Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_...

97
Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V. Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in der Sowjetunion“ Zusammengestellt von Nina Paulsen und Hans Kampen Stuttgart, Mai 2011

Transcript of Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_...

Page 1: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Landsmannschaftder Deutschen aus Russland e.V.

Materialsammlung

„70 Jahre Deportationder Deutschen in der Sowjetunion“

Zusammengestellt vonNina Paulsen und Hans Kampen

Stuttgart, Mai 2011

Page 2: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Veranstaltung:- Ein (Gedenk-)Erinnerungs- und Informationsnach -

mitt ag (-abend), gewidmet der Deportation der Deut-sch en in der Sowjetunion 1941 und ihren Folgen. Mit Musikeinlagen (klassisch e Musik – Geige bzw. Kla-vier), Gedich ten und Liedern, kurzen Erinnerungen von Zeitzeugen und eventuellen Filmaussch nitt en. Für die Totenehrung eventuell einen Pfarrer einladen. Veranstaltung in deutsch er Sprach e!

- Als Gäste einladen: eigene Landsleute und Einhei-misch e, Politiker, Vertreter versch iedener Verbände, Presse (eine Pressemappe vorbereiten). Rech tzeitig sich um die Einladungen kümmern!

- Als Teilnehmer ansprech en: Mitglieder der Orts-gruppe, außerdem talentierte Deutsch e aus Russland vor Ort und in der Umgebung (Musiker; Chor bzw. Gesangsgruppe; Zeitzeugen; zwei Moderatoren - jun-ge Mensch en ansprech en, die in gutem Deutsch durch die Veranstaltung führen können).

- Als Hintergrundinformation: Ausstellung zur Ge-sch ich te der Russlanddeutsch en (Deportation und ihre Folgen als Sch werpunkt) – Plakate der Lands-mannsch aft verwenden. Zeitzeugen vor Ort reden lassen – in die Ausstellung einbeziehen. Büch er der Landsmannsch aft zur Gesch ich te der Russlanddeut-sch en zum Verkauf anbieten. Brosch üren der Lands-mannsch aft mit positiven Integrationsbeispielen zum Mitnehmen auslegen. Eine Ausstellung mit positiven Integrationsbeispielen vor Ort vorbereiten. Eine fei-erlich e Atmosphäre in den Räumlich keiten sch aff en; Möglich keiten: Kunstausstellung, Plakate, Ausstel-lung zur Gesch ich te der Russlanddeutsch en.

- Zwei Sprech er führen die Gäste durch die Deporta-tionsgesch ich te der Deutsch en in der Sowjetunion. Die Deportation von 1941 versetzte der Volksgruppe den Todesstoß; die Inhalte stellen die wich tigsten Ab-sch nitt e der leidvollen russlanddeutsch en Gesch ich -te dar. Erwähnt werden die Diskriminierungen vor 1941, der Verlauf der Deportation 1941, die Zwangs-arbeit in der Trudarmee, das Sch ick sal der Kinder und Mütt er, die Sondersiedlung, die nach folgenden Diskriminierungen, der Verlust der deutsch en Spra-ch e und der Identität. Bis heute sind die Deutsch en die einzige einst deportierte Bevölkerungsgruppe in der ehemaligen Sowjetunion geblieben, die politisch nich t endgültig rehabilitiert worden ist. Zum Sch luss:

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

2

Aussiedlung nach Deutsch land, zerrissene Identität, Integration im Land der Väter.

Vorarbeit: Die notwendigen Schritte- Vorbereitungen rech tzeitig planen und beginnen,

fähige Landsleute motivieren und mobilisieren.

- Sponsoren such en. Ansprech partner: Kommune, Kir-ch en, russlanddeutsch e Unternehmer. Kooperieren mit anderen Einrich tungen und Verbänden.

- Werben: Die Veranstaltung in den Zeitungen inserie-ren (Pressemappe an die Lokalmedien), Mundpropa-ganda betreiben, mit benach barten Ortsgruppen ko-operieren.

- Rech tzeitig Einladungen versenden. An die Vertreter von Politik, Öff entlich keit, Kirch en, Vereinen etc.

- Sich rech tzeitig um Sprech er/Moderatoren (zwei), Musiker (Klavier bzw. Geige), Rezitatoren, Sänger und Zeitzeugen kümmern. Chor, Gesangsgruppe, auch aus einer benach barten Ortsgruppe, bzw. einen einheimisch en Chor zur Teilnahme einladen.

- Sprech er sind sehr wich tig. Voraussetzungen sind sich ere deutsch e Sprach kenntnisse, gute Aussprach e, ungezwungenes Auft reten. Das Gleich e gilt für die Rezitatoren – das von der Bühne gesproch ene Wort soll emotional sein, bewegen und betroff en mach en.

- Das Szenario ist kein Muss. Es ist nur ein Leitfaden, eine Vorlage, die kreativ, je nach den Möglich keiten und Verhältnissen vor Ort, verwendet werden sollte.

