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dtv portrait Marcel Reich-Ranicki Bearbeitet von Thomas Anz, Martin Sulzer-Reichel 1. Auflage 2004. Taschenbuch. 192 S. Paperback ISBN 978 3 423 31072 7 Format (B x L): 12,4 x 19,1 cm schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

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Marcel Reich-Ranicki

Bearbeitet vonThomas Anz, Martin Sulzer-Reichel

1. Auflage 2004. Taschenbuch. 192 S. PaperbackISBN 978 3 423 31072 7

Format (B x L): 12,4 x 19,1 cm

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

als 8 Millionen Produkte.

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dtv

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dtvportrait

Herausgegeben von Martin Sulzer-Reichel

Thomas Anz, geboren 1948, ist Professor für NeuereDeutsche Literatur in Marburg und verfasste neben

wissenschaftlichen Arbeiten zahlreiche Literaturkritikenund Essays für Zeitungen und Rundfunk.

Er ist Herausgeber der ersten Zeitschrift für Literaturkritikim Internet (www.literaturkritik.de) und Leiter des

TransMIT-Zentrums für Literaturvermittlung in den Medien,das auch ein Internet-Portal zu Marcel Reich-Ranicki

eingerichtet hat. Veröffentlichungen u. a.: >Literatur derExistenz< (1977); >Franz Kafka< (1989); >Gesund oder krank?Medizin, Moral und Ästhetik in der deutschen Gegenwarts-

literatur< (1989); >Literatur und Lust. Glück und Unglückbeim Lesen< (1998, dtv 30382); >Psychoanalyse in der

modernen Literatur< (1999); >Literaturdes Expressionismus< (2002).

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Marcel Reich-Ranicki

Von Thomas Anz

Deutscher Taschenbuch Verlag

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Weitere in der Reihe dtv portrait erschienene Titelam Ende des Bandes

Originalausgabe

Mai 2004

© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

www.dtv.de

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche, auch

auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten.

Umschlagkonzept: Balk & BrumshagenUmschlagfoto: © Bettina Strauss

Layout: nach einer Vorlage von

Agents — Producers — Editors, Overath

Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten

Druck und Bindung: APPL, Wemding

Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in Germany ISBN 3-423-31072-3

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Inhalt

Karriere eines Kritikers 7

Vater, Mutter, Sohn 16

Judentum und Religion 26

Liebesgeschichten in Berlin 35

Überleben in Warschau 47

Nach dem Krieg

57

Freier Kritiker

72

»Literaturchef« in Frankfurt

83

100

106

150

Star im Fernsehen

Kritik als Beruf

Freunde und Feinde

>Mein Leben< und danach 156

Zeittafel 171Bibliografie 174Nachbemerkung und Dank 182Register 185

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1 Marcel Reich-Ranicki. Portraitfotografie 22. April 1994 in Hamburg

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Karriere eines Kritikers

Vor mehr als zwei Jahrhunderten veröffentlichte derjenen24-jährige Goethe das Gedicht über jenen unverschäm-t g

ten Kerl, der sich bei seinem Gastgeber erst satt isst undhinterher bei anderen über das Essen mäkelt. Die Wut überden undankbaren Schmarotzer gipfelt in den Ausrufen: »Dertausend Sackerment! / Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist einRezensent!«

Marcel Reich-Ranicki lebte damals leider noch nicht, dochvor einiger Zeit hat er Goethe endlich geantwortet, hat zudem Gedicht mit dem Titel >Rezensent< gleichsam eine späteRezension geschrieben. Und obwohl Reich-Ranicki immerwieder beteuerte, schon seit Jahren nicht mehr »lauter Ver-risse« zu schreiben und tatsächlich nur noch selten solcheschrieb, gerieten ihm seine Ausführungen zu dem Goethe-Gedicht in der >Frankfurter Anthologie< zum Totalverriss:Goethe, so Reich-Ranicki, »genießt den Ruf, Deutschlandsgrößter Lyriker zu sein. Das stimmt schon. Wenn es um diePoesie geht, kann ihm keiner das Wasser reichen. Aber natür-lich hat auch er, der unverbesserliche Vielschreiber, zahlrei-che mäßige oder schwache Gedichte produziert, gelegentlichsogar törichte. Doch das dümmste, das seiner Feder ent-stammt, ist wohl das Gedicht >Rezensent<.« (G 128)

