MARY HIGGINS CLARK Denn bereuen sollst du nie · Das Buch Schon als junges Mädchen wollte Mary...

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MARY HIGGINS CLARK Denn bereuen sollst du nie Mein Leben Aus dem Amerikanischen von Andreas Gressmann WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

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MARY HIGGINS CLARK

Denn bereuen sollst du nie

Mein Leben

Aus dem Amerikanischen von Andreas Gressmann

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

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Das BuchSchon als junges Mädchen wollte Mary Higgins Clarkschreiben. Es sollten jedoch noch Jahrzehnte vergehen,bis sie als junge Mutter am Küchentisch die ersten Erzäh-lungen schrieb und schließlich nach sechs Jahren und übervierzig Ablehnungen ihre erste Kurzgeschichte für ein-hundert Dollar verkaufte. Aber erst nach dem frühen Todihres Ehemanns begann sie neben ihrer Arbeit für das Ra-dio einen Roman zu schreiben. Der Rest ist Geschichte.

»Denn bereuen sollst du nie« ist das sehr persönlicheZeugnis der Bestsellerautorin.

Die AutorinMary Higgins Clark, geboren in New York, gilt als eineder erfolgreichsten und meistgelesenen Krimiautorinnender Welt. Ihre Bücher führen regelmäßig die internationa-len Bestsellerlisten an und haben allein in den USA eineGesamtauflage von über 80 Millionen Exemplaren erzielt.Die Autorin lebt und arbeitet in Saddle River, New Jersey.Ein ausführliches Werkverzeichnis findet sich im Anhang.

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Ich mit vier in der Bronx

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Prolog

Im Herbst, wenn die Blätter allmählich rote und goldeneFärbungen annehmen und die am Abend aufziehende

Kälte den kommenden Winter anzeigt, träume ich manch-mal einen mir schon vertrauten Traum. Ich gehe alleindurch mein altes Viertel. Auch dort ist es früher Herbst,und die Bäume sind schwer beladen mit rostrotem Laub,das sie bald abwerfen werden. Außer mir ist weit und breitniemand, doch ich fühle mich nicht einsam. Hinter denzugezogenen Gardinen werden nach und nach die Lichterangezündet, friedlich stehen die Doppelhäuser mit ihrenstuckverzierten Backsteinfassaden, und ich spüre, wie sehrmir dieses Pelham-Parkway-Viertel in der Bronx am Her-zen liegt.

Ich gehe an den hügeligen Äckern und Wiesen vorüber,zu denen meine Brüder und ich immer zum Schlittenfah-ren pilgerten: Joe, der ältere, der auf seinem Flexible Flyervorausfuhr, dahinter dann ich mit dem kleinen Johnny,der sich an meinen Rücken klammerte, und so sausten wirüber die vielen Buckel und Kurven der steil abfallendenWiese, die wir Suicide Hill, Selbstmörderhügel, getaufthatten. Das Jacoby Hospital und das Albert Einstein Me-dical Center erheben sich heute auf diesem Gelände, dochin meinem Traum existieren sie noch nicht.

Ich gehe gemächlich weiter, über Pinchot Place zur

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Narragansett Avenue und bleibe vor dem Haus stehen, indem die Clarks wohnen. Ich bin wieder sechzehn undhoffe, dass sich die Haustür öffnet und ich wie zufällig mitWarren Clark zusammentreffe, dem Fünfundzwanzig-jährigen, den ich insgeheim verehre. Doch im Traum weißich, dass noch fünf Jahre vergehen werden, bevor es zurersten Verabredung kommt. Lächelnd eile ich am nächs-ten Häuserblock vorbei zur Tenbroeck Avenue und öffnedie Tür unseres Hauses.

Der ganze Clan ist um den Tisch versammelt, meine El-tern und Brüder, Tanten und Onkel, Vettern und Kusinen,die engen Freunde und Nachbarn, die zur erweiterten Fa-milie geworden sind. Von der Küche her pfeift der Teekes-sel für die nächste Kanne Tee, alle sitzen gemütlich bei-sammen und lächeln zufrieden.