- In das Szenario Grußworte und Ansprach en der Po-litprominenz einplanen (als Möglich keit, muss aber nich t unbedingt sein).

- Das Gesch ehen auf der Bühne an passenden Stellen durch kurze Musikeinlagen aufl ock ern bzw. einzel-ne Passagen wie Gedich te mit Musik untermalen. Die musikalisch e Umrahmung sollte die würdevolle, emotionsgeladene Atmosphäre unterstützen; klassi-sch e Musik würde am besten passen; die Auswahl der Stück e mit den Musikern treff en.

- Die Inhalte der Veranstaltung durch auf die Leinwand projizierte Bilder (PowerPoint) veransch aulich en.

- Sich rech tzeitig um die tech nisch en Mitt el kümmern (Mikro, Gerät zum Bilderprojizieren, Musikanlage zum Abspielenvon CD).

Durchführung einer Gedenkveranstaltung:Erinnern für die Zukunft

1941-2011:70 Jahre Deportation der Deutschen in der Sowjetunion

Page 3: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

- Zeitzeugen (ehemalige Trudarmisten) als Ehrengäste oder Berich tende einladen. An Blumen und Erinne-rungsgesch enke für sie denken.

- Da im Laufe des Nach mitt ags auch gesungen wird, Liedertexte vervielfältigen und auf die Stühle legen. Die Gäste zum Mitsingen motivieren.

- -Ein Programm der Veranstaltung mit kurzen Auszü-gen aus dem Szenario vorbereiten und verteilen.

Mitwirkende:- Zwei Sprech er (zwei Mikrophone!) führen die Gäste

durch das Programm.

- Zwei Zeitzeugen-Stimmen (weiblich und männlich , eventuell hinter dem Vorhang) – Sprech er, die per-sönlich e Gesch ich ten der Zeitzeugen vorlesen (zwei Mikrophone!).

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

3

- Zwei bis drei Rezitatoren (tragen die Gedich te vor).

- Chor bzw. Gesangsgruppe (tritt mit Liedvorträgen auf).

- Musiker (Geige oder Klavier) – sorgt für Musikeinla-gen (klassisch e Musik, live oder von CD abspielen).

- Zwei bis drei Zeitzeugen (erzählen ihre Gesch ich ten); notfalls ersetzt man die Live-Gesch ich ten der Zeitzeu-gen durch die Zeitzeugen-Stimmen.

- Für ein Gebet und die Totenehrung eventuell einen Pfarrer einladen.

- Für eine Person sorgen, die sich um den PowerPoint-Vortrag kümmert und rech tzeitig die Bilder wech selt (Vorlage liegt bei).

Page 4: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Zeitzeugen-Stimme (weiblich): Krieg... Grelle Blitze aus blauendem Himmel.Aus tausenden Kehlen – der Schrei vereint.Vernichtend die unwiderlegbare Wahrheit:Er spricht MEINE Sprache, der mächtige Feind.Krieg... Hart trifft er jede Familie.Schon greift er nach dir, mir und unserem Sohn.Es reißt unser Kleeblatt aus friedlichem BodenUnd wirbelt es wild gegen den Norden davon...

Sprech er 1:Diese Zeilen der russlanddeutsch en Dich terin Nelly Wack er aus ihren „Gedich ten aus der Kriegszeit“ be-sch reiben, in welch unerträglich e Rolle und Lage die Deutsch en in der Sowjetunion durch den deutsch -so-wjetisch en Krieg 1941 und die Politik der beiden totali-tären Staaten, der Sowjetunion und Nazi-Deutsch land, hineinversetzt wurden. In der Öff entlich keit in der So-wjetunion standen die Deutsch en noch Jahre nach dem Krieg unversch uldet für die Gräueltaten Nazi-Deutsch -lands. Allein deshalb, weil sie Deutsch e waren.

Sprech er 2:Im Laufe ihrer fast 250-jährigen Gesch ich te mit Diskri-minierungen, Verfolgungen und Deportationen hatt en die Russlanddeutsch en nich t nur einmal zahlreich e Opfer zu beklagen. Geprägt von zwei Weltkriegen ge-gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung der Deutsch en in der Sowjetuni-on angesich ts der sch werwiegenden Folgen über Gene-rationen hinweg zu den sch limmsten in der Reihe der Vertreibungen des 20. Jahrhunderts in Europa. Durch Sprach - und Identitätsverlust in der zweiten und drit-ten Generation wirken diese Folgen bis heute nach .

Sprech er 1:Vor allem aber der II. Weltkrieg brach te die Russland-deutsch en an den Rand ihrer Existenz. Der verleumde-risch e Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSS R vom 28. August 1941 „Über die Übersiedlung der Deutsch en, die in den Wolgarayons wohnen” warf den Wolgadeutsch en „Kollaboration“ mit dem Feind vor und hatt e für alle Deutsch en in der Sowjetunion verheerende Folgen.