Hinter der demonstrativen Respektlosigkeit dieser Zeilengegenüber einem Autor, den Reich-Ranicki so hoch schätztwie wenige andere, steht ein sein literaturkritisches Selbst-bewusstsein in mehrfacher Hinsicht kennzeichnendes Pro-gramm. Es hat zum Erfolg dieses Kritikers wesentlich beige-tragen.

Dass Reich-Ranicki in Deutschland der erfolgreichste, derwirkungsvollste und deshalb auch umstrittenste Literatur-kritiker der Nachkriegszeit ist, steht außer Zweifel. Mehr alser kann ein Kritiker wohl nicht erreichen. Wie niemand sonsthat er seit über vierzig Jahren unser literarisches Leben mit

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KARRIERE EINES KRITIKERS

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geprägt — genauer: seit 1958, als er in die Bundesrepublikreiste und nicht mehr nach Polen zurückkehrte.

Ein bewegtes, einen jeden, der darüber liest oder davonhört, bewegendes Leben hatte der damals 38-Jährige zu die-sem Zeitpunkt hinter sich. Als Jude und polnischer Staats-angehöriger konnte er in Berlin zwar 1938 noch sein Abiturmachen, das Immatrikulationsgesuch an die Universitätwurde jedoch abschlägig beschieden.

Reich-Ranicki arbeitete zunächst als Lehrling in einer Ex-portfirma, wurde im Herbst 1938 verhaftet und nach Polendeportiert, lebte dort ab 1940 im Warschauer Getto, aus demer 1943 zusammen mit seiner Frau in den Warschauer Unter-grund floh. Sein Vater, seine Mutter, sein Bruder wurden vonDeutschen ermordet. Die sowjetische Armee befreite ihn, ertrat der Kommunistischen Partei Polens bei, arbeitete in derpolnischen Militärkommission in Berlin, im polnischenAußenministerium, 1948 und 1949 als Konsul der RepublikPolen in London und zugleich im polnischen Geheimdienst,wurde nach der Rückkehr in Warschau aus der Partei wegen»ideologischer Entfremdung«, so die offizielle Begründung,ausgeschlossen, dann zwei Wochen in einer Einzelzelle ge-fangen gehalten.

Mit dieser Haftzeit endete Reich-Ranickis politische Kar-riere im diplomatischen Dienst — und es begann eine neue:Sie stand im Dienst der Literatur. In dem eindrucksvollenGespräch, das Joachim Fest im Dezember 1982 mit Reich-Ranicki für die Fernsehserie »Zeugen des Jahrhunderts«führte, erinnerte sich dieser an das Buch, das ihm die Tage imGefängnis in gewissem Sinn zu den schönsten jener Jahremachte: Anna Seghers' >Das siebte Kreuz<. »Unter dem Ein-fluß dieses Romans in der Gefängniszelle habe ich beschlos-sen, mich, wenn ich wieder freikomme, vielleicht doch mitder Literatur zu befassen.« (ZD 90) »Beruflich«, muss manwohl ergänzen; denn zum enthusiastischen Leser war erschon als Berliner Gymnasiast durch die Anregungen desTheaters und des Deutschunterrichts geworden.

Reich-Ranicki kam frei, und er durfte, unterbrochen vonBerufs- und Publikationsverboten, in jenem Reservat arbei-

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BÜRGSCHAFT VON HEINRICH BÖLL

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ten, in dem man anstößigen Individuen einige Narrenfrei-heiten zubilligt: auf dem Gebiet der Literatur und des litera-rischen Lebens. Er arbeitete in einem Verlag, schrieb für dieZeitung und für den Rundfunk, und er übersetzte — immerals Vermittler deutscher Literatur für polnische Leser.

