Master-Thesis - Zukunftsrat Hamburg · Master-Thesis in Kooperation mit der Behörde für...
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Master-Thesis
in Kooperation mit der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt der Freien- und
Hansestadt Hamburg zu dem Thema:
Nachhaltigkeitsindikatoren aus theoretischer und praktischer Perspektive –
Ökonomische und soziale Kennzahlen für ein „Nachhaltigkeitsindikatorenset“ der
Stadt Hamburg.
- Fakultät für Informatik, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften -
- Fachbereich für Ökologische Ökonomie -
- Studiengang: Sustainability Economics and Management -
Betreuender Gutachter: Prof. Dr. Niko Paech
Zweiter Gutachter: Prof. Dr. Bernd Siebenhüner
vorgelegt von: Moritz Marker
Budapester Str. 40
20359 Hamburg
Matrikelnr.: 1300777
E-Mail: [email protected]
Oldenburg, den 29.11.2011
Inhaltsverzeichnis
I. Abbildungsverzeichnis .................................................................................................. I
II. Abkürzungsverzeichnis ................................................................................................ II
1 Einleitung und Fragestellung ........................................................................................ 3
1.1 Hintergrund und Problemstellung .......................................................................... 3
1.2 Zielsetzung und Abgrenzung ................................................................................. 4
1.3 Gliederung der Arbeit ............................................................................................ 5
2 Nachhaltigkeit und nachhaltige Entwicklung ............................................................... 6
2.1 Idee und Konzeption .............................................................................................. 6
2.2 schwache Nachhaltigkeit und der Beitrag der Umweltökonomie ......................... 8
2.3 starke Nachhaltigkeit und der Beitrag der ökologischen Ökonomie ..................... 9
2.4 zur Rolle des Drei-Säulen-Modells ..................................................................... 10
3 Operationalisierung von Nachhaltigkeit – Die Bildung von
Nachhaltigkeitsindikatoren ......................................................................................... 13
3.1 Definition und Kritik ........................................................................................... 13
3.2 zur Konzeption von Nachhaltigkeitsindikatoren – Methodik, Systematik und
Vorgehensweise ................................................................................................... 15
3.2.1 Indikatoren und Zielvorgaben .................................................................... 17
3.2.2 Indices und Aggregation ............................................................................ 17 3.2.3 Umfang von Indikatorensystemen ............................................................. 18
3.3 Praxisbeispiele für Nachhaltigkeitsindikatoren ................................................... 19
3.3.1 International: das UNCSD-Indikatorenset (1996) ...................................... 19 3.3.2 National: die deutsche Nachhaltigkeitsstratgie (2002) ............................... 21 3.3.3 Regional: die Nachhaltigkeitsstrategie Schleswig-Holsteins (2003) ......... 22
3.3.4 Stadt: Sustainable Seattle (1993)................................................................ 22
3.4 Zwischenfazit ....................................................................................................... 23
4 Lebensqualität, Gerechtigkeit und Wachstum – theoretische Grundlagen für die
Auswahl von Nachhaltigkeitsindikatoren ................................................................... 25
4.1 Der traditionelle Wachstumsbegriff – unvereinbar mit dem
Nachhaltigkeitsgedanken? ................................................................................... 26
4.2 Der Wachstumsdiskurs – eine Zusammenstellung von kritischen Ansätzen ...... 28 4.2.1 die ökologischen Grenzen des Wachstums ................................................ 28 4.2.2 Wachstum und Verteilungsgerechtigkeit ................................................... 30 4.2.3 von Konsumzwängen und Wachstumsspiralen .......................................... 32 4.2.4 zum Zusammenhang von materiellem Wohlstand und individueller
Lebenszufriedenheit ................................................................................... 34
4.3 ein Beitrag der Postwachstumsökonomik ............................................................ 36
4.4 die Konzeption alternativer Wohlstandsindikatoren – die Lösung des
Wachstumsdilemmas? ......................................................................................... 40
4.5 Zwischenfazit ....................................................................................................... 44
4.6 Überlegungen zu Lebensqualität und gesellschaftlicher Teilhabe ...................... 44
5 Ökonomische und soziale Nachhaltigkeitsindikatoren für Hamburg ......................... 53
5.1 Hamburg im Kontext nachhaltiger Entwicklung ................................................. 53
5.2 Erfahrungen mit Nachhaltigkeitsindikatoren in Hamburg................................... 54
5.3 Monitor „Wachsende Stadt“ und „Hamburger Entwicklungsindikatoren
Zukunftsfähigkeit“ ............................................................................................... 55
5.4 Vorstellung der Leitthemen und Indikatoren ....................................................... 56 Leitthema: nachhaltige Wirtschaftsstruktur und bewusster Konsum ................. 60 Leitthema: Versorgung mit lokalen Produkten .................................................. 68
Leitthema: ökonomische und soziale Gerechtigkeit .......................................... 70 Leitthema: Wohnungsmarkt ............................................................................... 77 Leitthema: gesellschaftlicher Zusammenhalt ..................................................... 81 Leitthema: Zeitsouveränität ............................................................................... 85 Leitthema: Bildungsniveau ................................................................................ 89
Leitthema: Gesundheitsniveau ........................................................................... 91
6 Schlussbemerkungen und Ausblick ............................................................................ 94
Literaturverzeichnis ......................................................................................................... 97
Anhang .......................................................................................................................... 108
Anhang A1: Liste der 15 Themenfelder des UNCSD-Indikatorensets ..................... 108
Anhang A2: Beispiel eines Indikatorenblattes des Nachhaltigkeitsmonitorings
Schleswig-Holsteins ............................................................................ 113
Anhang A3: Indikatoren im Rahmen der „Gross Happiness Initiative“ der Stadt
Seattle .................................................................................................. 115
Anhang A4: Themenfelder und Indikatoren der Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft
„Klima, Energie, Mobilität – Nachhaltigkeit (BLAG KliNa)“ ........... 116
Anhang A5: Themenfelder und Indikatoren der „Hamburger Entwicklungs-
Indikatoren Zukunftsfähigkeit (HEINZ)“ ............................................ 121
– I –
I. Abbildungsverzeichnis
Abbildung 3-1: Methodische Anforderungen an Indikatoren ......................................... 16 Abbildung 3-2: Systematik bei der Bildung von Nachhaltigkeitsindikatoren ................. 19 Abbildung 4-1: Historische Wachstumsraten des deutschen BIP seit 1950 .................... 27
Abbildung 4-2: Entwicklung des BIP und der Staatsverschuldung in Deutschland ....... 32 Abbildung 4-3: Zusammensetzung des NWI .................................................................. 43 Abbildung 4-4: Reihenfolge und Beschäftigungszeit persönlicher Aktivitäten in den
USA ....................................................................................................... 50 Abbildung 5-1: Überblick der Leitthemen und Indikatoren ............................................ 57
– II –
II. Abkürzungsverzeichnis
BIP Bruttoinlandsprodukt
BLAG KliNa Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft „Klima, Energie, Mobilität –
Nachhaltigkeit
BSB Behörde für Schule und Berufsbildung
BSG Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz
BUND Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland
CO2 Kohlenstoffdioxid
DIW Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung
HEINZ Hamburger Entwicklungsindikatoren Zukunftsfähigkeit
IEA International Energy Agency
ISEW Index of Sustainable Economic Welfare
LIKI Länderinitiative Kernindiaktoren
MEW Measure of Economic Welfare
NWI Nationaler Wohlfahrtsindex
SRU Sachverständigenrat für Umweltfragen
UNCED United Nations Conference on Environment and Development
UNCSD United Nations Conference on Sustainable Development
UN United Nations
WWF World Wildlife Fund
– 3 –
1 Einleitung und Fragestellung
1.1 Hintergrund und Problemstellung
Seit der Konferenz der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro und der Verabschiedung
des Nachhaltigkeitsgedankens als neues Entwicklungsziel der Menschheit im Jahr 1992,
hat es weltweit erhebliche Anstrengungen gegeben, um das neue Leitbild in politische
Entscheidungs- und gesellschaftliche Transformationsprozesse zu integrieren. Dabei
besteht trotz unterschiedlicher Vorstellungen über den Pfad zum Erreichen einer
nachhaltigen Entwicklung Einigkeit, dass Nachhaltigkeit auf allen politischen Ebenen
(international, national, regional und lokal) unter Zuhilfenahme von geeigneten
Indikatoren operationalisiert werden muss (Gehrlein 2004, S. 26–30).
Zentrales Instrument zur Operationalisierung des Nachhaltigkeitspostulates ist die
Formulierung und Umsetzung einer Nachhaltigkeitsstrategie, dessen Fortschritt und
Zielerreichung durch quantitative Messsysteme überwacht werden soll.
Durch die wissenschaftliche Bestätigung des anthropogenen Einflusses auf die
Klimaentwicklung und einer Vielzahl von medialen Inszenierungen hat sich besonders
der ökologische Aspekt einer zukunftsfähigen Entwicklung in der öffentlichen
Wahrnehmung festgesetzt (Klimaerwärmung). Doch durch diese Betrachtungsweise
wird der Nachhaltigkeitsgedanke nur partiell erfasst. Umfassendere Fragestellungen auf
sozialer und wirtschaftlicher Ebene werden damit nicht adäquat berücksichtigt und
bewirken, dass ebenso relevante Themenkomplexe jenseits der ökologischen Frage nur
unzureichend in politische Handlungsfelder integriert werden.
Auch die Freie- und Hansestadt Hamburg hat sich bisher eher auf eine einseitige
Betrachtung des Nachhaltigkeitsgedankens konzentriert. Zwar wirkt Hamburg an der
länderübergreifenden Arbeitsgemeinschaft zur Bildung von Nachhaltigkeitsindikatoren
mit, diese beschäftigt sich jedoch bisher ausschließlich mit der Erhebung von
umweltbezogenen Indikatoren. Im Jahr 2007 verabschiedete der Senat der Hansestadt
zudem eine umfangreiche Klimaschutzstrategie, die zu einer deutlichen Minderung der
städtischen Treibhausgasemissionen beitragen soll. Eine konkrete
Nachhaltigkeitsstrategie, deren Umsetzung anhand von Indikatoren überwacht werden
soll, ist bisher jedoch nicht implementiert worden. Mit diesen Maßnahmen wird zwar
ein essentieller Teil einer dauerhaften Entwicklung erfasst, soziale und wirtschaftliche
Fragestellungen aber weitgehend außen vor gelassen.
– 4 –
Zur Identifizierung derartiger Fragestellungen und deren Einordnung in das Leitbild der
Nachhaltigkeit bedarf es der Auseinandersetzung mit grundlegenden ökonomischen und
sozialgesellschaftlichen Konzepten.
Die klassische Wohlfahrtsökonomie hat in den hochindustrialisierten Ländern für eine
enorme Ausstattung der Menschheit mit materiellen Gütern gesorgt. Es zeigt sich
jedoch zusehends, dass die Versorgung mit einer unüberschaubaren Anzahl an Gütern
und Dienstleistungen in immer stärkerer Weise zu einer Degradierung der natürlichen
Lebensbedingungen führt. Aus ökonomischer und gesellschaftlicher Sicht hat die
Wachstumstheorie zum einem die Anhäufung eines exorbitant hohen weltweiten
staatlichen Schuldenberges bewirkt (Stiglitz und Schmidt 2010, S. 19) und zum anderen
zwar das gesellschaftliche Einkommensniveau erhöht, jedoch gerade in jüngerer Zeit
eine zunehmende Einkommens- und Vermögensungleichheit innerhalb der Gesellschaft
hervorgerufen.
Vor diesem Hintergrund kommt es bei der Identifikation und quantitativen
Operationalisierung einer nachhaltigen Entwicklung darauf an, den klassischen
Wohlfahrtsbegriff um Aspekte der intra- und intergenerationalen Gerechtigkeit zu
erweitern und durch Berücksichtigung alternativer Wohlfahrtskonzepte
(Lebensqualitätsansätze, Glücksforschung, Postwachstumsökonomik) soziale und
wirtschaftliche Themenfelder zu definieren, die eine dauerhafte Entwicklung
kennzeichnen (von Hauff 2009, S. 4).
1.2 Zielsetzung und Abgrenzung
Die vorliegende Arbeit hat daher das Ziel, relevante Themenfelder für eine
zukunftsfähige wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Hamburg zu identifizieren
und geeignete Indikatoren zur Messung und Überwachung aufzustellen. Auch wenn
Hamburg besonders durch die Bedeutung seines Hafens in den weltweiten Handel mit
Gütern und Dienstleistungen eingespannt ist und die wirtschaftlichen Aktivitäten
Einfluss auf umliegende Regionen haben, konzentriert sich die Analyse auf die
Erhebung von Nachhaltigkeitsindikatoren für den Hamburger Raum.
Zur Identifikation der Themenkomplexe ist es entscheidend auf welchem
Nachhaltigkeitsverständnis die Auswahl der Themenfelder erfolgt. Der integrative
Aspekt und die Mehrdimensionalität von Nachhaltigkeit bewirken jedoch, dass eine
vollständige Berücksichtigung aller relevanten sozialen und wirtschaftlichen
Themengebiete nicht darstellbar ist. Stattdessen wird versucht mit Hilfe von
Erkenntnissen aus verschiedenen ökonomischen Forschungsgebieten, gesellschaftliche
– 5 –
und wirtschaftliche Handlungsfelder zu ermitteln, die es erlauben, zumindest einen
wesentlichen Teil des Leitbildes der nachhaltigen Entwicklung angemessen abzubilden.
Zwar beschäftigt sich die Arbeit konkret mit der Erhebung von Kennzahlen für die Stadt
Hamburg, es werden jedoch keine Empfehlungen oder Ansätze zur möglichen
Implementierung der in dieser Arbeit erhobenen Indikatoren in den politischen
Verwaltungsprozess erarbeitet. Ebenso wird auf einen Vergleich der Entwicklung zu
anderen Städten oder Bundesländern verzichtet. Im Mittelpunkt der Arbeit steht die
wissenschaftliche Begründung für die Auswahl der Themenfelder und die konkrete
Erhebung der Indikatoren.
1.3 Gliederung der Arbeit
Die Arbeit ist in sechs Kapitel gegliedert. Aufbauend auf das Einführungskapitel
beschäftigt sich Kapitel 2 mit der historischen Entstehung des
Nachhaltigkeitsgedankens und formuliert die Ausgangshypothese des hier zugrunde
gelegten Nachhaltigkeitsverständnisses. Kapitel 3 behandelt die methodischen und
operationalen Anforderungen an die Verwendung von Nachhaltigkeitsindikatoren.
Außerdem werden konkrete Beispiele für den Einsatz von Messsystemen auf allen
politischen Entscheidungsebenen vorgestellt. Das vierte Kapitel bildet den Schwerpunkt
der Arbeit. Hier werden aus vielfältigen ökonomischen und gesellschaftlichen Analysen
Argumente für die Identifikation geeigneter Themenbereiche vorgestellt. Daran
anschließend werden im fünften Kapitel die bestehenden Erfahrungen mit der
Nachhaltigkeitsberichterstattung in Hamburg geschildert, bevor die Auswahl der
Leitthemen und die Erhebung der Indikatoren vorgenommen werden. Das sechste
Kapitel fasst die gewonnen Erkenntnisse zusammen und ermittelt weiteren
Forschungsbedarf im Rahmen der Operationalisierung einer nachhaltigen Entwicklung
auf regionaler Ebene.
– 6 –
2 Nachhaltigkeit und nachhaltige Entwicklung
Die Begriffe „Nachhaltigkeit“ bzw. „Nachhaltige Entwicklung“ sind historisch gesehen
keineswegs neu, erlangten jedoch erst in jüngerer Zeit zunehmende wissenschaftliche
Beachtung. Die folgenden Unterkapitel skizzieren die Entstehung und Definition des
Nachhaltigkeitsbegriffs und führen in Forschungsgebiete ein, die sich mit der
facettenreichen Bedeutung des Nachhaltigkeitsgedankens auseinandersetzen.
2.1 Idee und Konzeption
Bereits 1713 formulierte von Carlowitz die Grundzüge einer nachhaltigen
Forstwirtschaft. Er hielt es für notwendig, dass es innerhalb der Forstwirtschaft „eine
continuirliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe." (von Carlowitz 1713, S.
105) Zu der damaligen Zeit gab es Befürchtungen, dass die starke Nachfrage nach Holz
zu einem Lieferengpass führen würde und die knappe Ressource zu Neige gehen
könnte. Die damalige Situation ist durchaus vergleichbar mit der aktuellen Diskussion
um knappe Ressourcen (peak-oil) oder die sog. seltenen Erden (Grober 2007, S. 7).
Die moderne Auffassung von Nachhaltigkeit hat sich in den 1980er und 1990er in
diversen internationalen Debatten und Konferenzen herauskristallisiert. Ausgangspunkt
der Diskussion war die sich verstärkende umweltpolitische Debatte über die
ökologischen Auswirkungen von unbegrenztem ökonomischem Wachstum,
Untersuchungen über den Zusammenhang von materiellem Wohlstand und subjektivem
Wohlergehen und die Frage nach Verteilungsgerechtigkeit und Armutsbekämpfung.
Aus diesen verschiedenen Strömungen hat sich innerhalb des weltweiten Verständnisses
von Nachhaltigkeit ein mehrdimensionales Konzept etabliert (Drei-Säulen-Modell), das
mindestens die Dimensionen Ökologie, Ökonomie und Soziales beinhaltet (SRU 2008,
S. 56)1.
Der Leitgedanke einer andauernden Entwicklung beruht auf einer intergenerationalen
und somit langfristigen Betrachtungsweise. Er betont, dass die Bedürfnisse zukünftiger
Generationen nicht durch die Lebensweise der aktuellen Generation eingeschränkt
werden dürfen2. Nachhaltigkeit und nachhaltige Entwicklung werden somit als
1 Für manche Autoren spiegelt sich die Rolle von gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen nicht
ausreichend in dem Drei-Säulen-Modell wider. Daher erweitern sie das Nachhaltigkeitsmodell um eine
vierte, institutionelle Säule. Vgl. bspw. bei Spangenberg (2005, S. 19). 2 Diese Definition von nachhaltiger Entwicklung stammt aus dem Abschlussbericht der Weltkommission
für Umwelt und Entwicklung (Brundtland-Bericht), der maßgeblich zu dem heutigen
Nachhaltigkeitsverständnis in Politik und Gesellschaft beigetragen hat. Vgl. bei Hauff (1987, S. 46).
– 7 –
normative Konzepte auf der Makroebene verstanden, die zudem mit dem Fokus auf
menschliche Bedürfnisse eine stark anthropozentrische Sichtweise verfolgen.
Um dem Postulat einer nachhaltigen Entwicklung Substanz und Legitimation zu
verleihen, ist es notwendig die drei Nachhaltigkeitsdimensionen inhaltlich zu
konkretisieren (von Hauff 2009, S. 3). Die Komplexität wird dadurch erschwert, dass
diese Dimensionen nicht unabhängig voneinander agieren. Vielmehr stehen sie
miteinander in komplexen Austauschbeziehungen und ständigen Wechselwirkungen
(SRU 1994, S. 46).
Zur Darstellung der unterschiedlichen Dimensionen wird häufig auf eine
Kapitalbetrachtung zurückgegriffen, nach der jede Dimension als ein Kapitalstock
(ausgedrückt in monetären, zeitlichen, physikalischen oder qualitativen Größen)
betrachtet wird, der durch Inanspruchnahme vermindert wird und dabei Einkommen
bzw. Nutzen stiftet. Im Gegenzug können Investitionen und menschliche Handlungen
den Kapitalstock vergrößern (Daly 1996, S. 80f). Im Folgenden werden die drei
Kapitalstöcke kurz näher erläutert:
ökologisches Kapital
Hierzu zählen erneuerbare (z.B. Holz), nicht erneuerbare (z.B. Kohle) und
unerschöpfliche Ressourcen (Wind, Sonne, Erdwärme)3 sowie die Existenz der
Umweltmedien Boden, Wasser und Luft, die sowohl eine Senkenfunktion (ecosystem
services), eine Produktionsfunktion (Lieferung von Umweltgütern) und eine
Lebensraumfunktion wahrnehmen (Rogall 2008, S. 59; Hinterberger et al. 1995, S. 1).
ökonomisches Kapital
Unter ökonomischem Kapital wird der Bestand an wirtschaftlichem Produktionskapital
verstanden. Dazu zählen das Sachkapital (Maschinen, technische Geräte), das
Wissenskapital (Patente, Innovationen) sowie das Humankapital (Qualifikationen,
Bildungsniveau) (Kleine 2009, S. 10).
Das ökonomische Kapital dient dabei der effizienten Allokation und Distribution von
Gütern und Dienstleistungen (Pfister 2002, S. 7) und der Befriedigung individueller und
gesellschaftlicher Bedürfnisse (Rogall 2004, S. 30).
3 Diese Unterteilung greift auf menschliche Zeitmaße zurück. Verwendet man längerfristige Zeitmaße
sind natürlich auch Ressourcen wie Öl und Kohle als erneuerbare Ressourcen einzustufen.
– 8 –
soziales Kapital
Das soziale Kapital umfasst die Ausprägung an gesellschaftlichem und sozialem
Zusammenhalt. Es existiert sowohl auf individueller Ebene in Form von sozialen
Netzwerken und persönlichen Beziehungen untereinander (Putnam 2001, S. 15–43), als
auch auf institutioneller Ebene zur Durchsetzung kultureller Wertvorstellungen und
sozialer Normen (North 2003). Weiterhin werden unter dem Begriff des Sozialkapitals
Themenfelder der Verteilungsgerechtigkeit, Armuts- und Versorgungslage, soziale
Sicherungssysteme, gesellschaftliche Partizipation, Menschenrechte und
Sicherheitsaspekte abstrahiert (Rogall 2004, S. 30).
Verknüpft man nun den Leitgedanken der nachhaltigen Entwicklung mit den drei
Dimensionen der Nachhaltigkeit, so kann man zu dem Schluss gelangen, dass die
Summe aller drei Kapitalarten im Zeitverlauf mindestens konstant gehalten werden
muss, um nachfolgenden Generationen die gleichen Lebensmöglichkeiten einzuräumen
wie der aktuellen Generation (Pearce und Barbier 2001, S. 21–22). Diese Auffassung
lässt allerdings zu, dass die Kapitalarten untereinander substituierbar sind. So kann
bspw. eine Vermehrung des ökonomischen Kapitals eine Verringerung des
ökologischen Kapitels kompensieren4. Diese Auffassung von Nachhaltigkeit ist der
Ausgangspunkt für die Differenzierung der Nachhaltigkeitsdefinition in eine schwache
bzw. starke Definitionsweise.
2.2 schwache Nachhaltigkeit und der Beitrag der Umweltökonomie
Das Konzept der schwachen Nachhaltigkeit setzt an den Schwächen der neoklassischen
Denkweise5 an und versucht diese durch eine differenziertere Betrachtungsweise
auszumerzen. Anknüpfungspunkte sind dabei das Herstellen einer intergenerationalen
Gerechtigkeit und die Internalisierung externer Kosten (z.B. Umweltschäden). Der
Grundgedanke entspricht jedoch weiterhin der neoklassischen Wirtschaftsauffassung:
Durch eine effiziente Allokation der drei Kapitalarten soll über mehrere Generationen
hinweg der größtmögliche Nutzen generiert werden. Nachhaltige Entwicklung entsteht
dabei, wenn eine Generation zu jedem Zeitpunkt mindestens die gleichen ökonomischen
Möglichkeiten besitzt wie die vorherige Generation (Pearce und Barbier 2001, S. 18–
19). Mit dem Fokus auf der effizienten Allokation der drei Dimensionen und
Optimierung der Nutzenmöglichkeiten für die Menschheit (sowohl die aktuelle als auch
4 Ein Beispiel hierfür ist die Abholzung von Regenwald bei Schaffung einer technischen Alternative
(durch den Einsatz von Human- und Produktionskapital), die alle Funktionen des Regenwaldes für
heutige und zukünftige Generationen adäquat ersetzen kann. 5 Für eine kurzen Abriss über die Axiome und Annahmen der Neoklassik vgl. bei Rogall (2008, S. 53–
57).
– 9 –
die zukünftige) verfolgt die schwache Nachhaltigkeit eine stark anthropozentrische
Sichtweise auf die Problematik nachhaltiger Entwicklung.
Der Beitrag der Umweltökonomie innerhalb des Nachhaltigkeitsdiskurses besteht in der
expliziten Berücksichtigung des Naturkapitals und der Erkenntnis, dass Marktprozesse
zu Fehlallokationen führen können, da nicht alle Kosten über den Preismechanismus
abgebildet werden können. Ihre Entstehungsgeschichte geht auf die in den 1960er
Jahren begonnene Diskussion um die absolute Knappheit natürlicher Ressourcen
zurück. Die Umweltökonomie versucht ökologische Kosten zu quantifizieren und sie
mittels umweltökonomischer Instrumente (Pigou-Steuer, Umweltzertifikate) oder
vertraglichen Regelungen in den Marktmechanismus zu integrieren. Neben der
Schwierigkeit der monetären Bewertung (Serageldin 1996, S. 8–10) steht vor allem die
Substituierbarkeit der drei Kapitalarten im Mittelpunkt der Diskussion.
Die schwache Nachhaltigkeit nimmt, aus ökonomischer Sicht gesehen, die Rolle eines
„portfolio managers“ (Ayres et al. 1998, S. 3) ein. Im Zusammenspiel der drei
Kapitalstöcke steht der maximale Nutzen für aktuelle und zukünftige Generationen,
formuliert als dynamisches Optimierungsproblem, im Fokus. Die Kapitalstöcke sind
perfekte Substitute. Verringerungen bei dem Naturkapital können in Kauf genommen
werden, solange sie durch stärkere Zuwächse in anderen Kapitalarten kompensiert
werden und somit der aggregierte Kapitalstock steigt (Pearce und Barbier 2001, S. 24).
Aus dieser Tatsache leitet sich ab, dass für einen Kapitalbestand nicht zwangsläufig eine
Untergrenze existieren muss6.
2.3 starke Nachhaltigkeit und der Beitrag der ökologischen Ökonomie
Das Prinzip der starken Nachhaltigkeit geht von der Existenz von essentiellen
Beständen in allen drei Dimensionen aus, die nicht unterschritten werden dürfen und
ebenso nicht (bzw. nur sehr begrenzt) durch andere Kapitalarten substituiert werden
können (Ayres et al. 1998, S. 4). Besonders ausgeprägt ist dieses Verständnis bei der
Behandlung des ökologischen Kapitalstocks. Starke Nachhaltigkeit geht von einer
Komplementarität zwischen den Kapitalstöcken aus. Ein Sägewerk hat keine sinnvolle
Funktion mehr, wenn es kein Holz mehr gibt (Daly 1996, S. 76). Im Gegensatz zur
schwachen Nachhaltigkeit steht nicht der optimale Verbrauchspfad ökologischer
6 Dass das Prinzip der schwachen Nachhaltigkeit nicht nur in der Theorie diskutiert wird, zeigt sich an
dem Schicksal der Pazifikinsel Nauru. Durch die Entdeckung und Ausbeutung eines riesigen
Phosphatvorkommens wurde die Insel innerhalb von 90 Jahren zu über 80% verwüstet. Die Ausbeutung
bescherte den Bewohnern bedeutenden monetären Reichtum, bei allerdings fast vollständiger Zerstörung
ihrer natürlichen Lebensbedingungen. Hinzu kamen soziale Konflikte und gesundheitliche Probleme
aufgrund des extensiven Phosphatabbaus (Gowdy und McDaniel 1999).
– 10 –
Bestände im Vordergrund, sondern die dauerhafte Erhaltung des ökologischen Kapitals
für zukünftige Generationen (Rogall 2008, S. 105). Starke Nachhaltigkeit betont zwar
die Bedeutung der ökologischen Dimension für die Menschheit, durch die Forderung
nach einem Erhalt des ökologischen Kapitals formuliert sie jedoch eher aus einer
ökozentrischen Perspektive heraus ihren Beitrag zu dem Nachhaltigkeitsdiskurs.
Der Beitrag der ökologischen Ökonomie besteht in der Schaffung eines theoretischen
Rahmens, der aus einer transdisziplinären Betrachtungsweise heraus Anforderungen
und Axiome an eine zukunftsfähige Entwicklung unter dem Paradigma einer starken
Nachhaltigkeit herleitet.
Die Grundlagen der ökologischen Ökonomie wurden maßgeblich von den
Überlegungen Bouldings (1966) zu der Endlichkeit natürlicher Ressourcen und der
Betrachtung der Wirtschaft als ein geschlossenes System („spaceship earth“) sowie den
Arbeiten Georgescu-Roegens (1971) geprägt, der die Erkenntnisse der Thermodynamik,
insbesondere dem Auftreten von Reibungsverlusten bei der Umwandlung von Energie
(Entropie, zweiter Hauptsatz der Thermodynamik), auf ökonomische Prozesse übertrug.