Unbemerkt nehme ich meinen Platz unter ihnen ein,während über die jüngsten Ereignisse gesprochen wird, diealten Geschichten wieder ausgegraben werden. Manch-mal bricht Gelächter aus, zuweilen glänzen Augen bei derErinnerung an diesen oder jenen, den es im Leben schlimmgetroffen hat, »der wohl keinen einzigen glücklichen Tagerlebt hat«. Aus dem Gedächtnis tauchen die Erinnerun-gen auf, wenn ich die Geschichten über zärtliche Liebes-gefechte höre, über schlechte Verträge, die am Altar ge-schlossen und ein Leben lang ausgehalten wurden, überFamilientragödien und -triumphe.

Ich kann nicht für andere Autoren sprechen. Denn wirsind alle Inseln, Produkte unserer Erinnerungen und Er-fahrungen, unseres Wesens und unserer Erziehung. Dochich weiß genau, dass der gesamte Erfolg, den ich als

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Schriftstellerin erleben durfte, gleichsam wie der Drachenmit der Schnur und die Schnur mit der Hand, verknüpftist mit der Abstammung meiner Vorfahren von der Grü-nen Insel, durch die meine Gene, meine Selbstwahrneh-mung, mein Geist und Denken unauslöschlich geprägtwurden.

Von Yeats stammt der Ausspruch, die Iren besäßen eindurchgängiges Gefühl des drohenden Unheils, welchesihnen in den vorübergehenden glücklichen Zeiten Kraftgebe. Ich glaube, dass die Mischung etwas ausgeglichenerist. In schwierigen Zeiten haben sie die Gewissheit, dasssich am Ende alles schon wieder richten wird. Wenn dage-gen die Sonne scheint, bleiben sie skeptisch. Zu schön, umwahr zu sein, ermahnen sie sich. Ganz bestimmt wird ir-gendetwas schiefgehen.

Kate. War es nicht ein Jammer um sie? Das hüb-scheste Geschöpf, das man sich denken konnte,und dann musste sie sich ausgerechnet diesen Kerlangeln. Wenn man bedenkt, dass sie Dan O’Neillhätte haben können! In den Nächten hat er fürsein Jurastudium gebüffelt und hat es schließlichzum Richter gebracht. Er hat nie geheiratet. Fürihn ist außer Kate nie jemand in Frage gekommen.

Anna Curley. Sie starb während der Grippeepi-demie von 1917, eine Woche bevor sie und Jimmyheiraten sollten. Wisst ihr noch, wie der arme Kerljeden Pfennig zusammengekratzt, die Möbel ge-kauft und die Wohnung für sie hergerichtet hat?Sie wurde in ihrem Hochzeitskleid beerdigt, undam Tag des Begräbnisses schwor Jimmy, in seinem

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künftigen Leben keine Stunde mehr nüchtern zusein. Und war er nicht ein Mann, der zu seinemWort stand?

Dann verblassen die Gesichter, und ich wache auf. Ich binwieder in der Gegenwart, doch die Erinnerungen sindnoch lebendig. Alle. Von Anfang an.

Möchten Sie sie mit mir teilen?

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Meine erste bewusste Erinnerung ist, dass ich, dreiJahre alt, mit einer Mischung aus Neugier und Ver-

zweiflung auf meinen neuen Bruder hinunterblicke. SeinKinderbett war nicht rechtzeitig geliefert worden, und erlag schlafend in meinem Puppenwagen, weshalb meineLieblingspuppe, die ich gerade zum Schlafen zurechtge-macht hatte, von ihrem angestammten Platz verdrängtworden war.

Luke und Nora, mein Vater und meine Mutter, kanntensich schon sieben Jahre, keine übermäßig lange Brautwer-bungsfrist für irische Verhältnisse. Er war zweiundvierzigund sie Ende dreißig, als sie endlich die ehelichen Bandeknüpften. Binnen eines Jahres kam Joseph zur Welt; ich,Mary, neunzehn Monate später. Und Mutter feierte ihrenfünfundvierzigsten Geburtstag, indem sie Johnny gebar.Es heißt, der Arzt habe, als er ihr Zimmer betrat und siemit dem Neugeborenen im Arm und dem Rosenkranz inden Fingern antraf, trocken bemerkt: »Ich nehme an, die-ser hier soll Jesus heißen.«

Da wir nicht hispanischer Abstammung waren, in wel-cher Kultur Jesus als Vorname durchaus gebräuchlich ist,kam Mutter mit John, immerhin ein Vetter ersten Gradesder Heiligen Familie, dem Ideal am nächsten. Später, alswir alle drei auf der St. Francis Xavier School waren und

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Meine Eltern, Nora und Luke Higgins, um 1923 in Rockaway Beach

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man uns anwies, bei unseren Klassenarbeiten oben auf daserste Blatt die Buchstaben J.M. J. zu schreiben, was für Je-sus, Maria und Josef stand, dachte ich immer insgeheim,damit seien wir, Joe, ich und Johnny, gemeint.