In der Bundesrepublik stand er 1958 zusammen mit seinerFrau ein weiteres Mal in seinem Leben vor dem Nichts. Geldhatte er keines, doch als kulturelles Kapital immerhin vor-zügliche Kenntnisse der deutschen Literatur, publizistischeBegabung und Erfahrung sowie einige Bekanntschaften mitwestdeutschen Autoren.

Heinrich Böll hatte ihm eine Bürgschaft ausgestellt, die fürdie Ausreisegenehmigung nötig war. Siegfried Lenz tat da-mals alles, um ihm Kontakte mit Rundfunksendern und Zei-tungen zu verschaffen. Kritiken in der >Welt< und in der>Frankfurter Allgemeinen< sowie die Teilnahme an Tagungender »Gruppe 47« machten ihn rasch so bekannt und begehrt,dass ihm >Die Zeit< zum 1. Januar 1960 eine ständige Zu-sammenarbeit anbot. Frei von redaktionellen Belastungenschrieb er vierzehn Jahre lang für diese Zeitung und wurde inihr schnell zu der literaturkritischen Instanz der Bundesrepu-blik. Mit Polemik, Ironie und Neid, mit Bewunderung undRespekt ernannte man ihn in diesen Jahren zum »Großkriti-ker« und zum »Literatur-Papst«, doch seine Fähigkeiten, denWillen zur öffentlichen Wirksamkeit und seine Macht konnteer erst 1973, als er die Leitung des Literaturteils der >Frankfur-ter Allgemeinen< übernahm, ganz entfalten. Er machte sie zurbuch- und literaturfreundlichsten Zeitung Deutschlands. Ermachte sie aber auch zur Krönung seiner Kritikerkarriere.

So schien es zumindest. Als Reich-Ranicki Ende 1988, weiles die Gesetze der FAZ so vorschrieben, die Leitung des Lite-raturteils an einen Jüngeren abgeben musste, glaubten man-che, eine Ära der Literaturkritik sei zu Ende, ein Generatio-nenwechsel vollzogen; es finde gleichsam ein Artensterbenstatt. Denn der Typus des Großkritikers, den Reich-Ranickiebenso wie Friedrich Sieburg, Günter Blöcker, Walter Jens,Fritz J. Raddatz oder Joachim Kaiser, nur viel vollkommenerals alle diese, verkörperte, sei vom Aussterben bedroht.

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KARRIERE EINES KRITIKERS

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2 Portraitaufnahme 1997

Nachdem die Kommentare zu Reich-Ranickis Abgangschon den Ton von Nachrufen angestimmt hatten, belehrteder Kritiker die Öffentlichkeit schnell eines Besseren. Abge-sehen davon, dass er in der FAZ Herausgeber und Redakteurder von ihm 1974 ins Leben gerufenen >Frankfurter Antholo-gie< blieb und weiterhin literaturkritische Beiträge in dieserZeitung veröffentlichte, hat sich das Spektrum seiner Wir-kungsmöglichkeiten nur noch erweitert. Im >Spiegel< undauch wieder in der >Zeit< konnte man ihn gelegentlich lesen,vor allem aber konnte man ihn hören und sehen — in seinem»Literarischen Quartett«.

Das Fernsehen, diese gewiss in vieler Hinsicht fragwürdige,doch zweifellos wirksamste Animationsmaschinerie in Sa-chen Literatur, kam Reich-Ranicki gerade recht. Mit diesemMedium gelang es, seine Popularitätskurve noch einmal kräf-tig steigen zu lassen. Sie schien nicht mehr überbietbar. Dochdann erschien >Mein Leben<. Seinen größten und eindrucks-vollsten Erfolg hatte Reich-Ranicki im Alter von beinahe acht-zig Jahren — als Schriftsteller, als Autor seiner Autobiografie.