Meadows (1972) berechnete in einem computergestützten Modell, das der ökologische
Kollaps der Erde unter Hochrechnung der damaligen Wirtschaftsweise in der zweiten
Hälfte des 21. Jahrhunderts bevorsteht und forderte den Übergang zu einem
ökologischen und wirtschaftlichen Gleichgewichtszustand. Daly (1991) griff diese
Forderung auf und formulierte seine steady-state economy auf Basis von physikalischen
Gesetzmäßigkeiten unter besonderer Beachtung der von Georgescu-Roegen erforschten
Zusammenhänge. Ein nachhaltiger Zustand ist bei einem konstanten
Ressourcenverbrauch erreicht, bei „dem die physische Größe (,scale‘) der Wirtschaft,
gemessen als Durchsatz an Stoffen und Energie (,throughput‘), das ökologisch zulässige
Maß nicht übersteigt.“ (Spangenberg 2005, S. 69)
Im Gegensatz zur schwachen Nachhaltigkeit ist die ökologische Dimension somit nicht
eine von den drei Säulen nachhaltiger Entwicklung, sondern der übergeordnete Rahmen,
in dessen Innerem sich Wirtschaft und Gesellschaft frei entfalten können, solange sie
den ökologischen Rahmen durch ihre Handlungen nicht verkleinern und damit
zukünftigen Generationen Entfaltungsmöglichkeiten entziehen.
2.4 zur Rolle des Drei-Säulen-Modells
In der gesellschaftlichen Diskussion über Nachhaltigkeit und in vielen politischen
Debatten ist das Drei-Säulen-Modell fest verankert. Mit der Verabschiedung der
Agenda 21, deren Gliederung sich an den drei Dimensionen orientiert (UNCED 1992)
– 11 –
und der Entwicklung eines Indikatorensystems durch die Kommission für nachhaltige
Entwicklung der Vereinten Nationen (UNCSD) wurde die Grundlage für die
Verankerung des Modells in der politischen (und größtenteils auch wissenschaftlichen)
Praxis gelegt7. Mit der Schaffung des Drei-Säulen-Modells ist es gelungen das vage und
überaus komplexe Themenfeld Nachhaltigkeit greifbarer zu machen und auf
internationaler Ebene als neues Leitbild menschlicher Entwicklung politisch
anzuerkennen. Durch die Systematisierung besteht ein weltweit legitimiertes Konstrukt
zur Operationalisierung des Nachhaltigkeitsbegriffs und der Verankerung in notwendige
politische und gesellschaftliche Transformationsprozesse.
Die große Schwäche dieses Konzeptes besteht jedoch ebengerade in dem Versuch
Nachhaltigkeit systematisch zu erfassen und in unterschiedliche Dimensionen
einzuteilen. So ist es zu befürworten, dass dem ökologischen Aspekt nach
jahrhundertelanger Vernachlässigung in der ökonomischen Lehre zumindest in der
Theorie mehr Platz eingeräumt wird, er jedoch eher als „Fundament denn Säule“
(Winter 2007) in die Konzeption des Nachhaltigkeitsgedankens einfließen sollte8. Das
klassische Drei-Säulen-Modell kann somit im besten Fall das Gedankengut der
schwachen Nachhaltigkeit repräsentieren. Für die Berücksichtigung einer starken
Nachhaltigkeit fehlt dem Modell sowohl die Querschnittsfähigkeit (Betrachtung der
Wechselwirkungen zwischen den Dimensionen) als auch die Anerkennung der
essentiellen Bedeutung des ökologischen Kapitals. Daher haben sich einige Autoren an
die Konzeption von alternativen Nachhaltigkeitskonzepten versucht, die von der
besonderen Beachtung der Wechselwirkungen (Kopfmüller und Luks 2003/2004; von
Hauff 2009) über systemtheoretische Annäherungen (Spangenberg 2005) bis hin zu der
Berücksichtigung von ökologisch motivierten Leitplanken (Rogall 2004) reicht.
Nun ist an dieser Stelle nicht der Platz, um die Stärke und Schwächen einzelner
Nachhaltigkeitskonzepte und deren Grundannahmen erschöpfend zu diskutieren9. Es
erscheint jedoch notwendig, auf die Mehrdimensionalität von Nachhaltigkeit und der
Diskussion um die Bedeutung des ökologischen Kapitals hinzuweisen. Auch wenn im
weiteren Fortgang der Arbeit die Operationalisierung des Nachhaltigkeitsgedankens und
ein Konzept zur Bildung von ökonomischen und sozialen Indikatoren bereitgestellt
7 Das von der UNCED entwickelte Indikatorensystem wird in Kapitel 3.3 näher beleuchtet.
8 Besonders kontrovers beschäftigt sich Meyer-Abich mit dem Drei-Säulen-Modell. Zutreffend analysiert
er, welche Folgen das Nebeneinander der drei Dimensionen nach sich zieht: „Wenn aber verlangt wird,
dass die Erhaltung des Ganzen [der Natur, MM] ebenso viel Gewicht haben soll wie die des Teils
[Gesellschaft, MM] und sogar die des Unterteils [Wirtschaft, MM], so ist nach dem Dreisäulentheorem
der Unterteil - die Wirtschaft - der harte Kern, auf den es eigentlich ankommt und der insoweit den
umfassenderen Wirklichkeiten - der Gesellschaft und der Natur - vorgeordnet ist.“ (Meyer-Abich 2001, S.
303–304) 9 Ein guter Überblick der Kontroverse über starke und schwache Nachhaltigkeit findet sich bei von Hauff
und Kleine (2009).
– 12 –
wird, so dürfen die Wechselwirkungen zwischen den Dimensionen und die umstrittene
Bedeutung der Ökologie nicht grundlegend außer Acht gelassen werden. Dem wird
Rechnung getragen, indem im weiteren Verlauf der Arbeit von folgender These
ausgegangen wird:
Alle anthropogenen Handlungen haben Auswirkungen auf die Umwelt. Der
Umweltraum, zu dem auch der Mensch gehört, wird maßgeblich durch ihn beeinflusst.
Daher ist der Zustand der ökologischen Dimension nur bis zu einem gewissen Grad
exogen vorgegeben. Die Umwelt (hier als geschlossenes Kreislaufsystem betrachtet)
wird in zunehmender Weise endogen durch den Menschen beeinflusst. Diese
Beeinträchtigung kann sich sowohl in der Beschreibung des Zustandes der ökologischen
Dimension, als auch (und hier liegt der Fokus) in den Zustandsausprägungen der
ökonomischen und sozialen Dimension widerspiegeln. Die ökologische Dimension
reagiert dynamisch auf Veränderungen der anderen anthropogenen Dimensionen.
Ausgangspunkt einer zukunftsfähigen Entwicklung kann daher nur der Mensch und
seine Auffassung von gesellschaftlichem Wohlergehen und individuellem
Glücksempfinden sein. Denn die Mehrzahl der Menschen handelt instinktiv im Sinne
der Menschheit. Die Natur besitzt keine bzw. eine nur sehr schwache anthropogene
Lobby. Das Verständnis und die kritische Reflexion von menschlichen Verhaltens-,
Produktions- und Konsummustern sind somit ausschlaggebend für die weitere
Entwicklung der ökologischen Dimension.
Ausgehend von dieser These beschäftigt sich daher das vierte Kapitel intensiv mit dem
allgemeinen Verständnis von gesellschaftlicher Wohlfahrt und allgemeiner
Lebenszufriedenheit und soll damit die inhaltliche Grundlage für die Konzeption von
sozialen und ökonomischen Indikatoren bilden, deren Erhebung und Entwicklung auch
Auswirkungen auf die im Folgenden nicht weiter konkretisierte ökologische Dimension
der Nachhaltigkeit hat. Vor dieser Analyse werden jedoch die grundlegenden
methodischen Anforderungen an Indikatoren vorgestellt und es werden konkrete
Beispiele von Systemen zur Messung einer nachhaltigen Entwicklung untersucht.
– 13 –
3 Operationalisierung von Nachhaltigkeit – Die Bildung von
Nachhaltigkeitsindikatoren
Die folgenden Unterkapitel sollen einen Einblick in die methodischen Anforderungen
an die Erhebung und Umsetzung von Nachhaltigkeitsindikatoren geben. Neben den
allgemeinen, systematischen Anforderungen an die Erhebung steht dabei die Diskussion
über die Möglichkeit der Monetarisierung nicht-ökonomischer Messgrößen sowie die
Auseinandersetzung über eine Aggregation der einzelnen Indikatoren zu einem
Gesamtindex im Vordergrund der Analyse.
3.1 Definition und Kritik
Nachhaltigkeit ist, wie bereits angedeutet, ein äußerst komplexer und abstrakter Begriff.
Betrachtet man das Postulat einer nachhaltigen Entwicklung als ein normatives Konzept
zur Erreichung eines dauerhaften Zustandes ergibt sich zwangsläufig die Fragestellung
nach der Umsetzung des Konzeptes und der Integration in gesellschaftliche und
politische Entscheidungsprozesse. Auch wenn die Definition einer nachhaltigen
Entwicklung allgemein anerkannt ist und 1992 in der Konferenz von Rio de Janeiro als
neues Entwicklungsziel der Menschheit ratifiziert wurde, so gibt es doch unter den
beteiligten Akteuren unterschiedliche Vorstellungen durch welche Strategiepfade dieses
Entwicklungsziel erreicht werden kann. Die bereits thematisierte Komplexität und
Mehrdimensionalität von Nachhaltigkeit erschweren den Zugang weiter.
Ein Konzept zur Operationalisierung des Nachhaltigkeitsgedankens besteht daher in der
Bildung von Indikatoren zur Messung und Steuerung einer nachhaltigen Entwicklung.
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) definiert Indikatoren „als
Kenngrößen […], die zur Abbildung eines bestimmten, nicht direkt meßbaren und
oftmals komplexen Sachverhalts (Indikandum) festgelegt werden.“ (SRU 1994, S. 126)
Durch die Informationsverdichtung in Form eines Indikators soll dabei eine Beurteilung
des komplexen Themenfeldes erleichtert werden (Liepach et al. 2003, S. 12).
Zur überschaubaren Abbildung des Untersuchungsgegenstandes wird eine gewisse
Abstraktion in Kauf genommen. Nichtsdestotrotz soll durch den Indikator die
wesentliche Bedeutung des betrachteten Untersuchungsgegenstandes möglichst plakativ
charakterisiert werden.
Der Versuch der Darstellung komplexer Systeme durch Indikatoren und Kennzahlen ist
selbstverständlich eine kritische Herangehensweise. Auch die Nachhaltigkeitsdebatte ist
– 14 –
davon nicht befreit. Nicht ohne Hintergedanken fragt der Titel des Buches von Bell und
Morse (2008) daher pointiert: "Sustainability indicators. Measuring the Immeasurable?"
Bei der Konzeption und Messung von Indikatoren gilt es die Grenze zwischen noch
sinnvoller Komplexitätsreduktion und einer zu starken Simplifizierung, die mit einem
Verlust der Aussagekraft einhergeht, zu finden. Doch wenn Nachhaltigkeit als
regulative Idee anerkannt wird, muss auf technische Hilfsmittel zurückgegriffen
werden, um die Idee dauerhaft in gesellschaftliche und politische
Transformationsprozesse verankern zu können. Wissenschaftler, die aufgrund von
alarmierenden Daten zur Umweltbelastung, Verteilungsgerechtigkeit und neuartigen
Zivilisationskrankheiten zu einer nachhaltigeren Wirtschaftsweise aufrufen, haben sich
zur Begründung ihres Standpunktes ebenso diverser Kennzahlen und Indikatoren
bedient, deren Konzeption sie nun kritisch sehen:
"It is never possible to deal with any problem (not just sustainability problems)
in all it's real-world complexity. Scientists have to simplify to survive." (Bell und
Morse 2008, S. 42)
Nachhaltigkeitsindikatoren können einen bedeutenden Beitrag zur öffentlichen
Diskussion der gesellschaftlichen Akteure leisten und sowohl den Stand der
nachhaltigen Entwicklung als auch mögliche Handlungsbedarfe aufzeigen (Rogall 2008,
S. 214). Meadows (1998, S. 2–3) schreibt über die Notwendigkeit der Erhebung von
Indikatoren:
„Indicators can be tools of change, learning, and propaganda. Their presence,
absence, or prominence affect behavior. The world would be a very different
place if nations prided themselves not on their high GDPs but on their low infant
mortality rates. […] We try to measure what we value. We come to value what
we measure. This feedback process is common, inevitable, useful, and full of
pitfalls.”
Mit dem Entstehen der Umweltökonomie hat sich zugleich eine Vielzahl von
Wissenschaftlern mit der monetären Bewertung des Naturkapitalstocks
auseinandergesetzt. Auf der Grundlage von Kosten-Nutzen-Analysen und
Zahlungsbereitschaftsanalysen wird dabei versucht Ökosystemdienstleistungen einen
monetären Wert zuzuordnen, um der ökologischen Dimension innerhalb der
Kapitalstockbetrachtung einen ökonomischen Wert zu verleihen10.
10
Eine Einführung in die Thematik liefern Pearce und Barbier (2001, S. 51–83).
– 15 –
Diese Vorgehensweise ist jedoch aus zweierlei Gründen fragwürdig: Erstens, unterliegt
das Konzept der Zahlungsbereitschaftsanalyse einer stark anthropozentrischen
Sichtweise, denn sie baut ihre Analyse auf den Präferenzen und Bedürfnissen
menschlicher Individuen auf. Zweitens, benötigt eine solche Bewertungsform das
Vorhandensein nahezu vollständiger Information über den Untersuchungsgegenstand
und seiner Wechselwirkungen. Beispielsweise besitzen Wälder für die Menschen nicht
nur diverse ökologische Funktionen (Aufnahmemedium für CO2-Emissionen, Erhaltung
der Biodiversität), sondern auch ästhetische Funktionen (Erholungsaspekt), deren
tatsächlicher Wert nur schwer in Geldeinheiten zu messen ist. An die Grenzen der
Messbarkeit gelangt die Wissenschaft dann, wenn es um die Bewertung von essentiellen
Dienstleistungen (Photosynthese, Kohlenstoffkreisläufe) geht, ohne die die Menschheit
nicht überlebensfähig ist. Zweifellos ist die Kalkulation und Einbeziehung von
ökologischen Kosten und Nutzen ein Fortschritt gegenüber der traditionellen
ökonomischen Lehre, jedoch wird die Ökologie durch ihre Monetarisierung dem
ökonomischen Kalkül der Menschheit unterworfen. Dabei ist dieses ökonomische
Kalkül überhaupt erst der Grund, warum sich die Wissenschaft mit der Bedeutung und
Messbarkeit von ökologischen Dienstleistungen auseinandersetzen muss. Auch wenn
die Verfechter dieser Grundidee auf die Gefahren und Grenzen ihrer theoretischen
Überlegungen hinweisen, so liefern sie doch mit ihrer analytisch geprägten
Vorgehensweise, eine gewisse Legitimationsgrundlage für politische und
gesellschaftliche Entscheidungsträger in einer durchökonomisierten Welt.
Die Konzeption von Nachhaltigkeitsindikatoren zur Messung und Steuerung einer
zukunftsfähigen Entwicklung ist somit tendenziell zu begrüßen, der Trend zu einer
ausufernden Monetarisierung von nicht-ökonomischen Variablen ist jedoch kritisch zu
beleuchten (Bell und Morse 2008, S. 41–42).
3.2 zur Konzeption von Nachhaltigkeitsindikatoren – Methodik, Systematik
und Vorgehensweise
Um es vorweg zu nehmen: Es existiert kein allgemein anerkanntes Regelwerk zur
Operationalisierung von Nachhaltigkeit und nachhaltiger Entwicklung in Form von
Indikatoren. Die bereits erwähnte Mehrdimensionalität, die vage Begriffsformulierung
und die kontroverse wissenschaftliche Diskussion tragen ihren Teil dazu bei.
Bell und Morse (2003, S. 31–32) definieren folgende methodische Anforderungen an
Indikatoren:
– 16 –
Abbildung 3-1: Methodische Anforderungen an Indikatoren
Quelle: eigene Darstellung nach Bell und Morse 2003, S. 31
ad 1: Der Indikator muss ein vorab definierten Ausschnitt des Gesamtsystems
betrachten und möglichst adäquat abbilden können.
ad 2/3: Er sollte sowohl quantitativ messbar als auch im verwendeten Kontext
anwendbar sein.
ad 4: Veränderungen innerhalb des betrachteten Teilsystems müssen sich in einer
Veränderung des Indikators widerspiegeln.
ad 5/6: Die Indikatoren sollten für eine langfristige Betrachtung regelmäßig verfügbar
sein und die notwendigen Daten sollten mit vertretbarem Aufwand zu beschaffen sein.
Ein System von Nachhaltigkeitsindikatoren (Nachhaltigkeitsindikatorenset) besteht
allerdings nicht nur aus einer Zusammenstellung von Indikatoren, sondern auch aus dem
verwendeten Verständnis einer nachhaltigen Entwicklung (vgl. Kap. 2) und dem Setzen
von inhaltlichen Schwerpunktfeldern (Döring et al. 2004, S. 97).
Diese inhaltlichen Schwerpunktfelder stecken den Messbereich für den Einsatz der
Indikatoren ab, sie skizzieren und systematisieren relevante thematische Bereiche.
Dabei wird versucht aus wissenschaftlichen Erkenntnissen Prinzipien und
Managementregeln abzuleiten, deren Ziel die angemessene Berücksichtigung der
jeweiligen Nachhaltigkeitsdimension ist. So haben sich beispielsweise im Bereich der
ökologischen Ökonomie Regeln zur Steuerung der ökologischen Dimension etabliert,
die auf Forderungen einer starken Nachhaltigkeit zurückgehen11. Für die ökonomische
und soziale Dimension hat u.a. die Enquete-Kommission des 13. deutschen Bundestages
„Schutz des Menschen und der Umwelt“ diverse Managementregeln aufgestellt, die als
Grundlage für eine weitergehende wissenschaftliche Diskussion dienen sollen
(Deutscher Bundestag 1998, S. 46–52). Auch gab es Versuche den integrativen Aspekt
des Prinzips Nachhaltigkeit über die Definition von dimensionsübergreifenden
Themenfeldern hervorzuheben, aus denen sich dann Indikatoren ableiten lassen12.
11
Die Managementregeln wurden maßgeblich von Daly geprägt (ausführlich in Costanza et al. 2001, S.
127–129) und von vielen Autoren übernommen. Vgl. bspw. Deutscher Bundestag (1998, S. 45) und
Döring (2009, S. 23–24). 12
Hier ist insbesondere die 2002 von der damaligen Bundesregierung verabschiedete deutsche
Nachhaltigkeitsstrategie zu nennen, die sich explizit nicht auf die drei Dimensionen der Nachhaltigkeit
beruft, sondern durch die Formulierung von vier Querschnittsfeldern (Generationengerechtigkeit,
Lebensqualität, sozialer Zusammenhalt und internationale Verantwortung) den integrativen Charakter von
nachhaltiger Entwicklung betont. Vgl. Deutsche Bundesregierung (2002). Die Nachhaltigkeitsstrategie
Deutschlands wird in Kapitel 3.3 noch näher behandelt.
1.
spezifisch
2.
messbar
3.
anwendbar
4.
sensitiv
5 .
verfügbar
6.
kostengünstig
– 17 –
3.2.1 Indikatoren und Zielvorgaben
Die Verwendung von Performanceindikatoren, die eine Aussage über den
Zielerreichungsgrad des betrachteten Themenfeldes ermöglichen, erscheint zwar
reizvoll, jedoch drängt sich unmittelbar die Frage nach der Aussagekraft der
Zielvorgabe auf. Diese Zielformulierungen werden häufig durch politische
Aushandlungsprozesse determiniert und stellen daher einen Kompromiss zwischen
wissenschaftlichen Erkenntnissen und politischer Realität dar (Hardi 1997, S. 9). Selbst
wenn ausschließlich wissenschaftliche Erkenntnisse zur Festsetzung von Zielvorgaben
in Betracht gezogen werden, so setzt dies implizit die Analyse aller vorhandenen
Wechselwirkungen zwischen und innerhalb der drei Dimensionen voraus, um für ein
Themenfeld eine Zielvorgabe zu formulieren, bei dessen Erreichung eine nachhaltige
Entwicklung tatsächlich gewährleistet ist. Mag eine derartige Zielvorgabe in ökologisch
besetzten Themenfeldern aufgrund naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse
(bspw. die vermeintliche Einigung auf die Begrenzung der Erderwärmung auf maximal
2°-Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit) noch am ehesten sinnvoll erscheinen, so
fällt eine konkrete Zielformulierung in den nicht-naturwissenschaftlich geprägten
Dimensionen ungleich schwerer aus.
Aus diesem Grund wird auf die Verwendung von Performanceindikatoren und eine
explizite Zielfestsetzung für die betrachteten Themenfelder verzichtet. Die Indikatoren
treffen somit lediglich eine Aussage über die eingeschlagene Richtung der Variablen. Es
können (in den meisten Fällen) Aussagen über eine Entwicklung hin zu mehr oder
weniger Nachhaltigkeit getroffen werden, auf das erreichte Niveau bzw. den Abstand zu
einer dauerhaften Entwicklung lassen sich daraus allerdings keine Rückschlüsse ziehen
(Diefenbacher 1997, S. 93–94).
3.2.2 Indices und Aggregation
Häufig finden sich in der Literatur Messsysteme, die die erhobenen Indikatoren der
einzelnen Nachhaltigkeitsdimensionen zu verdichteten Informationen in Form von
Indices zusammenfassen. Diese haben den Vorteil, dass sie die einzelnen Indikatoren zu
einer kompakten Kennzahl aggregieren können und somit vor allem für die
gesellschaftliche und politische Einflussnahme bedeutend sind. Zur besseren
Kommunikation des Nachhaltigkeitsgedankens in der Öffentlichkeit befürworten daher
einige Wissenschaftler (vgl. Kap. 4.4) die Verwendung von Indices. Neben der
Problematik der Verwendung und Umformung in eine einheitliche Dimension verlangt
– 18 –
die Bildung von Indices außerdem nach einer Gewichtung der einzelnen Indikatoren.
Selbst wenn die ökologische Dimension dabei stärker gewichtet wird, ermöglicht eine
Gewichtung die Verschlechterung einer Dimension durch die Verbesserung einer
anderen zu kompensieren. Diese Substitutionsmöglichkeit ist nicht im Sinne der in
Kapitel 2.4 formulierten Ausgangsthese. Eine Aggregation von Indikatoren wird daher
nicht vorgenommen, zumal die ökologische Dimension im weiteren Verlauf der Arbeit
nicht weiter behandelt wird.
3.2.3 Umfang von Indikatorensystemen
Abschließend stellt sich die Frage nach der Anzahl der verwendeten Indikatoren. Hier
gilt es die Balance zwischen einer möglichst umfassenden Berücksichtigung aller
relevanten Themenkomplexe und der Reduktion und Simplifizierung zur Übernahme
der Indikatoren in die politische Entscheidungsfindung zu finden. Zwangsläufig findet
an diesem Punkt durch die Beurteilung der Themenfelder (relevant oder
vernachlässigbar) und die Auswahl der Indikatoren bereits eine erste Wertung statt. Eine
weitere Wertung ergibt sich durch die Datenverfügbarkeit, die häufig ausschlaggebend
für die Berücksichtigung eines Themenfeldes innerhalb eines
Nachhaltigkeitsindikatorensets ist (Pfister 1998, S. 72). Bei der Diskussion über die
Anzahl der verwendeten Indikatoren ist die Betrachtung von bereits implementierten
Messsystemen hilfreich, da dort bereits erste Erfahrungen sowohl bei der Umsetzung als
auch der Akzeptanz bei den beteiligten Akteuren und den Adressaten der Erhebung
vorhanden sind.
Die Datenverfügbarkeit spielt auch eine bedeutende Rolle bei der Vorgehensweise der
Entwicklung von Indikatorensystemen. Die Systeme können anhand von
wissenschaftlichen Modellvorstellungen (top-down) oder ausgehend von einer
kleinteiligen, maßnahmenbezogen Sichtweise (bottom-up) konstruiert werden. Die
Limitierung bei der Verfügbarkeit von relevanten Datensammlungen führt dazu, dass in
der Praxis häufig Mischformen bei der Bildung von Indikatorensystemen anzutreffen
sind (Gehrlein 2004, S. 33).
Folgende Abbildung fasst die gewonnenen Erkenntnisse und die daraus resultierende
Vorgehensweise zusammen:
– 19 –
Abbildung 3-2: Systematik bei der Bildung von Nachhaltigkeitsindikatoren
Quelle: eigene Darstellung
Bevor die Analyse bedeutender gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Themenfelder
vorgenommen wird, beleuchtet das folgende Kapitel die Entstehung von
Nachhaltigkeitsindikatoren auf internationaler, nationaler und kommunaler Ebene. Die
bereits gemachten Erfahrungen mit der Verwendung von ökonomischen und sozialen
Indikatoren können im weiteren Verlauf der Arbeit in die Konzeption des Messsystems
einfließen.
3.3 Praxisbeispiele für Nachhaltigkeitsindikatoren
Nach dem Bericht der Brundtland-Kommission im Jahr 1987 haben die Anstrengungen
zur Operationalisierung des Nachhaltigkeitsgedankens stark zugenommen. Die
folgenden Unterkapitel liefern jeweils ein Beispiel für die Konzeption von
Nachhaltigkeitsindikatoren innerhalb der verschiedenen politischen Ebenen.
3.3.1 International: das UNCSD-Indikatorenset (1996)
Den Anstoß zur Messung und Implementierung des Nachhaltigkeitsgedankens auf
internationaler Ebene gab die Konferenz für nachhaltige Entwicklung der Vereinten
Nationen (UNCSD) in Rio de Janeiro im Jahr 1992. Die auf der Rio-Konferenz von
über 170 Staaten verabschiedete Agenda 21 ist zur Grundlage von nationalen und
kommunalen Nachhaltigkeitsbemühungen geworden. Im Nachgang zur Agenda 21
entwickelte die UNCSD ein umfangreiches Indikatorenmodell, das sich an den vierzig
Kapiteln der Agenda 21 orientierte. Der erste Leitfaden der UNCSD wurde 1996
Nachhaltigkeitsdimensionen
Betrachtung der ökonomischen und sozialen Dimension
Prinzipien
Erarbeitung und Formulierung von relevanten Themenfeldern (Kapitel 4)
Indikatoren
Nutzung von quantitativen Indikatoren ( ohne konkrete Ziel-formulierungen)
Informationsverdichtung
Keine Gewichtung und Aggregation der Indikatoren
Umfang
Kompromiss zwischen Aussagekraft , Anwendbarkeit und Datenverfügb-arkeit finden
– 20 –
veröffentlicht und basierte auf dem Drei-Säulen-Modell und einer zusätzlichen
institutionellen Dimension. Dabei wurden die verwendeten 134 Indikatoren in drei
Kategorien unterteilt (DSR-Modell), dessen Separation sich nach folgender Definition
ergab: Driving force-Indikatoren beinhalteten Indikatoren, die eine Veränderung der
Umwelt verursachen (z.B. anthropogene CO2-Emissionen), State-Indikatoren dienten
der Beschreibung des Umweltzustandes (z.B. CO2-Konzentration) und Response-
Indikatoren sollten Maßnahmen zur Verbesserung der Umwelt skizzieren (z.B. Höhe
einer CO2-Steuer) (Hardi 1997, S. 15). Mit diesem Modell sollten die komplexen
Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Dimensionen angemessen dargestellt
werden.
In der anschließenden 22 Länder umfassenden Pilotphase, stellte sich jedoch heraus,
dass die Zuordnung eines Indikators in eine der drei Kategorien keineswegs eindeutig
möglich war. Verlangt der Indikator „Arbeitslosigkeit“ nach besseren institutionellen
und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen (driving force-Indikator) oder ist er ein
Resultat bestimmter gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Prozesse (state-Indikator).
Außerdem gab es unter den Pilotländern große Schwierigkeiten bei der
Implementierung des umfangreichen Indikatorensets in politische
Entscheidungsprozesse (UNCSD 2001, S. 6).
Daher wurde bereits in der folgenden Revision im Jahr 2001 das DSR-Modell
verworfen und durch ein handlungsorientiertes Modell ersetzt, das zu jeder
Nachhaltigkeitsdimension Ober- und Unterthemen definiert, die als besonders relevant
für die Entwicklung der jeweiligen Dimension betrachtet werden (UNCSD 2001, S. 30–
31). Außerdem wurde die Zahl der Indikatoren deutlich reduziert. Die aktuelle Revision
aus dem Jahr 2007 orientiert sich weiterhin an der Definition von Ober- und
Unterthemen, gibt jedoch die Unterteilung nachhaltiger Entwicklung in vier
Dimensionen auf. An deren Stelle treten fünfzehn Oberthemen, die mithilfe von 96
Indikatoren gemessen werden (UNCSD 2001, S. 9–14). Eine Liste mit den fünfzehn
Themenfeldern und den dazugehörigen Kernindikatoren befindet sich im Anhang
(Anhang A1).
Die wichtigsten Erkenntnisse aus diesem Entwicklungsprozess sind die
Überschaubarkeit der Einzelindikatoren zu gewährleisten und Themenfelder zu
formulieren, die einerseits einen bedeutenden Nachhaltigkeitsbezug haben und
andererseits ausreichend handlungsorientiert sind, um in politische Prozesse integriert
werden zu können.
Insgesamt hat die Entwicklung eines gemeinsamen, international anerkannten
Indikatorensets zu einer deutlichen Sensibilisierung mit dem Thema beigetragen. An
– 21 –
den von der UNCSD bereitgestellten Leitfäden haben sich viele Länder bei der
Formulierung und Ausarbeitung nationaler Nachhaltigkeitsindikatoren orientiert.