Sprech er 2: Durch die Deportationen aus den europäisch en Teilen der Sowjetunion nach Sibirien und Kasach stan wurden Hundertt ausenden Russlanddeutsch en die Heimat, das Haus, das Vermögen und der gute Namen genommen. Bis Ende 1941 wurden etwa 800.000 Deutsch e nach Si-birien, Kasach stan und Mitt elasien verbannt.

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

4

Sprech er 1: Der Erlass markierte den tiefsten und bis in die Gegen-wart nach wirkenden Einsch nitt in der 240-jährigen Ge-sch ich te der Russlanddeutsch en. Deportation, Verban-nung, Sondersiedlung und Zwangsarbeit waren Politik des Sowjetregimes und Begriff e aus dem Alltag dreier Generationen der Russlanddeutsch en - der unmitt elbar Betroff enen, ihrer Kinder und Enkel. Jede russland-deutsch e Familie hatt e Opfer der Willkürherrsch aft in der Sowjetunion zu beklagen. Bitt e erheben Sie sich für ein Gebet und die Totenehrung für die Opfer der ver-gangenen Zeiten.

Gebet und Totenehrung verlesenLied „Großer Gott , wir loben dich !“

Sprech er 2:Vor über 240 Jahren wanderten die Vorfahren der heu-tigen Russlanddeutsch en, von denen 2,5 Millionen in Deutsch land leben, nach Russland aus. Dem Manifest der Zarin Katharina II. folgend, wanderten im 18. Jahr-hundert Deutsch e aus Rheinhessen, der Pfalz, Würt-temberg, Baden, dem Elsass und Bayern aus. Auf Ein-ladung des Zaren Alexander I. siedelten sich deutsch e Auswanderer aus Württ emberg im 19. Jahrhundert im Sch warzmeergebiet an.

Sprech er 1:Angesich ts der wirtsch aft lich en Not mit Missernten und Hunger, der Kriege, politisch er Unterdrück ung und Beeinträch tigung der Glaubensfreiheit in deut-sch en Landen hofft en viele, ihr Glück in der Fremde zu fi nden. Verlock end waren auch die Privilegien, die den Auswanderern zugesich ert wurden: Unentgeltli-ch e Landzuweisung, freie Religionsausübung, Steuer-freiheit bis zu 30 Jahren, Befreiung vom Militärdienst, kulturelle Autonomie, gemeindlich e Selbstverwaltung, keine Leibeigensch aft , Befreiung vom Kriegs- und Zi-vildienst oder Gewerbefreiheit.

Sprech er 2:Nach den Anpassungssch wierigkeiten erarbeiteten sich die deutsch en Kolonisten in ihren neuen Siedlungen, die sie oft nach ihren Heimatorten benannten, wie Ma-riental, Karlsruhe oder Darmstadt, mit viel Fleiß und Sch weiß einen ansehnlich en wirtsch aft lich en und kul-turellen Wohlstand. Hunderte von deutsch en Siedlun-gen gab es an der Wolga und im Sch warzmeergebiet, aber auch in zahlreich en Toch terkolonien im Kaukasus, im Uralgebiet, in Sibirien, in Kasach stan oder in Zent-ralasien.

Nina Paulsen: Erinnern für die Zukunft1941-2011:

70 Jahre Deportation der Deutschen in der SowjetunionEntwurf eines Szenarios

Page 5: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Sprech er 1:Aus etwa 304 Mutt erkolonien entwick elten sich 3.232 Toch tersiedlungen. Aus ursprünglich etwa 100.000 Ein-wanderern wurde in 135 Jahren eine Volksgruppe von 1,7 Millionen laut Volkszählung von 1897. Vor dem I. Weltkrieg 1914 lebten im Russisch en Reich 600.000 Deutsch e an der Wolga, 530.000 Deutsch e im Sch warz-meergebiet, weiter in Wolhynien, in den polnisch en Provinzen - damals Russisch es Reich -, im Baltikum und um St. Petersburg.

Sprech er 2: Unter den Sowjets wurde 1918 zuerst die Arbeitskom-mune der Wolgadeutsch en als autonomes Gebiet und 1924 die Autonome Sozialistisch e Sowjetrepublik der Wolgadeutsch en mit der Hauptstadt Engels gegründet. Bis Anfang der 30er Jahre erlebten die Deutsch en einen kurzen wirtsch aft lich en und kulturellen Aufsch wung. Sowohl in der Wolgarepublik als auch im Sch warzmeer-gebiet gab es deutsch e Hoch - und Fach sch ulen, Zeitun-gen, Staatsverlage und Theater. Vor dem II. Weltkrieg lebten 1,4 Millionen Deutsch e in der Sowjetunion.

Sprech er 1: Ihre deutsch e Volkszugehörigkeit wurde den Deut-sch en im Russisch en Reich und vor allem in der Sowje-tunion wiederholt zum Verhängnis. Bereits infolge des I. Weltkrieges wurde die deutsch e Sprach e in der Öf-fentlich keit, in Sch ule und Kirch e verboten. 1915 kam es zu einem antideutsch en Pogrom in Moskau. Die Re-gierung plante die Aussiedlung der Wolgadeutsch en, die durch die revolutionären Ereignisse von 1917 vor-erst verhindert wurde.