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KONKURRENZLOSE DOMINANZ11

Doch er blieb bei seinem Beruf, dem der Literaturkritik.>Kritik als Beruf< heißt programmatisch eines seiner bislangletzten Bücher. Es gibt zahllose Schriftsteller, Journalistenoder Literaturwissenschaftler, die auch als Literaturkritikertätig sind. Reich-Ranicki war, von gelegentlichen Abwegenabgesehen, ausschließlich Kritiker. Diese Spezialisierungund Konzentration machten seine Professionalität aus undsind einer der Gründe für seinen Erfolg.

Seine Wirkung reicht bis in die Wunsch- und Alpträumeberühmter Autoren hinein. Seine Kritiken sind seit Jahrzehn-ten zu gespannt erwarteten Ereignissen geworden. SeineRezensionen und Essays, zunächst in flüchtigen Medien er-schienen, haben sich zu einem dauerhaften literaturkriti-schen Werk angesammelt, das in mittlerweile über dreißigselbstständigen Buchpublikationen vorliegt. Sie erschienenmeist in mehreren überarbeiteten Auflagen oder fanden alsTaschenbücher weite Verbreitung. Die Spannweite all dieserPublikationen ist enorm: Sie umfasst auch zahlreiche Auto-ren russischer, polnischer, französischer und vor allem eng-lischer Sprache, und sie basiert auf umfassenden und fun-dierten literarhistorischen Kenntnissen der Literatur seitShakespeare.

Reich-Ranicki ist Gesprächsthema, wo immer man heuteüber Literatur redet. Er wird imitiert und parodiert, istGegenstand zahlreicher Anekdoten und als mehr oder weni-ger verschlüsselte Figur in Romane, Dramen oder Gedichteeingegangen. Mit vielen Preisen hat man ihn bedacht, auchmit akademischen Ehren. Als Gastprofessor lehrte er an zahl-reichen ausländischen und deutschen Universitäten. Seit 1974ist er Honorarprofessor an der Universität Tübingen. 1972zeichnete ihn die Universität Uppsala mit der Ehrendoktor-würde aus. Deutsche Universitäten begannen diesem Bei-spiel erst zwanzig Jahre später zu folgen.

Woher dieser beispiellose Erfolg, diese konkurrenzloseDominanz eines Literaturkritikers?

Zu den Gründen für seinen Erfolg gehört die oft provozie-rende, für Überraschungseffekte allemal gute Respektlosig-keit im kritischen Umgang mit anerkannten Autoritäten. Die

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KARRIERE EINES KRITIKERS12

eingangs zitierte Polemik gegen Goethes Gedicht ist dafürnur ein Beispiel. In seinem Buch >Der doppelte Boden<, einerArt Summe seiner literarischen Erfahrungen und literatur-kritischen Ansichten, geäußert in einem langen, spannen-den, höchst anregenden und lehrreichen Gespräch mit demZürcher Literaturwissenschaftler und Kritiker Peter vonMatt, nennt er die Klassikerverehrung eine »Spezialität desdeutschen Untertanen-Staates« und bewundert die Englän-der, die nie vor der Frage zurückscheuten: »How good is>Hamlet<?« In Reich-Ranickis Elbersetzung: »Was taugt ei-gentlich der Shakespeare?« Shakespeare sei dadurch leben-dig geblieben. »Durch das Anzweifeln wird die überlieferteLiteratur am Leben erhalten, zumindest in vielen Fällen.«(DB 88)

Reich-Ranicki lehrt die Literaturkritik statt einer kniendenHaltung den aufrechten Gang. In allen Publikationen ist erein »Kritiker« im emphatischen Sinn des Wortes: ein enga-gierter Verteidiger der Kritik gegenüber allen, denen diesegenuin aufklärerische Tätigkeit suspekt ist. Auch darin istseine Reaktion auf Goethes Gedicht typisch. Dass die natio-nalsozialistische Kulturpolitik 1936 unter dem Vorwand, dasschöpferische Genie vor den Zersetzungen der Kritik zuschützen, ein offizielles Verbot der Kunstkritik erließ und siedurch die »Kunstbetrachtung« ersetzte, ist für Reich-Ranickidas abschreckende Beispiel in einer langen und bis heute an-dauernden Tradition der Kritikfeindlichkeit. Gegen sieschreibt er unermüdlich an.