3.3.2 National: die deutsche Nachhaltigkeitsstratgie (2002)
Explizit werden innerhalb der Agenda 21 in Kapitel 40.6 die Unterzeichnerländer
aufgefordert Nachhaltigkeitsindikatoren auf nationaler Ebene zu entwickeln und
regelmäßig fortzuschreiben. Vor diesem Hintergrund hat auch Deutschland im Jahr
2002 erstmals eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie formuliert und ein konkretes
Indikatorenset konzipiert. Dabei greift sie auf ein integratives Konzept zurück und
benennt vier übergeordnete Themenfelder (Generationengerechtigkeit, Lebensqualität,
sozialer Zusammenhalt und internationale Verantwortung), die sich in insgesamt 21
Unterthemen und den entsprechenden Indikatoren (25 Stück) aufgliedern. Die drei
Nachhaltigkeitsdimensionen dienen nicht als äußeres Gerüst der Strategie sondern
sollen sich in jedem einzelnen Handlungsfeld durch die Auswahl geeigneter Indikatoren
integriert wiederfinden (Statz 2008, S. 208).
Im Gegensatz zum Indikatorenset der UNCSD wird auf deutlich weniger
Einzelindikatoren zurückgegriffen. Die Strategie wird in vierjährigen Abständen
fortgeschrieben, während die Indikatoren alle zwei Jahre aktualisiert werden.
Sowohl dem UNCSD-Set als auch dem deutschen Indikatorenset ist gemein, dass sie
beide auf eine mögliche Monetarisierung und Aggregation verzichten und damit die in
den vorigen Kapiteln angedeuteten Spannungsfelder vermeiden.
Während die Formulierung der vier Querschnittsziele und der Auswahl der 21
relevanten Handlungsfelder hauptsächlich positiv zur Kenntnis genommen wurde
(Kopfmüller und Luks 2003/2004, S. 17–18), so gab es deutliche Kritik an der Auswahl
der Schlüsselindikatoren. So widmen sich ganze neun Indikatoren dem Querschnittsziel
Generationengerechtigkeit (Deutsche Bundesregierung 2002, S. 67–76), ein Indikator
für die intragenerationale Gerechtigkeit (bspw. über die Messung der
Einkommensverteilung oder der Armutsquote) findet sich in der Strategie jedoch nicht
wieder.
Ebenso sind die häufige Verwendung von Effizienzindikatoren, die sich auf das
Bruttoinlandsprodukt beziehen (Ressourcenproduktivität, Transportintensität) und die
Verwendung des BIP als Indikator für wirtschaftlichen Wohlstand zu kritisieren. Die
bestehenden Spannungsfelder zwischen zukunftsfähiger Entwicklung, unbegrenztem
Wachstum, den Grenzen wirtschaftlicher Effizienzlogik und Aspekten der
– 22 –
Lebensqualität (ausführlich in Kap. 4) werden durch die Auswahl der Indikatoren nur
ungenügend thematisiert (Kopfmüller und Luks 2003/2004, S. 18–21).
3.3.3 Regional: die Nachhaltigkeitsstrategie Schleswig-Holsteins (2003)
Zeitgleich mit der Ausarbeitung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie haben auch
mehrere deutsche Bundesländer ihre Arbeit an der Konzeption regionsbezogener
Strategien begonnen. Ende 2003 legte das Bundesland Schleswig-Holstein seine
Nachhaltigkeitsstrategie (Landesregierung Schleswig-Holstein 2004) vor. Der Aufbau
orientiert sich stark an der nationalen Strategie. Drei Querschnittsziele (Arbeiten und
Produzieren, Zusammen Leben, Das Land nutzen) werden durch zwölf Zukunftsfelder
konkretisiert und mithilfe von aktuell 34 Indikatoren gemessen. Mit der
Veröffentlichung des Nachhaltigkeitsberichtes 2009 wurden die ursprünglichen zwölf
Zukunftsfelder auf fünf Leitthemen reduziert.
Hervorzuheben an der Konzeption der Nachhaltigkeitsstrategie Schleswig-Holsteins ist
die klar strukturierte Gestaltung der Indikatorenblätter. Für jeden einzelnen Indikator
wird eine Zeitreihenanalyse zur Verfügung gestellt (Anhang A2). Änderungen an der
Erhebungsart werden protokolliert, die Formulierung von Zielwerten wird begründet
und die Aussagekraft des Indikators wird kritisch diskutiert.
Die starke Orientierung an der nationalen Strategie bewirkt jedoch auch die Übernahme
der bereits erwähnten Schwachpunkte. Die Indikatorenauswahl vernachlässigt zentrale
Bereiche der Diskussion um nachhaltige Entwicklung.
Um diese Lücken zu füllen hat der schleswig-holsteinische Landesverband Bündnis
90/Die Grünen im Juni 2011 eine Studie erstellen lassen, deren Ziel die Errechnung
eines alternativen Wohlstandsindex für Schleswig-Holstein war (Diefenbacher et al.
2011). Diese regionale Form des Nationalen Wohlfahrtsindex beinhaltet Indikatoren,
die sich mit den in Kapitel 3.2 genannten Spannungsfeldern kritisch auseinandersetzen
(vgl. ausführlich Kap. 4.4).
3.3.4 Stadt: Sustainable Seattle (1993)
Wenn es um die Konzeption von Nachhaltigkeitsindikatoren auf städtischer Ebene geht,
wird die Stadt Seattle häufig als Vorzeigeprojekt genannt. Bereits Anfang der 1990er
entstand vor dem Hintergrund der Veröffentlichungen der Brundtland-Kommission eine
breit angelegte Diskussion über dauerhafte Entwicklung und deren Messung in Form
von Indikatoren. Gestützt auf einen intensiven und partizipativen Entwicklungsprozess
– 23 –
wurde 1993 ein Set von vierzig Indikatoren veröffentlicht, die den Entwicklungsstand in
fünf Handlungsfeldern messen sollten. Dabei wurde in Kauf genommen, dass für einige
Themenfelder noch keine geeigneten Indikatoren zur Verfügung standen, die
Themenfelder aber als essentiell zur Messung einer nachhaltigen Entwicklung
angesehen wurden. Ebenso wurde auf eine konkrete Zielformulierung und eine
mögliche Aggregation verzichtet (AtKisson 1996, S. 341–345).
Die Besonderheit an dem Indikatorenkonzept der Stadt Seattle liegt, abgesehen von
seiner partizipativen Entstehungsweise, in der Auswahl der Indikatoren. Neben den in
vielen Nachhaltigkeitskonzepten anzutreffenden Standardindikatoren (z.B. Luftqualität,
Arbeitslosenquote, Bildungsabschlüsse, Lebenserwartung) werden Themenfelder und
Indikatoren definiert, die einen alternativen Zugang zu der Nachhaltigkeitsdiskussion
bieten sollen. Indikatoren wie „absoluter Benzinverbrauch“, „Einkommensverteilung“,
„Armutsquote“ und „Partizipation in öffentlichen Einrichtungen und Gärten“ stehen in
Einklang mit dem eingangs formulierten Nachhaltigkeitsverständnis, deren
Konsequenzen für die Aufstellung der Leitthemen in Kapitel 4 ausführlich behandelt
werden.
Knapp 20 Jahre seit der ersten Konzeption des Indikatorensets steht der fünfte
Indikatorenbericht kurz vor der Veröffentlichung. Der Trend, der sich bereits bei der
damaligen Auswahl der Indikatoren gezeigt hat, wird fortgeführt. Seattle hat sich zum
Ziel gesetzt, die erste Gross National Happiness City zu werden. Die fünf
Handlungsfelder wurden auf neun erweitert und berücksichtigen nun auch Themen wie
„Zeitbalance“, „psychisches Wohlergehen“ und „kulturelle Vielfalt“. Alle
Handlungsfelder und die entsprechenden Indikatoren befinden sich im Anhang
(Anhang A3).
3.4 Zwischenfazit
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich die theoretischen Überlegungen zur
Konzeption von Nachhaltigkeitsindikatoren auch in den hier vorgestellten
Messsystemen wiederfinden. Alle Konzeptionen verzichten auf eine Aggregation und
Monetarisierung der einzelnen Dimensionen und bemühen sich die Anzahl der
Indikatoren, mit Ausnahme des UNCSD-Sets, überschaubar zu halten (20-40
Indikatoren). Die Formulierung von relevanten Themenfeldern steht am Beginn des
Auswahlprozesses und orientiert sich nicht mehr nur an den drei Dimensionen sondern
an übergreifenden Querschnittsbetrachtungen, die häufig im Zentrum der
gesellschaftlichen und politischen Diskussion stehen.
– 24 –
Auch bei der Zielformulierung herrscht weitgehend Einigkeit unter den Konzepten.
Zwar gibt es vor allem auf nationaler Ebene konkrete Zielvorgaben im Bereich der
ökologischen Indikatoren (Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien auf x Prozent,
Verdopplung der Energie- und Ressourcenproduktivität), jedoch werden im Bereich der
ökonomischen und sozialen Indikatoren fast ausschließlich nur Richtungsvorgaben
getroffen.
Die an dieser Stelle zusammengefassten Erkenntnisse bilden den grundlegenden
konzeptionellen und methodischen Rahmen für die Erstellung des Indikatorensystems.
Unter Verzicht auf eine mögliche Aggregation und Monetarisierung werden Indikatoren
erhoben, die die Entwicklung in übergeordneten Leitthemen abbilden sollen.
Für eine erste Annäherung an die Nachhaltigkeitsidee erscheint die Unterteilung in drei
Dimensionen zwar sinnvoll, zur Operationalisierung ist sie jedoch nur bedingt geeignet,
da sie weder die besondere Bedeutung des ökologischen Kapitals noch die bereits
angesprochenen Wechselwirkungen zwischen den Dimensionen angemessen
berücksichtigt. Stattdessen wird auf die Formulierung von Leitthemen zurückgegriffen,
deren Messung Rückschlüsse auf eine zukunftsfähige Entwicklung von Gesellschaft
und Wirtschaft zulassen.
Die Erarbeitung der Leitthemen steht im Mittelpunkt des folgenden Kapitels, das vor
dem Hintergrund der zu Beginn der Arbeit formulierten Ausgangsthese besonders auf
das Verhältnis unbegrenzten ökonomischen Wachstums und dessen soziale und
ökologische Auswirkungen auf eine nachhaltige Entwicklung eingeht und mit
Lebensqualitätsansätzen, Gerechtigkeitsüberlegungen und alternativen
Wirtschaftskonzepten verknüpft.
– 25 –
4 Lebensqualität, Gerechtigkeit und Wachstum – theoretische
Grundlagen für die Auswahl von Nachhaltigkeitsindikatoren
Es wurde bereits deutlich, dass der Nachhaltigkeitsdiskurs seine Wurzeln in der
Umweltdebatte der 1970er Jahre hatte. Ausgehend davon entfachte sich eine Diskussion
über die Ursprünge und Ursachen der Umweltproblematik, die weit über die rein
ökologische Folgenbetrachtung hinausging. Vor allem in den Volkswirtschafts- und
Sozialwissenschaften wurde versucht, den Nachhaltigkeitsdiskurs in übergeordnete
Konzepte zu integrieren und daraus ursächliche gesellschaftliche und wirtschaftliche
Tendenzen abzuleiten, die eine nicht nachhaltige Entwicklung kennzeichnen. Darauf
aufbauend wurden Alternativen und Vorschläge entwickelt, die einen wichtigen Beitrag
zum Nachhaltigkeitsdiskurs leisten und sich mit Fragestellungen auseinandersetzen, die
bei der Auswahl der Leitthemen berücksichtigt werden müssen.
Viele Beiträge beschäftigen sich mit den anthropogenen Auswirkungen auf die
natürliche Umwelt und leiten daraus Indikatoren ab, die auf eine dauerhafte
Aufrechterhaltung der Umwelt schließen sollen (z.B. Dalys steady-state economy, vgl.
Kap. 2.3). In diesem Kapitel stehen jedoch die ökonomische und die soziale Dimension
der Nachhaltigkeit im Vordergrund. Dabei wird speziell untersucht inwieweit ein
Zusammenhang von dauerhaftem Wirtschaftswachstum und einer nachhaltigen
Entwicklung in wirtschaftlich und gesellschaftlich bedeutenden Themenbereichen
besteht.
Im Folgenden wird aufbauend auf der These, dass weiteres Wachstum nicht nachhaltig
sein kann, der traditionelle Wachstumsbegriff definiert und kritisch beleuchtet, bevor
die wichtigsten Wachstumstreiber analysiert und die ökologischen und ökonomischen
Folgen unbegrenzten Wirtschaftswachstums aufgezeigt werden. Begleitend zu diesem
Themenkomplex werden alternative Wachstumskonzepte und Instrumente zur
Wohlfahrtsmessung diskutiert und deren Bedeutung für die Erhebung von
Nachhaltigkeitsindikatoren untersucht.
Das abschließende Unterkapitel beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit
Gerechtigkeitsüberlegungen und Lebensqualitätskonzepte einen Beitrag zu der
Identifizierung relevanter Handlungsfelder leisten können, mit deren Hilfe dann die
Formulierung der Leitthemen vorgenommen werden kann.
Ausgangspunkt für dieses Kapitel ist die Analyse des Zusammenhangs zwischen
Wirtschaftswachstum, gesellschaftlichem Wohlstand, subjektivem Glücksempfinden
und der von der Brundtland-Kommission eingeforderten inter- und intragenerationalen
Gerechtigkeit.
– 26 –
4.1 Der traditionelle Wachstumsbegriff – unvereinbar mit dem
Nachhaltigkeitsgedanken?
Seit dem Beginn der Industrialisierung steht die Notwendigkeit wirtschaftlichen
Wachstums für die überwältigende Anzahl der politischen, gesellschaftlichen und auch
(wirtschafts-)wissenschaftlichen Akteure außer Frage. Wachstum, ausgedrückt in einem
Zuwachs des Bruttoinlandsproduktes (BIP), das die Menge der am Markt erzeugten
Wirtschaftsgüter und Dienstleistungen misst, ist die Grundlage für Wohlstand, Glück
und Zufriedenheit. Es erzeugt und sichert Arbeitsplätze und stattet die Menschen mit
Gütern aus, die der Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisse dienen.
Die Neoklassik sieht in der Ausstattung der Gesellschaft von materiellen Gütern den
Hauptzweck wirtschaftlichen Wachstums. Verteilungsfragen werden durch den Markt
effizient gelöst. Durch das absolute Ansteigen der zur Verfügung stehenden Güter und
Dienstleistungen, können am Ende alle Menschen profitieren (trickle-down), ihren
materiellen Wohlstand mehren und ihre Bedürfnisse befriedigen.
Und tatsächlich hat die neoklassische Wirtschaftsauffassung für eine nie dagewesene
Ausstattung mit Gütern und Dienstleistungen gesorgt. Seit dem 18. Jahrhundert ist das
weltweite BIP um circa das 80-fache angestiegen. Berücksichtigt man den Anstieg der
Weltbevölkerung hat sich das BIP pro Kopf in diesem Zeitraum verelffacht. Dieses
historische Wachstum entspricht einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von
1% (Miegel 2010, S. 61). Der durch dieses geringe Wirtschaftswachstum ausgelöste
Ressourcenbedarf war der Auslöser der Umweltdebatte der 1970er-Jahre und des daraus
resultierenden Nachhaltigkeitsdiskurses.
Allerdings halten viele Ökonomen zum Abbau der globalen Verteilungsprobleme und
dem Angleichen der Entwicklungsländer an das Wohlstandsniveau der Industrieländer,
ein dauerhaftes Weltwirtschaftswachstum von mindestens zwei Prozent für nötig. Die
im Jahr 2000 von der EU verabschiedete Lissabon-Strategie strebt sogar ein
dreiprozentiges Wirtschaftswachstum für den europäischen Raum an (Europäischer Rat
2000).
Eine jährliche BIP-Steigerung von drei Prozent führt zu einer Verdopplung der jährlich
produzierten Güter und Dienstleistungen innerhalb von 23 Jahren und einer
Vertausendfachung innerhalb der nächsten 234 Jahre (Miegel 2010, S. 63). Selbst bei
einer optimistischen Beurteilung des technischen Fortschritts und der Nutzung
erneuerbarer Energieträger kann exponentielles, wirtschaftliches Wachstum (mit der
Fokussierung auf jährliche Wachstumsraten) daher kaum als dauerhaft tragbar
bezeichnet werden, ohne die natürlichen Lebensgrundlagen nachhaltig zu zerstören.
– 27 –
Trotz der Erzeugung immer neuer materieller Bedürfnisse sind zumindest in den
Industrieländern erste Sättigungstendenzen des Marktes erkennbar. Dies zeigt sich
beispielhaft an der historischen Entwicklung des deutschen BIPs, das in den letzten
Jahrzehnten kontinuierlich sinkendende Wachstumsraten aufweist (Abbildung 4-1).
Abbildung 4-1: Historische Wachstumsraten des deutschen BIP seit 1950
Quelle: Statistisches Bundesamt 2011a
Das politische und gesellschaftliche Festhalten an Wachstumsraten, die nicht nur die
ökologischen und sozialen Grenzen des Wachstums missachten, sondern auch die
systemimmanenten, natürlichen Wachstumsschranken ignorieren, bewirkt zunehmend
eine Ausrichtung politischer Maßnahmen zur Erreichung ebenjener Wachstumsraten,
die allein schon aus systembedingter Dynamik als illusorisch bezeichnet werden
müssen. Wachstumsbeschleunigungsgesetze, Abwrackprämien und Maßnahmen zur
Konjunkturankurbelung sind nur logische Schlussfolgerungen dieser politischen
Fixierung auf das Erreichen realitätsferner Wachstumsraten.
Zumal exponentielles Wirtschaftswachstum auch im Hinblick auf die Entwicklung von
Lebensqualität und Verteilungsgerechtigkeit viele Hoffnungen nicht erfüllt hat, wie in
den folgenden Unterkapiteln gezeigt wird.
8,2
4,4
0,0
– 0,2
1,2 0,8
3,4
2,7
1,0
– 4,7
3,6
2,9 2,6 1,7
– 6
– 4
– 2
0
2
4
6
8
10
7172 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 2000 02 04 06 08 2010
Wirtschaftswachstum Bruttoinlandsprodukt preisbereinigt, verkettet
Veränderung gegenüber dem Vorjahr in %
Durchschnitt 1970–1980
Durchschnitt 1991–2001
Durchschnitt 1980–1991
Durchschnitt 1950–1960
Durchschnitt 1960–1970
– 28 –
Es ist daher angebracht, nicht nur über die ökologischen Folgen unbegrenzten
Wachstums zu diskutieren13, sondern auch dessen Tauglichkeit für die Erfüllung
menschlichen Wohlbefindens und gesellschaftlichen Zusammenhaltes zu überprüfen.
Daneben gilt es die Hauptkritikpunkte an der traditionellen Wachstumsauffassung
herauszuarbeiten und zu bewerten. Aufbauend darauf können dann Themenfelder
definiert werden, die eine zukunftsfähige Entwicklung in der ökonomischen und
sozialen Dimension kennzeichnen und, losgelöst vom Postulat des unbegrenzten
Güterwachstums, ein treffenderes Bild des originären Nachhaltigkeitsgedankens
vermitteln.
4.2 Der Wachstumsdiskurs – eine Zusammenstellung von kritischen Ansätzen
Zur Untermauerung der im vorigen Kapitel aufgestellten Thesen, stellen die folgenden
Unterkapitel verschiedene Diskussionsstränge vor und greifen dabei auf die Ergebnisse
einer Vielzahl von wissenschaftlichen Untersuchungen und statistischen Erhebungen
zurück.
4.2.1 die ökologischen Grenzen des Wachstums
Der Diskurs um die Vereinbarkeit zwischen exponentiellem Wirtschaftswachstum und
der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen bildet immer noch den Schwerpunkt
des wachstumskritischen Diskurses und soll an dieser Stelle nicht weiter reproduziert
werden. Stattdessen soll anhand ausgewählter empirischer Studien die Problematik
zwischen Wachstum und dessen Auswirkungen auf die Umwelt verdeutlicht werden.
Die derzeitige Wirtschaftsweise benötigt nach Analyse des Global Footprint Networks
die Ressourcen und die Kapazität zur Aufnahme der anthropogen verursachten Abfälle
im Gegenwert von 1,5 Erden. Die Erde benötigt somit 1,5 Jahre um sich von der
jährlichen, durch die menschliche Lebensweise hervorgerufenen Nutzung zu erholen.
Bei Extrapolation der derzeitigen Lebensweise benötigen wir im Jahr 2050 den
Gegenwert von 2,5 Erden. Dabei ist festzuhalten, dass die wirtschaftliche Entwicklung
der Industrieländer einen Großteil der zur Verfügung stehenden Ressourcen verschlingt
und die Absorptionsfähigkeit der Erde in hohem Maße in Anspruch nimmt (Global
Footprint Network 2010).
Besonders bei den Energieträgern Kohle, Öl und Gas, die seit zwei Jahrhunderten die
Hauptantriebskräfte des weltweiten Wirtschaftswachstums bilden ist ein Ende der
13
Luks (2001, S. 226–238) führt grundlegend in die Problematik der ökologischen Knappheit ein.
– 29 –
wirtschaftlich sinnvollen Exploration absehbar. Zwar gibt es erbitterte Diskussionen
über das Erreichen des peaks (Zeitpunkt des globalen Fördermaximums), aber das
dieser Punkt in naher Zukunft erreicht wird, steht außer Frage (Victor 2008, S. 58–70).
So werden zwar bereits rund 20% des weltweiten Energiebedarfes aus erneuerbaren
Energiequellen gewonnen, die verbleibenden 80% stammen jedoch weiterhin aus der
Verbrennung von Kohle, Erdöl und Erdgas. Zusammen decken diese Energieträger
einen Energieverbrauch, der vierzigmal höher ist als vor 150 Jahren und aufgrund des
weltwirtschaftlichen Wachstums weiter ansteigt (Miegel 2010, S. 121).
Auch die Funktion der Erde als Aufnahmemedium wird durch die wirtschaftliche
Expansion zunehmend beeinträchtigt. Trotz intensivster Bemühungen der
Weltgemeinschaft und zahlloser internationaler Konferenzen zur Verringerung der
Treibhausgasemissionen haben die anthropogenen CO2-Emissionen im Jahr 2010 ein
historisches Maximum erreicht (IEA 2010), nachdem sie im Krisenjahr 2009 aufgrund
der wirtschaftlichen Rezession noch spürbar zurückgegangen sind.
Diese Indikatoren führen unmittelbar zu der Diskussion, inwieweit sich
Wirtschaftswachstum und der Verbrauch von Ressourcen bzw. die Inanspruchnahme
natürlicher Dienstleistungen voneinander entkoppeln lassen. Eine Diskussion, die unter
den Begriffen qualitatives Wachstum, entmaterialisiertes Wachstum oder Green Growth
Eingang in die wirtschaftspolitische Debatte gefunden hat. Zahlreiche
Veröffentlichungen analysieren die Möglichkeit der Entkopplung von
Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch. „Doppelter Wohlstand bei halbiertem
Naturverbrauch“ (von Weizsäcker et al. 1996) und die Erhöhung der
Ressourcenproduktivität um den „Faktor 10“ (Schmidt-Bleek und Bierter 1998)
suggerieren eine nahezu unbegrenzte Ausweitung der Güterproduktion bei
gleichzeitiger Minimierung der Umweltbelastung. Und tatsächlich hat sich die Energie-
und Ressourcenproduktivität in Deutschland laut dem Fortschrittsbericht der deutschen
Nachhaltigkeitsstrategie im Zeitraum 1990 bis 2010 bereits um 39% bzw. 46% erhöht
(Statistisches Bundesamt 2011b, S. 5–6).
Doch diese Effizienz- und Produktivitätssteigerungen werden durch den sog. Rebound-
Effekt größtenteils wieder zunichte gemacht. Durch das Anwachsen des BIP im
gleichen Zeitraum um mehr als 30% ist der Primärenergieverbrauch in Deutschland
lediglich um 5,4% gefallen (Statistisches Bundesamt 2011b, S. 5). Von doppeltem
Wohlstand bei halbiertem Naturverbrauch kann somit nicht annähernd die Rede sein.
– 30 –
Fortschritte in der Erhöhung der ökologischen Effizienz bzw. Steigerung der Konsistenz
werden durch den wachstumsbedingten, absoluten Mehrverbrauch konterkariert14.
Es ist daher zu kritisieren, dass die Indikatoren der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie
im Themenfeld „Ressourcenschonung“ lediglich relative Zielvorgaben (Verdopplung
der Energieproduktivität bis 2020) machen und auf die Bedeutung des absoluten
Verbrauchs nur inhaltlich eingehen. Mit diesen Indikatoren dann Aussagen über die
Schonung der natürlichen Ressourcen treffen zu wollen, erscheint mehr als fraglich.
Die Verwendung von relativen Indikatoren muss daher immer kritisch beleuchtet
werden und sollte nach Möglichkeit vermieden werden, wenn die Relationsgröße (hier
das BIP) dynamisch ist und selber maßgeblich zu Rückkopplungseffekten beiträgt.
4.2.2 Wachstum und Verteilungsgerechtigkeit
Nach der eingangs beschriebenen traditionellen Auffassung sorgt wirtschaftliches
Wachstum für ein Ansteigen der zur Verfügung stehenden Güter und Dienstleistungen
und somit auch für eine Vergrößerung des individuellen Einkommens. Manche
Bevölkerungsschichten profitieren von dem Wachstum überproportional, andere
weniger. In der Summe geht es jedoch allen besser.
Jedoch belegen immer mehr Untersuchungen, dass sich zumindest in den
Industrieländern Tendenzen abzeichnen, nach denen große Teile der Bevölkerung nicht
nur relative Einkommensverluste im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen
hinnehmen müssen, sondern unter Berücksichtigung der Inflationsrate absolut weniger
Einkommen zur Verfügung haben. Im Gegenzug steigt das Realeinkommen der oberen
Gesellschaftsschichten überproportional stark an. Begleitet durch ein absolutes
Anwachsen der Haushalte in den unteren und oberen Einkommensbereichen, führt diese
Entwicklung zu einer Einkommenspolarisierung innerhalb der Gesellschaft (DIW
2010).
Auch die Vermögenskonzentration hat in den letzten Jahrzehnten weiter zugenommen.
So sind die reichsten zehn Prozent der deutschen Haushalte mittlerweile im Besitz von
61,1% des gesamten Gesellschaftsvermögens, während die unteren 50% der Haushalte
summiert über kein Vermögen verfügen (DIW 2009). In den Vereinigten Staaten
verfügen die reichsten 10% der Bevölkerung sogar über 75% des
Gesellschaftsvermögens (Allegretto 2011).
14
Das Phänomen einer zunehmenden relativen Entkopplung bei gleichzeitig steigender absoluter
Konsumption von Rohstoffen und Materialien ist weltweit zu beobachten. Vgl. bei Jackson (2009, S. 67–
76.)
– 31 –
Die Notwendigkeit wirtschaftlichen Wachstums ist in Ländern, in denen ein
signifikanter Teil der Bevölkerung aufgrund niedriger Einkommen an Hunger und
Unterernährung leiden, unbestreitbar. In Gesellschaften jedoch, die bereits einen so
hohen Entwicklungsstand erreicht haben, dass auch die ökonomisch gesehen armen
Haushalte ihre Grundbedürfnisse befriedigen können, scheint weiteres
Wirtschaftswachstum zu Lasten des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu gehen, indem
es die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen fördert. Nicht mehr alle
Bevölkerungsschichten können vom Wachstum profitieren, sondern
Wohlstandsgewinne (ausgedrückt in dem zur Verfügung stehenden Einkommen) einer
Bevölkerungsgruppe resultieren in Wohlstandsverlusten anderer Bevölkerungsgruppen.
Diese Tatsache spiegelt sich auch in Befragungen in Deutschland wider, nach denen fast
75% der Befragten angeben, dass eine gerechte Verteilung des Wohlstands in
Deutschland nicht realisiert ist und die soziale Gerechtigkeit seit 1985 abgenommen hat
(Glatzer 2009, S. 17). Ob weiteres ökonomisches Wachstum noch einen konstruktiven
Beitrag zur Förderung der intragenerationalen Gerechtigkeit leisten kann, wie es der
Brundtland-Bericht einfordert, darf daher in Frage gestellt werden.
Betrachtet man die ökonomischen Folgen unbegrenzten Wachstums aus der
intergenerationalen Perspektive, so rückt besonders die zunehmende
Schuldenproblematik in den Mittelpunkt der Analyse.
Abbildung 4-2 verdeutlicht, dass der Anstieg des BIPs seit Beginn der 1950er Jahre
immer in Einklang mit einer absoluten Erhöhung der Staatsverschuldung einherging.
Seit den 1970er-Jahren hat sich dieser Trend verstärkt, so dass auch der relative Anteil
der Staatsschulden am BIP ansteigt und Deutschland zum Ende des Jahres 2010 mit
knapp 2 Billionen Euro (bzw. 80% des jährlichen BIPs) verschuldet ist.