Sprech er 2:Auch unter den politisch en Verfolgungen der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts in der Sowjetunion hat-ten die Deutsch en am stärksten zu leiden. Ende der 20er Jahre wurden die wohlhabenden Bauern zwangs-enteignet und hinter den Ural verbannt. Die Sch ließung der Kirch en und Versch leppung der Geistlich en in den deutsch en Kolonien drängte den Glauben in den Un-tergrund. 1938 wurden die deutsch en Bezirke aufge-löst, die deutsch e Sprach e in den Sch ulen außerhalb der Wolgarepublik verboten. Mit 14,7 Prozent (!) Op-fern bei einem Bevölkerungsanteil von nur 1,4 Prozent waren sie die am meisten verfolgte nationale Bevölke-rungsgruppe in der Sowjetunion.

Sprech er 1:Im Herbst 1941, als der Krieg bereits in weiten Teilen des europäisch en Russlands wütete, begann die Deportati-on der Deutsch en. Die Zwangsumsiedlung sollte nich t auf die Wolgadeutsch en besch ränkt bleiben. Auch die Deutsch en auf der Krim, in der Ukraine und im Kau-kasus sowie in den Gebieten Leningrad und Moskau waren davon betroff en.

Zeitzeugen-Stimme (männlich): Schon Anfang September 1941 begann die Registrie-

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

5

rung der gesamten zur Deportation vorgesehenen Be-völkerung. Die Deutschen erhielten strengste Anwei-sung, ihren Wohnort nicht zu verlassen. Die Bahnhöfe und Straßen der Wolgakolonien wurden von Patrouil-len der sowjetischen politischen Geheimpolizei NKWD bewacht. Das gesamte bewegliche und unbewegliche Vermögen der Umsiedler wurde konfi sziert. Grundsätz-lich konnte jede Familie Proviant, Kleidung und andere nützliche Gegenstände - bis zu 200 kg je Familienmit-glied - mit sich führen. Die außerordentliche Hast - für den Aufbruch waren höchstens 24 Stunden gegeben - ließ jedoch meist nur ein Bündel mit den allernotwen-digsten Gegenständen zusammenkommen.

Zeitzeugen-Stimme (weiblich):In Güterzüge verfrachtet, 40-60 Personen pro Waggon, und unter menschenunwürdigen Bedingungen wurden die Deutschen hinter den Ural deportiert. Die Viehwag-gons blieben während der gesamten Fahrt von außen verriegelt. Der Proviant war knapp, und Trinkwasser stand in nur ungenügender Menge zur Verfügung. Über die Zahl der Opfer, die besonders unter den Kindern und Alten hoch war, liegen keine genauen Angaben vor. Nach mehrwöchiger Reise gelangten die Deportierten in ihre Bestimmungsorte in Sibirien (vor allem in der Al-tairegion sowie in den Gebieten Nowosibirsk und Kras-nojarsk), Kasachstan und Mittelasien.

Zeitzeugen-Stimme (männlich):Edmund Obermann aus der Ukraine erinnert sich an die Deportation:„Als wir mit unseren Sachen zum Bahnhof angelaufen kamen, war der Zug mit seinen Viehwaggons schon mit Greisen, Frauen und Kindern voll gepfropft und schon zur Abfahrt bereit. Die Lok dampfte schon. Im letzten Moment steckte man uns noch in den hintersten Wag-gon hinein, und kaum waren wir drinnen, da setzte sich der Zug auch schon in Bewegung. Es war schon ein bisschen hell geworden, und ganz niedrig über unserem Zug fl og ein deutsches Aufklärungsfl ugzeug. Unser De-portationszug war der letzte, der die Station Rosowka am frühen Morgen des 4. Oktober 1941 verlassen hat-te. Gleich danach wurden das Bahnhofsgebäude, das Packhaus mit unserem abgegebenen Hab und Gut und der Getreidespeicher von der NKWD gesprengt und verbrannt. Die entfernten Explosionen waren sogar in unserem Waggon noch zu hören. Die liebe Heimat war für immer hinter unserem Rücken geblieben und hinter dem westlichen Horizont verschwunden!“

Zeitzeugen-Stimme (weiblich): Lydia Lotz aus Neu-Ulm erzählt die Geschichte ihrer Oma Amalia Stoll, die 1941in der Ukraine lebte:„Opa wurde im August 1941 einberufen. Noch in Zi-vil, ohne einen Schuss abgegeben zu haben, kam er in deutsche Gefangenschaft. Oma, 35 Jahre alt, blieb mit sieben Kindern zurück. Der älteste – Andreas - war 13 Jahre, der kleine Rudi sechs Monate. Am 8. Okto-ber mussten sie zur Bahnstation, dann weiter mit ei-nem Güterzug, der kein Dach hatte. Tags regnete und