In der Tradition der Aufklärung, der Lessings zumal, vertei-digt er die entschiedene Wertung, die Provokation eingespiel-ter Vorurteile. Seine polemische Infragestellung anerkannterAutoritäten machte auch vor Lessing nicht Halt. Ihm sagte erzu dessen 200. Todestag nach, er habe »in seinem ganzen Lebenzu den Dramen Shakespeares keinen einzigen bemerkenswer-ten Satz geschrieben«, sondern »immer nur leere Phrasen«.(AL 24) Gleichwohl charakterisierte Reich-Ranicki in anderenPassagen dieses Artikels mit Lessing auch sich selbst: »Seinegroße Leidenschaft hieß Polemik.« Er liebte »den Wider-spruch, die Diskussion, den Streit«. (AL 16) Lessings Rechtfer-

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MUT ZUR ENTSCHEIDUNG13

tigung der Polemik als einer Möglichkeit, die Auseinanderset-zung mit Literatur zu dynamisieren, steht Reich-RanickisSelbstverständnis zweifellos nahe. Wer ihn liest, hört odersieht, merkt: Er will Recht haben. Zugleich aber sucht er denWiderspruch. Wer ihn genauer kennt, weiß, dass dem »Litera-turpapst« der päpstliche Anspruch auf Unfehlbarkeit fremdist. Sein Verständnis von Literaturkritik schließt das Risiko desFehlurteils programmatisch mit ein. Der gute Kritiker, so be-tonte er wiederholt, zeichnet sich durch den Mut zur Entschei-dung aus. »Wer >ja< oder >nein< sagt, der riskiert natürlich einengroßen Irrtum. Den schwachen, den schlechten Kritikern, diestets >Jein< sagen, kann schlimmstenfalls ein halber Irrtumunterlaufen. Die bedeutenden Kritiker erkennt man gerade anihren Irrtümern, weil sie im Urteil irrend gleichwohl ihre Ob-jekte glänzend zu charakterisieren vermochten.« (ZD 15)

In der Tradition der Aufklärung steht auch Reich-Ranickispermanentes Beharren auf einem Maximum literaturkriti-

3 Portraitauf-nahme 1998

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KARRIERE EINES KRITIKERS

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scher Klarheit und Verständlichkeit. Er begreift sie als Dienstfür ein breites, literaturinteressiertes Publikum. Er selbst siehtdarin einen der entscheidenden Gründe für seinen Erfolg. Mitden Maßstäben seiner literaturkritischen Urteile - er hat na-türlich welche, auch wenn er das gern bestreitet - misst er zu-gleich die Qualitäten der Kritik: Literatur und Kritik sollen esdem Leser nicht unnötig schwer machen, sie zu verstehen.Reich-Ranickis hartnäckiges Bemühen, die besonders inDeutschland breite Kluft zwischen anspruchsvoller Literaturund dem literaturinteressierten Publikum zu verkleinern,wenn nicht sogar zu schließen, hat ihn keineswegs daran ge-hindert, auch schwierige Autoren hoch zu schätzen und öf-fentlich zu preisen: Wolfgang Koeppen, Thomas Bernhardoder Hermann Burger. Wenn gute Literatur oft schwierig ist,dann hat die Kritik umso mehr die Aufgabe, »zwischen derKunst und dem Publikum, zwischen der Literatur und ihrenLesern zu vermitteln«. (DB 52)

Es sind diese Vermittlungswünsche und -fähigkeiten, diemaßgeblich zu Reich-Ranickis öffentlicher Resonanz beige-tragen haben. In dem vielfach gespannten Verhältnis zwi-schen Literaturwissenschaft und journalistischer Kritik bauenseine Publikationen Brücken, und er hat als Redakteur derFAZ vielen Literaturwissenschaftlern Gelegenheit gegeben,ihrerseits die Kluft zwischen ihrem Fach und der literari-schen Öffentlichkeit zu verringern.