– 32 –
Abbildung 4-2: Entwicklung des BIP und der Staatsverschuldung in Deutschland
Quelle: eigene Darstellung. Daten: Statistisches Bundesamt 2011a; Bund der Steuerzahler e. V. 2011
In vielen westlichen Staaten ist dieser Verlauf noch prekärer und die Schuldenquoten
befinden sich jenseits der 100%-Marke.
Die aus der steigenden Schuldenlast resultierenden Zinszahlungen sind in einigen
Staaten bereits der größte Posten in ihren Finanzhaushalten und schränken
dementsprechend den Handlungsspielraum der Staaten zur Finanzierung allgemeiner
Aufgaben deutlich ein. Dies betrifft nicht nur die aktuelle Generation, sondern in
besonderem Maße auch die zukünftigen Generationen, denen damit nicht nur nahezu
verzehrte natürliche Ressourcen sondern auch ein immenser ökonomischer
Schuldenberg hinterlassen wird.
Vor dem Hintergrund einer notwendigen Gerechtigkeitsdiskussion, stellt sich die Frage
ob weiteres Wirtschaftswachstum die ursprünglich gehegten Hoffnungen einer
gerechten Gesellschaft erfüllt hat und inwieweit der damals propagierte „Wohlstand für
alle“ (Erhard 1957) nur auf Kosten der Lebensbedingungen zukünftiger Generationen
erkauft wurde.
4.2.3 von Konsumzwängen und Wachstumsspiralen
"Consumption is the sole end and purpose of all production; and the interest of
the producer ought to be attended to, only so far as it may be necessary for
promoting that of the consumer." (Smith 1911, S. 444)
0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
0
500
1.000
1.500
2.000
2.500
3.000
19
50
19
53
19
56
19
59
19
62
19
65
19
68
19
71
19
74
19
77
19
80
19
83
19
86
19
89
19
92
19
95
19
98
20
01
20
04
20
07
20
10
in M
rd. €
BIP Staatsverschuldung Staatsverschuldung in % des BIP
– 33 –
Dieses annähernd 250 Jahre alte Zitat von Adam Smith hat nichts von seiner Aktualität
verloren. Der Konsum von Gütern und Dienstleistungen zur Befriedigung materieller
Bedürfnisse ist in den Industrieländern die Antriebskraft für Wirtschaftswachstum.
Dabei steht keineswegs mehr die Befriedigung von Grundbedürfnissen im Zentrum des
Konsumaktes, sondern die durch den Kauf versprochene Ansehenssteigerung innerhalb
des sozialen Umfeldes des Konsumenten.
In einer Gesellschaft in der menschliche Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken und
Unterkunft gesättigt sind, nimmt der Umfang des privaten Konsums, deren individuelle
Bedürfnisbefriedigung vom Besitz und Gebrauch Dritter abhängig ist, immer weiter zu.
Hirsch (1980) hat dafür den Begriff des positionalen Konsums geprägt. Er unterscheidet
in private und gesellschaftliche Aspekte eines Konsumgutes. Die (andauernde)
Bedürfnisbefriedigung aus dem Kauf eines schnellen und geräumigen Autos (privater
Aspekt) hängt ebenso von der Verfügbarkeit und dem Besitz dieser Automarke von
Dritten ab (gesellschaftlicher Aspekt). Die materielle Befriedigung wird durch die
gegebenen gesellschaftlichen Nutzungsbedingungen relativiert:
„Wo die einzige oder die Hauptquelle der Befriedigung eher aus der
symbolischen Bedeutung als aus der Substanz des Gutes herrührt, kann man von
rein gesellschaftlicher Knappheit sprechen.“ (Hirsch 1980, S. 43)
Technischer Fortschritt und Innovation, marktwirtschaftlicher Wettbewerb und die
Verfügbarkeit von billigen Rohstoffen (Ausgangsbedingungen für
Wirtschaftswachstum) tragen dazu bei, dass die von Hirsch propagierte gesellschaftliche
Knappheit überwunden wird und die Produkte für große Teile der Gesellschaft
erschwinglich werden. Ein Abheben von der Masse (die Befriedigung durch die
symbolische Bedeutung) ist infolgedessen nicht mehr möglich. Die Erwartungshaltung
des Konsumenten kann nicht dauerhaft befriedigt werden, da die neuen Produkte
(Autos, Fernseher, Handys etc.) zur gesellschaftlichen Norm werden (Røpke 2010, S.
107–109). Enttäuschung und Frustration des Konsumenten ziehen neue
Konsumhandlungen nach sich (Hirschman 1988) und manifestieren somit den
immanenten und scheinbar unbegrenzten Konsumzwang westlicher Gesellschaften.
Eine weitere Form eines systemimmanenten Wachstumszwanges spiegelt sich auf der
mikroökonomischen Ebene der Wirtschaft wider. Im Vordergrund der Analyse steht
dabei die Möglichkeit der unbegrenzten Geld- und Kreditschöpfung durch die
Zentralbanken und das zeitliche Auseinanderfallen von Produktion und Konsumption
der durch die Unternehmen hergestellten Produkte (Binswanger 2009a). Zum einen
entsteht durch die Aufnahme von Fremdkapital zur Vorfinanzierung der
Herstellungskosten eines Produktes ein Wachstumsdrang, der aus den Zinsforderungen
– 34 –
der Fremdkapitalgeber und der notwendigen Erwirtschaftung eines
Unternehmensgewinnes zur Deckung der Ansprüche der Eigenkapitalgeber resultiert.
Zum anderen ergibt sich durch die Notwendigkeit der Gewinnerwirtschaftung ein
Wachstumszwang, denn ohne Wachstum können die Gewinnerwartungen der
Kapitalgeber nicht mehr erfüllt werden und das Unternehmen muss seine Produktion
einstellen.
Abgeleitet auf die Makroebene der Wirtschaft resultiert daraus, dass im
gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt die Summe der Gewinne immer über der Summe
der Verluste liegen muss, was nur bei einer ständigen Ausweitung der Geldschöpfung
(d.h. durch die Bereitstellung von Krediten) realisiert werden kann. Ohne
Schuldenaufnahme kann es keine Produktion geben und ohne Produktion entstehen
keine Gewinne, die Voraussetzung für die Gewährung von Krediten ist. Die oben
bereits erwähnten Daten zur weltweiten Verschuldungssituation und die in den letzten
Jahrzehnten exponentiell gestiegene, weltweite Geldmenge15 sind deutliche Belege für
die Existenz einer derartigen Wachstumsspirale.
Aus der Existenz von Konsum- und Wachstumszwängen und deren negativen
ökologischen (vgl. Kap 4.2.1), gesellschaftlichen und sozialen Begleiterscheinungen
(vgl. Kap. 4.2.4 und Kap. 4.3) leitet sich daher ab, dass die derzeitige auf Wachstum
fokussierte Wirtschafts- und Produktionsstruktur nicht nachhaltig sein kann:
„Bei Licht betrachtet ist die Wachstumsspirale der Wirtschaft ein
Schneeballsystem, das darauf beruht, dass die Gewinnauszahlungen an frühere
Investoren aus Einzahlungen neuer Investoren gespeist werden. Man zahlt alte
Schulden mit neuen Schulden. [...] Die Herausforderung, vor der wir stehen, ist
es, das Schneeballsystem, d.h. die sich kumulierende ökonomische und
ökologische Verschuldung, rechtzeitig zu bremsen.“ (Binswanger 2009b, S. 24–
25)
4.2.4 zum Zusammenhang von materiellem Wohlstand und individueller
Lebenszufriedenheit
Lange Zeit war man davon überzeugt, dass die steigende Versorgung der Gesellschaft
mit materiellen Gütern, die Erfindung von technischen Innovationen, die Erhöhung der
Produktivität und die Verfügbarkeit von Produkten aus aller Welt (kurz:
Wirtschaftswachstum) automatisch den Wohlstand und die Lebenszufriedenheit der
Bevölkerung erhöht.
15
vgl. http://dollardaze.org/blog/?post_id=00565 (abgerufen am 16.08.2011).
– 35 –
Und tatsächlich kann festgestellt werden, dass eine enge Korrelation zwischen
subjektiver Lebenszufriedenheit und dem BIP pro Person besteht (Jackson 2009, S. 42).
Allerdings löst sich diese Korrelation ab Erreichen einer gewissen
Einkommensschwelle allmählich auf. Das Phänomen, dass ab einem gewissen
Einkommensniveau ein zusätzlicher Einkommensanstieg keine weitere Erhöhung der
Lebenszufriedenheit stiftet, ist als Easterlin-Paradox bekannt geworden16 und war der
Ausgangspunkt für das Entstehen der modernen Glücksforschung, die sich kritisch mit
dem Zusammenhang zwischen Lebenszufriedenheit und ökonomischem Wachstum
auseinandersetzt. Die Einkommensschwelle, bei deren Überschreiten kein signifikanter
Zusammenhang mehr zwischen Lebenszufriedenheit und dem gesellschaftlichen
Durchschnittseinkommen mehr feststellbar ist, lag 1999 bei circa 20.000 US-Dollar
(Layard 2011, S. 33). Die Höhe der Einkommensschwelle wurde in den Vereinigten
Staaten und in Deutschland zu Beginn der 1970er Jahre durchbrochen (in heutigen
Preisen ausgedrückt) und in beiden Ländern zeigen Untersuchungen, dass ab diesem
Zeitpunkt der Anteil der Zufriedenen und sehr Zufriedenen nicht weiter gewachsen ist -
trotz einer Verdopplung der Wirtschaftsleistung in diesem Zeitraum (Layard 2011, S.
30; Miegel 2010, S. 30).
Es gibt also vielfältige Gründe an der Notwendigkeit zukünftigen
Wirtschaftswachstums zu zweifeln. Warum aber orientiert sich die überwältigende
Mehrheit der westlichen Gesellschaft weiterhin an dem Wachstumsprimat, obwohl sie
selber angeben, dass die Vermehrung ihres materiellen Besitzes nur eine untergeordnete
Bedeutung für ihr persönliches Wohlbefinden hat17? Der Grund liegt anscheinend in
einem Zusammenwirken der von Hirsch propagierten Konsumzwänge, des sich aus
Binswangers Wachstumsdrang ergebenen Absatzdruckes der Unternehmen und der
nicht enden wollenden Anzahl an technischen Innovationen. Zur Befriedigung des
Wachstumsdranges sind Unternehmen ständig gezwungen neue Märkte zu erschließen
und Produktinnovationen voranzutreiben. Der Prozess der schöpferischen Zerstörung
fördert die Entstehung immer neuer Absatzmöglichkeiten, um die Sättigung des
Marktes mit materiellen Gütern und Dienstleistungen immer weiter nach hinten zu
verschieben. Dabei bedienen sich die Unternehmen einer gigantischen Marketing- und
16
Ursprünglich stellte Easterlin fest, dass in internationalen Vergleichen eine schwächere Korrelation
zwischen dem zur Verfügung stehenden Einkommen und der subjektiven Lebenszufriedenheit besteht als
in intranationalen Vergleichen. Er schließt daraus, dass dem relativen Einkommen eine höhere Bedeutung
zukommen müsste als dem absoluten Einkommen (1974, S. 111–112). Diese Beobachtungen decken sich
mit Hirsch’s Theorie der positionalen Ökonomie und wurden von Easterlin (2010) in einem erweiterten
Ländervergleich bestätigt. 17
So hielten in einer Umfrage nur 27% der Befragten in Deutschland die Mehrung ihres materiellen
Besitzes für erstrebenswert, 59% waren mit ihrem Besitz zufrieden und 10% waren bereit mit weniger
materiellem Besitz zu leben (Miegel und Petersen 2008, S. 50–55).
– 36 –
PR-Maschine18 zur Erzeugung und Suggestion von Konsumbedürfnissen. Nach der
Theorie des positionalen Konsums ist die Befriedigung durch den Konsumakt jedoch
nur von kurzer Dauer. Auf einem gesteigerten materiellen Niveau setzt dann der
Gewöhnungseffekt ein und der Konsumkreislauf beginnt von vorne. So lässt sich
erklären, dass sich eine Mehrzahl der Befragten zum Zeitpunkt der Umfrage zwar mit
der Ausstattung von materiellen Gütern zufrieden gibt, aber sich auch bei ihnen im
Zeitverlauf mit großer Wahrscheinlichkeit immer mehr Güter ansammeln werden:
"You are in fact on a kind of treadmill, a 'hedonic' treadmill, where you have to
keep running in order that your happiness stand [sic!] still." (Layard 2011, S.
48)
Während also das Glück zumindest in den hochentwickelten Industrieländern still zu
stehen scheint, geht jedoch die Zerstörung der natürlichen Umwelt bedingt durch das
Wirtschaftswachstum und den grenzenlosen Konsummöglichkeiten unverändert weiter
und verringert die Lebensqualität aktueller und zukünftiger Generationen.
Aus den auf den letzten Seiten vorgetragenen Gründen befassen sich mittlerweile viele
Wissenschaftler kritisch mit der Wachstumsdogmatik. Sie versuchen Pfadabhängkeiten
herzuleiten und Konzepte zu formulieren, mit denen eine Gesellschaft funktionieren
kann ohne auf ständiges (exponentielles) Wachstum angewiesen zu sein. Dabei befassen
sie sich mit Fragestellungen, die interessante Inputs für die Auswahl der relevanten
ökonomischen und gesellschaftlichen Leitthemen zur Abbildung einer nachhaltigen
Entwicklung liefern können. Im folgenden Kapitel werden daher Ansätze und
Grundprinzipien der Postwachstumsökonomik vorgestellt und deren Relevanz auf die
Bildung von Nachhaltigkeitsindikatoren überprüft.
4.3 ein Beitrag der Postwachstumsökonomik
Die Postwachstumsökonomik hat sich zum Ziel gesetzt, die wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Wachstumstreiber zu identifizieren und Anpassungsstrategien
aufzuzeigen, die ein gutes und auskömmliches Leben in einer begrenzten Welt ohne
weiteres Wirtschaftswachstum ermöglichen sollen. Die Identifizierung dieser Strategien
kann dabei helfen, geeignete inhaltliche Themenbereiche für die Auswahl von
Indikatoren zu finden. Aus der Fokussierung auf soziale und ökonomische Indikatoren
18
Allein die deutsche Werbeindustrie setzt jährlich knapp 30 Milliarden Euro um. Vgl.
http://www.zaw.de/index.php?menuid=33 (abgerufen am 20.08.2011).
– 37 –
ergibt sich, dass die Anpassungsstrategien der Postwachstumsökonomik, die
maßgeblich die ökologische Dimension behandeln, nicht näher erläutert werden19.
Folgende Themenfelder stehen im Zentrum einer möglichen Kontur der
Postwachstumsökonomik:
Fremdversorgung und die industrielle Arbeitsteilung
Schon Schumacher (1973) und Hueting (1980) machten auf die zunehmende
Ressourcenproblematik der industriellen Massenproduktion aufmerksam und plädierten
für eine Abkehr von der sich immer weiter ausdehnenden, industriellen
Produktionsmaschinerie. Die in höchstem Maße spezialisierte Arbeitsteilung mit
globalen Produktions- und Lieferketten zur Ausnutzung von Größenvorteilen ist eine
wesentliche Antriebskraft der Wachstumsspirale. Die Eindämmung der weltweiten
Produktionsaufteilung und die Konzentration auf lokale und regionale Produktions- und
Distributionswege in Verbindung mit einer Reduktion der Spezialisierungsstufen würde
zumindest eine Verlangsamung des systemimmanenten Wachstumsdrangs bewirken20.
Die Abhängigkeit der modernen Konsumgesellschaft von der Verfügbarkeit industriell
hergestellter Produkte ist ebenfalls zu mindern. Der Übergang von der Selbst- zur
Fremdversorgung hat zwar die Konsumvielfalt um ein Vielfaches gesteigert, jedoch die
Fähigkeit der Menschen zur Herstellung eigener Konsum- und Nutzungsgüter
minimiert. Das moderne Individuum stellt seine Arbeitskraft einer hochspezialisierten
Wirtschaft zur Verfügung und verkonsumiert den dafür erhaltenen Arbeitslohn fast
ausschließlich durch fremdbezogene Güter und Dienstleistungen (Paech 2011, S. 35–
37). Immer mehr Menschen verbringen dabei ihren Alltag in einem Wechsel zwischen
Arbeit und Ausgeben (Schor 1997). Der Eigenproduktion von bspw. Lebensmitteln
(Subsistenzwirtschaft) wird in der beschleunigten Gesellschaft nur noch selten ein Platz
eingeräumt.
bewusster Konsum und Suffizienz
Die Spezialisierung der industriellen Produktion ermöglicht der heutigen
„Multioptionsgesellschaft“ (Gross 1994) die Auswahl aus einer unüberschaubaren
Anzahl von Produkten. Saisonale Einschränkungen bei Obst und Gemüse gehören
19
Hierzu zählen (trotz kritischer Stimmen) die Entkopplung von Ressourcenverbrauch und
Güterproduktion und die Erhöhung der Konsistenz von Gütern und Dienstleistungen durch bspw.
Nutzung von erneuerbaren Energieträgern, Erhöhung der Recyclingquote und die Verwendung von
natürlichen Stoffen. Vgl. ausführlich bei Meyer (2010) und Paech (2011). 20
Die notwendige Eindämmung setzt natürlich entsprechende Geld- und Finanzierungsreformen voraus,
auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Ein Vorschlag zur Einführung des sog. Vollgeldes
findet sich bei Binswanger (2009b, S. 139–149). Auch die Einführung von Regionalwährungen kann in
diesem Kontext den Wachstumsdrang verlangsamen.
– 38 –
ebenso der Vergangenheit an wie die räumliche Begrenztheit der Urlaubs- und
Reiseziele und die Ausstattung mit technischen Geräten. Hier kann das Ziel nur darin
bestehen, die existierenden Konsumzwänge zu hinterfragen und Alternativen
aufzuzeigen. Die Erzeugung immer neuer Konsumbedarfe durch alle Arten von
Werbung und die „Kommerzialisierung des öffentlichen Raums“ (Røpke 2010, S. 113)
müssen dabei ebenso kritisch analysiert werden, wie die gesellschaftlich legitimierte
Massenkultur der Wegwerfgesellschaft. Ein Weg den Konsumzwang abzumildern, kann
der bewusste Konsum von nachhaltig hergestellten Produkten sein. Auch die
Etablierung von Tauschringen und Netzwerken zur gemeinsamen Nutzung von Gütern
sein kann ein Beitrag zur Verlangsamung der Konsumspirale liefern.
Während die oben genannten Maßnahmen durchaus in Teilen der Gesellschaft
beobachtbar sind und besonders in Städten schon einen gewissen Lifestyle-Charakter
ausstrahlen, ist der Gedanke eines bewussten Verzichtes von Konsummöglichkeiten
sicherlich noch am schwächsten ausgeprägt, da dieser diametral entgegengesetzt zu der
aktuellen Wirtschaftsweise steht. Suffizienz wird dabei gleichbedeutend mit (Konsum-
)Verzicht gesetzt und dadurch "[...] ins moralisierende Abseits im Grunde harmloser
Besserwisserei" (von Winterfeld 2011, S. 58) befördert.
Doch bedeutet der Verzicht auf materielle Güter und überflüssige Dienstleistungen
zugleich einen Gewinn an Zeit und Geld, um Bedürfnisse zu befriedigen, die langfristig
zu einem erfüllten Leben und subjektivem Wohlbefinden abseits der Konsumspirale
beitragen. Dazu zählen insbesondere die Partnerschaft, Familie und Freunde und die
Gesundheit (Jackson 2009, S. 37).
Entschleunigung und die Verfügbarkeit von Zeit
Doch zur Befriedigung dieser Bedürfnisse wendet die Gesellschaft erstaunlich wenig
ihrer zur Verfügung stehenden Zeit auf. Den drei unbeliebtesten Tätigkeiten eines Tages
(Pendeln zum Arbeitsplatz und zur Wohnung sowie die Ausführung bezahlter Arbeit)
werden täglich acht Stunden gewidmet, während sich der kumulierte Zeitaufwand für
Familie, Freunde, Gesundheit und Entspannung bei circa 4 Stunden bewegt21. Dabei
stieg bspw. in den Vereinigten Staaten die jährliche Arbeitsbelastung kontinuierlich an.
Der durchschnittliche Amerikaner arbeitete 2006 rund 180 Stunden mehr als 1979
(Schor 2010, S. 105). Technische Fortschritte ermöglichten eine rasante Steigerung der
Mobilität. Dies schlug sich aber nicht in einer Zeitersparnis bei der unbeliebten
Tätigkeit des Pendelns zum Arbeitsplatz nieder. Im Gegenteil: Die durchschnittliche
Fahrtzeit zum Arbeitsplatz erhöhte sich um 21% (Binswanger 2010, S. 108).
21
Hinzu kommt, dass zwar 100% der befragten Frauen einer bezahlten Arbeit ausüben, aber sich bspw.
nur die Hälfte der Frauen tatsächlich mit Freunden traf (Binswanger 2010, S. 36–37).
– 39 –
Es kann also festgehalten werden, dass auch eine Art zeitökonomischer Rebound-Effekt
existiert. Technischer Fortschritt ermöglicht die Erhöhung der Arbeitsproduktivität und
die Beschleunigung der Mobilität und Kommunikation. Diese Effizienzsteigerungen
werden aber nicht genutzt, um sich Tätigkeiten zu widmen, die langfristige
Befriedigung erzeugen, sondern stattdessen wird mehr kommuniziert, weiter gependelt
und intensiver konsumiert.
Die Antriebsgründe für diese Entwicklung wurden weiter oben schon analysiert. Die
„Erweiterung des Möglichkeitshorizontes" (Rosa 2008, S. 13) bildet dabei die
subjektive Grundlage für das menschliche Streben nach dem absoluten Mehr. Durch die
ständige gesellschaftliche Präsenz von Handlungsalternativen und Erlebnisversprechen
driftet „der flexible Mensch“ (Sennett 1999) von einem Möglichkeitsraum zum
nächsten, ohne jemals einen Endpunkt zu erreichen.
Die Erzielung von Einkommen rückt an vorderster Stelle bei der Verteilung der zur
Verfügung stehenden Zeitressourcen, um sich Konsumgüter anzueignen, die unmittelbar
gesellschaftlichen Status verleihen und monetär bewertbar sind. Soziale Beziehungen
und Freundschaften, die sich nicht aus Geld- sondern aus Zeitinvestitionen ergeben sind
dagegen nicht monetär messbar und verlangen eine zeitintensive und langfristige Pflege
(Binswanger 2010, S. 150–154). Doch diese erwiesenen Glücklichmacher in einer
durchökonomisierten und auf Arbeit- und Statusdenken fokussierten Gesellschaft
aufrechtzuerhalten, fällt den Menschen zunehmend schwerer.
In einer Gesellschaft jedoch, die es schafft sich aus den Wachstumsspiralen und
Konsumzwängen zu befreien, bekommt die Verfügbarkeit von Zeit und deren
ökonomische Dimension eine neue Bedeutung. Möglichkeiten dazu bieten sich bspw.
durch eine Verringerung der Erwerbsarbeitszeit und dem Verzicht auf das immer
häufiger anzutreffende Phänomen der Doppelverdiener. Die durch Arbeitsverzicht frei
werdende Zeit ließe sich für tatsächlich glücksstiftende Aktivitäten nutzen. Ein Teil des
Einkommensverzichtes kann bspw. durch Erträge aus einer Subsistenzwirtschaft
kompensiert werden. Der Verzicht auf keine zusätzlichen Nutzen stiftenden
Konsumgüter, der auch aus zeitökonomischen Gründen sinnvoll sein kann (Paech
2010), würde ebenfalls die monetäre Notwendigkeit eines Vollzeitjobs reduzieren.
Diese Ausführungen zum bewussten Arbeits- und Konsumverzicht erscheinen zum
heutigen Zeitpunkt noch utopisch und realitätsfremd. Doch zumindest was die
freiwillige Arbeitsreduktion betrifft, scheint in Teilen der westlichen Gesellschaft ein
vorsichtiges Umdenken einzusetzen. Zwar arbeiten rund 20% der männlichen,
amerikanischen Vollzeitarbeiter regelmäßig über 50 Stunden die Woche, dem
gegenüber führen jedoch bereits 17% der amerikanischen Arbeitnehmer eine
– 40 –
Teilzeitbeschäftigung aus - 80% davon auf freiwilliger Basis. Von den
Teilzeitbeschäftigten geben 83% an, dass sie insgesamt glücklicher seien als früher
(Schor 2010, S. 106–108). Das Phänomen des „überarbeiteten Amerikaners“ (Schor
1991) scheint immerhin Teile der Gesellschaft zu einem Überdenken des eigenen
Lebensstils zu bewegen.
Die wachstumskritische Diskussion über Wohlstand und Lebensqualität hat sich bis zu
diesem Punkt auf die ökonomische und gesellschaftliche Analyse von
Wachstumstreibern und deren Folgen für das menschliche Wohlbefinden konzentriert.
Wachstum wurde dabei ausschließlich als Ansteigen des BIPs definiert. Doch gibt es
auch im Bereich der volkswirtschaftlichen Statistik seit langer Zeit Ansätze, die die
Bedeutung des BIPs als Wohlstandsindikator kritisch hinterfragen und alternative
Methoden zur Berechnung eines Wohlstandsindikators thematisieren. Auch aus diesem
Forschungsbereich können Schlüsse abgeleitet werden, die einen wichtigen Input für die
Aufstellung von Leitthemen zur Identifizierung einer nachhaltigen Entwicklung liefern
können. Das folgende Kapitel beschäftigt sich daher mit der Erhebung von alternativen
Wohlstandsindikatoren.
4.4 die Konzeption alternativer Wohlstandsindikatoren – die Lösung des
Wachstumsdilemmas?
Der in den vorigen Kapiteln skizzierte Wachstumsdiskurs stützt seine Kritik maßgeblich
auf die negativen gesellschaftlichen, sozialen und ökologischen Folgen des
unbegrenzten Wirtschaftswachstums. Dabei wird Wirtschaftswachstum grundsätzlich
mit einem Ansteigen des BIP gleichgesetzt, das zugleich in großen Teilen der Welt als
der Schlüsselindikator für den (nicht nur wirtschaftlichen) Fortschritt eines Landes
angesehen wird. Nach seiner erstmaligen Berechnung in den 1930er Jahren hat sich das
BIP als Indikator für wirtschaftlichen Wohlstand und als zu optimierende Zielgröße in
Politik und Wirtschaft durchgesetzt und ist bis zum heutigen Zeitpunkt das Maß aller
Dinge bei der Beurteilung des Fortschrittstandes einer Ökonomie. Obwohl das von den
damaligen Ökonomen konstruierte Maß ausdrücklich nur die Messung von auf dem
Markt getätigten Produktions- und Investitionsaktivitäten ermöglichen sollte, wurde das
BIP bedingt durch seine hohe Vergleichbarkeit und einfache Berechnungsweise in nur
kurzer Zeit zum Synonym für wirtschaftliche Entwicklung und gesellschaftlichem
Wohlstand (Costanza et al. 2001, S. 133–141).
Doch wie bereits in den vorigen Kapiteln angedeutet kann die Produktion und
Ausstattung mit materiellen Gütern und den damit verbundenen Anforderungen an
Gesellschaft und Natur bzw. den Auswirkungen auf den Menschen nur bis zu einem
– 41 –
gewissen Grad mit Wohlstand und individueller Lebenszufriedenheit gleichgesetzt
werden. Aus diesen Gründen existieren bereits seit den 1970er-Jahren alternative
Ansätze zur Messung von gesellschaftlichem Wohlstand, von denen auf den folgenden
Seiten exemplarisch zwei Ansätze vorgestellt werden und deren mögliche Bedeutung im
Kontext der Erhebung von sozialen und ökonomischen Nachhaltigkeitsindikatoren
geprüft werden.
Measure of economic welfare (MEW)
Der erste alternative Vorschlag zur Messung der gesellschaftlichen Wohlfahrt wurde
von Nordhaus und Tobin (1973) vorgestellt und beinhaltete im Wesentlichen drei
übergeordnete Kategorien zur Modifizierung der gängigen Berechnung des BIPs:
1. Die Umformung des BIPs von einem Produktions- zu einem
Konsumptionsindex
2. Die Berücksichtigung eines Wertes für Freizeit und nicht-marktgängige
Aktivitäten
3. Korrekturen zum Ausgleich der Unbequemlichkeiten der Urbanisierung
In der ersten Kategorie haben Nordhaus und Tobin Anpassungen im Bereich
Abschreibungen auf den Kapitalstock vorgenommen, die sie als Produktionskosten zur
Erhaltung eines bestimmten Outputlevels bewerten, sowie Korrekturen im
Ausgabenbereich im Hinblick auf deren Bedeutung zur Erhöhung des gesellschaftlichen
Wohlstandes. So gehen bspw. öffentliche Sicherheits- und Verteidigungsausgaben
sowie Kosten zum Erreichen des Arbeitsplatzes negativ in die Kalkulation des MEW
ein. Die zweite Kategorie versucht den Wert von Freizeit und nicht-marktgängigen
Aktivitäten zu bewerten und in Geldeinheiten darzustellen. Die letzte Anpassung betrifft
einen Korrekturfaktor, der sich aus der zunehmenden Urbanisierung ergibt. Es wird
angenommen, dass die höheren Einkommen der Stadtbevölkerung nicht linear mit einer
Erhöhung des Wohlbefindens einhergehen. Stattdessen dient das höhere Einkommen
teilweise als Kompensation für die Unannehmlichkeiten, die mit dem städtischen Leben
einhergehen (z.B. die höhere Lärmbelastung).