Das Jahr 1931, in dem Johnny zur Welt kam, war in un-serer bescheidenen Welt ein gutes Jahr. Der Irish Pub mei-nes Vaters lief. Angesichts des bevorstehenden Familienzu-wachses hatten meine Eltern ein Haus in Pelham Parkwayin der Bronx gekauft. Dieses Gebiet war damals eher nochländlich als vorstädtisch geprägt. Nur zwei Straßen vonunserem Haus entfernt befand sich Angelinas Farm. An-gelina, eine verhutzelte ältere Dame, tauchte jeden Nach-mittag in der Straße vor unserem Haus auf, einen Wagenmit frischem Obst und Gemüse vor sich her schiebend.

»Gott segne dein Mama und dein Papa, sag ihne, ich habheute gutte grüne Bohne«, pflegte sie uns zu begrüßen.

Unser Haus, die Nummer 1913 in der Tenbroeck Ave-nue, war eine Doppelhaushälfte, in Backstein und Stuckaufgeführt, mit sechs Zimmern und einer zusätzlichenToilette in einem besonders kalten Teil des Kellers. DieFreude meiner Mutter über das eigene Heim wurde nurgeringfügig durch die Tatsache getrübt, dass sie und meinVater zehntausendfünfhundert dafür gezahlt hatten,während Anne und Charlie Potters, die die andere Hälftegekauft hatten, für exakt dieselbe Wohnfläche nur zehn-tausend bezahlen mussten.

»Das kommt nur daher, weil dein Vater sein eigenes Ge-schäft hat und wir in einem teuren neuen Wagen vorge-fahren sind«, klagte sie.

Doch kaum hatten sie den teuren neuen Wagen, einenNash, aus dem Ausstellungsraum gefahren, hatte er be-

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reits angefangen, Öl zu verlieren. »Damit begann sich un-ser Glück zu wenden«, erinnerte sie sich später.

Die schlimmen Jahre der Depression hatten eingesetzt.Als ich ein kleines Kind war, bekam ich regelmäßig mit,dass es an der Haustür klingelte, Mutter öffnete und drau-ßen ein Mann in sauberen, aber abgewetzten Kleidernstand. Höflich erkundigte er sich, ob es Arbeit für ihn gäbe,egal welche. Vielleicht musste irgendetwas repariert odermussten die Wände neu gestrichen werden? Und fallsnicht, ob wir ihm vielleicht mit einer Tasse Kaffee aushel-fen könnten, und vielleicht auch mit etwas zu essen.

Mutter hat nie jemanden abgewiesen. Sie hatte einTischchen im Eingangsflur aufgestellt und brachte demunangemeldeten Gast bereitwillig eine Mahlzeit. Saft,Kaffee, ein weich gekochtes Ei und Toast am Morgen,Sandwichs und Tee zu Mittag.

Ich habe unser Haus und unser Viertel geliebt. Ich hatteein kleines Zimmer für mich, dessen Fenster sich überdem Hauseingang befand. Morgens wurde ich durch dasKlippklapp der Pferde geweckt, welche die Milch- undBrotwagen zogen. »Borden’s« – Milch. »Dugan’s« – Brotund Kuchen. Die Schilder mit diesen Aufschriften gehö-ren längst der Vergangenheit an, genau wie die geduldigenPferde und die quietschenden Wagen, die mich wecktenund deren vertrauter Anblick mir über all diese Jahre einGefühl der Geborgenheit verlieh. Auf den Stufen zumEingang stand ein Kasten, in dem die Milchflaschen ab-gestellt wurden. Im Winter prüfte ich die draußen herr-schende Temperatur, indem ich schaute, ob die oben inden Flaschen schwimmende Sahne gefroren war, wodurchsich der Kartonverschluss nach oben wölbte.