Reich-Ranickis Verrisse und Lobreden beziehen ihre mit-reißende Energie aus einer geradezu obsessiven Leidenschaftfür Literatur. Noch der heftigsten Kritik ist bei Reich-Ranickidie Enttäuschung eines Liebhabers eingeschrieben, der nichtgefunden hat, was er leidenschaftlich suchte. Wem Literaturso viel bedeutet, der meint es ernst, wenn er über sie spricht.Wer Reich-Ranicki jedoch immer ganz ernst nimmt, muss ihnverfehlen. Am Ende seines »Literarischen Quartetts« pflegteer zu sagen: »Alle Fragen offen.« Kennzeichnender für ihnund seine Sendung war indes, was er davor sagte: »Vorhangzu.« Denn was da zu Ende ging, war ein Schauspiel, nichtselten eine Komödie. Alle seine Auftritte und auch seine Re-zensionen haben etwas von dem Charakter einer Inszenie-

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DEN LESER VERGNÜGEN

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rung. Peter von Matt hat in dem Gespräch mit Reich-Ranickidie vielleicht verblüffende Bemerkung gemacht, er habe beider Lektüre der Rezensionssammlung >Lauter Verrisse< vielgelacht. Es sind unter anderem die Stilmittel der überspitztenFormulierung und der maßlosen Übertreibung, die diesenEffekt gewollt hervorbringen. Hierin gleicht Reich-Ranickieinem anderen großen Komödianten und Übertreibungs-künstler, den er nicht zufällig außerordentlich schätzt: Tho-mas Bernhard. Reich-Ranickis Witz entspricht dem, was Lite-raturkritik seiner Auffassung nach auch zu leisten hat: denLeser zu vergnügen.

Ein Thomas Gottschalk der Literaturkritik? Nein. Ein groß-artiger Entertainer zwar, aber einer, der seine Begabung,seine Energie, seinen ungeheuren Fleiß und seinen Einflussnicht an den puren Nonsens verschleudert, sondern für et-was einsetzt, das er neben der Musik über alles liebt, das esaber im Zeitalter der Medienkonkurrenz zunehmend schwerhat: die Literatur.

Reich-Ranicki zu portraitieren muss heißen, seine Arbeitals Literaturkritiker zu beschreiben und zu würdigen. Siemacht seine Bedeutung aus. Sie lässt sich jedoch nicht ange-messen verstehen, ohne die Geschichte seines Lebens zu ken-nen. Es ist eine in vieler Hinsicht exemplarische Geschichtedes 20. Jahrhunderts in Deutschland.

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Vater, Mutter, Sohn

ast alles, was man bislang über Reich-Ranickis Lebenweiß, hat er selbst erzählt, vor allem in seiner Autobiogra-

fie >Mein Leben<. Es gibt zwar zahllose Berichte, Anekdotenund Impressionen anderer über ihn. Seine Person und seineArbeit sind oft und ausführlich gewürdigt, gelobt oder atta-ckiert worden. Doch eine umfassende Biografie über ihnexistiert nicht. Einen langen, sehr gut informierten und an-schaulich geschriebenen »biografischen Essay« hat immer-hin Volker Hage, ehemaliger Mitarbeiter von Reich-Ranickiin der FAZ und später leitender Literaturredakteur in der>Zeit< und im >Spiegel<, veröffentlicht. Er erschien 1995, alsReich-Ranickis Autobiografie noch nicht vorlag.

Wer bin ich? Woher komme ich? Das sind die Fragen, auf die>Mein Leben< gleich zu Beginn Antworten zu geben versucht.