Page 6: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

schneite es, nachts gab es Frost. Wasser und Lebens-mittel gab es nicht, jeder musste sich selbst versorgen. Nach zwei Wochen kamen sie an einen Bahnhof, an dem Holz gelagert war. Da konnten sie die Waggons mit Brettern überdecken. Andreas als Ältester war für das Wasser verantwortlich. Wenn der Zug anhielt, rann-te er mit dem Eimer los. Als er einmal zurückkam, war der Zug weg! Und so stand ein deutsches Kind - mit-ten im Kriegschaos - ganz verzweifelt und weinte. Zum Glück gab es immer wieder barmherzige Menschen! Ein alter Russe, ein Lokomotivführer, nahm ihn zu sich. Bei jeder Station sagte er: Geh, lauf, mein Kind, such deinen Zug! So ging es eine Woche. Wenn man heu-te meinen Onkel danach fragt, bricht er in Tränen aus. Bei einem Bahnhof war über den Gleisen eine Brücke. Andreas lief hoch und erkannte von oben den Zug mit dem selbst gemachten Holzdach. Die Freude über das Wiedersehen war riesig! Oma sagte dazu immer: ‚Es waren Gottes Wege, die uns geführt haben!‘ “

Sprech er 2: Ende 1941 folgte die Mobilisierung in die so genannte Trudarmij a, die Arbeitskolonnen, die in das sowjetisch e GULAG-System eingegliedert waren. Etwa 350.000 Ju-gendlich e, Männer und Frauen im Alter von 15 bis 55 Jahren wurden beim Aufb au von Industriebetrieben, im Berg-, Straßen- und Bahnbau, in der Rüstungs- und Holzwirtsch aft , bei der Öl- und Kohleförderung sowie in der Land- und Forstwirtsch aft eingesetzt.

Lied „Die Moorsoldaten“Lied „Die Arbeitssoldaten“

Sprech er 1:Es handelte sich dabei um Zwangsarbeitslager, meist von hohen Stach eldrahtzäunen und Wach türmen um-geben. Keine andere Volksgruppe in der Sowjetunion wurde in diesem Ausmaß physisch ausgebeutet. Von der sowjetisch en Propaganda gesch ick t eingefädelt, mussten die Deutsch en der Sowjetunion in den Augen der Öff entlich keit für den deutsch -sowjetisch en Krieg büßen.

Gedich t Reinhold Deines,„Ballade von der Trudarmee“

Lied „Die Ballade über die Trudarmisten“ (russisch )

Sprech er 2:Die Verhältnisse, unter denen die Zwangsarbeiter le-ben und arbeiten mussten, glich en in ihrer Unmensch -lich keit denen eines Strafgefangenenlagers oder waren nach Aussagen der Betroff enen noch sch limmer. Das Wort „Fritz“ in der Bedeutung von „Feind“ oder „Fa-sch ist“ war die üblich e Anrede für die Deutsch en. Der russlanddeutsch e Dich ter Reinhold Frank, der mehre-re Jahre Zwangsarbeit in Sibirien leisten musste, be-sch reibt „Der Fronarmisten sieben Plagen“:

Gedich t Reinhold Frank„Der Fronarmisten sieben Plagen“

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

6

Sprech er 1:Auf dem Weg zur Arbeit wurden die deutsch en Zwangsarbeiter von Soldaten begleitet, die den stren-gen Befehl hatt en, beim geringsten Verdach t sofort zu sch ießen. Die Arbeitszeit betrug bis zu zwölf Stunden und auch mehr pro Tag. Die Verpfl egung der Mobili-sierten bestand höch stens aus dünner Suppe und Brot. Eine medizinisch e Versorgung fehlte in den ersten Jah-ren fast völlig. Alle möglich en Vorgesetzten herrsch ten in völliger Willkür.

Zeitzeugen-Stimme (weiblich):Die Wolgadeutsche Emma Altvater erinnert sich:„Die deutschen Männer mussten 1942 alle auf einen Schlag in die Trudarmee. Mein Vater ist von dort nie zurückgekommen. Als die Männer, die das überlebt hatten, nach Hause kamen, waren sie alle so, dass nur noch der lebendige Atem in ihnen war. Mein Vater war bei Kirow im Wald als Holzfäller. Er ist krank geworden, musste aber trotzdem in den Wald. Über eine Woche haben die Männer aus der Brigade ihn mitgeschleppt, damit er sein Stück Brot gekriegt hat. Da hat er den ganzen Tag im Schnee gelegen. Aber später ging auch das nicht mehr. Er musste in der Baracke bleiben, war schon ganz schwach, und endlich noch ins Lazarett, wo er auch 1943 gestorben ist. Eine offi zielle Nachricht haben wir nie bekommen.“

