt der süd-vietnamesischen Armee, der Army of the Republic of Vietnam(ARVN), die der Politologe Ivan Arreguin-Toft unlängst als die »bru-talste, aber uneffektivste Streitkraft« des Krieges bezeichnet hat,37 na-türlich ein besonderes Gewicht zu. Weil militärische Operationenhäufig in Zusammenarbeit mit der CIA und anderen zivilen Institu-tionen ausgeführt wurden, rundet das Verhalten ziviler Akteure Kapi-tel drei ab.

    Steht in Kapitel eins bis drei primär die Täterperspektive im Mit-telpunkt, wendet sich Kapitel vier verstärkt den Opfern zu und zeich-net die Lebensbedingungen in Kriegsgefangenenlagern, zivilen Ge-fängnissen und Verhörzentren nach. Da das Internationale Komiteedes Roten Kreuzes (IKRK) für die Gefangenen neben dem Lagerper-sonal oft die einzige Ansprechstelle war, wird auch nach der Arbeitdieser und anderer humanitärer Organisationen zu fragen sein.

    Schon sehr früh fanden Berichte über Gefangene den Weg in diePresse. Kapitel fünf beschäftigt sich insbesondere mit der Berichter-stattung amerikanischer Printmedien (mit einem Fokus auf der NewYork Times und Washington Post). Obwohl diese immer wieder Verge-hen an Gefangenen thematisierten, störten sich in der amerikanischenÖffentlichkeit nur wenige an deren Schicksal. Stattdessen machte sichin Politik und Gesellschaft trotz einschlägiger Reportagen eher eineAbwehrreaktion breit. Damit zusammenhängend – so könnte gemut-maßt werden – setzte zu jener Zeit ein tiefgreifender Vertrauensverlustgegenüber meinungsbildenden Medien ein, die eine Hinterfragungnationaler Selbstbilder anstießen. Die Einschätzung des Journalistenund Indochinakenners Bernard B. Fall aus dem Jahr 1966 gilt imGrunde für den gesamten Vietnamkrieg: »Das eigentliche Problem,um das es in Vietnam geht, ist die Folter und die sinnlose Brutalitätgegenüber Kombattanten und Zivilisten gleichermaßen. Das Problemwurde in den Vereinigten Staaten umgangen, oder schlimmer noch,einfach ignoriert, da es kein ›amerikanisches‹ Problem sei.«38

    Mit diesem Desinteresse der breiten Öffentlichkeit ging eine weit-gehende juristische Immunisierung der Täter einher. Kapitel sechs

    37 Arreguin-Toft, How the Weak Win Wars, S. 161.38 Fall, Viet-Nam Witness, S. 302.

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    nimmt deshalb erneut eine rechtshistorische Perspektive ein und stelltdie Militärgerichtsbarkeit und ihren Umgang mit Verbrechen an Ge-fangenen in den Mittelpunkt.

    Quellendiskussion und Forschungsstand

    Für diese Studie wird auf bisher wenig beachtetes Quellenmaterialsowie die breitgefächerte Literatur zurückgegriffen. Mit Archivalienaus drei Kontinenten, Sekundärliteratur, Quelleneditionen, Zeitungs-und Zeitschriftenartikeln, Oral-History-Interviews, Tagebüchern,Feldpostbriefeditionen und sonstigen Erinnerungen wird der Ver-such unternommen, ein möglichst breites Quellenkorpus abzubilden.Auch Bilder werden als visuelle Quelle mitberücksichtigt.

    Nachdem das Schicksal »kommunistischer« Gefangener überviele Jahre auch in der Wissenschaft weitgehend ausgeklammert blieb,haben mittlerweile historische Untersuchungen die Verbrechen, diean ihnen begangen wurden, hinlänglich belegt. Es gibt aber auch Un-tersuchungen aus dem Umfeld des amerikanischen Militärs, die schon

    Abb. 3 Gefangene der NVA und des Vietcong hinter beschlagnahmten Waffenund Gerät chinesischen Ursprungs, Quang Tri, undatiert