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Im Sommer, am späteren Nachmittag, warteten wir ge-spannt auf das Gebimmel von Glöckchen – das Signal,dass gleich Eddy, der Eismann, auf seinem schweren Las-tenfahrrad um die Ecke biegen würde. Wenn ich heutezurückdenke, meine ich, dass er damals nicht viel älter alsAnfang dreißig gewesen sein kann. Mit einem freundli-chen Lächeln und einer Engelsgeduld wartete er, währenddie Kinder sich um ihn sammelten und lange beratschlag-ten, auf welche Geschmacksrichtung sie ihre Wahl fallenlassen sollten.

Unter uns hatte sich eine feste Gewohnheit etabliert:Wochentags gaben wir ein Fünfcentstück für ein Eis imPappbecher aus, am Sonntag ein Zehncentstück für einen»Good Humor« am Stiel. Das war der Tag, an dem mir dieWahl am schwersten fiel. Besonders liebte ich außen ge-brannte Mandel und innen Vanilleeis. Andererseits liebteich auch außen Schokolade und innen Schokolade.

Wenn wir endlich unsere Wahl getroffen hatten, ent-brannte zwischen Joe, John und mir regelmäßig ein Wett-kampf darüber, wer von uns am längsten an seinem Eislecken konnte und so die andern zwingen würde, mit her-aushängender Zunge zuzusehen, wie der Gewinner dieletzten Reste vom Stiel schleckte. Das Problem bestanddarin, dass an heißen Sonntagen das Eis ziemlich schnellschmolz und es nicht selten vorkam, dass demjenigen, deres zunächst geschafft hatte, seins am langsamsten zu essen,das halbe Eis vom Stiel rutschte und auf dem Boden lan-dete. Das Schmerzgeheul des Pechvogels verschaffte denbeiden anderen die Genugtuung, ihn hämisch auslachenzu können: »Ha, ha. Hast wohl gedacht, du wärst schlauerals wir.«

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Bei Eddy »Good Humor«, dem Gute-Laune-Mann,fehlten an Daumen und Zeigefinger der linken Hand dieobersten Glieder. Er erklärte uns, dass mit dem Verschlussan der schweren Tür des Kühlfachs etwas nicht in Ord-nung gewesen sei. Eine Sprungfeder sei versehentlich zu-geschnappt, und seine Finger seien dazwischengeraten.»Aber es war ein guter Unfall«, sagte er. »Die Firma hat mirzweiundvierzig Dollar gegeben, und davon konnte icheinen Wintermantel für meine Frau kaufen. Sie brauchteihn dringend.«

Bis zu der Zeit, als ich in die dritte oder vierte Klasseging, war unsere Familie noch nicht so richtig von der Depression betroffen. Wir hatten eine Putzfrau, unsere»deutsche Mary«, die wir »Lally« nannten, weil sie immerauf der Straße »Lalalalaaaaa« sang. Jahre später sollte siezum Vorbild für die Lally in meinem zweiten Roman AStranger is Watching (»Die Gnadenfrist«) werden. Da-mals war sie der erste Luxus, von dem wir uns trennenmussten.

Jeden Tag bekamen wir zwei Exemplare der Times ge-liefert. Eines wurde aufgehoben, das lieferte ich am nächs-ten Morgen auf dem Weg zur Schule im Frauenkloster ab.Damals war es den Nonnen nicht gestattet, die Zeitungvom laufenden Tag zu lesen. Doch als die Zeiten zuneh-mend härter wurden, fielen auch die Nonnen irgendwannden Sparmaßnahmen zum Opfer. Mutter war gezwungen,das Abonnement beider Exemplare zu kündigen. Wennman es recht bedenkt, gab es sogar noch ein weiteres Op-fer, nämlich den Zeitungszusteller.