Schmuggler und SchriftstellerSchmuggler haben in früheren Zeiten - und vielleicht ist es heutenicht viel anders - gern Koffer mit einem doppelten Boden ver-wendet. Wer den Koffer geöffnet hat, sah seinen Inhalt, an dem ersich erfreuen konnte. Er brauchte gar nicht zu wissen oder zuahnen, daß der innere Boden des Koffers keineswegs mit demäußeren identisch ist, daß es also unter dem Boden, der innensichtbar ist, noch einen zweiten gibt und also ein Zwischenraumentsteht. In diesem Zwischenraum verstaute der Schmugglerdas, worauf es ihm ankam und was er vor den Augen der Zöllneroder der Polizei verbergen wollte. So ist es mit der Literatur. Diemeisten Leser nehmen zwar Kenntnis von dem, was sich auf An-hieb wahrnehmen läßt, sie ahnen nicht, daß in der Novelle oderim Gedicht noch etwas enthalten ist, ein zweiter, über das un-mittelbar Erkennbare hinausgehender Inhalt. Es mag sein, daßes dem Autor darum geht, was er versteckt hat, daß er also demSchmuggler ähnelt, der mit einem doppelten Boden arbeitet. Esgibt Schriftsteller, die sich um das Zeichenhafte überhaupt nichtzu bemühen brauchen - so will es jedenfalls scheinen -, und esist dennoch immer da. (DB 32)

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HERKUNFT17

4 David Reich (1880-1942)

5 Helene Reich (1884-1942)

Es besteht kein Grund, Reich-Ranickis eigenen Auskünften zumisstrauen, doch lässt sich ihnen oft mehr entnehmen, als erausdrücklich schreibt. Auch seine Autobiografie hat jenen»doppelten Boden«, den der Kritiker in seinem Gespräch mitPeter von Matt zum Qualitätskriterium von Literatur erhobenhat. Da Autobiografien generell, wie auch Biografien, ein kaumentwirrbares Gemisch von Realität und Fiktion, von »Dich-tung und Wahrheit« sind, ist es nicht ehrenrührig, wenn man,wie Reich-Ranicki den guten Schriftsteller, auch den Autobio-grafen mit einem Schmuggler vergleicht. Der Koffer einesSchmugglers enthält mehr und anderes als das, was auf denersten Blick in ihm sichtbar ist.

Offen sichtbar sind die Fakten: In Wloclawek, einem polni-schen Städtchen an der Weichsel, kam er am 2. Juni 1920 zurWelt. Er blieb das jüngste Kind in der Familie. Die Schwesterwar dreizehn, der Bruder neun Jahre älter. Der Vater, damalsvierzig Jahre alt, hieß David Reich, war in Polen geboren undSohn eines erfolgreichen jüdischen Kaufmanns. Die vierJahre jüngere Mutter Helene Reich, geborene Auerbach, wareine Deutsche, ihr Vater ein verarmter Rabbiner. Sie kam ausPreußen, war in der deutschen Kultur verwurzelt und wurdedurch ihre Ehe nach Polen gleichsam verbannt.

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VATER, MUTTER, SOHN18

6 Marcel als Kind 1923

Doppelbödiger ist die vom Autobiografen geschilderte Be-ziehung des Sohnes zum Vater und zur Mutter. Nur mit Ein-schränkungen entspricht sie jener zeittypischen Familien-konstellation, die damals die Psychoanalyse beschriebenund in Erinnerung an den antiken Ödipus-Mythos auf denBegriff gebracht hat. Kafka und viele andere Autoren habensie im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts literarischausgemalt. Der Fall Marcel Reich ist ein anderer. Zwar liebtder Sohn die Mutter, aber er rivalisiert nicht mit einem über-mächtigen Vater.

Der schwache VaterWie Reich-Ranickis Autobiografie den Vater charakterisiert,ist gleichwohl beklemmend. »Er war solide und anspruchs-los, gütig und liebenswert.« (ML 22) Geliebt hat der Sohnden Vater jedoch nicht. Er hat ihn verachtet. Noch die Auto-biografie des fast 80-Jährigen ist davon gezeichnet. Den üb-lichen Konflikt zwischen Vater und Sohn habe er selbst niegekannt. »Wie hätte auch ein solcher Konflikt entstehen kön-nen, da ich meinen Vater niemals gehaßt und leider auchniemals geachtet, sondern immer bloß bemitleidet habe.«(ML 56) Es gibt in der Autobiografie kaum eine andere Per-