Zeitzeugen-Stimme (männlich):Adam Rusch, Spätaussiedler aus Berlin, erzählt seine Geschichte: „Ich kam in das Lager Iwdel-Lag im Ural. Die letzten hundert Kilometer wurden wir mit Hunden zu Fuß durch den Wald getrieben. Dort war tiefer, tiefer Schnee und sonst nichts. Das Lager war leer, als wir ankamen. Au-ßerdem waren dort Zäune und Wachtürme. Die Bara-cken waren alt. Zum Teil fehlten die Fenster, wir waren 40-50 Mann in einer Baracke. Wir haben im Wald Bäu-me gefällt. Wenn wir von der Arbeit gekommen sind, war die ganze Kleidung nass und gefroren. Es gab eine Kammer, in der die Sachen trocknen sollten. Aber man-ches Mal hat das nicht geklappt. Und man hat es nass wieder angezogen - und raus in die Kälte. Anfangs hatte man noch ein bisschen Kraft von zu Hause. Dann sind die Leute immer schwächer und schwächer geworden, bis sie kaum noch laufen konnten.“

Sprech er 2:Zehntausende deutsch e Zwangsarbeiter starben vor Hunger, Ersch öpfung, fast unerträglich en körperlich en Strapazen und unvorstellbaren seelisch en Belastungen. Die Sterblich keit unter den Zwangsarbeitern nahm vor allem in den ersten Jahren der Trudarmee oft katastro-phale Ausmaße an. Die Leich en wurden oft in Massen-gräbern versch arrt, ohne dass die Angehörigen jemals eine Nach rich t erhielten. Darüber gibt es unzählige Aussagen von Zeitzeugen und Betroff enen.

Zeitzeugen-Stimme (männlich):Der russlanddeutsche Dichter Waldemar Spaar, der ei-

Page 7: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

nige Jahre in den Arbeitskolonnen im Gebiet Perm ver-brachte, schreibt: „Alles für die Front - lautete damals die Losung, und zum Gaffen gab es keine Zeit. Wir nagten am Hunger-tuch, und dazu die dürftige Bekleidung, die Fröste, die Erniedrigungen. Besonders grausam war der Winter 1943. Jeden Tag trug der Beerdigungstrupp 30 bis 35 Tote aus den Baracken heraus. Dystrophie. So hieß diese schreckliche Krankheit, die die Menschen weg-raffte. Und auch 1944 ereilte viele von uns das gleiche Schicksal.“

Zeitzeugen-Stimme (weiblich):Alvina Enzi aus Berlin berichtet über die Verhältnisse in einem Arbeitslager bei Tscheljabinsk: „Die Menschen hatten keine Kraft mehr, die anderen zu begraben. Wenn sie auf die Arbeit getrieben wurden, sind sie auf dem Weg einfach umgefallen. Dann wur-den sie in eine Stube geschleppt, die war schon hoch voll. Es kam auch vor, dass sie einen reingeschmissen haben, der noch nicht tot war, nur steifgefroren. Der ist dann in dieser Stube warm geworden. Man hat auch gehört, wie da und dort noch einer schnauft… Im Früh-jahr haben sie draußen eine Grube gemacht und alle reingeschmissen.“

Sprech er1:Im Gedich t „Vaterunser der deutsch en Fronarmisten“ sch ildert Reinhold Frank das unerbitt lich e Grauen der Stalinistisch en Lager – mit Hungernot, Sch werstarbeit, Erniedrigung und Tod.

Gedich t Reinhold Frank,„Vaterunser der deutsch en Fronarmisten“

Sprech er 2: Das Leid der deutsch en Frauen und Kinder in den Kriegsjahren und danach ist wohl das düsterste Kapitel der traumatisch en Gesch ich te der Russlanddeutsch en. Alle deutsch en Frauen, die Kinder älter als drei Jahre hatt en, mussten in die Arbeitsarmee. Tausende Kinder blieben elternlos zurück . Sie bekamen keine Lebens-mitt el zugeteilt und mussten sehen, wie sie überlebten. Wenn sie Glück hatt en, versuch ten andere deutsch e Frauen, ihnen eine Bleibe zu geben.

Zeitzeugen-Stimme (weiblich):Olga Leonhard erzählt die Geschichte von Lisa Laufer, die aus dem Dorf Frank an der Wolga in das Dorf Kras-nojar im Gebiet Omsk in Sibirien deportiert wurde:„Tante Lisa hatte drei Kinder: eine Tochter von elf und eine von neun Jahren und einen vierjährigen Sohn. Der Vater war bereits in der Arbeitsarmee. Im November 1942 begann die Mobilisierung der deutschen Frauen, auch Tante Lisa erhielt eine Vorladung ins Kriegskom-missariat. Sie hatte in Krasnojar keine Verwandten, und so lief sie unruhig durch das Dorf, um Leute zu fi nden, die sich ihrer Kinder erbarmten. Jeder wurde von seiner eigenen Not und seinem eigenen Kummer überwältigt. Helfen konnte man ihr auch im Dorfsowjet nicht. So