Mit sechs Jahren habe ich mein erstes Gedicht geschrie-ben. Ich besitze es noch, denn Mutter hob alles auf, was

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ich schrieb. Sie bestand auch darauf, dass ich alles, was ichgeschrieben hatte, den Leuten vortrug, die gerade zufälligzu Besuch da waren. Da sie vier Schwestern und viele Ku-sinen besaß, die alle häufig zu Besuch kamen, wird sich sicherlich regelmäßig stillschweigender Unmut breitge-macht haben, wenn sie ankündigte: »Mary hat heute wie-der ein wunderschönes Gedicht geschrieben. Sie hat ver-sprochen, es uns aufzusagen. Mary, stell dich auf denTreppenabsatz und sag dein wunderschönes neues Ge-dicht auf.«

Nachdem ich meinen neusten lyrischen Erguss vor denversammelten Gästen zum Besten gegeben hatte, gab mei-ne Mutter das Zeichen zum allgemeinen Beifall. »Mary istsehr begabt«, pflegte sie dann unweigerlich zu sagen.»Aus Mary wird noch einmal eine erfolgreiche Schriftstel-lerin.«

Wenn ich daran zurückdenke, bin ich sicher, dass michdie unfreiwilligen Zuhörer am liebsten erwürgt hätten,aber ich empfinde auch tiefe Dankbarkeit für diese frühenErmutigungen und das absolute Zutrauen in meine Fähig-keiten, die ich empfangen habe. Als ich später meine ers-ten Kurzgeschichten in die Welt hinaus verschickte undsie postwendend wieder zurückbekam, habe ich nie denMut sinken lassen. Stets hörte ich in meinem Unbewuss-ten die Stimme meiner Mutter, die mich zum Weiterma-chen ermuntert. Eines Tages werde ich eine erfolgreicheSchriftstellerin sein. Ich werde es schaffen.

Deshalb möchte ich, wenn Sie gestatten, an dieser Stelleein paar Worte an die Eltern und Lehrer unter Ihnen rich-ten: Wenn ein Kind zu Ihnen kommt und Ihnen etwaszeigt, was es geschrieben oder gezeichnet hat, dann sparen

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Sie nicht mit Ihrem Lob. Wenn es etwas Geschriebenes ist,dann reden Sie nicht über Rechtschreibung oder Hand-schrift; betrachten Sie nur das Kreative darin, und lobenSie es. Die Flamme der Inspiration braucht Ermutigung.Stülpen Sie ein Schutzglas über diese kleine Kerze undschützen Sie sie vor abfälligen Bemerkungen und wohlfei-lem Spott.

Dann begann ich auch, kleine Sketche zu schreiben,und ich überredete Joe und John, sie mit mir aufzufüh-ren. Ich war zugleich Autorin, Regisseurin, Produzentinund der Star des Stücks. Ich erinnere mich noch, dass sich John beschwerte: »Kann ich nicht auch mal der Starsein?«

»Nein, ich hab es geschrieben«, erklärte ich. »Wenn duetwas schreibst, dann kannst du der Star sein.«

Mutters unverheiratete Schwestern May und Agnes wa-ren am häufigsten bei uns zu Besuch, sie waren daher amlängsten unfreiwillige Zeugen meines aufkeimenden Ta-lents. May war elf Monate älter als Mutter und genau wiesie Einkäuferin für ein Kaufhaus in der Fifth Avenue ge-wesen. Agnes, die zweitjüngste der Familie, hatte sich mitvierundzwanzig in Bill Barrett verliebt, einen gut ausse-henden, freundlichen Kriminalbeamten, vierzehn Jahreälter als sie. Aber die Sache hatte einen Haken: Die alteMrs. Barrett, Bills Mutter, welche die meiste Zeit ihres Le-bens auf der Couch lag, hatte Bill inständig gebeten, mitdem Heiraten zu warten, bis sie vor Gottes Thron gerufenwürde. Sie war überzeugt, dass ihr Tod unmittelbar be-vorstand und wollte ihn unter ihrem Dach wissen, wennihre Zeit kommen würde.

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Es vergingen Monate und Jahre. Alle liebten Bill, dochvon Zeit zu Zeit bekam ich mit, dass Mutter Agnes ein-schärfte, sie möge ihn auffordern, sich endlich zu erklären.Vierundzwanzig Jahre waren sie zusammen, als Gottschließlich einen Barrett zu sich rief – doch es war Bill, derstarb, nicht seine Mutter. Mit fünfundneunzig ging es ihrimmer noch blendend. Ihr anderer Sohn, der so klug ge-wesen war, früh zu heiraten, brachte sie in ein Altersheim.Und wer hat sie dort regelmäßig besucht? Agnes.