Nordhaus und Tobin kommen zu dem Ergebnis, dass der von ihnen kalkulierte MEW in
den Vereinigten Staaten im Zeitraum 1929 bis 1965 zwar um durchschnittlich 1,1%
angestiegen ist, das BIP jedoch im gleichen Zeitraum um 1,7% jährlich gewachsen ist.
– 42 –
Der MEW war der erste Indikator, der ein Pendant zur Kalkulation des BIP bildete. Er
beinhaltet jedoch fundamentale Schwächen, die Wissenschaftler zur Bildung weiterer
Wohlstandsindikatoren veranlasste.
Index of Sustainable Economic Welfare (ISEW)
Einer dieser Indikatoren war der ISEW, der 1989 von Daly und Cobb erstmals
veröffentlicht wurde. Hauptkritikpunkt von Daly und Cobb an dem methodischen
Aufbau des MEW war die Vernachlässigung der ökologischen Folgen der industriellen
Produktionsweise. Demnach verursacht die industrielle Produktionsweise ökologische
Folgekosten (z.B. den Verlust von nicht erneuerbaren Ressourcen oder der
Verringerung von Feuchtgebieten), die nicht in die Kalkulation des BIPs eingehen bzw.
sogar das BIP erhöhen können (z.B. durch Maßnahmen zur Luftreinhaltung und
Lärmvermeidung). Sowohl die ökologischen Kosten als auch diese defensiven Ausgaben
zur Erhaltung eines status quo bei fortschreitendem Wirtschaftswachstum22 müssen bei
der Konzeption von Wohlstandsindikatoren berücksichtigt werden (Daly et al. 1994, S.
78). Weiterhin berücksichtigen Daly und Cobb die Einkommensverteilung innerhalb der
Gesellschaft und benutzen ihn als Gewichtungsfaktor der privaten Konsumausgaben.
Die von Nordhaus und Tobin vorgenommene Monetarisierung der Freizeit lehnen sie
aufgrund unklarer und widersprüchlicher Annahmen bei der monetären Berechnung ab
(Daly et al. 1994, S. 455–457).
Die Konstruktion des ISEW bildet die Grundlage für den Aufbau des von Diefenbacher
entwickelten Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI), der sich nur leicht von dem ISEW
unterscheidet. Die Zusammensetzung des NWI ist in Abbildung 4-3 verdeutlicht.
22
Leipert (1989, S. 114ff.) hat festgestellt, dass sich der Anteil der defensiven Ausgaben am BIP in
Deutschland im Zeitraum 1970-1988 von 7% auf knapp 12% erhöht hat. Der Anteil des Wachstums der
defensiven Kosten am Wachstum des BIP beträgt im gleichen Zeitraum sogar 21%.
– 43 –
Abbildung 4-3: Zusammensetzung des NWI
Quelle: eigene Darstellung
Sowohl die Berechnung des ISEW für die Vereinigten Staaten im Zeitraum 1950 bis
1990 als auch die Kalkulation des NWI für Deutschland im Zeitraum 1990 bis 2006
zeigen, dass die alternativen Wohlstandsindikatoren langsamer gestiegen sind als das
BIP. In den Vereinigten Staaten zeigt sich zu Beginn der 1970er Jahre sogar eine
Stagnation des ISEW und in Deutschland ist ein Stagnieren des NWI ab dem Beginn
des 21. Jahrhunderts zu beobachten (Daly et al. 1994, S. 464; Diefenbacher und
Zieschank 2011, S. 64).
Diese quantitativen Messungen bestätigen die auf den vorigen Seiten getroffenen
qualitativen Aussagen zu der Problematik des Wirtschaftswachstums im klassisch
definierten Sinne. Auch das zeitliche Zusammentreffen der Stagnation von subjektivem
Glücksempfinden (vgl. Kap. 4.2.4) und dem ISEW in den Vereinigten Staaten seit
Beginn der 1970er-Jahre belegen diese Argumentation. Nun könnte die These
aufgestellt werden, dass weiteres Wirtschaftswachstum zwar nach der klassischen
Definitionsweise nicht nachhaltig sein kann, ein unbegrenztes Wachstum eines
alternativen Wohlstandsindikators allerdings sowohl ökologisch vereinbar als auch
gesellschaftlich gewünscht sein kann.
Dem stehen jedoch zwei Kritikpunkte gegenüber auf die im Folgenden näher
eingegangen werden soll. Zum einen wird als Ausgangslage zur Berechnung der
alternativen Wohlstandsindikatoren der private Konsum herangezogen, der durchgängig
linear positiv bewertet wird. Der vorhandene abnehmende bzw. sogar negative
Grenznutzen des Konsums auf das individuelle Wohlergehen, wie in Kapitel 4.2.3
ausführlich qualitativ begründet, wird nicht berücksichtigt. Zum anderen nehmen die
betrachteten Indikatoren durch die Monetarisierung von Umweltressourcen und
Ökosystemdienstleistungen eine Quantifizierung der ökologischen Dimension vor, die
wie bereits diskutiert, Substitutionseffekte zwischen den Kapitalstöcken ermöglicht. Bei
– 44 –
vollständiger Information und der Berücksichtigung aller externen Effekte wird bspw.
eine Erhöhung des privaten Konsums durch entsprechende (korrekt) quantifizierte
Verluste in der ökologischen Variablen kompensiert. Da allerdings das Vorhandensein
vollständiger Information und die korrekte Quantifizierung ausgeschlossen werden
können (Hueting 2006, S. 131; Stiglitz et al. 2010, S. 119–121) ist zu befürchten, dass
diese Indikatoren zwar langsamer wachsen als das BIP bzw. sogar stagnieren, aber den
in dieser Arbeit verwendeten Nachhaltigkeitsgedanken nur ungenügend abbilden
können.
Die generelle Konzeption der alternativen Wohlstandsindikatoren kann somit nur
bedingt in Betracht gezogen werden. Die bereits diskutierten Aggregierungs-,
Bewertungs- und Monetarisierungsprobleme treten bei den untersuchten Indikatoren
deutlich in den Vordergrund. Ausgewählte Themenbereiche der alternativen
Messkonzepte (z.B. die Ermittlung von defensiven Ausgaben oder die Einbeziehung
von Ungleichheitsmaßen) können jedoch einen interessanten Beitrag zur Bildung von
ökonomischen und sozialen Nachhaltigkeitsindikatoren liefern und werden daher
entsprechend in der Formulierung der Leitthemen berücksichtigt.
4.5 Zwischenfazit
Die bisher gemachten Ausführungen konzentrierten sich auf die Folgen weiteren
Wirtschaftswachstums auf die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit und
beleuchteten den Zusammenhang zwischen Wachstum und der intra- und
intergenerationalen Verteilungsgerechtigkeit aus ökonomischer Sicht. Es wurden
Konturen einer Postwachstumsökonomik vorgestellt und der Beitrag von alternativen
Wohlstandsindikatoren zur Erhebung von Nachhaltigkeitsindikatoren analysiert.
Zur Ableitung relevanter Themenkomplexe für die Aufstellung sozialer und
ökonomischer Indikatoren für Hamburg ist es jedoch noch erforderlich, grundsätzliche
Überlegungen zu sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe zu analysieren
und herauszuarbeiten, welche Faktoren Einfluss auf das subjektive Wohlempfinden und
die wahrgenommene Lebensqualität haben.
4.6 Überlegungen zu Lebensqualität und gesellschaftlicher Teilhabe
Bereits in Kapitel 4.2.4 wurde deutlich, dass materieller Wohlstand nicht zwangsläufig
mit einer Steigerung der Lebensqualität einhergeht. Allerdings wurde auf eine genaue
theoretische Herleitung, wie sich Lebensqualität definiert und welche Themenfelder
– 45 –
maßgeblich für die Wahrnehmung von Lebensqualität sind, verzichtet. Dies wird im
Folgenden nachgeholt.
Die Erforschung von Aspekten der Lebensqualität beschäftigt sich mit der Frage,
welche sowohl subjektiv empfundenen als auch objektiv messbaren Gegebenheiten, die
Lebenssituationen von Individuen möglichst präzise charakterisieren. Neben der
empirischen Messung von subjektivem Wohlergehen, auf welches an dieser Stelle nicht
näher eingegangen werden kann23, beschäftigt sich die Lebensqualitätsforschung mit der
Bildung von Sozialindikatoren, die einen Rückschluss auf den Zufriedenheitsgrad einer
Gesellschaft herstellen sollen. Das Ziel besteht in der Bereitstellung von quantitativ
messbaren Indikatoren, von denen angenommen wird, dass sie einen maßgeblichen
Anteil an der subjektiv empfundenen Lebendzufriedenheit ausmachen.
Ein Ansatz, der in besonderer Weise dazu geeignet ist, subjektiv empfundene
Lebenszufriedenheit mit objektiv bestimmbaren Indikatoren zu verknüpfen ist der
Fähigkeiten-Ansatz von Sen24.
Nach Sen ist jedes Individuum in einer Gesellschaft mit einem Set an Funktionen
ausgestattet, das sich wiederum aus verschiedenen Verhaltensweisen und Zuständen
zusammensetzt. Funktionen reichen dabei von der Befriedigung elementarer
Bedürfnisse (z.B. Essen und Trinken) bis hin zu komplexeren Ansprüchen (z.B.
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben). Die Lebensqualität innerhalb einer Gesellschaft
spiegelt sich an der Fähigkeit der Gesellschaftsmitglieder wider ihre individuellen Sets
an gewünschten Funktionen tatsächlich zu erreichen (Sen 1993, S. 31–32). Ziel aller
gesellschaftlichen Prozesse und politischen Maßnahmen sollte daher die Maximierung
der Verwirklichungschancen aller Mitglieder der Gesellschaft sein. Dies bedeutet nicht
maximalen materiellen Güterreichtum aufzubauen oder ökologisches und ökonomisches
Kapital (Schulden) auf Kosten zukünftiger Generationen zu verzehren. Eine
Gesellschaft, die individuelle Verwirklichungschancen maximiert „ermöglicht den
Menschen, fähig zu sein ein lebenswertes Leben in guter Gesundheit und körperlicher
Unversehrtheit und mit Rücksicht auf die Natur zu führen [...]; fähig zu sein,
Beziehungen zu anderen einzugehen und im sozialen Zusammenhang zu leben [...];
fähig zu sein, eine eigene Vorstellung vom Guten zu entwickeln und kritisch über die
eigene Lebensplanung nachzudenken [...]. Erst auf der Grundlage entwickelter
23
die Messung von subjektivem Wohlergehen findet auf individueller Ebene und wird durch allgemeine
Fragen zur Zufriedenheit (allgemein oder innerhalb bestimmter Themenbereiche) versucht festzustellen. 24
der Fähigkeiten-Ansatz von Amartya Sen erfreut sich großer Popularität und wird von vielen Studien
als theoretische Grundlage für die Erhebung von (Sozial-) Indikatoren genutzt. So basieren u.a. die
Armutsberichterstattung der deutschen Bundesregierung und die Erhebung des Human Development
Index der Vereinten Nationen maßgeblich auf dem Fähigkeiten-Ansatz. Vgl. UN (2010) und Deutsche
Bundesregierung (2008).
– 46 –
Fähigkeiten sind Menschen in der Lage, Verantwortung für sich selbst, für andere und
die Gesellschaft zu übernehmen.“ (BUND et al. 2008, S. 251–252)
Die besondere Herausforderung in der Operationalisierung des Fähigkeiten-Ansatzes
liegt in der Auswahl geeigneter und objektiv messbarer Indikatoren, die sowohl die
Verwirklichungschancen der Gesellschaftsmitglieder abbilden als auch den in dieser
Arbeit vorgestellten Nachhaltigkeitsansatz verfolgen. Während für bestimmte soziale
Indikatoren diese Überprüfung relativ unproblematisch ist (z.B. die Entwicklung der
Obdachlosenzahl), kann bspw. die Steigerung des Indikators „Lebenserwartung bei
Geburt“ zwar aus gesellschaftlicher Sicht als wünschenswert, aus ökologischer Sicht
jedoch als negative Entwicklung ausgelegt werden (erhöhter Ressourcen- und
Energieverbrauch)25.
Die Erhebung von objektiv messbaren Sozialindikatoren und die daraus abgeleiteten
Aussagen über die subjektiv wahrgenommenen Zufriedenheitsgrade basiert somit auf
strengen normativen Grundannahmen, da sie davon ausgehen, dass sich Wohlbefinden
nach fixierten Regeln definieren und messen lässt (Frey und Stutzer 2002, S. 6) und ein
Konsens innerhalb der Gesellschaft bezüglich der Definition und Messung von
Lebenszufriedenheit besteht. Obwohl dies selbstverständlich eine kritische
Vorgehensweise ist, werden im Folgenden gesellschaftliche und soziale Themenfelder
vorgestellt, von denen ein deutlicher Zusammenhang zwischen ihrer Ausprägung und
dem subjektiven Wohlbefinden angenommen werden kann.
Einkommenssituation
In Kapitel 4.2.4 wurde erarbeitet, dass in einigen Industrieländern die Schwelle ab der
zusätzliches Einkommen kein weiteres Glück mehr stiftet bereits in den 1970er-Jahren
erreicht wurde. Diese Analyse betrachtet jedoch nur die durchschnittliche
Einkommensentwicklung eines Landes. Auf die Verteilung der Einkommen innerhalb
des Landes können daraus jedoch keine Rückschlüsse gezogen werden. Wie bereits
verdeutlicht, ist die Einkommensschere in den letzten zehn Jahren in Deutschland weiter
auseinandergegangen. Während die unteren 60% aller Haushalte im Zeitraum 1999-
2007 absolute Einkommensverluste hinnehmen mussten, legte das durchschnittliche
Nettoeinkommen der oberen 10% um 14,5% zu (Uchatius 2011, S. 23). Die
Armutsquote in Deutschland (definiert als diejenigen Haushaltseinkommen, die unter
60% des Durchschnittseinkommens verdienen) lag 2008 bei 13% nach Sozialtransfers
25
Dieses Beispiel zeigt deutlich die Grenzen der Aussagekraft von Nachhaltigkeitsindikatoren auf. Hier
treffen anthropogene, normative Ansprüche auf die natürliche Begrenzung des Lebensraums, deren
Konsequenzen für die Vorstellung von menschlichem Leben aus ethischer Sicht diskutiert werden
müssen. Die Aussagekraft des Indikators muss an dieser Stelle immer vor dem Hintergrund seiner
ethischen Relevanz analysiert werden, auf die hier jedoch nicht weiter eingegangen werden kann.
– 47 –
(Deutsche Bundesregierung 2008, S. 39). Diesen Menschen ist eine adäquate Teilhabe
an der Gesellschaft weitgehend verwehrt und sie werden in der Verwirklichung ihrer
Wahl an gewünschten Funktionen eingeschränkt. Bestätigung findet diese These in der
Messung von subjektivem Wohlergehen gestaffelt nach Einkommensgruppen.
Tendenziell sind Einkommensgruppen mit sehr niedrigen Verdiensten unglücklicher als
höhere Einkommensgruppen (Frey und Stutzer 2002, S. 82)26.
Ein zusätzliches Problem einer zunehmenden Einkommens- und
Vermögensungleichverteilung besteht in der Wahrnehmung öffentlich gelebter
Lebensstile (Veblen 1899). Einkommen und die daraus resultierenden
Konsummöglichkeiten werden innerhalb der Gesellschaft als relativ zu anderen
Individuen wahrgenommen. Im öffentlichen Leben und in Fernsehserien zur Schau
gestellter materieller Reichtum und Status ist Wasser auf die hedonistische Tretmühle
und trägt in maßgeblicher Weise zur Intensivierung der positionalen Ökonomie bei, die
weder als nachhaltig noch glückstiftend bezeichnet werden kann.
Wilkinson und Pickett (2010) haben die Kosten gesellschaftlicher Ungleichheit
untersucht und Zusammenhänge zwischen der Höhe der
Einkommensungleichverteilung und dem Ausmaß an gegenseitigem Vertrauen,
psychischen Erkrankungen, Drogenkonsum, Lebenserwartung, Fettleibigkeit und
krimineller Gewalt nachgewiesen. Eine Gesellschaft, in der Einkommen und Vermögen
gerechter verteilt sind, wird es einfacher fallen, sich in eine sowohl ökonomisch als
auch sozial nachhaltigere Richtung zu bewegen.
Aus wachstumskritischer Sicht muss jedoch nicht nur die relative Veränderung der
Einkommensgruppen zueinander untersucht werden, sondern auch die absolute
Entwicklung. Schließlich kann die wünschenswerte Angleichung der
Einkommensgruppen sowohl über einen starken Anstieg der unteren Einkommen bei
gleichzeitigem Stagnieren oder leichtem Ansteigen der oberen Einkommensgruppen
stattfinden. Diese Entwicklung hin zu einem absolut höheren Durchschnittseinkommen
trägt aus wachstumskritischer Sicht zumindest in den Industrieländern nicht zu einer
zukunftsfähigen Entwicklung bei und muss entsprechend bei der Bildung und
Bewertung geeigneter Indikatoren berücksichtigt werden.
26
Dies widerspricht nicht der in Kapitel 4.2.2 aufgezeigten Analyse. Zwar besteht eine Korrelation
zwischen Einkommen und well-being, diese nimmt jedoch mit steigendem Einkommen immer weiter ab
und ist ab einer gewissen Schwelle nicht mehr existent oder sogar negativ. Vgl. bei Frey und Stutzer
(2002, S. 83–85).
– 48 –
Gesundheit
Körperliche Unversehrtheit und seelisches Wohlbefinden werden in Befragungen als
wichtigster Einflussfaktor auf die persönliche Zufriedenheit genannt (Frey und Stutzer
2002, S. 56; Stiglitz et al. 2010, S. 68). Wie jedoch die subjektiv empfundene
Gesundheit in objektiv messbare Indikatoren transferiert werden soll, bleibt umstritten.
Weder ist zwischen Gesundheitsausgaben und Lebenserwartung ein konkreter
Zusammenhang erkennbar (Wilkinson und Pickett 2010, S. 99) noch zwischen der
Entwicklung des BIPs und der Lebenserwartung (Stiglitz et al. 2010, S. 69)27.
Hinzu kommt die bereits oben beschriebene ethische Komponente bei der
Berücksichtigung der Lebenserwartung in Zusammenhang mit dem
Nachhaltigkeitsdiskurs.
Die Erhebung von Gesundheitsindikatoren wird sich deswegen auf Bereiche
konzentrieren, von denen angenommen werden kann, dass sie einen negativen bzw.
positiven Beitrag zu dem subjektiven Wohlbefinden und gesellschaftlicher Wohlfahrt
leisten.
Bildung
Zwar ist zwischen dem Bildungsniveau und dem subjektiven Glücksempfinden kein
direkter Zusammenhang beobachtbar, das erreichte Bildungsniveau eines Menschen
weist aber eine enge Korrelation zu dem erzielten Einkommen auf und ist damit indirekt
für Wohlbefinden verantwortlich (Frey und Stutzer 2002, S. 73). Weiterhin haben
gutausgebildete Menschen einen tendenziell besseren Gesundheitszustand28 und zeigen
ein höheres gesellschaftliches und politisches Engagement auf (Stiglitz et al. 2010, S.
71).
Häufig wird das gesellschaftliche Bildungsniveau anhand der Prozentzahl der
Studienabschlüsse oder Studienanfängerquoten (z.B. innerhalb der deutschen
Nachhaltigkeitsstrategie) beurteilt, dabei wird jedoch übergangen, dass signifikante
Teile der Bevölkerung bereits große Schwächen in der grundlegenden Lese- und
Schreibkompetenz besitzen (Miegel 2010, S. 146). Werden diese essentiellen
Kenntnisse der vom Arbeitsmarkt mindestens geforderten Fähigkeiten nicht in der
schulischen Ausbildung entwickelt, so ist diesen Bevölkerungsgruppen der Zugang zu
27
Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Untersuchungen nur Industrieländer berücksichtigen. Für
Entwicklungs- und Schwellenländer gelten diese Aussagen nicht. 28
Auch hier muss wieder auf die eingeschränkte Aussagekraft verwiesen werden: Weisen gutausgebildete
Menschen einen besseren Gesundheitszustand auf, weil sie sich gesünder ernähren und mehr Sport
treiben oder können sie sich aufgrund ihres höheren Einkommens bessere und häufigere ärztliche
Behandlungen leisten?
– 49 –
einem Großteil ihrer Verwirklichungschancen dauerhaft verwehrt. Damit fördert die
Fokussierung auf Studienanfängerquoten die bereits diskutierte zunehmende
Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft. Das Ziel einer sozial gerechten Gesellschaft
sollte darin bestehen, einem möglichst großen Teil der Gesellschaft zumindest den
Zugang zu einem Bildungsniveau zu bieten, der ihnen die Ausstattung mit einem
Mindestmaß an Teilhabemöglichkeiten ermöglicht.
Der Zusammenhang des Bildungsniveaus mit dem Nachhaltigkeitsgedanken muss
allerdings differenzierter betrachtet werden. So besitzen bspw. Menschen mit höherem
Bildungsniveau tendenziell ein größeres Umweltbewusstsein, das sich teilweise auch in
den persönlichen Konsummustern widerspiegelt (Kuckartz et al. 2007). Allerdings
haben gutausgebildete Menschen durch ihr höheres Einkommens- und
Wohlstandsniveau auch einen insgesamt höheren individuellen CO2-Ausstoß als
Menschen mit geringerer Bildung (BUND Hamburg et al. 2010, S. 247; Heinonen und
Junnila 2011). Die Forderung nach ökologischer Nachhaltigkeit kollidiert an dieser
Stelle mit dem Wunsch nach einem möglichst hohen Bildungsniveau aller
Gesellschaftsmitglieder. Diese Tatsache verschiebt den Fokus auf die nachhaltige
Qualität der in Schule und Wissenschaft durchgeführten Lehre und Forschung und ihre
Bedeutung für notwendige gesellschaftliche Veränderungsprozesse29. Inwieweit sich aus
diesen Schlüssen jedoch messbare Kennzahlen zur Beurteilung eines nachhaltigen
Bildungsstandes bilden lassen, ist bisher noch offen.
Gestaltung persönlicher Aktivitäten
Bereits in Kapitel 4.3 wurden Ergebnisse vorgestellt, die die Beobachtung von
individuellen Aktivitäten über eine bestimmte Zeitspanne als Ausgangsüberlegung zur
Analyse von Lebensqualität zu Grunde legen. In einer amerikanischen Großstadt
wurden Frauen nach dem subjektiven Glücksempfinden bei ihren Tagesaktivitäten
befragt und deren Zeitdauer protokolliert. Aus diesen Daten wurde eine Rangfolge der
Beliebtheit der Tagesaktivitäten aufgestellt (Abbildung 4.4).
29
So weist bspw. Schneidewind (2009, S. 21) auf die Diskrepanz zwischen dem aktuellen Lehr- und
Forschungsverständnis an deutschen Universitäten (insbesondere seiner einseitigen Fokussierung auf die
Entwicklung von technischen Problemlösungen) und dessen begrenzten Einfluss auf die notwendige
gesellschaftliche Transformation hin.
– 50 –
Abbildung 4-4: Reihenfolge und Beschäftigungszeit persönlicher Aktivitäten in
den USA
Quelle: Stiglitz et al. 2009, S. 171
Aus glückstheoretischer Sicht sind diese Erkenntnisse wenig überraschend. Wie bereits
angedeutet, zeigen sie, dass die Menschen einen großen Teil ihrer zur Verfügung
stehenden Zeit mit unbeliebten Tätigkeiten verbringen.
Interessant sind die Ergebnisse allerdings aus einer nachhaltigen bzw. ökologischen
Betrachtungsweise. Die in der Studie genannten beliebten Tätigkeiten (Spazieren gehen,
Sport, Lesen, Beten) haben in aller Regel einen niedrigen ökologischen Einfluss, sie
sind nur in geringem Maße ressourcen- und klimabelastend. Unbeliebtere Tätigkeiten
(Pendeln zur Arbeit, Einkaufen, Reisen) sind dagegen auch aus ökologischer Sicht
bedenkenswert. Hier kann anscheinend ein direkter Zusammenhang zwischen
glückstiftenden Aktivitäten und einer ressourcenschonenden individuellen Lebensweise
gezogen werden.
Eine besondere Stellung nimmt an diesem Punkt die Tätigkeit „Arbeit“ ein. In der
Reihenfolge nimmt die Ausführung von bezahlter Arbeit den letzten Platz bei
gleichzeitig höchstem Zeitverbrauch ein. Durch den mit der Arbeit verbundenen
Einkommenszuwachs hat die Ausführung von bezahlter Arbeit allerdings einen
zufriedenheitsfördernden Charakter, der in gewisser Weise auch die Ausführung von
beliebteren Tätigkeiten ermöglicht. Schließlich belegen Studien, dass Menschen ohne
dauerhafte Beschäftigung unzufriedener sind (Frey und Stutzer 2002). Neben der
– 51 –
Berücksichtigung der Arbeitsqualität bzw. Jobzufriedenheit30 sollte sich die Analyse der
bezahlten Arbeit daher auf den Umfang der darauf verwendeten Zeit konzentrieren.
Eine freiwillige Reduzierung der Arbeitszeit oder die Schaffung von
Teilzeitarbeitsplätzen hätte nicht nur positive Auswirkungen auf das persönliche
Glücksempfinden, es würde auch eine sozial gerechtere Verteilung der zur Verfügung
stehenden Arbeit ermöglichen, zum Abbau der Arbeitslosenquote beitragen und
gesellschaftliche Ungleichheiten nivellieren. Zudem ist ein Zusammenhang zwischen
den jährlich geleisteten Arbeitsstunden eines Landes und seinem ökologischen
Fußabdruck erkennbar (Schor 2010, S. 113).
soziale Bindungen und politische Teilhabe
Seit der Veröffentlichung von Robert Putnams „Bowling Alone: The collapse and
revival of American Community” (2000) ist die Bewertung des sozialen
Zusammenhaltes innerhalb einer Gesellschaft und dessen Auswirkungen auf das
subjektive Wohlergehen intensiv analysiert worden.
Putnam hatte anhand ausgewählter Themenfelder (u.a. politische und soziale
Partizipation, ehrenamtliches Engagement, Ehrlichkeit und Vertrauen) den Niedergang
der sozialen und kollektiven Verbindungen innerhalb der amerikanischen Gesellschaft
festgestellt. Zur Hervorhebung der Bedeutung von gesellschaftlichem Zusammenhalt
hat sich analog zu den in der ökonomischen und betriebswirtschaftlichen Lehre
gebräuchlichen Kapitelarten (Human-, Natur- und physisches Kapital) der Begriff des
Sozialkapitals gebildet. Studien haben ergeben, dass die Ausprägung des sozialen
Kapitals stark mit der Höhe der individuell wahrgenommenen Lebensqualität korreliert
und diese positiv beeinflusst (Helliwell und Putnam 2004).
Unter dem Begriff Sozialkapital werden häufig individuelle und gesellschaftliche
Aspekte des menschlichen Zusammenlebens abstrahiert. Sozialkapital versucht die
Interaktion sowohl zwischen Menschen (in Form von gemeinsamen Aktivitäten) als
auch den Austausch zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft (in Form von
politischer und gesellschaftlicher Teilhabe, die Mitgliedschaft in Interessenvertretungen
und die Gestaltung des öffentlichen Raumes) zu erfassen. Innerhalb einer Gesellschaft
sollte das Sozialkapital möglichst stark ausgeprägt sein, da angenommen wird, dass ein
hohes Maß an Sozialkapital positive Externalitäten freisetzt. Ausgeprägte soziale
Bindungen kommen sowohl dem Einzelnen innerhalb eines Bindungsgeflechtes zu Gute
30
die Angaben ob Menschen mit ihrer Arbeitstätigkeit komplett bzw. sehr zufrieden sind schwanken
zwischen 60% in Dänemark und knapp 25% in Ungarn (Frey und Stutzer 2002, S. 104). In Deutschland
sinkt die Arbeitszufriedenheit seit Mitte der 1980er-Jahre kontinuierlich und liegt mittlerweile unterhalb
des europäischen Durchschnittwertes (Bohulskyy et al. 2011).
– 52 –
als auch der Gemeinschaft (z.B. Lohnabschlüsse, die von Gewerkschaftsmitgliedern
ausgehandelt wurden). Ein hohes Maß an wechselseitigem Vertrauen reduziert die
ökonomischen Kosten zur Ausschaltung von Risiken und Unsicherheiten (Helliwell
2001, S. 43) und senkt damit die Transaktionskosten, die bis zu einem gewissen Grad
von der Allgemeinheit getragen werden müssen.
Auf gesellschaftlicher Ebene kann ein hohes Maß an Sozialkapital die Durchführung
der notwendigen Transformation zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft erleichtern.
Wenn es bspw. der Politik gelingt durch eine intensive Beteiligung aller Akteure in den
Gestaltungsprozess einen möglichst breiten Konsens herzustellen, dann kann durch das
so hergestellte Maß an Vertrauen und Legitimation die Durchführung der nötigen
Maßnahmen zur Implementierung einer nachhaltigen Entwicklung beschleunigt werden.