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

7

blieb ihr nichts anderes übrig, als sich auf die elfjähri-ge Erna zu verlassen. Nach mehreren Ermahnungen des Vorsitzenden des Dorfsowjets, sich auf den Weg zu machen, gelang es den Frauen mit Mühe, sich aus den verzweifelten Umarmungen der Kinder loszurei-ßen. Ein anhaltendes Wehgeschrei brach aus wie auf einer Beerdigung. Als man die Frauen schließlich in die Schlitten setzte und diese sich von der Stelle bewegten, stürzten die Kleinen mit Weinen und Schreien ihnen nach: „Mama! Fahr nicht fort! Komm wieder, Mama!“ Auch Lisas Töchter liefen dem Schlitten nach, streckten die kleinen Hände aus und weinten. Der Schlittenführer stieß sie in den Schnee, sie standen wieder auf und liefen weiter. Dann begann er, die Pferde und die Klei-nen mit der Knute zu peitschen, um sich von dem uner-träglichen Kindergeschrei zu befreien. Tante Lisa hielt es nicht aus und verlor das Bewusstsein. Man rieb ihr das Gesicht mit Schnee ein, sie kam zu sich, doch als sie die Töchter sah, die hinter dem Schlitten her liefen, fi el sie wieder in Ohnmacht. Schließlich verließen die Schlitten den Bereich des Dorfs, und die Kinder blieben allmählich zurück.“

Zeitzeugen-Stimme (männlich):Peter Dyck, der heute in Deutschland lebt, erinnert sich:„Ich war sechs Jahre alt, als nach dem Vater auch die Mutter in die Arbeitsarmee einberufen wurde. Erst als Erwachsener habe ich wirklich den großen Kummer unserer Mütter verstanden, die man auf Ochsenschlit-ten setzte, um sie zur Eisenbahnstation wie zu einer Hinrichtung zu schicken. Wir liefen lange hinterher und weinten laut. Die Mütter fuhr man fort, und die Kinder blieben ganz ohne Aufsicht. 15 kleine Jungen im Alter von fünf bis zwölf Jahren trieb man in eine Erdhütte, wo wir auch einige Jahre lebten. Es gab weder Hei-zung noch Essen. Für eine Woche gab es 200 Gramm Getreideabfälle aus der Kolchose, damit die ‚Fritzen‘ schneller verreckten. Bald zerriss die ganze Kleidung, und wir blieben völlig nackt. Um die Nacktheit zu bede-cken, wurden Lappen umgebunden. Im Winter wurde reihum das getragen, was bei einem von uns übrig ge-blieben war, und man ging über die Dörfer und bat um Almosen, die dann unter uns aufgeteilt wurden. Viele starben, andere erfroren, und manche wurden von den Steppenwölfen zerrissen. Wie wir in jenen Jahren leb-ten, kann man sogar jetzt nicht erzählen. Meine Mutter kehrte erst nach sieben Jahren zurück. Und über den Vater wissen wir bis jetzt nichts ...“

Sprech er 1:Niemand hat gezählt, wie viele Kinder, deren Mütt er in Rüstungswerken und in den Wäldern des Nordens ar-beiteten, an den sibirisch en Wegen auf der Such e nach etwas Brot erfroren. Von der sowjetisch en Regierung konnten diese Kinder keinerlei Hilfe erwarten, sie wa-ren nur „Fresser“ und keine Arbeiter. Reinhold Frank besch reibt das Sch ick sal vieler Kinder in seinem Ge-dich t „Bett elkind in Sibirien“.

Page 8: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Gedich t Reinhold Frank, „Bett elkind in Sibirien, 1942“

Zeitzeugen-Stimme (männlich):Erwin Hoffmann, heute in Deutschland, erzählt seine Geschichte: „Das Allerschlimmste für unsere Familie begann im Winter 1942, als der Vater zur Arbeitsarmee in den Ural musste. Wir hatten keine Mittel mehr für unsere Exis-tenz. Die Mutter, die hochbetagte Großmutter, der Bru-der und der Kleine, der schon in Kasachstan geboren wurde. Einen Bruder verscharrte der Vater während der Fahrt vom Nordkaukasus auf irgendeiner Zwischensta-tion. Das Leben in dem Dorf in Kasachstan war schreck-lich. Wir schlugen uns damit durch, dass wir Ähren im Feld lasen. Dafür wurden wir grausam geschlagen; man nahm uns die Säcke und Überzüge sowie die Kleidung ab. In der Steppe gruben wir irgendwelche Wurzeln und wilde Zwiebeln aus, fi ngen Zieselmäuse und kamen so irgendwie über die Runden. 1944 begann eine Typhus-Epidemie, durch welche die Menschen wie die Fliegen starben. Erst kam die Großmutter ums Leben, dann der Kleinste. Sofort wurde die Mutter in die Arbeitsarmee mobilisiert. Ich – damals zehn Jahre alt - blieb mit dem sechsjährigen Bruder völlig allein. Der Dorfsowjet und die Kolchose brachten uns in ein so genanntes Kinder-heim - in einen Pferdeverschlag an der Stelle des frü-heren Pferdestalls. Anders als ein Konzentrationslager für die Kinder des ,Volksfeindes‘ kann man diesen un-heilvollen Ort nicht nennen. Man nährte uns schlechter als die Hunde, die diesen Platz bewachten. Man schlug uns und verspottete uns auf verschiedene Weise. Man tat alles dafür, dass die deutschen Kinder so schnell wie möglich ausstarben. Doch trotz allem haben wir überlebt.“