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    relativ früh auf Delikte an Gefangenen hingewiesen haben. Die minu-tiösen Recherchen der Peers Commision, einem Gremium des ameri-kanischen Heeres, das zunächst zur Untersuchung des Massakers vonMy Lai (4) eingesetzt wurde, hatten bereits 1970 den Verdacht bestä-tigt, dass »amerikanische Soldaten Vietnamesen in Gewahrsam miss-handelt hatten«.39 Darüber hinaus setzte das Pentagon einen weiterenUntersuchungsausschuss ein, die sogenannte Vietnam War CrimesWorking Group (VWCWG). Diese Arbeitsgruppe verfolgte Hinweisezu Kriegsverbrechen in Vietnam und arbeitete mit der Peers-Kommis-sion sowie der U.S. Army Criminal Investigation Division (CID) zu-sammen.40 Bei diesen Untersuchungen zeigte sich bald, dass – wieschon in vorherigen Kriegen – Delikte an Gefangenen zu den am häu-figsten begangenen Verbrechen des Krieges zählten. Die Dokumenteder Peers-Kommission, VWCWG und CID wurden zum großen Teilan das amerikanische Nationalarchiv (NA) in College Park (Mary-land) überstellt und sind zurzeit teilweise einsehbar. Angesichts derKlassifizierungswut, der Geheimhaltungsmanie der amerikanischenMilitärbürokratie und der Angst vor negativen Auswirkungen fürnoch lebende Zeitzeugen sind Teile davon geschwärzt: »Noch Jahr-zehnte später«, so die Einschätzung eines namhaften Kriegsjournalis-ten, »ist die offizielle Antwort auf amerikanische Kriegsverbrechen, siezu verbergen, anstatt die Wahrheit anzuerkennen. […] Der Impuls,schmerzhafte Wahrheiten aus unseren Erinnerungen an Vietnam aus-zulöschen, ist stark.«41

    Auch im Weiteren ergeben die erhaltenen und freigegebenenQuellen nur ein unvollständiges Bild: In einer Analyse der Army überdas Massaker von My Lai (4) aus dem Jahr 1970 wird etwa von einer»unbefriedigenden, […] lückenhaften« Aktenlage gesprochen. Ver-hältnismäßig viele Dokumente seien vorsätzlich zerstört worden, esfehle ein »System, das Rechenschaft über wichtige Korrespondenzenablegt«, und in einem Fall seien die Dokumente eines Hauptquartiers»in Vorbereitung auf eine […] Inspektion des Generalinspekteurs ›ge-

    39 O. A., Panel Finds Data on Songmy Diluted at Each Successive Session, in:The New York Times, 27. 03. 1970, S. 4.

    40 NA, RG 319, Draft Inventory [Binder], Records of the Vietnam War CrimesWorking Group, S. 5; Greiner, Krieg ohne Fronten, S. 21–26.

    41 Isaacs, Remembering Vietnam, S. 87, 94.

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    säubert‹« worden.42 79 Prozent der von der VWCWG angezeigtenKriegsverbrechen wurden erst nach September 1969 gemeldet. Inso-fern sei »die offizielle Dokumentation von Kriegsverbrechen, ein-schließlich Folter«, so der amerikanische Politikwissenschaftler Da-rius Rejali, »höchstens als lückenhaft zu charakterisieren, besondersdie Aktenlage vor 1969«.43 Wenig überraschend fällt beim Studium derErinnerungen hochrangiger südvietnamesischer Generäle, die nachdem Krieg in den USA im Rahmen des Indochina Refugee AuthoredMonograph Program entstanden, auf, dass sie die Anwendung vonFolter vehement abstritten.44

    Aus den dargelegten Gründen bezieht diese Arbeit weitere Quel-lenarten mit ein, u. a. zivile und militärische Rechtstexte, die sich zueinem großen Teil ebenfalls in den National Archives at College Parksowie in den Sammlungen der amerikanischen Kriegshochschule (USArmy War College Library and Archives/US Army Heritage and Edu-cation Center, AHEC) in Carlisle (Pennsylvania) befinden. Des Weite-ren stehen die Akten des Army Prisoner of War (POW)/Civilian Inter-nee Information Center im Fokus. Während des Zweiten Weltkriegsunter der Ägide des Provost Marshal General, der obersten Behördefür Disziplinarmaßnahmen, gegründet, enthält diese von Historikernbis heute nur selten zur Kenntnis genommene Aktengruppe Informa-tionen zur Internierung und Behandlung von Kriegsgefangenen. Lei-der können die »Secret Records« dieser Aktengruppe bis heute nichtvollständig eingesehen werden – trotz eines entsprechenden Gesuchsdes Autors im Rahmen des »Freedom of Information Act«. Das giltauch für die Dokumente der »Intelligence Collection Files, POW /Enemy Messages«, einer Serie von Korrespondenzen, die sich mit derKlassifikation, dem Status und der Behandlung von Kriegsgefangenenin den Händen der Alliierten befasst. Auch sehr viele Dokumente zuGefangenenoperationen der CIA sind bis heute unter Verschluss, an-