Die große Herausforderung bei der Analyse des sozialen Kapitals besteht in der Bildung
und Messung von geeigneten Indikatoren. Die Messung von wechselseitigem Vertrauen
und persönlichen Kontakten kann nur anhand von Stichproben vorgenommen werden.
Aus diesem Grund muss in dieser Arbeit auf objektiv messbare Indikatoren
zurückgegriffen werden, die aber lediglich eine Annäherung an den
Untersuchungsgegenstand erlauben. Mit der Erhebung von objektiv messbaren
Indikatoren kann zudem keine Aussage über die Qualität des in der Gesellschaft
vorhandenen sozialen Kapitals getroffen werden. So besitzen auch kriminelle
Organisationen innerhalb einer Gesellschaft in der Regel ein hohes Maß an sozialen
Bindungen (Helliwell 2001, S. 43), Lobbyisten können mit Hilfe ihres einflussreichen
Netzwerkes die politische Handlungsfähigkeit eines Staates einschränken (von Hauff
2009, S. 5). Und wenn sich Freunde zum gemeinsamen Shoppen oder (Fern-)Reisen
verabreden, hat dies zwar einen positiven Einfluss auf die Bildung von sozialem
Kapital, der Ökologie schadet es allerdings. Das Konzept des Sozialkapitals muss daher
an dieser Stelle vage bleiben. Es wird auf Indikatoren zur Messung von politischer
Teilhabe und zivilgesellschaftlichem Engagement zurückgegriffen werden müssen.
– 53 –
5 Ökonomische und soziale Nachhaltigkeitsindikatoren für
Hamburg
In Kapitel vier wurden wichtige Erkenntnisse zur Aufstellung von ökonomischen und
gesellschaftlichen Nachhaltigkeitsindikatoren gewonnen. Es hat sich gezeigt, dass das
gewählte Nachhaltigkeitsverständnis und die Auffassung von Wachstum, intra- und
intergenerationaler Gerechtigkeit und Aspekten der Lebensqualität maßgeblich für die
Ableitung der Themenfelder ist, die mithilfe von geeigneten Indikatoren abgebildet
werden sollen. Bevor jedoch auf die Auswahl der Leitthemen und die Indikatoren für
Hamburg eingegangen wird, geben die folgenden Unterkapitel einen kurzen Überblick
über den Stand der Nachhaltigkeitsberichterstattung in Hamburg und die Bedeutung der
Hansestadt im Kontext einer zukunftsfähigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Entwicklung.
5.1 Hamburg im Kontext nachhaltiger Entwicklung
Nach Schätzungen der Vereinten Nationen werden im Jahr 2050 in Europa ca. 85% der
Bevölkerung in Städten leben. Auf allen Kontinenten ist in den letzten Jahrzehnten eine
zunehmende städtische Konzentration der Bevölkerung zu beobachten, die sich bis 2050
noch verstärken wird (UN 2009). In Verbindung mit dem enormen Bedarf an
Flächenversiegelung und der Abhängigkeit von der Bereitstellung von externen
(Umwelt-)Ressourcen stehen Großstädte bei der Umsetzung einer nachhaltigen
Entwicklung in besonderer Pflicht. Ein durchschnittlicher Hamburger verbraucht
schätzungsweise das Zehnfache an Umweltressourcen wie ein Argentinier (Ax 1996, S.
47).
In Städten finden sich soziale und wirtschaftliche Unterschiede in geballter Form
wieder. Auf engstem Raum leben und wirtschaften wohlsituierte sowie arbeits- und
wohnungslose Menschen nebeneinander. In einigen Stadtteilen existieren fast
ausnahmslos hochwertige Häuserreihen, während die Bewohner anderer Stadtteile unter
Arbeits- und Perspektivlosigkeit leiden. Die soziale Polarisierung der Stadt rückt dabei
zunehmend in den Fokus stadträumlicher Planungen (Pohlan et al. 2010, S. 67–71).
Vor diesem Hintergrund ist es erforderlich, die besondere Bedeutung der Stadt für eine
zukünftige ökologische, soziale und ökonomische Entwicklung durch Bildung von
geeigneten Indikatoren angemessen zu berücksichtigen. Während im Bereich der
umweltbezogenen Indikatoren schon konkrete Erfahrungen existieren und Daten
regelmäßig erhoben und ausgewertet werden, ist die Erhebung von sozialen und
ökonomischen Indikatoren in Hamburg bisher unterrepräsentiert.
– 54 –
5.2 Erfahrungen mit Nachhaltigkeitsindikatoren in Hamburg
Hamburg hat sich auf der „Europäischen Konferenz über zukunftsbeständige Städte und
Gemeinden“ im Jahr 1994 (Aalborg-Charta) verpflichtet seine Zukunftsfähigkeit und
seine Anstrengungen zum Erreichen einer nachhaltigen Entwicklung auf kommunaler
Ebene unter Zuhilfenahme von geeigneten Indikatoren zu messen, die Ergebnisse der
Öffentlichkeit zugänglich zu machen und jährlich fortzuschreiben. Im Nachgang der
Konferenz und der Aufstellung einer lokalen Agenda 21, wie in den Rio-Dokumenten
gefordert, war es allerdings ein Zusammenschluss von mehreren
Nichtregierungsorganisationen, der die Aufstellung geeigneter Indikatoren für Hamburg
forciert hat. Der Zukunftsrat Hamburg hat sich 1996 gegründet und veröffentlichte 1999
erstmals ein Indikatorenset zur Messung der zukunftsfähigen Entwicklung der Stadt
Hamburg. Diese erste Fassung der „Hamburger Entwicklungsindikatoren
Zukunftsfähigkeit“ (HEINZ) beinhaltete zwölf Indikatoren aus den Bereichen
Wirtschaft, Soziales, Umwelt und Bürgerbeteiligung (Schindler 2008, S. 185–186). Auf
die aktuelle Fassung von HEINZ aus dem Jahr 2009 wird im folgenden Kapitel noch
näher eingegangen.
In den Jahren 2005 bis 2007 veröffentlichte der Senat der Freien- und Hansestadt
Hamburg einen auf Indikatoren gestützten Monitor, dessen Ziel die Operationalisierung
der in dem 2002 verabschiedeten Leitbild „Metropole Hamburg – Wachsende Stadt“
aufgeführten Handlungsfelder war. Dieses Leitbild wurde 2009 durch das neue Leitbild
„Wachsen mit Weitsicht“ ersetzt, für das allerdings kein Indikatorenset konzipiert
wurde. Nach dem Regierungswechsel Anfang 2011 hat die Bedeutung des Leitbildes
„Wachsen mit Weitsicht“ abgenommen.
Eine Nachhaltigkeitsstrategie für Hamburg existiert zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht.
Auf übergeordneter Ebene besteht eine Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft „Klima,
Energie, Mobilität - Nachhaltigkeit" (BLAG KliNa), die im Auftrag der
Umweltministerkonferenz an der Erarbeitung eines einheitlichen Indikatorensystems
auf Länderebene beteiligt ist. Dieses Indikatorensystem der „Länderinitiative
Kernindikatoren“ (LIKI) besteht aus einem Satz von 24 umweltbezogenen
Nachhaltigkeitsindikatoren (Anhang A4), die regelmäßig auf Länderebene erhoben,
dokumentiert und ausgewertet werden. Hier finden sich auch die Indikatoren zu den
bereits diskutierten Themenfeldern „Ressourcen- und Energieverbrauch“ wieder, die
zum Teil vergleichbar mit der deutschen Nachhaltigkeitsstratgie (vgl. Kap 3.3.2) sind.
Seit 2007 besteht in Hamburg ein Klimaschutzkonzept (Masterplan Klimaschutz), in
dem Hamburg sich zum Ziel gesetzt hat seine CO2-Emissionen bis zum Jahr 2012 um
– 55 –
zwei Millionen Tonnen zu senken. Bis zum Jahr 2020 sollen die Emissionen um 40%
gegenüber dem Jahr 1990 gesenkt werden (Bürgerschaft der Freien und Hansestadt
Hamburg 2011, S. 4). Das Klimaschutzkonzept wird regelmäßig evaluiert und
fortgeschrieben.
5.3 Monitor „Wachsende Stadt“ und „Hamburger Entwicklungsindikatoren
Zukunftsfähigkeit“
Der in den Jahren 2005 bis 2007 jährlich aufgelegte Monitor „Wachsende Stadt“ hatte
zum Ziel die vier Hauptziele des Leitbildes „Metropole Hamburg – Wachsende Stadt“
anhand von geeigneten Indikatoren darzustellen. Anhand von 28 Einzelindikatoren
wurde versucht die Entwicklung in den vier Leitzielen (Wirtschafts- und
Beschäftigungswachstum, Erhöhung der Einwohnerzahl, Steigerung der internationalen
Attraktivität, Sicherung der Lebensqualität und Zukunftsfähigkeit der Stadt) adäquat zu
erfassen und in einen vergleichenden Kontext mit ausgewählten deutschen Großstädten
einzubetten. Auf konkrete quantitative Zielformulierungen und eine mögliche
Aggregation der Indikatoren wurde verzichtet.
Die inhaltliche Formulierung der vier Leitziele macht bereits deutlich, dass die im
Monitor formulierten Ziele und Indikatoren in starkem Gegensatz zu dem hier
entwickelten Nachhaltigkeitsverständnis stehen: Die Verwendung von Indikatoren wie
„Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen“ oder „Import nach bzw. Exporte aus
Hamburg“ ist dabei die in Zahlen gepresste Ausdrucksform der in Kapitel 4 ausführlich
diskutierten klassischen Wachstumsauffassung. Am ehesten vereinbar mit der hier
analysierten Auffassung von zukunftsfähiger Entwicklung sind noch die Indikatoren in
dem Leitziel „Sicherung der Lebensqualität und Zukunftsfähigkeit der Stadt“. Hier liegt
das Augenmerk auf der Erhebung von sozialen Indikatoren, die mit den oben gemachten
Überlegungen zu sozialer Gerechtigkeit und Lebensqualität teilweise übereinstimmen.
Als Beispiele können die Verwendung der Indikatoren „Abbau der Arbeitslosigkeit“
und „Verringerung der öffentlichen Schuldenlast“ genannt werden. Elementare
Themenbereiche einer tatsächlichen dauerhaften sozialen und ökonomischen
Entwicklung, wie bspw. Aspekte des sozialen Zusammenhalts und einer gerechten
Einkommens- und Vermögensentwicklung werden jedoch durch den Monitor
„Wachsende Stadt“ nicht abgebildet.
Die vom Zukunftsrat Hamburg entwickelten „Hamburger Entwicklungsindikatoren
Zukunftsfähigkeit“ (HEINZ) werden seit 1999 regelmäßig erhoben. In der
ursprünglichen Form griff HEINZ auf das Drei-Säulen-Modell zurück und integrierte
das Modell, indem es für jede Dimension die gleiche Anzahl an Teilzielen aufstellte.
– 56 –
Mit der Neufassung von 2009 wurde diese Vorgehensweise allerdings aufgegeben, um
den integrativen Charakter der Nachhaltigkeit stärker zu betonen. Unterhalb von drei
übergeordneten Themenfeldern (Nachhaltige Stadtentwicklung, Verantwortung für
regionale und globale Nachhaltigkeit, Erhaltung der Potenziale zu nachhaltiger
Entwicklung) wurden inhaltliche Schwerpunkte definiert und mit jeweils einem (in
Ausnahmen zwei) Indikator(en) evaluiert. HEINZ verzichtet auf eine mögliche
Aggregation der Indikatoren, benennt aber für jeden Indikator zwei konkrete Zielwerte
für die Jahre 2020 bzw. 2050.
Durch die Berücksichtigung von ausgewählten Themenfeldern (z.B. „regionale
Versorgung stärken“ oder „soziale Integration in der Stadt fördern“) und der kritischen
Auseinandersetzung mit der Wachstumsdogmatik (Zukunftsrat Hamburg 2009, S. 64)
bewegt sich HEINZ näher an dem in dieser Arbeit diskutierten
Nachhaltigkeitsverständnis als der Monitor „Wachsende Stadt“. Ein Überblick über die
berücksichtigten Themenfelder und verwendeten Indikatoren findet sich im Anhang
(Anhang A5).
5.4 Vorstellung der Leitthemen und Indikatoren
Auf Basis der in Kapitel 3 und 4 durchgeführten Analysen bezüglich der methodischen
Vorgehensweise an die Indikatorenerhebung und den als relevant betrachteten
wirtschaftlichen und sozialen Themenbereichen hat sich die Erarbeitung von acht
Leitthemen ergeben, die mithilfe von 29 Indikatoren angemessen dargestellt werden
sollen. Eine Einteilung der Indikatoren in eine soziale bzw. wirtschaftliche Dimension
findet aufgrund der bereits angesprochenen Wechselwirkungen und Abhängigkeiten
nicht statt. Stattdessen treten die formulierten Leitthemen an übergeordnete Stelle und
bilden somit das in dieser Arbeit konzipierte Nachhaltigkeitsverständnis ab. Zusätzlich
wurde das Leitthema „Wohnungsmarkt“ (4 Indikatoren) in die Aufstellung des
Indikatorensatzes aufgenommen, da es sowohl in der Hamburger Politik als auch in der
gesellschaftlichen Wahrnehmung eine bedeutende Rolle spielt.
Die folgende Abbildung fasst die Leitthemen, die verwendeten Indikatoren und den
Erhebungszeitraum zusammen:
– 57 –
Abbildung 5-1: Überblick der Leitthemen und Indikatoren
Leitthema Nr. Indikator Erhebungs-
zeitraum
nachhaltige Wirtschaftsstruktur und bewusster Konsum
A1 Entwicklung
Durchschnittseinkommen
1995-2009
nachhaltige Wirtschaftsstruktur und bewusster Konsum
A2 Private Konsumausgaben je
Einwohner
2003-2008
nachhaltige Wirtschaftsstruktur und bewusster Konsum
A3 Umsatz mit Waren, Bau- und
Dienstleistungen für den Umweltschutz
2006-2009
nachhaltige Wirtschaftsstruktur und bewusster Konsum
A4 Eintragungen im
Genossenschaftsregister
2002-2011
nachhaltige Wirtschaftsstruktur und bewusster Konsum
A5 Carsharing und
Fahrradverleih in Hamburg
2006-2010
nachhaltige Wirtschaftsstruktur und bewusster Konsum
A6 Jahresumsatz der
Hamburger Weltläden
2006-2009
nachhaltige Wirtschaftsstruktur und bewusster Konsum
A7 öffentliche Werbeflächen n.a.
Versorgung mit lokalen Produkten B1 Gemeinschafts- und
Kleingärten
n.a.
Versorgung mit lokalen Produkten B2 Umsätze der Hamburger
Wochenmärkte
n.a.
ökonomische und soziale Gerechtigkeit
C1 Arbeitslosenquote 2001-2010
ökonomische und soziale Gerechtigkeit
C2 Erbschaftssteuereinnahmen 1999-2009
ökonomische und soziale Gerechtigkeit
C3 empfangene
Vermögenseinkommen
1995-2010
ökonomische und soziale Gerechtigkeit
C4 Armutsquote 2005-2010
ökonomische und soziale Gerechtigkeit
C5 Einkommensreichtum 2005-2010
gesunde öffentliche und private Haushalte
D1 öffentliche Verschuldung 1970-2008
gesunde öffentliche und private Haushalte
D2 Anteil der überschuldeten
Privatpersonen
2004-2010
Wohnungsmarkt E1 Bestand an
Sozialwohnungen
1996-2010
Wohnungsmarkt E2 leerstehende Bürofläche 2000-2010
Wohnungsmarkt E3 Wohnfläche je Einwohner 1987-2010
Wohnungsmarkt E4 Obdachlosenzahl 1996-2009
gesellschaftlicher Zusammenhalt F1 Wahlbeteiligung 1970-2010
gesellschaftlicher Zusammenhalt F2 Bürgerbegehren 1998-2009
gesellschaftlicher Zusammenhalt F3 Versammlungen und
Aufzüge
1996-2011
– 58 –
gesellschaftlicher Zusammenhalt F4 ehrenamtliches Engagement 1999-2009
Zeitsouveränität G1 durchschnittliche
Arbeitszeit
2002-2010
Zeitsouveränität G2 intensive Arbeitstätigkeit 2005-2010
Zeitsouveränität G3 kurze Vollzeit 2005-2010
Zeitsouveränität G4 durchschnittliche Fahrtzeit
zum Arbeitsplatz
n.a.
Bildungsniveau H1 Schulabbrecher 2000-2010
Bildungsniveau H2 Lese- und
Schreibkompetenz
n.a.
Gesundheitsniveau I1 vorzeitige Sterblichkeit 1997-2009
Gesundheitsniveau I2 Suchtverhalten 1997-2009
Gesundheitsniveau I3 Adipositas 1995-2005
Quelle: eigene Darstellung
Aufgrund der Datenverfügbarkeit konnten insgesamt fünf als unersetzlich eingestufte
Indikatoren nicht erhoben werden. Besonders das Leitthema „Versorgung mit lokalen
Produkten“ leidet an der dünnen Datenlage und bleibt gänzlich ohne verfügbare
Indikatoren31. Für den Indikator „Adipositas“ musste auf Ergebnisse von
Schuluntersuchungen zurückgegriffen werden. Zur Darstellung der Entwicklung der
Vermögensverteilung in Hamburg wurde aufgrund mangelnder Datenverfügbarkeit der
Indikator „empfangene Vermögenseinkommen“ verwendet.
Die Anzahl der Indikatoren stellt einen Kompromiss zwischen der Komplexität des
Nachhaltigkeitspostulates, der verfügbaren Datenlage und der praktischen
Anwendbarkeit dar.
Auch wenn in dieser Arbeit bei weitem nicht alle für die Nachhaltigkeitsdiskussion
bedeutenden sozialen und wirtschaftlichen Fragestellungen behandelt werden konnten,
so wird mit den hier vorgestellten Indikatoren eine kontinuierliche Beobachtung
bedeutender Themenfelder gewährleistet. Denn bis auf wenige Ausnahmen werden alle
verwendeten Indikatoren regelmäßig erhoben und sind jederzeit bzw. auf Anfrage
verfügbar.
Für jeden Indikator wurde ein Datenblatt konzipiert, das den Verlauf des Indikators
skizziert und in prägnanter Form dessen Bedeutung im Zusammenhang mit dem hier
konzipierten Nachhaltigkeitsverständnis beleuchtet. Das Datenmaterial stammt sowohl
aus öffentlich verfügbaren Quellen (Statistikämter und Veröffentlichungen von
Behörden) als auch aus privatwirtschaftlichen Quellen. Die verwendeten Quellen
31
Ein Problemfeld, das die vorliegende Arbeit mit vielen ähnlichen Versuchen zur Darstellung des
Grades an regionaler Selbstversorgung gemein hat. Vgl. bspw. bei Diefenbacher (1997, S. 148–151).
– 59 –
werden zusammen mit der Häufigkeit der Erhebung (jährlich, fünfjährig usw.) und der
Verfügbarkeit in jedem Datenblatt ausgewiesen.
– 60 –
Leitthema: nachhaltige Wirtschaftsstruktur und bewusster Konsum
Indikator: A1 Entwicklung des Durchschnittseinkommens
Periodizität: jährlich Verfügbarkeit: öffentlich zugänglich
Datenquelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2011c
Entwicklung:
Das jährlich verfügbare Durchschnittseinkommen der Hamburger Privathaushalte ist in
dem Zeitraum 1995 bis 2009 deutlich angestiegen. Das durchschnittliche Einkommen
lag im Jahr 2009 circa 40% über dem Wert aus dem Jahr 1995. In den letzten Jahren ist
allerdings eine Abschwächung des Anstieges zu beobachten. Im Jahr 2009 ging das
verfügbare Einkommen erstmals seit 1995 leicht zurück.
Anmerkungen:
Die Entwicklung des Durchschnittseinkommens ist ein wichtiger Indikator zur
Beurteilung einer nachhaltigen ökonomischen Entwicklung. Im Hinblick auf die
existierende positive Korrelation des Einkommensniveaus auf den persönlichen CO2-
Ausstoß sollte das verfügbare Einkommen nicht weiter ansteigen bzw. sogar sinken.
Um dieser Aussage die Schärfe zu nehmen, sei darauf hingewiesen, dass es sich hier um
eine Durchschnittsbetrachtung handelt. Dieses Ziel kann sowohl durch einen bewussten
Einkommensverzicht (vgl. Indikator „G3 kurze Vollzeit) erreicht werden als auch durch
eine Angleichung der Einkommensunterschiede zur Vermeidung sozialer und
gesellschaftlicher Disparitäten (vgl. hierzu die Entwicklung der Indikatoren „C4
Armutsquote“ und „C5 Einkommensreichtum“).
0
5.000
10.000
15.000
20.000
25.000
in €
Verfügbares Einkommen der privaten
Haushalte (je Einwohner)*
*in jeweiligen Preisen
– 61 –
Leitthema: nachhaltige Wirtschaftsstruktur und bewusster Konsum
Indikator: A2 Private Konsumausgaben
Periodizität: jährlich Verfügbarkeit: öffentlich zugänglich
Datenquelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2011c
Entwicklung:
Die privaten Konsumausgaben je Einwohner sind analog zu dem verfügbaren
Einkommen in den letzten 20 Jahren deutlich angestiegen. Die Ausgaben im Jahr 2009
liegen um fast 50% höher als im Jahr 1991.
Anmerkungen:
Für die privaten Konsumausgaben werden im Bundesdurchschnitt rund 75% des
verfügbaren Einkommens verwendet (Statistisches Bundesamt 2005, S. 17). Dieser
Indikator fasst diverse Ausgabenbereiche innerhalb der Konsumausgaben zusammen.
So zählen neben den Ausgaben für Nahrungsmittel und Bekleidung und Wohnen auch
Ausgaben für Tabakwaren, Verkehr und Haushaltsgeräte dazu. Eine Differenzierung in
lebensnotwendige Güter und Luxus- bzw. Statusgüter ist somit nicht ohne weiteres
möglich und erschwert die Aussage des Indikators im Hinblick auf die Beurteilung einer
zukunftsfähigen Entwicklung. Die Erhebung des Indikators soll an dieser Stelle jedoch
die allgemeine Relevanz des privaten Konsums für das Erreichen einer nachhaltigeren
Wirtschaftsstruktur widerspiegeln.
0
5.000
10.000
15.000
20.000
25.000
1991
1992
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
in €
Private Konsumausgaben je Einwohner*
*in jeweiligen Preisen
– 62 –
Leitthema: nachhaltige Wirtschaftsstruktur und bewusster Konsum
Indikator: A3 Umsatz mit Waren, Bau- und Dienstleistungen für den Umweltschutz
Periodizität: jährlich Verfügbarkeit: öffentlich zugänglich
Datenquelle: Statistisches Bundesamt 2006-2009
Entwicklung:
Der Umsatz mit Waren, Bau- und Dienstleistungen für den Umweltschutz ist nach
einem starken Anstieg im Jahr 2009 aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung leicht
gesunken. Im Jahr 2009 machte der Umsatz circa 0,48% des Hamburger BIPs aus.
Anmerkungen:
Seit dem Jahr 2006 erhebt das Statistische Bundesamt mit Hilfe einer Totalbefragung
Daten zu der Umsatzentwicklung mit Waren, Bau- und Dienstleistungen, die dem
Umweltschutz dienen. In sieben Umweltbereichen (Abfallwirtschaft, Gewässerschutz,
Lärmbekämpfung, Luftreinhaltung, Naturschutz- und Landschaftspflege,
Bodensanierung und Klimaschutz) werden Produkte, Bautätigkeiten und
Dienstleistungen definiert, die einen positiven Beitrag zur Verbesserung der Umwelt
leisten sollen.
Die Beurteilung des Indikators ist jedoch nicht eindeutig. Ein niedriger Wert kann zum
einen darauf hindeuten, dass die Gesellschaft bemüht ist, ihre Produktions- und
Konsumweise von Beginn an möglichst umweltverträglich zu gestalten. Andererseits
kann ein niedriger Wert auch auf die gesellschaftliche Ignoranz der ökologischen
0
100
200
300
400
500
2006 2007 2008 2009
176
372 439 409
in M
io.
€
Umsatz mit Waren, Bau- und
Dienstleistungen für den Umweltschutz
– 63 –
Folgekosten ihrer Produktions- und Wirtschaftsweise hinweisen. Hohe Umsätze können
dagegen sowohl ein Indiz auf ein gestiegenes Umweltbewusstsein sein als auch ein
Zeichen für signifikante Umweltbeeinträchtigungen, deren Folgen durch wirtschaftliche
Tätigkeiten abgemildert werden müssen.
Eine Beurteilung dieser defensiven Kosten (vgl. Kap 4.4.) muss somit innerhalb der
verschiedenen Kosten bzw. Produkt- und Baukategorien stattfinden. Leipert weist in
diesem Zusammenhang auf die exponentiell steigenden wirtschaftlichen und
ökologischen Kosten bei den nachsorgenden Umweltmaßnahmen hin (z.B. dem
Materialeinsatz beim Bau von Entschwefelungsanlagen) und schlägt die Betrachtung
der Maßnahmen in reaktive und kreative Lösungen vor. Er beurteilt eine hohe
Defensivkostenlast zu Beginn einer nachhaltigen Entwicklung als positiv, da sie als
unmittelbare gesellschaftliche Reaktion auf die fortschreitenden
Umweltbeschädigungen zu deuten sind. Zur dauerhaften Erhaltung der Umwelt sind
jedoch Produktions- und Konsumstrukturen zu errichten, die nachsorgende
Umweltmaßnahmen weitgehend unnötig machen (Leipert 1989, S. 117–122).
Die Erhebung des statistischen Bundesamtes berücksichtigt sowohl nachsorgende
Produktgruppen (z.B. Rußpartikelfilter für Diesel-Fahrzeuge oder Lärmschutzwände)
als auch eher kreative, vorsorgende Produkte und Bautätigkeiten (z.B. Errichtung von
Windkraftanlagen).
Eine abschließende Beurteilung des Indikators im Hinblick auf eine nachhaltige
Wirtschaftsstruktur kann somit nicht vorgenommen werden. Erschwerend kommt hinzu,
dass der Indikator lediglich Veränderungen auf ökologischer Ebene erfasst. Relevante
Bereiche einer zukunftsfähigen Wirtschaftsstruktur, z.B. im Verkehrsbereich oder
Gesundheitswesen, in denen ebenfalls die Existenz von defensiven Ausgaben
nachgewiesen werden kann (Leipert 1989, S. 223–310), können mit diesem Indikator
nicht dargestellt werden.
Der Indikator wird jedoch verwendet, da eine genauere Identifizierung nachhaltiger
Branchen bzw. Wirtschaftszweige anhand der augenblicklich verfügbaren Datenlage
nicht durchgeführt werden kann.
– 64 –
Leitthema: nachhaltige Wirtschaftsstruktur und bewusster Konsum
Indikator: A4 Eintragungen im Genossenschaftsregister
Periodizität: jährlich Verfügbarkeit: öffentlich, auf Anfrage erhältlich
Datenquelle: Genossenschaftsregister Hamburg
Entwicklung:
Die Anzahl der in Hamburg eingetragenen Genossenschaften ist in den vergangenen
Jahren nahezu konstant geblieben. Allerdings ist im aktuellen Jahr ein deutlicher
Anstieg zu beobachten. Der Anteil der Genossenschaften an allen Hamburger
Unternehmen mit mehr als neun Arbeitnehmern lag 2011 bei 1,41%.
Anmerkungen:
Die genossenschaftliche Idee basiert auf einer aktiven Rolle ihrer Mitglieder. Sowohl
Konsum- als auch Produktionsgenossenschaften haben grundsätzlich das Wohlergehen
ihrer Mitglieder als Ausgangspunkt ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten. Durch das
Prinzip der Selbsthilfe, der limitierten Ausschüttung von Überschüssen und der
Möglichkeit der Mitbestimmung unabhängig von der Höhe des eingebrachten Kapitals
sind genossenschaftliche Vereinigungen bis zu einem gewissen Maße resistent
gegenüber der vorherrschenden Wachstumsspirale. So waren die Volks- und
Raiffeisenbanken kaum von der weltweiten Bankenkrise im Jahr 2008 betroffen. Eine
Steigerung des Anteils genossenschaftlicher Vereinigungen ist daher als Beitrag zu
einer nachhaltigeren Wirtschaftsstruktur anzusehen. Selbstverständlich ist zu einer
genaueren Beurteilung des Beitrages von Genossenschaften nicht nur die Wahl der
Unternehmensform ausschlaggebend, sondern auch deren Wirtschaftszweck und die
Umsetzung der Genossenschaftsidee in den Unternehmensentscheidungen.
0
50
100
150 109 109 110 109 108 107 109 110 115 129
Eingetragene Genossenschaften
*zum 13.10.2011
– 65 –
Leitthema: nachhaltige Wirtschaftsstruktur und bewusster Konsum
Indikator: A5 Carsharing und Fahrradverleih in Hamburg
Periodizität: jährlich Verfügbarkeit: Privatwirtschaft, auf Anfrage erhältlich
Datenquelle: StadtRAD Hamburg, cambio Hamburg
Entwicklung:
Der größte Anbieter von Carsharing in Hamburg verzeichnete in den letzten Jahren
einen stetigen Anstieg der registrierten Mitglieder. Auch das Konzept des
Fahrradverleihs scheint in Hamburg zunehmend angenommen zu werden. Im Jahr 2010
wurden bereits über 700.000 Fahrten mit dem StadtRAD zurückgelegt.