Mit sieben Jahren bekam ich ein Tagebuch geschenkt, ei-nes dieser in Leder gebundenen Dinger, in dem für jedenTag vier Zeilen vorgesehen sind, dazu ein goldenes Schlüs-selchen, mit dem man natürlich gar nichts abschließenkonnte. Der erste Eintrag war nicht sehr vielversprechend.Er lautet, vollständig wiedergegeben:

»Heute ist nicht viel passiert.«Doch dann füllen sich die Seiten allmählich, vollgekrit-

zelt mit den tagtäglichen Ereignissen im Freundeskreisund in der Familie.

Wenn Mutters Schwestern, echte oder entfernte Kusi-nen zu Besuch kamen und sich alle um den Esszimmer-tisch versammelt hatten, vor sich eine dampfende TasseTee, wurden die alten Geschichten aufgewärmt.

Nora, erinnerst du dich noch, wie Vetter Fred beideiner Hochzeit auftauchte? …

Mutter hatte der Höflichkeit halber eine Einladung anentfernte Vettern in Pennsylvania geschickt und dabei ver-gessen, dass Vetter Fred einen Eisenbahnpass auf Lebens-zeit besaß. Am Morgen der Hochzeit standen er und seine

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Frau, zusammen mit ihrem neun Jahre alten Enkel, unver-mutet vor der Haustür. Der Eisenbahnpass galt auch fürFamilienmitglieder. Es endete damit, dass Mutter ihnenzuerst einmal ein Frühstück machen musste und das Kinddie ganze Zeit im Haus herumlief, während sie und Maysich anzogen.

Nora, erinnerst du dich noch, wie dieser Mensch,mit dem du damals Umgang hattest, eines Tagesnicht dich, sondern Agnes zum Gesellschaftstanzeinlud, und Papa fürchterlich darüber in Wut ge-riet? »Ich werde nicht dulden, dass ein Mann meinHaus betritt und sich unter meinen Töchtern eineaussucht«, schimpfte er.

Ich liebte die alten Geschichten. Die Jungen hatten dafürkeine Geduld, doch ich saugte sie geradezu auf. Solangeich nicht herumzappelte, durfte ich immer dableiben undzuhören.

Unsere direkte Nachbarin Annie Potters gesellte sichoft zu der kleinen Runde. Charlie, ein dicklicher Polizist,war Annies zweiter Ehemann. Mit zwanzig Jahren war sie bereits zur Witwe geworden, bei der Grippeepidemievon 1917. Von ihrem verstorbenen ersten Ehemann, BillO’Keefe, sprach sie immer nur als von »ihrem Bill«. Char-lie war immer »mein Charlie«. Sie waren beide Ende drei-ßig, als sie heirateten.

»Ich war so furchtbar einsam«, erzählte Annie. »JedeNacht lag ich weinend in meinem Bett und sehnte michnach meinem Bill. Doch kein Mensch hat Lust, sich stän-dig den Kummer anderer anzuhören, deshalb behielt ichimmer ein Lächeln auf den Lippen. Die Leute nannten

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mich ›die lustige Witwe‹. Und dann hab ich meinen Char-lie kennengelernt.«

Charlie starb viele Jahre später im Alter von siebzig Jah-ren, zwei Jahre danach heiratete Annie »ihren Joe«. AlsGott auch diesen zu sich berief, begann Annie sich erneutumzuschauen, doch ihrer Suche war kein Erfolg beschie-den, bis sie selbst das Zeitliche segnete und im Jenseits mitihren Ehegatten wiedervereinigt wurde.

Annie besaß einen markanten Unterkiefer und gefärbterote Haare, und sie war eine der ersten Frauen in derBronx, die sich eine Dauerwelle machen ließen. Unglück-licherweise gingen bei der Prozedur sechzig Prozent ih-rer Haare unwiederbringlich verloren. Dessen ungeach-tet betrachtete sie nach wie vor ihr Ebenbild im Spiegelmit großem Wohlgefallen und verhielt sich auch entspre-chend. Annie war Vorbild für die in mehreren meiner Romane auftauchende Figur Alvirah, die Lotteriegewin-nerin.