    42 LC, Military Legal Resources, Peers Inquiry, Report of the Department ofthe Army Review of the Preliminary Investigations into the My Lai Incident,Vol. 1, The Report of the Investigation, 14. 03. 1970, S. B-1-B-2.

    43 Rejali, Torture and Democracy, S. 174.44 Siehe zum Beispiel Ngo, RVNAF and US Operational Cooperation and

    Coordination, S. 34; Hoang, Intelligence, S. 103. Exzerpte dieser Berichte wur-den später von Lewis Sorley in Buchform publiziert. Siehe Sorley, The Viet-nam War.

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    dere wurden zerstört oder aber nie an die National Archives weiterge-geben, wie ein Angestellter des Archivs 1991 bestätigte.45

    Zum Umgang der Marines mit Gefangenen lieferten Dokumentein der Archives and Special Collections Branch des Marine Corps inQuantico (Virginia) wichtige Informationen. Darüber hinaus wurdenOral-History-Interviews mit GIs aus dem amerikanischen Heer imUS Army Center of Military History (CMH) ausgewertet46 sowie diedigitalisierten Dokumente des National Security Archive der GeorgeWashington University, des Vietnam Center and Archive der TexasTech University, des Defense Technical Information Center, der Li-brary of Congress sowie der Hoover Institution.

    Insbesondere neuere Forschungsarbeiten haben darauf hingewie-sen, dass die Literatur zum Vietnamkrieg stark »amerikanisiert« istund vietnamesische Quellen nur selten berücksichtigt werden.47 DaAkten der ARVN im Besonderen und der südvietnamesischen Regie-rung im Allgemeinen im amerikanischen Nationalarchiv praktischnicht vorhanden sind, greift diese Studie so weit als möglich auchauf Dokumente in vietnamesischen Archiven zurück.48 Für westlicheHistoriker gestalten sich Archivrecherchen in Vietnam jedoch bisheute schwierig, deshalb kann die Perspektive der südvietnamesischen

    45 Siehe hierzu Rejali, Torture and Democracy, 2007, S, 174, 645; Shaughnessy,The Vietnam Conflict: »America’s Best Documented War«?, S. 135–147. DerVerfasser dieser Arbeit stellte allein für die beschriebenen Akten drei Gesucheim Rahmen des Freedom of Information Act.

    46 Siehe die Vietnam Interview Tape Collection (VNIT) und die Vietnam Inter-view Collection (VIC) im CMH.

    47 Siehe hierzu Ang, Ending the Vietnam War, S. 1–5; ders., The Vietnam Warfrom the Other Side, S. 1–4; Duiker, Sacred War, S. 272; Nguyen, Hanoi’s War,S. 3–5; Nguyen, South Vietnamese Soldiers, S. xvi, xviii, 4, 12; Young, Intro-duction: Why Vietnam Still Matters, S. 5; Anderson, No More Vietnams, S. 13;Grossheim, Die Partei und der Krieg, S. 14; Frey, Der Vietnamkrieg im Spiegelder neueren amerikanischen Forschung, S. 29–47; Etges, The Wound thatWon’t Heal, S. 93–103; Asselin, Hanoi’s Road to the Vietnam War, S. 3–8;ders., Vietnam’s American War, S. 7.

    48 Bei den folgenden Akten handelt es sich um die einzigen, verzeichneten Do-kumente der ARVN im amerikanischen Nationalarchiv in College Park: NA,RG 550, Records of United States Army, Pacific, Records of HQ, Historian’sOffice, Command Reporting Files, 1963–72, ARVN Units to ARVN Unites,Box 205–206.