Anmerkungen:
Die Möglichkeit des Carsharings ist ein Beitrag zur Schaffung von alternativen und
nachhaltigeren Mobilitätskonzepten. Zwar sind mit dem Auto immer noch immense
ökologische Probleme verbunden, jedoch wird mit dem Carsharingkonzept das
Automobil effizienter genutzt als bei alleiniger Nutzung. Wenn durch dieses Angebot
der Rückgang der Anzahl privater PKWs je 1000 Einwohner beschleunigt wird (2010:
340, 1992: 362), ist die Möglichkeit des Carsharings zumindest ein erster Schritt hin zu
einer nachhaltigeren und ressourcenschonenderen städtischen Mobilitätsform. Zahlen zu
nachhaltigeren Formen der Mobilität (Fuß und Fahrrad) in Hamburg (bspw. die Anzahl
der Fahrräder oder die zurückgelegte Strecke in km) werden nicht erhoben. Aus diesem
Grund werden die registrierten Fahrten mit dem Fahrradverleihsystem StadtRAD
Hamburg aufgeführt.
0
200
400
600
800
0
500
1.000
1.500
2.000
2.500
3.000
2006 2007 2008 2009 2010
in T
au
sen
d F
ah
rten
Carsharing und Fahrradverleih in
Hamburg
Kunden von cambio Hamburg
Anzahl der mit dem
StadtRAD zurückgelegten
Fahrten
– 66 –
Leitthema: nachhaltige Wirtschaftsstruktur und bewusster Konsum
Indikator: A6 Jahresumsatz der Hamburger Weltläden
Periodizität: jährlich Verfügbarkeit: Privatwirtschaft, auf Anfrage erhältlich
Datenquelle: Süd-Nord Kontor
Entwicklung:
In den vergangenen Jahren konnten die elf Hamburger Weltläden und die vier Fair-
Handels-Gruppen ihren Umsatz deutlich steigern. Daten für das Jahr 2010 wurden nicht
erhoben. Zum Vergleich: Der Gesamtumsatz der im Großraum Hamburg tätigen
Drogeriekette Budnikowsky betrug im Jahr 2008 circa 275 Mio. €.
Anmerkungen:
Weltläden sind besonders um faire Arbeitsbedingungen und gerechte Löhne in den
produzierenden Staaten bemüht und bieten daher überwiegend höherpreisige Fair-Tade
Produkte an.
Der Indikator bildet jedoch nur einen Bruchteil des Marktes für nachhaltigen
(Lebensmittel-)Konsum ab. Auch spezialisierte Bioketten (Alnatura, Denn's Biomarkt)
sowie die traditionellen Ketten bieten mittlerweile zertifizierte Lebensmittel an, deren
Umsatzentwicklung für Hamburg jedoch nicht verfügbar ist. Auch wenn der
Zertifizierungsprozess kritisch begleitet werden muss (vgl. bspw. WWF Schweiz 2010),
so ist die Nachfrage nach derartig zertifizierten Produkten doch ein Zeichen für die
Sensibilisierung der Verbraucher hin zu einer bewussteren Konsumentscheidung.
0
200
400
600
800
2006 2007 2008 2009
500 560
700 785
in T
au
sen
d €
Jahresumsatz der 11 Weltläden und vier
großen Fair-Handels-Gruppen
– 67 –
Leitthema: nachhaltige Wirtschaftsstruktur und bewusster Konsum
Indikator: A7 Werbung im öffentlichen Raum
Periodizität: - Verfügbarkeit: keine Daten vorhanden
Datenquelle: -
Entwicklung:
-
Anmerkungen:
Daten zu der Kommerzialisierung des öffentlichen Raums sind bisher nicht verfügbar.
So können an dieser Stelle nur Anhaltspunkte zur Werbung auf öffentlichen Plätzen
vorgestellt werden: Die Firma JCDecaux hat im Jahr 2007 eine Ausschreibung der Stadt
Hamburg gewonnen und plant bis zum Jahr 2015 die Aufstellung von über 2.600 neuen
Stadtmöbeln. Dies ist die bisher größte deutsche Außenwerbungskampagne (JC Decaux
2011). Stadtmöbel übernehmen zwar einerseits eine Informations- bzw. Schutzfunktion
(Fahrgastunterstände und Stadtinformationsanlagen), werden aber andererseits für
großflächige Werbemaßnahmen in Form von Plakaten genutzt.
Die zunehmende Kommerzialisierung des öffentlichen Raums ist aus Perspektive des in
dieser Arbeit verwendeten Nachhaltigkeitsverständnisses abzulehnen. Wie bereits
analysiert, dienen Werbemaßnahmen lediglich der Erzeugung und Suggestion von
Konsumbedürfnissen und sind damit eine Antriebskraft der positionalen Ökonomie.
Ein potentieller verfügbarer Indikator zur groben Abschätzung der gesamten Werbe-
und Marketingaktivitäten in Hamburg sind die Einträge im Branchenbuch. Im Bereich
Werbung und Marketing sind derzeit knapp 3.500 Einträge vorhanden.
– 68 –
Leitthema: Versorgung mit lokalen Produkten
Indikator: B1 Gemeinschafts- und Kleingärten
Periodizität: - Verfügbarkeit: -
Datenquelle: -
Entwicklung:
-
Anmerkungen:
Kleingärten nehmen in der städtischen Landschaft eine wichtige Rolle ein. Neben ihrer
Funktion als Naherholung- und Rückzugsgebiet, tragen sie zur Verbesserung des
städtischen Klimas bei. Außerdem kann in Kleingartenparzellen eine
Subsistenzwirtschaft mit Eigenherstellung und Verbrauch von Obst, Gemüse und
Kräutern aufgebaut werden. Während Kleingartenzellen in privatem Besitz sind und
häufig an den Stadträndern vorzufinden sind, bietet sich in Gemeinschaftsgärten die
Möglichkeit, in losen Gruppierungen und inmitten dicht besiedelter Gebiete an dem
Eigenanbau und Verzehr von Obst und Gemüse mitzuwirken. Gemeinschaftsgärten
bilden zusätzlich Orte der sozialen Begegnung unterschiedlichster
Gesellschaftsmitglieder, da weder eine Mitgliedschaft in einem Verein noch ein hoher
Kapitaleinsatz vorausgesetzt wird.
Für die Anzahl und Fläche der Kleingartenparzellen sind keine Zeitreihen verfügbar.
Derzeit gibt es in Hamburg 33.500 Kleingartenparzellen mit einer Fläche von über 14
Mio. qm (Landesbund der Gartenfreunde in Hamburg e. V. 2011). Angaben zu
gemeinschaftlich bewirtschafteten Flächen in Hamburg liegen nicht vor.
– 69 –
Leitthema: Versorgung mit lokalen Produkten
Indikator: B2 Umsätze der Hamburger Wochenmärkte
Periodizität: - Verfügbarkeit: -
Datenquelle: -
Entwicklung:
-
Anmerkungen:
Wochenmärkte bieten die Möglichkeit eine Vielfalt an landwirtschaftlichen
Erzeugnissen direkt vom Hersteller zu erwerben. In den meisten Fällen kommen die
Betriebe aus der umliegenden Region und sind aufgrund der kurzen Transportwege
besonders frisch. Mit dem Einkauf auf dem Wochenmarkt trägt der Verbraucher zu
einer Stärkung des regionalen Wirtschaftskreislaufes bei. Darüber hinaus erhöhen
Wochenmärkte die Sensibilisierung für bewusstes Einkaufen. Statt fertig abgepackter
Ware und dem schnellen Einkauf im Supermarkt, steht auf den Wochenmärkten die
Auseinandersetzung mit den Erzeugnissen und die Kommunikation mit den Herstellern
im Vordergrund.
Zahlen zu den Umsätzen der Hamburger Wochenmärkte sind nicht bekannt. Insgesamt
gibt es in Hamburg über 60 städtische und 40 privat organisierte Wochenmärkte
(WAGS Hamburg Events GmbH 2011).
– 70 –
Leitthema: ökonomische und soziale Gerechtigkeit
Indikator: C1 Arbeitslosenquote
Periodizität: jährlich Verfügbarkeit: öffentlich zugänglich
Datenquelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2011b
Entwicklung:
Zu Beginn des neuen Jahrtausends lag die Arbeitslosenquote in Hamburg bei 8,2% und
erreichte im Jahr 2005 ihren vorläufigen Höchststand bei 11,3%. Seitdem sinkt die
Arbeitslosigkeit mit Ausnahme des Krisenjahres 2009 analog zum gesamtdeutschen
Trend kontinuierlich und erreichte Ende des Jahres 2010 wieder den Stand von vor zehn
Jahren.
Anmerkungen:
Die Ausführung einer Erwerbstätigkeit trägt einen maßgeblichen Anteil zur Erzielung
des verfügbaren Einkommens bei und ist die wichtigste Voraussetzung zur Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben. In einer gerechten Gesellschaft ist die zur Verfügung stehende
Arbeit möglichst gleichmäßig verteilt. Die Arbeitslosenquote trifft lediglich eine
Aussage über die (Nicht-)Ausübung einer beruflichen Tätigkeit. Die Möglichkeit ein
auskömmliches Einkommen zu erzielen und die Rahmenbedingungen der
Erwerbstätigkeit können mit ihr nicht beurteilt werden. Daher muss der Indikator im
Zusammenhang mit den Indikatoren „Armutsgefährdungsquote“, „intensiver
Arbeitstätigkeit“ sowie „kurze Vollzeit“ betrachtet werden.
0,0
2,0
4,0
6,0
8,0
10,0
12,0
2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010
8,2 9,0
9,9 9,7
11,3 11,0
9,2 8,1 8,6 8,2
in %
Arbeitslosenquote
– 71 –
Leitthema: ökonomische und soziale Gerechtigkeit
Indikator: C2 Erbschaftssteuereinnahmen
Periodizität: jährlich Verfügbarkeit: öffentlich zugänglich
Datenquelle: Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein 2004-2011
Entwicklung:
Die Einnahmen aus der Erhebung der Erbschaftssteuer pendelten mit Ausnahme des
Jahres 2008 zwischen 137 und 242 Mio. €. Ein eindeutiger Trend ist hier nicht
erkennbar.
Anmerkungen:
Legt man das Postulat der Generationengerechtigkeit streng aus, ergibt sich
zwangsläufig eine Besteuerung des vererbten Vermögens von 100%, um jedem
Individuum der nachfolgenden Generation die gleichen Entwicklungschancen
einzuräumen. Demgegenüber steht das System der Familie, das in Deutschland unter
besonderen staatlichen Schutz im Hinblick auf Besteuerung und Subventionen gestellt
ist.
In der augenblicklichen Form ist dieses Instrument zur sozialen Umverteilung von
Vermögen nur bedingt geeignet: Der Anteil der Erbschaftssteuereinnahmen in Hamburg
am gesamten Steueraufkommen liegt zwischen 1,5 und 2,5%. Zahlen zu der
Besteuerungsgrundlage (Vermögenshöhe) liegen nicht vor. Bei diesem Indikator muss
beachtet werden, dass ein hoher Wert auch eine hohe Besteuerungsgrundlage indiziert
und damit auf eine starke Vermögensansammlung in Hamburg hinweisen kann, die aus
einer intragenerationellen Verteilungsperspektive analysiert werden muss.
0
100
200
300
400
500
1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009
202 193 143 137
172 193 157 156
218
431
242
in M
io.
€
Erbschaftssteuereinnahmen
– 72 –
Leitthema: ökonomische und soziale Gerechtigkeit
Indikator: C3 empfangene Vermögenseinkommen
Periodizität: jährlich Verfügbarkeit: öffentlich zugänglich
Datenquelle: Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein 2011b
Entwicklung:
Seit 1995 ist das Verhältnis der empfangenen Vermögenseinkommen zu den
Arbeitnehmerentgelten stetig gestiegen und erreichte 2008 mit 75,5% seinen
Höhepunkt, bevor es aufgrund der Finanzkrise wieder deutlich zurückging. Im Zeitraum
1995 bis 2008 verdoppelten sich die empfangenen Vermögeneinkommen von 10,5 Mrd.
€ auf knapp 21 Mrd. €, während die Arbeitnehmerentgelte nur um knapp 20% anstiegen
(1995: 22,2 Mrd. €, 2008: 28,5 Mrd. €).
Anmerkungen:
Zu den empfangenen Vermögenseinkommen zählen u. a. die Erträge aus Zins- und
Dividendenzahlungen. Auf diesen Indikator muss zurückgegriffen werden, da
regelmäßige Erhebungen zu der Vermögensentwicklung und -verteilung in den privaten
Haushalten in Hamburg nicht durchgeführt werden. Da das Vermögen in Hamburg sehr
ungleich verteilt ist (das reichste Fünftel besitzt circa 83% des Vermögens, während die
unteren 50% per Saldo über kein Vermögen verfügen (Rose und Klages 2011, S. 17–
18)) kann davon ausgegangen werden, dass der überwiegende Anteil der empfangenen
Vermögenseinkommen den bereits Vermögenden zufließt. Das gestiegene Verhältnis zu
den Arbeitnehmerentgelten symbolisiert, dass mittlerweile ein großer Anteil der
Verteilung der Hamburger Wirtschaftskraft einer relativ kleinen Bevölkerungsgruppe
zufließt. Im Hinblick einer zukunftsfähigen Entwicklung auf sozialer und
gesellschaftlicher Ebene sollte diese Relation wieder deutlich zurückgehen.
40
50
60
70
80
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
in %
Verhältnis der empfangenen Vermögenseinkommen zu
den Arbeitnehmerentgelten der privaten Haushalte
– 73 –
Leitthema: ökonomische und soziale Gerechtigkeit
Indikator: C4 Armutsgefährdungsquote
Periodizität: jährlich Verfügbarkeit: öffentlich zugänglich
Datenquelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2011a
Entwicklung:
Nach einem Rückgang bis einschließlich 2008 stieg die Armutsgefährdungsquote im
Krisenjahr 2009 auf 18% an und lag im vergangenen Jahr wieder auf dem Niveau von
2005.
Anmerkungen:
Die Armutsgefährdungsquote ist der Anteil der Hamburger Bevölkerung, deren
Äquivalenzeinkommen weniger als 60% des Landesmedians beträgt. Das
Äquivalenzeinkommen berücksichtigt wirtschaftliche Ersparnisse, die durch Führen
eines gemeinsamen Haushalts entstehen. Verwendet man den Bundesmedian ist die
Armutsgefährdungsquote in Hamburg in den vergangenen fünf Jahren von 15,7% auf
13,3% gesunken. Da Armut jedoch immer relativ wahrgenommen wird und Hamburg
zudem überdurchschnittliche Lebenshaltungskosten hat, ist die Verwendung des
Landesmedians aussagekräftiger.
Die Konstanz der Armutsgefährdungsquote weist darauf hin, dass trotz gesunkener
Arbeitslosigkeit fast jeder fünfte Haushalt in Hamburg von Einkommensarmut bedroht
ist. Zur Beurteilung einer andauernden Verbesserung muss dieser Indikator im Kontext
mit der Entwicklung des Durchschnittseinkommens gesehen werden. Eine gerechtere
und nachhaltigere Entwicklung ist erreicht wenn die Armutsgefährdungsquote sinkt und
das Durchschnittseinkommen nicht weiter ansteigt.
15,0
16,0
17,0
18,0
2005 2006 2007 2008 2009 2010
17,4
16,7 16,8
16,1
18,0
17,4
in %
Armutsgefährdungsquote (Landesmedian)
– 74 –
Leitthema: ökonomische und soziale Gerechtigkeit
Indikator: C5 Einkommensreichtumquote
Periodizität: jährlich Verfügbarkeit: öffentlich zugänglich
Datenquelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2011a
Entwicklung:
Die Einkommensreichtumquote ist in den Jahren 2005 bis 2010 um 1% auf 10,1%
angestiegen.
Anmerkungen:
Als einkommensreich gilt, wer mehr als 200% des äquivalenzgewichteten
Medianeinkommens verdient. Hamburg besitzt mit 10,1% die höchste
Einkommensreichtumquote Deutschlands. Gemessen am Bundesmedian lag diese Quote
2010 sogar bei 13,2%. In Verbindung mit dem Anstieg der Armutsgefährdungsquote
kann in Hamburg somit von einer zunehmenden Einkommenspolarisierung gesprochen
werden. Neben den bereits diskutierten gesellschaftlichen Begleiterscheinungen einer
ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung steht eine gestiegene
Einkommensspreizung in enger Korrelation mit Wanderungsbewegungen innerhalb
städtischer Grenzen und trägt zu der beobachteten sozialen Segregation von Hamburger
Stadtteilen bei (Pohlan et al. 2010). Daher sollte ein weiteres Ansteigen der
Einkommensreichtumquote vermieden werden.
8,6
8,8
9,0
9,2
9,4
9,6
9,8
10,0
10,2
2005 2006 2007 2008 2009 2010
9,1 9,2
9,7 9,8
10,2 10,1
in %
Einkommensreichtumquote
(Landesmedian)
– 75 –
Leitthema: gesunde öffentliche und private Haushalte
Indikator: D1 öffentliche Verschuldung
Periodizität: jährlich Verfügbarkeit: öffentlich zugänglich
Datenquelle: Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein 2004-2011
Entwicklung:
Die Verschuldung des Landes Hamburg stieg in den letzten 35 Jahren stetig an und lag
2008 ungefähr sechsmal höher als 1975. Im Durchschnitt lasteten im Jahr 2008 auf
jedem Hamburger 12.343 € öffentliche Schulden. Insgesamt ist Hamburg mit knapp 22
Mrd. € verschuldet. Eine Stagnation des Schuldestandes ist seit dem Jahr 2005 zu
beobachten.
Anmerkungen:
Unter den deutschen Bundesländern gilt Hamburg als reiches Bundesland. Zwar kann
seit 2005 ein weiterer Anstieg der Schuldenlast vermieden werden, die Zinszahlungen
auf die bestehenden Schulden schränken jedoch den Handlungsspielraum der
öffentlichen Hand deutlich ein. Für die Herstellung eines sozialen Ausgleichs und der
Bereitstellung öffentlicher Güter ist immer weniger Geld vorhanden. Auch im Hinblick
auf die Verwirklichungschancen zukünftiger Generationen sollte die öffentliche
Verschuldung möglichst gering gehalten werden.
0
2.000
4.000
6.000
8.000
10.000
12.000
14.000
19
75
19
80
19
85
19
90
19
91
19
92
19
93
19
94
19
95
19
96
19
97
19
98
19
99
20
00
20
01
20
02
20
03
20
04
20
05
20
06
20
07
20
08
in €
öffentliche Verschuldung je Einwohner*
*in jeweiligen Preisen
– 76 –
Leitthema: gesunde öffentliche und private Haushalte
Indikator: D2 Anteil der überschuldeten Privatpersonen
Periodizität: jährlich Verfügbarkeit: Privatwirtschaft, regelmäßig kostenlos verfügbar
Datenquelle: Creditreform Wirtschaftsprüfung 2004-2010
Entwicklung:
Nach einem Anstieg im Zeitraum 2004 bis 2007, hat sich die Anzahl der überschuldeten
Privatpersonen bis 2009 wieder verringert und lag im Jahr 2010 bei 10,9%.
Anmerkungen:
Die Schuldnerquote wird hier als Anteil der Personen mit Negativmerkmalen im
Verhältnis zu allen Personen ab 18 Jahren definiert. Ein Negativmerkmal liegt bspw. bei
dem Vorliegen eines juristischen Sachverhaltes vor (z.B. Antrag auf Eröffnung eines
Verbraucherinsolvenzverfahrens).
Mit Hilfe der Schuldnerquote lässt sich ein Rückschluss auf die wirtschaftliche
Verfassung der privaten Haushalte ziehen. Nach diesen Zahlen ist circa jede zehnte
Privatperson in Hamburg überschuldet und kann mit seinen Einnahmen nicht dauerhaft
seine Ausgaben decken. Diesen Personen droht bei einer permanenten Überschuldung
der teilweise Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben. Zudem belastet eine
Überschuldungssituation das soziale und private Umfeld des Schuldners. Die
Schuldnerquote sollte daher so niedrig wie möglich gehalten werden.
10,88
12,05 12,7 12,88
12,05
10,59 10,9
8
9
10
11
12
13
14
2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010
in %
Anteil der überschuldeten Privatpersonen
– 77 –
Leitthema: Wohnungsmarkt
Indikator: E1 Bestand an Sozialwohnungen
Periodizität: jährlich Verfügbarkeit: öffentlich zugänglich
Datenquelle: Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein 2011c
Entwicklung:
Der soziale Wohnungsbau in Hamburg ist in den letzten 15 Jahren deutlich
zurückgegangen. Gab es in Hamburg im Jahr 1996 noch über 175.000
Sozialwohnungen, waren im vergangenen Jahr nur noch 95.000 Wohnungen als
Sozialwohnungen ausgewiesen. Der Anteil der Sozialwohnungen an dem gesamten
Wohnungsbestand sank von 21,1% auf 10,7%
Anmerkungen:
Die Förderung von bezahlbarem Wohnraum ist eine Maßnahme um besonderen
Anspruchsgruppen den Bezug von Wohnraum zu ermöglichen. Eine Preis- und
Belegungsbindung ermöglicht dabei, dass nur Bedürftige die Wohnungen belegen und
der Mietpreis im Vergleich zur ortsüblichen Miete gering ist. Angesichts einer
zunehmenden Einkommens- und Vermögensungleichverteilung ist der augenblicklich
beobachtbare Trend negativ zu beurteilen.
10
12
14
16
18
20
22
50.000
70.000
90.000
110.000
130.000
150.000
170.000
190.000
in %
Bes
tan
d a
n S
ozi
alw
oh
nu
ngen
Sozialer Wohnungsbau
Bestand an
Sozialwohnungen
Sozialwohnungen in
% der Wohnungen
insgesamt
– 78 –
Leitthema: Wohnungsmarkt
Indikator: E2 leerstehende Bürofläche
Periodizität: jährlich Verfügbarkeit: Privatwirtschaft, auf Anfrage erhältlich
Datenquelle: Jones Lang LaSalle GmbH
Entwicklung:
In den letzten zehn Jahren ist die Höhe der leerstehenden Bürofläche in zwei Phasen
stark angestiegen. Nach dem starken Zuwachs in den Jahren 2002 und 2003, stagnierte
das Leerstandsvolumen in den folgenden fünf Jahren. Seit 2008 ist jedoch wieder ein
starker Anstieg zu verzeichnen. Im letzten Jahr standen fast 10% der in Hamburg
verfügbaren Bürofläche leer.
Anmerkungen:
Ein gewisser Leerstand in Büroimmobilien lässt sich aufgrund konjunktureller
Schwankungen und langwierigen Vermietungsverfahren kaum vermeiden. Verharrt die
Leerstandsquote allerdings langfristig auf hohem Niveau oder steigt sogar weiter an,
kann von einer nicht nachhaltigen Entwicklung gesprochen werden. Dauerhaft,
leerstehende Büroimmobilen verdrängen dann alternative Nutzungsmöglichkeiten,
beispielsweise die Entstehung von Wohnungsangeboten oder Möglichkeiten der
Naherholung. Die Leerstandsquote sollte somit möglichst gering gehalten werden.
0,0
2,0
4,0
6,0
8,0
10,0
12,0
0
200.000
400.000
600.000
800.000
1.000.000
1.200.000
1.400.000
1.600.000
20002001200220032004200520062007200820092010
in %
in m
2
leerstehende Bürofläche
Leerstandsvolumen in m²
Leerstandsquote in %
– 79 –
Leitthema: Wohnungsmarkt
Indikator: E3 Wohnfläche je Einwohner
Periodizität: jährlich Verfügbarkeit: öffentlich zugänglich
Datenquelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2011b
Entwicklung:
Die zur Verfügung stehende durchschnittliche Wohnfläche je Einwohner hat sich seit
Anfang der 1990er-Jahre um vier qm vergrößert. Dem starken Anstieg folgte in den
vergangenen fünf Jahren nur noch ein moderater Zuwachs. Im vergangenen Jahr sank
die Wohnfläche je Einwohner erstmals seit 1990.
Anmerkungen:
Die Wohnfläche je Einwohner ist ein Indikator für den Flächenbedarf in Hamburg. Je
mehr Wohnfläche in Anspruch genommen wird, umso größer sind die Auswirkungen
der Flächenversiegelung für die ökologische Umwelt. Das Statistische Bundesamt
schätzt, dass über 50% der direkten Umweltbeanspruchung der privaten Haushalte
durch den Verbrauch von Siedlungsfläche entstehen (Schoer et al. 2006, S. 4). In
Hamburg zeigen sich bei der zur Verfügung stehenden Wohnfläche große
stadtteilbezogene Unterschiede. Stehen in Wilhelmsburg durchschnittlich 28 qm je
Einwohner zur Verfügung, sind es in Blankenese mit 56,4 qm je Einwohner mehr als
doppelt so viel. Spitzenreiter ist die HafenCity mit einer durchschnittlichen Wohnfläche
von 80,9 qm je Einwohner (Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein
2011c).
25
27
29
31
33
35
37
39
1987 1989 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009
in q
m
Wohnfläche je Einwohner
– 80 –
Leitthema: Wohnungsmarkt
Indikator: E4 Obdachlose
Periodizität: unregelmäßig Verfügbarkeit: öffentlich zugänglich
Datenquelle: BSG 2009
Entwicklung:
Die Zahl der Obdachlosen hat im Vergleich zur letzten Studie aus dem Jahr 2002 um
rund 20% abgenommen.
Anmerkungen:
Die Zahlen basieren auf Zählungen, die in Einrichtungen durchgeführt wurden, in
denen Obdachlose erfahrungsgemäß anzutreffen sind (Beratungsstellen,
Bahnhofsmissionen, Essensausgabestellen etc.). Jedoch besteht die Vermutung, dass
eine gewisse Zahl von Obdachlosen diese Einrichtungen gar nicht bzw. nicht im
Erhebungszeitraum aufgesucht hat. Bei den Zahlen handelt es sich somit um einen
Minimalwert mit einer nach oben offenen Grauzone (BSG 2009, S. 25–27).
Obdachlosigkeit stellt die extremste Form von sozialer und gesellschaftlicher
Ausgrenzung dar. Ohne festen Wohnsitz ist die Teilhabe am öffentlichen Leben nahezu
unmöglich. Auch wenn der Anteil an Obdachlosen im Vergleich zur
Gesamtbevölkerung Hamburgs verschwindend gering ist, muss das Ziel einer sozial
handelnden Gesellschaft in der weiteren Minimierung der von Obdachlosigkeit
betroffenen Menschen liegen.
0
500
1.000
1.500
1996 2002 2009
1.204 1.281
1.029
Obdachlose
– 81 –
Leitthema: gesellschaftlicher Zusammenhalt
Indikator: F1 Wahlbeteiligung
Periodizität: unregelmäßig Verfügbarkeit: öffentlich zugänglich
Datenquelle: Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein 2004-2011
Entwicklung:
Seit 1970 ist die Wahlbeteiligung an Bundestags- und Bürgerschaftswahlen
kontinuierlich gesunken. Sah es in dem letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts noch
nach einer Stabilisierung der Wahlbeteiligung aus, sinkt die Beteiligung in den letzten
zehn Jahren weiter ab. Im Schnitt gaben bei den letzten Bürgerschaftswahlen weniger
als zwei von drei Wahlberechtigten ihre Stimme ab.
Anmerkungen:
Eine abnehmende Wahlbeteiligung signalisiert, dass sich immer größere Teile der
Hamburger Bevölkerung nicht mehr mit der Politik der etablierten Parteien
identifizieren können. Das wichtigste Instrument des Bürgers zur Teilhabe am
politischen Willensbildungsprozess wird somit von einem signifikanten Teil der
Gesellschaft nicht mehr genutzt. Jedoch ist die alleinige Betrachtung des Indikators
„Wahlbeteiligung“ zur Beurteilung des gesellschaftlichen Zusammenhalts nur bedingt
aussagekräftig. Politisches und zivilgesellschaftliches Engagement kann sich auch
jenseits von Parteien und politischen Wahlen abspielen (Dahm und Scherhorn 2008, S.
28–30). Nichtdestotrotz ist eine hohe Wahlbeteiligung ein grundlegendes Merkmal
eines intakten Verhältnisses zwischen Politik und Gesellschaft.
50
55
60
65
70
75
80
85
90
95
1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005
in %
der
Wah
lber
ech
tigte
n
Wahlbeteiligung
Bürgerschaftswahlen
Bundestagswahlen
– 82 –
Leitthema: gesellschaftlicher Zusammenhalt
Indikator: F2 Bürgerbegehren
Periodizität: jährlich Verfügbarkeit: Privatwirtschaft, regelmäßig kostenlos verfügbar
Datenquelle: Mehr Demokratie e.V.
Entwicklung:
Die Anzahl der Bürgerbegehren war in den letzten zehn Jahren starken Schwankungen
unterworfen. In den letzten Jahren zeichnet sich wieder ein Anstieg der Bürgerbegehren
ab.
Anmerkungen:
Das Bürgerbegehren ist ein Verfahren der direkten Demokratie auf kommunaler Ebene.