Zu Hause wurde die finanzielle Lage immer angespann-ter, und mein Vater wirkte mehr und mehr erschöpft. SeinTagesablauf sah so aus, dass er bis elf Uhr schlief, danachfrühstückte, in den »Laden« ging, wie er den Pub nannte,um fünf nach Hause kam, um mit der Familie zu Abendzu essen, und danach zurück in den Laden ging, wo er bisdrei Uhr früh blieb.

Nachdem er zunächst einen Barkeeper entlassen muss-te, anschließend einen Kellner und schließlich noch denzusätzlichen Barkeeper, stand er immer früher auf, umsich um die Bestellung der Vorräte und die anderen Auf-gaben zu kümmern, die seine Angestellten zuvor erledigthatten.

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Das Problem bestand darin, dass damals die Leute vor-zugsweise auf Kredit bestellten. Sie ließen ihre Drinks an-schreiben, sie ließen ihr Essen anschreiben, und am Endekonnten sie ihre Rechnung nicht bezahlen. Wenn man ih-nen den Kredit verweigerte, wechselten sie einfach in einanderes Lokal, wo man ihnen wieder bereitwillig Krediteinräumte in der Hoffnung, dass sie irgendwann einmaldie Rechnung begleichen würden.

Mutter meinte, am besten wären die Leute dran, die fürdie Regierung arbeiteten – Lehrer, Feuerwehrleute, Poli-zisten. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie später,als ich ein halbwegs heiratsfähiges Alter erreicht hatte,dafür betete, ich möge einen irischen, katholischen Mannmit einer Arbeit bei der Stadt heiraten, sodass mir wenigs-tens eine Rente zustehen würde.

Doch selbst bei der Stadtverwaltung war die finanzielleLage angespannt. Bürgermeister LaGuardia ließ den Män-nerchor der Polizei auflösen, in dem Charlie Potter bereitsals Gründungsmitglied mitgewirkt hatte. Das bedeutete,dass Charlie wieder den Verkehr regeln musste und manihn gelegentlich murren hörte, dass »diese fette, kleineRatte im Rathaus dabei sei, die ganze Kultur der Stadt zuzerstören«.

Annies Vater, Mr. Fitzgerald, wohnte bei seiner Tochterund deren Mann. In der Nachbarschaft bekannt als »OldMan Fitz«, saß er stundenlang auf dem Mäuerchen zwi-schen unseren Eingangstreppen, ein dickes Kissen unterdem mageren Hintern, und paffte seine Pfeife. Alle paarAugenblicke stöhnte er »Oh, mein Gott«, was einem nacheiniger Zeit ganz schön auf die Nerven ging, wenn mansich gerade in der Nähe aufhielt.

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Die Originalausgabe KITCHEN PRIVILEGES

erschien 2002 bei Simon & Schuster Inc., New York

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier München Super

liefert Mochenwangen.

Vollständige deutsche Erstausgabe 06/2007Copyright © 2002 by Mary Higgins Clark

Copyright © 2007 dieser Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbHPrinted in Germany 2007

Umschlagillustration und Umschlaggestaltung:© Eisele Grafik Design, München

unter Verwendung eines Fotos von © Hans StarckDie Fotos auf Seite 243 sind von Christopher Little / Corbis Outline

Satz: Leingärtner, NabburgDruck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN: 978-3-453-40504-2

www.heyne.de

SGS-COC-1940

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Mary Higgins Clark

Denn bereuen sollst du nieMein Leben

DEUTSCHE ERSTAUSGABE

Gebundenes Buch, Pappband, 256 Seiten, 12,0 x 18,7 cm17 s/w AbbildungenISBN: 978-3-453-40504-2

Heyne

Erscheinungstermin: Mai 2007

Spannende Einblicke in das Leben der Queen of Crime Offen, berührend und inspirierend erzählt Mary Higgins Clark aus ihrem Leben voller Höhen undTiefen. Wer verstehen will, wie sie zu einer der weltweit erfolgreichsten Autorinnen wurde, mussdieses Buch lesen. Aufgewachsen in der Bronx arbeitete sie unter anderem als Stewardess, bissie ihre große Liebe heiratete. Das Glück währte nur eine allzu kurze Zeit, doch nie verlor diefünffache Mutter den Mut: Sie begann Bücher zu schreiben. • Ein besonderes Geschenk der Schriftstellerin an alle ihre Fans• Mit komplettem Werkverzeichnis• Mit zahlreichen Fotos aus dem Privatbesitz