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    Streitkräfte meist nur indirekt und keinesfalls in toto abgebildet wer-den. Viele Akten existieren nicht mehr, sind falsch abgelegt oder abernicht zugänglich, ein Problem, das Amnesty International in einerStudie zu politischen Gefangenen bereits im Jahr 1970 herausgestri-chen hat.49 Und bis heute scheint es, als lasse der kommunistische Ein-parteienstaat Vietnam die Geschichte von der staatlich gelenkten Pro-paganda schreiben. So herrscht im Land der Mekongmündung bisheute eine marxistisch-geprägte Geschichtsauffassung vor, die denVietnamkrieg in ähnlicher Weise erinnert haben will, wie ein nord-vietnamesischer Propagandasprecher einst die Tet-Offensive als »fa-belhaften Sieg, einzigartig in der Kriegsgeschichte« gepriesen hat.50

    Trotzdem wurde westlichen Forschern in den letzten Jahren vermehrtein zumindest eingeschränkter Zugang zu vietnamesischen Archivengewährt. Bei einem Besuch im für die Fragestellung dieser Arbeit rele-vanten nationalen Archiv Nummer 2 (Trung tam Luu tru Quoc gia II,TLQ) in Ho-Chi-Minh-Stadt ist für die Aktenbestellung neben einemlangwierigen Registrierungsprozess aber weiterhin das Einverständnisdes Archivpersonals sowie des Direktors nötig, um Akten einzusehen.Ist dieses Spießrutenlaufen überstanden, kommt es immer wieder vor,dass bestellte Dokumente unauffindbar sind oder aber aufgrund an-derer Entschuldigungen doch nicht in den Lesesaal geliefert werdenkönnen.

    Wegen der beschränkten Aussagekraft offizieller Dokumente istder Rückgriff auf weitere Quellen unerlässlich. Eine besondere Bedeu-tung kommt diesbezüglich den nach 40-jähriger Schutzfrist im Jahr2015 freigegebenen Dokumenten des IKRK zu, die in der vorliegendenStudie zum ersten Mal ausgewertet werden. Aufbewahrt im internenArchiv in Genf und vorzüglich indexiert, enthalten diese zumeist fran-zösischsprachigen Dokumente Berichte über Gefangenenlagerbesu-

    49 Amnesty International, Political Prisoners in South Vietnam, S. 1. Zur Quel-lenlage in Vietnam siehe Greiner, Krieg ohne Fronten, S. 27, 366, 438; Brad-ley/Brigham, Vietnamese Archives and Scholarship on the Cold War Period:Two Reports; Nguyen, Hanoi’s War, S. 11–14; Asselin, Hanoi’s Road to theVietnam War, S. 7–8.

    50 Chien Binh, zit. n. ders., Heavy Blows Having Lasting Effects, S. 267–268.Siehe auch The Military History Institute of Vietnam, Victory in Vietnam,S. 428; Bradley, Vietnam at War, S. 5, 200; Lawrence, The Vietnam War,S. 2–4; Many Authors, Viet Nam’s Anti-U.S. Resistance War.

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    che, interne Studien und Einschätzungen zu Gefangenen aus neutra-ler Perspektive.

    Ein Spezialfall von Quellen entstand im Zuge diverser offiziellerAnhörungen von amerikanischen Veteranen und Opfern, die vonKriegsgegnern, Intellektuellen, Politikern und Vertretern der Zivilge-sellschaft durchgeführt wurden. Insbesondere die Tatsache, dass dieHeimatländer der zwei Hauptinitianten solcher Anhörungen, LordBertrand Russell und Jean-Paul Sartre, eine jahrhundertelange impe-riale Tradition mit eigenen Kriegsverbrechen vorzuweisen hatten, ließkonservative Amerikaner an den Aussagen ihrer Zeugen zweifeln.Dass die Aktivisten, die sich um den britischen Philosophen und Lite-raturnobelpreisträger Russell versammelten, pazifistisch motiviertwaren, gab Noam Chomsky im Vorwort zum publizierten Sammel-band, der nach den zwei Anhörungen editiert wurde, offen zu.51 Deran die primär amerikanische Öffentlichkeit gerichtete Band wurde beiseinem Erscheinen breit rezipiert, gelobt und kritisiert, ist aber seitherfast in Vergessenheit geraten. Vergleichbare Quellensammlungen, indenen sich ungefilterte Berichte über die Behandlung von Gefangenenfinden, erlitten ein ähnliches Schicksal.52 So etwa die Dokumentationdes »Dellums Committee«, eine durch den frisch gewählten kaliforni-schen Kongressabgeordneten Ronald V. Dellums organisierte Ad-hoc-Anhörung amerikanischer Vietnamveteranen zu Beginn der 1970erJahre. Auch wenn die dabei zustande gekommenen Aussagen vor ei-nem inoffiziellen Ausschuss nicht öffentlich waren, wurden die Zeu-genberichte transkribiert und später publiziert.53