Bei Unterzeichnung von 2 bis 3% der Wahlberechtigten eines Stadtbezirks wird eine
Angelegenheit, die von der Bezirksversammlung beschlossen werden kann, zur
Abstimmung im Rahmen eines Bürgerentscheids vorgelegt.
Die Anzahl der Bürgerbegehren ist mehrdeutig. Zum einen kann eine hohe Zahl auf eine
zunehmende Missbilligung politischer Entscheidungen deuten. Zum anderen ist sie
Ausdruck bürgerschaftlichen Engagements am politischen Willensbildungsprozess.
Daher sollte ein Ausschlag der Anzahl der Bürgerbegehren sowohl nach oben als auch
nach unten beobachtet und kritisch begleitet werden.
0
2
4
6
8
10
12
1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009
Bürgerbegehren
– 83 –
Leitthema: gesellschaftlicher Zusammenhalt
Indikator: F3 Versammlungen und Aufzüge
Periodizität: jährlich Verfügbarkeit: öffentlich, auf Anfrage erhältlich
Datenquelle: Polizei Hamburg
Entwicklung:
Mit Beginn des neuen Jahrtausends hat die Zahl der Versammlungen und Aufzüge in
Hamburg deutlich zugenommen und verharrt mit Ausnahme des Jahres 2006 an der
Schwelle zu tausend Aufzügen pro Jahr.
Anmerkungen:
Versammlungen und Aufzüge müssen lediglich polizeilich angemeldet werden und
zählen zu den Grundrechten eines funktionierenden demokratischen Systems. Im
Grunde gelten für diesen Indikator die gleichen Anmerkungen wie für den Indikator
„Bürgerbegehren“: Eine hohe Zahl kann sowohl ein Indiz für die funktionierende
Auseinandersetzung der Bürger mit der Rolle des Staates als auch ein Zeichen für eine
steigende Unzufriedenheit mit dem Umgang von gesellschaftlich und politisch
relevanten Konfliktfeldern sein. Auch bei diesem Indikator sollte ein deutlicherer
Ausschlag nach oben bzw. unten kritisch begleitet werden.
0
200
400
600
800
1.000
1.200
1.400
576 591 544
637 558
611
758 819 841 820
1.307
938 951
1.041 998 969
Versammlungen und Aufzüge
* bis 24.10.2011
– 84 –
Leitthema: gesellschaftlicher Zusammenhalt
Indikator: F4 Freiwillige und ehrenamtliche Tätigkeit
Periodizität: fünfjährig Verfügbarkeit: öffentlich zugänglich
Datenquelle: TNS Infratest Sozialforschung 2009
Entwicklung:
Der Anteil der freiwillig und ehrenamtlich Aktiven ist nach einem Rückgang im Jahr
2004 wieder auf 29% im Jahr 2009 gestiegen.
Anmerkungen:
Freiwilliges und ehrenamtliches Engagement sind die Grundlage zur Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben und bilden den Grundstock zum Aufbau sozialer Netzwerke
außerhalb der monetär entgoltenen Erwerbstätigkeit (BUND Hamburg et al. 2010, S.
234–236). Freiwillig und ehrenamtlich Tätige nehmen dabei sowohl in Sportvereinen
als auch im Rahmen der Bürger- und Gemeinwesenarbeit (Stadtteilinitiativen, soziale
Betreuungsangebote, Nichtregierungsorganisationen) zentrale Funktionen ein, die in
den meisten Fällen einen positiven Beitrag zur Entwicklung einer zukunftsfähigen Stadt
leisten. Der Indikator soll verdeutlichen, dass ein nicht zu unterschätzender Teil der
Hamburger Bevölkerung regelmäßig unentgeltliche Arbeit ausführt, sei es um in (Sport-
)Vereinen soziale Kontakte zu pflegen oder konkret in Initiativen mit Gleichgesinnten
für mehr Teilhabe und Selbstbestimmung einzutreten. Ein hohes Maß an freiwilliger
Tätigkeit ist ein Zeichen für eine intakte Zivilgesellschaft.
0%
5%
10%
15%
20%
25%
30%
35%
1999 2004 2009
31%
26% 29%
Freiwillige und ehrenamtliche Tätigkeit
– 85 –
Leitthema: Zeitsouveränität
Indikator: G1 durchschnittliche Arbeitszeit
Periodizität: jährlich Verfügbarkeit: öffentlich zugänglich
Datenquelle: Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein 2011a
Entwicklung:
Nach dem starken Rückgang des Arbeitsvolumens je Erwerbstätigen im Krisenjahr
2009 hat das Arbeitsvolumen im Jahr 2010 wieder das Niveau vor der Krise erreicht. Im
Jahr 2010 lag die tägliche Arbeitszeit im Schnitt bei 6,73 Stunden.
Anmerkungen:
Wie bereits erwähnt, gibt es sowohl einem Zusammenhang zwischen der
durchschnittlichen Arbeitszeit und dem ökologischen Fußabdruck eines Landes als auch
zwischen geleistetem Arbeitsvolumen und dem subjektivem Wohlempfinden.
Unbestreitbar ist ein Teil der Gesellschaft auf den Lohn eines Vollzeitjobs angewiesen,
jedoch wäre ein bewusster Arbeitszeitverzicht in Verbindung mit einer Lohnkürzung für
viele besser situierte Arbeitnehmer eine Möglichkeit dem Arbeits- und Konsumkreislauf
teilweise zu entkommen und die freiwerdende Zeit für Aktivitäten jenseits der
kurzfristigen, materiellen Bedürfnisbefriedigung zu nutzen. Darüber hinaus kann eine
Verkürzung der Arbeitszeit eine gerechtere Verteilung der Erwerbsarbeit ermöglichen
(BUND Hamburg et al. 2010, S. 97–105).
6,5
6,55
6,6
6,65
6,7
6,75
6,8
1.400
1.420
1.440
1.460
1.480
1.500
2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010
in S
td.
in S
td
durchschnittliche Arbeitszeit
jährliches
Arbeitsvolumen je
Erwerbstätigen
tägliche Arbeitszeit bei
220 Arbeitstagen/Jahr
– 86 –
Leitthema: Zeitsouveränität
Indikator: G2 intensive Arbeitstätigkeit
Periodizität: jährlich Verfügbarkeit: öffentlich zugänglich
Datenquelle: Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein 2005-2011
Entwicklung:
Nach Ergebnissen des 1%-Mikrozensus hat die Zahl der Beschäftigten mit einer
regelmäßigen Wochenarbeitszeit von mehr als 44 Stunden in den letzten Jahren
zugenommen. Im Jahr 2010 hatte ungefähr jeder sechste Beschäftige in Hamburg ein
wöchentliche Arbeitszeit von mehr als 44 Stunden.
Anmerkungen:
Eine hohe wöchentliche Arbeitszeit steht im Widerspruch zu den in Kapitel vier
getroffenen Aussagen. In der Regel sind „Intensivbeschäftigte“ hochgradig mobil und
konsumorientiert und verursachen damit einen hohen ökologischen Impact. Hinzu
kommen die Auswirkungen auf die persönliche Lebenszufriedenheit. So gibt es einen
direkten Zusammenhang zwischen der Zahl der wöchentlich geleisteten Arbeitsstunden
und der Häufigkeit von Schlafstörungen und Rückenschmerzen (Wirtz et al. 2009).
Außer eines höheren Einkommensniveaus (das allerdings wie oben analysiert kaum zu
einer Erhöhung des subjektiven Glücksempfindens beiträgt), scheint daher nichts für die
weitere Ausweitung des Anteils der „Intensivbeschäftigten“ zu sprechen.
0
5
10
15
20
2005 2006 2007 2008 2009 2010
13,84 13,66 13,11 13,94
16,02 17,31
in %
all
er E
rwer
bst
äti
gen
Anteil der Erwerbstätigen mit
wöchentlicher Arbeitszeit > 44 Std.
– 87 –
Leitthema: Zeitsouveränität
Indikator: G3 kurze Vollzeit
Periodizität: jährlich Verfügbarkeit: öffentlich zugänglich
Datenquelle: Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein 2005-2011
Entwicklung:
Der Anteil stieg bis zum Jahr 2008 an und ist in den letzten beiden Jahren wieder leicht
zurückgegangen. Im Schnitt war 2010 ca. jeder zehnte Hamburger als „kurzer
Vollzeitler“ beschäftigt.
Anmerkungen:
Das Konzept der kurzen Vollzeit basiert auf den bereits in Kapitel vier analysierten
Erkenntnissen. Es geht davon aus, dass eine Verkürzung der Arbeitszeit auf 50 bis 80%
der regulären Arbeitszeit (40-Stundenwoche) sowohl aus Sicht der individuellen
Lebenszufriedenheit als auch aus ökologischen Gesichtspunkten (weniger Konsum
durch Lohneinbußen) vorteilhaft erscheint. Selbstverständlich existieren
Beschäftigungsgruppen (z.B. alleinerziehende Mütter), für die ein solches
Arbeitszeitmodell in der heutigen Wirtschaftswelt nicht ausreicht, um deren
Lebensunterhalt zu finanzieren. Daher sollte das Modell der kurzen Vollzeit auf
freiwilliger und individuell ausgestaltbarer Basis eingeführt werden (BUND Hamburg
et al. 2010, S. 74–75). Ein Schritt in Richtung zukunftsfähige Entwicklung wäre durch
einen deutlichen Anstiegs des Anteils der „kurzen Vollzeitler“ erreicht.
0
2
4
6
8
10
2005 2006 2007 2008 2009 2010
8,60 8,83 9,33 9,52 9,43 9,16
in %
all
er E
rwer
bst
äti
gen
Anteil der Erwerbstätigen mit wöchentlicher
Arbeitszeit >20 Std. und <32 Std.
– 88 –
Leitthema: Zeitsouveränität
Indikator: G4 Fahrtzeit zum Arbeitsplatz
Periodizität: - Verfügbarkeit: keine Daten vorhanden
Datenquelle: -
Entwicklung:
-
Anmerkungen:
Repräsentative Daten zur Messung der durchschnittlichen Fahrtzeit zum Arbeitsplatz
der Hamburger sind nicht vorhanden. In einer 2010 durchgeführten
Verbraucherumfrage wurde festgestellt, dass sich besonders der Teil der Hamburger
Beschäftigten, die täglich 10 bis 15 Kilometer zur Arbeit zurücklegen im Vergleich zu
2000 leicht erhöht hat. Der Anteil an längeren Strecken (größer 20 Kilometer) ist
jedoch leicht zurückgegangen (Zukunftsrat Hamburg 2011, S. 9). Aufgrund dieser
Angaben kann jedoch kein Rückschluss auf die tatsächlich aufgewendete Fahrtzeit zur
Arbeitsstätte gezogen werden.
Jedoch gibt es Untersuchungen auf Bundesebene, die das Pendlerverhalten zu zwei
Zeitpunkten (1996 und 2008) untersucht haben und zu dem Schluss gelangen, dass der
Weg zur Arbeit immer weiter wird und mehr Zeit in Anspruch nimmt. So gaben 2008
nur noch 68,2% an, dass sie zur ihrer Arbeitsstätte weniger als dreißig Minuten
benötigen (1996: 72,8%). Der Anteil der Beschäftigten, deren Entfernung zur
Arbeitsstätte mehr als 25 Kilometer beträgt, erhöhte sich von 13,1% auf 16,2%
(Statistisches Bundesamt 2009).
Lange Wege zum Arbeitsplatz haben sowohl negative Effekte auf das subjektive
Wohlbefinden (Stutzer und Frey 2004) und sind auch aus ökologischer Sicht
bedenklich, da trotz intensiver Bemühungen zur Steigerung der Attraktivität des
öffentlichen Nahverkehrs und dem Ausbau von Radwegen immer noch drei von fünf
Fahrten zur Arbeitsstätte mit dem Auto zurückgelegt werden (Statistisches Bundesamt
2009).
Wünschenswert für die weitere Entwicklung Hamburgs wäre sowohl eine Verringerung
des Anteils der Autofahrer als auch eine Verringerung der durchschnittlich für die Fahrt
zur Arbeitsstätte aufgewendeten Lebenszeit.
– 89 –
Leitthema: Bildungsniveau
Indikator: H1 Schulabbrecher
Periodizität: jährlich Verfügbarkeit: öffentlich zugänglich
Datenquelle: BSB 2011
Entwicklung:
Die Zahl der Hamburger, die die Schule ohne einen Abschluss verlassen ist in den
letzten Jahren signifikant gesunken. Besonders stark sank die Schulabbrecherquote in
dem Zeitraum 2006 bis 2010. Im vergangenen Jahr verließen nur noch 7,5% aller
Schüler die Schule ohne Abschluss.
Anmerkungen:
Menschen ohne Schulabschluss haben deutlich schlechtere Chancen auf dem
Arbeitsmarkt und sind deutlich länger von Arbeitslosigkeit betroffen (Autorengruppe
Bildungsberichterstattung, S. 193). Ohne Schulabschluss bleiben dieser
Gesellschaftsgruppe die Möglichkeiten zur Teilhabe an der Gesellschaft weitgehend
verschlossen. Es sollte daher das Ziel sein, den Anteil der Schulabbrecher in Hamburg
möglichst gering zu halten.
0
2
4
6
8
10
12
14
2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010
12,4 12,5 11,6 11,5 11,3 11,5 11,5
10,3
8,2 7,8 7,5
in %
all
er S
chü
ler
Schulabbrecherquote
– 90 –
Leitthema: Bildungsniveau
Indikator: H2 Lese- und Schreibkompetenz
Periodizität: - Verfügbarkeit: keine Daten vorhanden
Datenquelle: -
Entwicklung:
-
Anmerkungen:
Die Fähigkeit, Lesen und Schreiben zu können sind elementare Voraussetzungen für die
Teilhabe am Arbeitsmarkt. Nach vorläufigen Ergebnissen einer deutschlandweiten
Studie liegt der Zahl der Menschen, die nicht in der Lage sind mehrere
zusammenhängende Sätze zu lesen oder zu schreiben (funktionaler Analphabetismus)
bei 7,5 Mio. Das entspricht mehr als 14% der erwerbsfähigen Bevölkerung, die
aufgrund ihrer begrenzten Lese- und Schreibkompetenzen nicht in angemessener Form
am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können (Grotlüschen 2011).
Daten zu der Literalität der Hamburger Bevölkerung liegen nicht vor. Zwar werden in
allen Bundesländern regelmäßige Studien durchgeführt32, diese konzentrieren sich aber
auf die Leistungen in der schulischen Primarstufe und haben ausschließlich eine
vergleichende Funktion innerhalb der einzelnen Bundesländer.
32
vgl. http://www.iqb.hu-berlin.de/laendervergleich/LV2009 (abgerufen am 12.11.2011).
– 91 –
Leitthema: Gesundheitsniveau
Indikator: I1 vorzeitige Sterblichkeit
Periodizität: jährlich Verfügbarkeit: öffentlich zugänglich
Datenquelle: BSG 2011
Entwicklung:
Die vorzeitige Sterblichkeit ist in Hamburg in den letzten Jahren deutlich gesunken. Lag
der Indikator 1994 noch bei 277 Todesfällen je 100.000 Einwohner, starben im Jahr
2010 nur noch 188 Menschen je 100.000 Einwohner vor Erreichen des 65.
Lebensjahres. Der Abwärtstrend ist jedoch in den letzten Jahren zum Erliegen
gekommen.
Anmerkungen:
Aufgrund des medizinischen Fortschritts gelten Todesfälle vor Erreichen des 65.
Lebensjahres als vorzeitig und in den meisten Fällen vermeidbar. Eine hohe vorzeitige
Sterblichkeit weist mit Ausnahme von vererbten Krankheiten und chronischen Leiden
auf eine riskante und gesundheitsgefährdende Lebensweise hin. Häufig entstehen durch
vorzeitige Todesfälle langandauernde psychische und finanzielle Belastungen für die
Hinterbliebenen. Daher sollte in Hamburg eine möglichst geringe vorzeitige
Sterblichkeit angestrebt werden.
0
50
100
150
200
250
300
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
277 261
270 249 243 239 232
223 223 215 212 204 198 192 186 190 188
je 1
00.0
00 E
inw
oh
ner
vorzeitige Sterblichkeit
– 92 –
Leitthema: Gesundheitsniveau
Indikator: I2 Suchtverhalten
Periodizität: unregelmäßig Verfügbarkeit: öffentlich zugänglich
Datenquelle: Kraus et al. 2011
Entwicklung:
Im Zeitraum 1997 bis 2009 ist bei dem Suchtverhalten kein eindeutiger Trend
festzustellen. Während der riskante Konsum von Alkohol um knapp fünf Prozent
zurückging, blieb der Anteil der Raucher weitgehend unverändert bei rund 35%. Ein
leichter Anstieg konnte bei der Einnahme von Antidepressiva festgestellt werden.
Anmerkungen:
Alle hier dargestellten Anteile basieren auf einer Befragung, inwieweit die
entsprechenden Substanzen in den letzten 30 Tagen vor der Erhebung eingenommen
wurden. Die Schwelle vom Substanzgenuss zur Substanzabhängigkeit ist fließend und
Gegenstand wissenschaftlicher Analysen. Nichtdestotrotz ist die Beobachtung dieser
Indikatoren ein wichtiges Instrument zur Beurteilung gesellschaftlicher Tendenzen.
Tabak und Alkohol stellen zwei der fünf wichtigsten gesundheitlichen Risikofaktoren
dar und sind für rund 4% aller durch Krankheit verlorenen Lebensjahre verantwortlich.
Außerdem verursacht der regelmäßige Substanzkonsum enorme gesellschaftlich Kosten,
die allein für Tabak und Alkohol auf mehr als zwei Prozent des jährlichen BIPs
geschätzt werden (Kraus et al. 2011, S. 19).
25
20,5 20,1
14,3
22,5
15,1
35,4 36,6 35,6
3,7 4,4
0
5
10
15
20
25
30
35
40
1997 2003 2009
in %
Suchtverhalten
riskanter
Alkoholkonsum 18-59
Jahre
illegale Drogen 18-39
Jahre
RaucherInnen 18-24
Jahre
regelmäßige Einnahme
von Antidepressiva 18-
59 Jahre
– 93 –
Leitthema: Gesundheitsniveau
Indikator: I3 Adipositas
Periodizität: unregelmäßig Verfügbarkeit: öffentlich zugänglich
Datenquelle: BSG 2007
Entwicklung:
Der Prozentsatz der Kinder bei denen bereits im Einschulungsalter Fettleibigkeit
festgestellt worden ist, ist im Vergleich zu dem Jahr 1995 bei beiden Geschlechtern
angestiegen.
Anmerkungen:
Daten zu dem Anteil der übergewichtigen und fettleibigen Bevölkerung in Hamburg
werden nicht erhoben. Daher wird auf diesen Indikator zurückgegriffen, dessen
Datengrundlage regelmäßig mit Hilfe der schulärztlichen Eingangsuntersuchungen
fortgeschrieben werden kann.
Adipositas verursacht neben den individuellen seelischen und körperlichen Belastungen
auch immense gesellschaftliche Folgekosten. Die volkswirtschaftlichen Kosten über
entstehende Folgeerkrankungen werden auf jährlich 70 Mrd. € in Deutschland geschätzt
(BSG 2007, S. 31). Der Anteil übergewichtiger Personen sollte daher möglichst gering
gehalten werden.
0
1
2
3
4
5
6
1995 2005
3,9
6
3,5
4,5
in %
Adipositas bei Einschulung
Jungen
Mädchen
– 94 –
6 Schlussbemerkungen und Ausblick
Das Ziel der Arbeit bestand in der Formulierung von relevanten wirtschaftlichen und
sozialen Themenfeldern, mit deren Identifikation die Bildung von Indikatoren zur
Messung und Überwachung einer zukunftsfähigen Entwicklung der Freien- und
Hansestadt Hamburg durchgeführt werden sollte. Im Vordergrund stand dabei die
Erarbeitung der Leitthemen auf Basis sozio-ökonomischer Konzepte und die Erhebung
verfügbarer Indikatoren zur Einbettung in ein Nachhaltigkeitsindikatorenset für die
Stadt Hamburg.
Aufgrund der dargestellten Beschränkungen bei der Beurteilung eines erreichten
Nachhaltigkeitszustandes, dem integrativen und ständigen Rückkopplungen
ausgesetzten Aspekt der Nachhaltigkeit und den Verflechtungen des Landes Hamburgs
in lokale, nationale und internationale Produktions- und Konsumprozesse wird auf eine
abschließende Bewertung, inwiefern die Hansestadt das Ziel einer nachhaltigen
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung bereits erreicht hat, verzichtet.
Jedoch lässt sich festhalten, dass es zwischen den betrachteten Leitthemen erhebliche
Unterschiede bei der Entwicklung hin zu einem nachhaltigeren Zustand gibt. Besonders
innerhalb des Leitthemas „nachhaltige Wirtschaftsstruktur und bewusster Konsum“ sind
mit Ausnahme der Indikatoren „Entwicklung des Durchschnittseinkommens“ und
„private Konsumausgaben“ erste Fortschritte erkennbar, wenngleich die unten
gemachten Äußerungen zu der vorhandenen Datenlage die Aussagekraft deutlich
einschränken. Starke Verbesserungen sind ebenfalls bei den Indikatoren
„Schulabbrecher“ und „vorzeitige Sterblichkeit“ zu beobachten.
Besonders negativ stellt sich die Entwicklung der Leitthemen „ökonomische und soziale
Gerechtigkeit“ und „Wohnungsmarkt“ dar. Mit Ausnahmen der „Arbeitslosenquote“
und der „Obdachlosenzahl“ weisen die Indikatoren dieser Themenblöcke auf eine
deutliche Verschlechterung hin. Auch die Indikatoren „intensive Arbeitstätigkeit“,
„Wahlbeteiligung“ und „öffentliche Verschuldung“ haben sich in den betrachteten
Zeiträumen deutlich verschlechtert.
Bei allen anderen Indikatoren bzw. Leitthemen ist kein eindeutiger Trend erkennbar
bzw. eine Aussage des Beitrags zu einer nachhaltigen Entwicklung nur sehr
eingeschränkt möglich.
Auch wenn eine Ziel- und Statusanalyse nicht abschließend vorgenommen werden
kann, so ist es mit dem vorliegenden Indikatorenset gelungen, die Forderung nach der
Operationalisierung des Nachhaltigkeitsgedankens auf regionaler und lokaler Ebene mit
– 95 –
Elementen der wachstumskritischen Ökonomie und Ansätzen der
Lebensqualitätsforschung zu verknüpfen. In Verbindung mit dem umweltbezogenen
Indikatorensystem der Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft "Klima, Energie, Mobilität -
Nachhaltigkeit" steht damit ein umfassendes Messsystem zur Beurteilung einer
nachhaltigen Entwicklung in Hamburg zur Verfügung, das vor dem Hintergrund der
Krise der klassischen Wohlfahrtsökonomie und der zunehmenden gesellschaftlichen
und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit alternativen Wirtschaftskonzepten und
Gesellschaftsformen den Zugang zur Umsetzung einer zukunftsfähigen Entwicklung
erweitert.
Das nun vorliegende Indikatorenset kann somit als Beitrag zu einer Diskussion über die
inhaltliche Ausgestaltung, das Festlegen von Handlungsprioritäten und die
Operationalisierung einer lokalen Nachhaltigkeitsstrategie für Hamburg verstanden
werden, die sich jenseits der klassischen (Wirtschafts-)Wachstumsauffassung an einer
ganzheitlichen Betrachtung von gesellschaftlichem Wohlstand, Lebensqualität und
ressourcenschonenden Produktions-, Konsums- und Verhaltensmustern orientiert.
Für die konkrete Umsetzung dieses erweiterten Nachhaltigkeitszugangs und zu einer
genaueren Abbildung der hier vorgestellten Leitthemen bedarf es allerdings einer weit
verbesserten Datenlage. Besonders in den wirtschaftlich geprägten Themenfeldern
„nachhaltige Wirtschaftsstruktur und bewusster Konsum“ sowie „Versorgung mit
lokalen Produkten“ existieren große Datenlücken. So muss in diesen Themenblöcken
größtenteils auf Hilfsindikatoren zurückgegriffen werden, die jedoch nur einen kleinen
Ausschnitt des betrachteten Untersuchungsgegenstandes abbilden können.
Exemplarisch sei an dieser Stelle auf den Indikator „A3 Umsatz mit Waren, Bau- und
Dienstleistungen für den Umweltschutz“ verwiesen, der aufgrund der mangelnden
Verfügbarkeit von statistischen Daten zur Identifikation nachhaltiger bzw.
zukunftsfähiger Wirtschaftszweige herangezogen wird. Auch das Leitthema
„ökologische und soziale Gerechtigkeit“ ist von der dünnen Datenlage betroffen. Die
Analyse der Vermögensaufteilung unter den Hamburger Bürgern und Bürgerinnen
bleibt unvollständig. Hier ist zu überlegen, eine Armuts- und
Reichtumsberichterstattung wie sie auf Bundesebene und teilweise auch auf
Bundesländerebene33 existiert, in Hamburg zu etablieren.
Eine weitere Einschränkung ergibt sich aus der Auswahl der Datenlieferanten, die zur
Erhebung der Indikatoren herangezogen wurden. Ein Großteil der Indikatoren basiert
auf Datenmaterial aus öffentlichen Quellen, die regelmäßig verfügbar sind und
33
So erhebt das Bundesland Rheinland-Pfalz regelmäßig Armuts- und Reichtumsberichte. Vgl.
http://msagd.rlp.de/fileadmin/masgff/soziales/Endbericht_Arbeitsfassung_Druck_22.02.10_NEU1.pdf
(abgerufen am 21.11.2011).
– 96 –
mindestens einmal jährlich erhoben werden. Jedoch speisen sich fünf Indikatoren aus
behördlichen Auftragsarbeiten, die im Rahmen von Gutachten und Untersuchungen
erhoben worden und damit nicht fortlaufend ermittelt werden. Bei den fünf Indikatoren,
die unter Verwendung von Daten privatwirtschaftlicher Organisationen und
zivilgesellschaftlicher Vereinigungen ermittelt wurden, besteht zusätzlich die
Einschränkung, dass sich deren Verfügbarkeit jederzeit ändern kann.
So ist das zur Verfügung gestellte Indikatorensystem letztendlich ein Kompromiss
zwischen der Datenverfügbarkeit und dem Wunsch nach Daten zu Themenfeldern, die
für die das hier konzipierte Nachhaltigkeitsverständnis zwar von essentieller Bedeutung
sind, aber statistisch noch nicht ausreichend erfasst werden.
Zur erfolgreichen Umsetzung des Nachhaltigkeitspostulates kommt der
Millionenmetropole Hamburg, wie auch anderen Großstädten, eine besondere
Bedeutung zu. In Millionenmetropolen sind bedingt durch die ressourcenintensive
Lebens- und Konsumweise die größten Einsparpotentiale vorhanden. Im Bereich des
Klimaschutzes hat Hamburg in den letzten Jahren bereits große Fortschritte gemacht,
die allerdings hauptsächlich durch technische Weiterentwicklungen realisiert wurden.
Ein tiefgreifender Bewusstseinswandel, der sich aus der Überwindung der heutzutage
vorherrschenden Produktions- und Versorgungsstrukturen, Mobilitätskonzepten und
Konsumformen ergibt findet bisher allerdings nur auf mikroskopischer Ebene statt. Das
entwickelte Nachhaltigkeitsindikatorenset kann dabei helfen, die dafür notwendigen
Transformationsprozesse auf gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene sichtbar zu
machen, Problemfelder zu identifizieren und Maßnahmen abzuleiten, die den Übergang
zu einer zukunftsfähigen Entwicklung der Freien- und Hansestadt Hamburg in allen
Dimensionen der Nachhaltigkeit einläuten.
– 97 –
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– 108 –
Anhang
Anhang A1: Liste der 15 Themenfelder des UNCSD-Indikatorensets
Fortsetzung auf nächster Seite
– 113 –
Anhang A2: Beispiel eines Indikatorenblattes des Nachhaltigkeitsmonitorings Schleswig-Holsteins
Fortsetzung auf nächster Seite
– 114 –
Quelle: http://www.schleswig-holstein.de/cae/servlet/contentblob/959000/publicationFile/Indikator_17.pdf (abgerufen am 29.10.2011)
– 115 –
Anhang A3: Indikatoren im Rahmen der „Gross Happiness Initiative“ der Stadt
Seattle
Quelle: http://www.sustainableseattle.org/sahi/gnh-objective-indicators (abgerufen am
10.11.2011)
– 116 –
Anhang A4: Themenfelder und Indikatoren der Bund/Länder-
Arbeitsgemeinschaft „Klima, Energie, Mobilität – Nachhaltigkeit (BLAG KliNa)“
Fortsetzung auf nächster Seite
– 121 –
Anhang A5: Themenfelder und Indikatoren der „Hamburger Entwicklungs-
Indikatoren Zukunftsfähigkeit (HEINZ)“
Fortsetzung auf nächster Seite
– 124 –
Erklärung
Hiermit versichere ich, dass ich diese Arbeit selbständig verfasst und keine anderen als
die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe. Außerdem versichere ich, dass
ich die allgemeinen Prinzipien wissenschaftlicher Arbeit und Veröffentlichung, wie sie
in den Leitlinien guter wissenschaftlicher Praxis der Carl von Ossietzky Universität
Oldenburg festgelegt sind, befolgt habe.