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DIE »FAMILIENKATASTROPHE«19

son, die mit solcher Vehemenz kritisiert wird. Nur die Musi-kalität des Vaters wird positiv erwähnt. Ansonsten hat derSohn unter ihm gelitten. Und zwar nicht, weil er zu stark,sondern weil er zu schwach war. »Das Scheitern meines Va-ters, kläglich und erbärmlich zugleich, warf einen düsterenSchatten nicht nur auf meine Jugend.« (ML 24)

Der Vater wird schuldig gesprochen für eine vom Kindnur undeutlich, doch intensiv wahrgenommene »Familien-katastrophe«. Diese »hatte zwei Gründe: die große Wirt-schaftskrise und meines Vaters Mentalität«.

Was damals, zumal in einer jüdischen Familie, die Fähig-keit des Vaters bedeutete, Frau und Kinder zu versorgen, wis-sen wir nicht zuletzt aus den Briefen, Tagebüchern und litera-rischen Werken Franz Kafkas. Erst als Ernährer einer Familiegalt ein Mann wirklich als Mann. Als Gregor Samsa, der vomVater die Rolle des Familienernährers übernommen hat, einesmorgens seinem Beruf nicht mehr nachkommt, sieht er sich inein Ungeziefer verwandelt.

Dass der Vater 1929 die Familie nicht mehr ernährenkonnte, hat ihm der damals neunjährige Sohn nie verziehen.»Er war ein Geschäftsmann und Unternehmer, dessen Ge-schäfte und Unternehmungen in der Regel wenig oder nichtseinbrachten. Natürlich hätte er dies früher oder später ein-sehen sollen, er hätte sich nach einer anderen Tätigkeit um-schauen müssen. Aber hierzu fehlte ihm jegliche Initiative.

Der Vater und die »Familienkatastrophe« 1929Kurz nach dem Ersten Weltkrieg hatte er in Wloclawek - wahr-scheinlich mit dem Geld seines Vaters - eine Firma gegründet,eine kleine Fabrik, in der Baumaterialien produziert wurden. Erbezeichnete sich gerne als »Industrieller«. Doch in den spätenzwanziger Jahren hat man in Polen immer weniger gebaut, derBankrott der Firma ließ sich nicht mehr vermeiden. Das war da-mals nicht ungewöhnlich, was freilich meine Mutter nicht trö-sten konnte: Hätte ihr Mann, pflegte sie zu sagen, Särge herge-stellt, dann würden die Menschen aufhören zu sterben.Sie hat damals sehr gelitten. Sie schämte sich, auf die Straße zugehen, denn sie rechnete mit höhnischen oder verächtlichen Bli-cken der Nachbarn und Bekannten. (ML 23)

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VATER, MUTTER, SOHN

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7 Der Neunjährige (links)

Fleiß und Energie gehörten nicht zu seinen Tugenden. Cha-rakterschwäche und Passivität bestimmten auf unglück-selige Weise seinen Lebensweg.« (ML 22 f.) In Erinnerungan die Zeit im Warschauer Getto werden die Urteile nochvernichtender. Auch im Getto »blieb mein gutmütiger, meingütiger Vater ein Versager«. (ML 56) Der Sohn schämte sichvor den Kollegen, dass er sich, damals zwanzig Jahre alt, fürseinen sechzigjährigen Vater um eine kümmerliche Beschäf-tigung bemühen musste. Es ist die gleiche Scham, die Jahrezuvor die Mutter empfand, als ihr Mann bankrott war: »Siehat damals sehr gelitten. Sie schämte sich, auf die Straße zugehen, denn sie rechnete mit höhnischen oder verächtlichenBlicken der Nachbarn und Bekannten.« (ML 23) Vielleicht je-doch habe sie »mehr als die Verachtung der Mitbürger derenMitleid« (ML 23) gefürchtet.

Die soziale Degradierung, die Mitleid auch bedeutenkann, vollzieht der Sohn an seinem Vater — als wolle er dieder Mutter angetane Schmach rächen. Er habe ihn »immerbloß bemitleidet«. Die Angst vor Verachtung oder gar Mit-