    51 Siehe Chomsky, Preface by Noam Chomsky, S. xiv. Siehe auch ders., At Warwith Asia, S. 288–313.

    52 Für publizierte Quellen dieser Art siehe The Citizens Commission of Inquiry,The Dellums Committee Hearings on War Crimes in Vietnam; Vietnam Ve-terans Against the War, The Winter Soldier Investigation; Clergy and LaymenConcerned About Vietnam, In the Name of America; Duffett, Against theCrime of Silence. Siehe auch Fiske, Clerics Accuse U.S. of War Crimes: A»Consistent Violation« of World Rules Is Found by Interfaith Group, in: TheNew York Times, 04. 02. 1968, S. 1, 6.

    53 The Citizens Commission of Inquiry, The Dellums Committee Hearings onWar Crimes in Vietnam, S. viii-ix, 1–2; Greider, Atrocities Hearings Ended byDellums, in: The Washington Post, 30. 04. 1971, S. A3; Vistica, The Educationof Lieutenant Kerrey, S. 233–234; Dellums/Halterman, Lying Down with theLions, S. 64–66.

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    Die »Winter Soldier Investigation« verfolgte ein ähnliches Anlie-gen. Die vom 31. Januar bis 2. Februar 1971 in Detroit (Michigan) ver-anstaltete Anhörung von über hundert Veteranen und 16 Zivilisten zuKriegsverbrechen in Vietnam füllte fast eine 1000 Seiten lange Doku-mentation; auch ein Dokumentarfilm entstand.54 Eine von den »Viet-nam Veterans Against the War« herausgegebene Quellensammlungversammelt in einer gekürzten Ausgabe Berichte von Soldaten und Zi-vilisten, die zwischen 1963 und 1970 in Südvietnam stationiert waren.»Winter Soldiers« nannte sich die nach eigenen Angaben aus 7000 Ve-teranen bestehende Organisation in Anspielung auf Thomas PainesPamphlet »The American Crisis«. Die Bezugnahme auf die Patriotendes Unabhängigkeitskrieges, die sich von den düsteren Aussichtennicht beirren ließen und während des Rückzugs nach Valley Forgeweiter zu George Washington hielten, obwohl ihre Dienstpflicht abge-laufen war, war bewusst gewählt:55 Wie die »Winter Soldiers« von 1776sahen die GIs die USA der 1970er Jahre in einer Krise, wobei die Be-drohung nicht von den Redcoats, sondern von der eigenen Kriegsfüh-rung in Südostasien ausging. Denn die militärische und zivile Elitewar in der Wahrnehmung der Veteranen maßgeblich an den begange-nen Kriegsverbrechen mitschuldig. Die »Winter Soldiers« betrachte-ten sich als die wahren Patrioten, gewillt für Amerikas wahre Tugen-den einzutreten. Die Reaktionen auf ihre Aussagen polarisierten in deraufgeheizten Stimmung während Richard Nixons Präsidentschaft.Kritiker schenkten ihren Berichten keinen Glauben und warfen ihnenSensationslüsternheit oder das Abgeben individueller Verantwortungvor.

    Trotz ihrer heiklen Seiten bieten Quellen dieser Art für die histo-rische Forschung jedoch eine Chance, die »Grammatik des Krieges«(Carl von Clausewitz) zu studieren. Denn insbesondere die Aussagenvon Tätern bieten die Möglichkeit, die »Bedingungen der Gewalteska-lation« zu verstehen.56 Für viele Veteranen hatten die öffentlichen

    54 Siehe Winterfilm Collective, Winter Soldier. Auf das Schicksal der politischenGefangenen machte 1973 ein Film eines britischen Regisseurs aufmerksam.Siehe Beckham, South Vietnam: A Question of Torture.

    55 Paine, The American Crisis, S. 3. Siehe auch Emerson, Winners and Losers,S. 286–288, 457.

    56 Walter, Organisierte Gewalt in der europäischen Expansion, S. 191.