Zeitzeugen-Stimme (weiblich):Jelena Ruder erzählt aus den Erinnerungen ihrer Mut-ter bei der Verschickung der deutschen Frauen in die Arbeitsarmee auf der Station Abakan in Ostsibirien:„Es erhob sich ein entsetzliches Geheul. Bis zum Mo-ment der Abfahrt konnten sich die Mütter nicht von den Kindern losreißen, und die Kinder nicht von den Müttern. Keine Kommandos, sich in die Waggons zu setzen, konnten helfen. Die den Zug begleitenden Mit-arbeiter der ,Organe‘ begannen, die Kleinen mit Gewalt aus den Händen der Mütter zu reißen. Doch auch das brachte wenig. Der Zug setze sich schon in Bewegung, und man begann, die weinenden Frauen in die Wag-gons zu treiben. Eine von ihnen lief mit dem Kind auf dem Arm am Zug vorbei. Man streckte ihr die Hände entgegen, versuchte ihr beim Einstieg in den Waggon zu helfen. Doch sie lief weiter und in irgendeinem Au-genblick presste sie das Kind fest an sich und stürzte sich unter den Waggon, vor die Räder... Die Trennung von dem Kleinen war für sie schrecklicher als der Tod. Hätte sie den dreijährigen Sohn zurückgelassen, wäre er sicher umgekommen. Solchem Schicksal zog sie den Tod für beide vor.“

Sprech er 2:

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

8

Die Deutsch en waren die einzige deportierte Volks-gruppe in der Sowjetunion, deren Frauen massenhaft in die Arbeitskolonnen mobilisiert wurden und Sch werst-arbeit überall in den Arbeitslagern und Rüstungsbetrie-ben leisten mussten. Zehntausende deutsch e Frauen leisteten nich t nur Sklavenarbeit in der Arbeitsarmee, wo sie von tyrannisch en Aufsehern gesch lagen und misshandelt wurden, sondern sie mussten sich , von ih-ren Männern getrennt, für ihre Kinder aufopfern, bis sie der Tod von ihrem Elend erlöste.

Zeitzeugen-Stimme (weiblich):Raisa Ostertag, die bei Gorki in der Trudarmee war, er-innert sich: „Wir Frauen mussten im Winter in den Wäldern Bäume fällen, die Baumstämme entästen und aus dem Wald schleppen. Das war eine verdammt harte Arbeit. Unfäl-le waren an der Tagesordnung. Das Heizmaterial, das wir in den Baracken benötigten, mussten wir uns selber im Wald besorgen. Für diesen Zweck durften wir die Baumwurzeln ausgraben. Wir dachten, uns kommt das ganze Gedärm aus dem Leib, so qualvoll war diese Ar-beit. Wir standen oft bis zu den Hüften im Schnee. Bei der unmenschlichen Quälerei kamen wir zwangsläufi g ins Schwitzen. Wenn wir dann die Jacken ablegten, zo-gen wir uns Erkältungen zu: Ein Teufelskreis war das! Wer nicht arbeitete, bekam kein Brot, wer kein Brot hat-te, konnte nicht arbeiten.“

Zeitzeugen-Stimme (männlich):Robert Weilert, der heute in Deutschland lebt, erinnert sich:„Im Altai-Dorf Nowaja Jelowka, in dessen Nähe sie nach der Deportation aus dem Wolgagebiet lebten, wurden alle nach der Mobilisierung der Mütter zurückgelasse-nen Kinder einer alten, halb wahnsinnigen deutschen Frau „in Pfl ege“ gegeben. Sie konnte nicht nach ihnen sehen, und sie waren sich völlig selbst überlassen. Schlimmer noch: Einmal entdeckten die Nachbarn die halb verweste Leiche der Alten und neben ihr die kaum noch lebenden Kinder. Sie wurden von russischen Frauen aufgenommen, da keine einzige Deutsche im Dorf zurückgeblieben war.“

Sprech er 1:In mehr als 200 Arbeitslagern und Stützpunkten vom Norden des europäisch en Teils bis in den Fernen Osten und sogar in der Mongolei gab es deutsch e Arbeitsko-lonnen. Die offi ziellen Statistiken über die Verstorbe-nen in der Arbeitsarmee lassen sich bis heute nich t ge-nau feststellen. Die Trudarmee-Lager blieben vielerorts noch fünf bis zehn Jahre nach dem Krieg bestehen.

Sprech er 2: Noch viele Jahre nach Kriegsende sollten die Russland-deutsch en in den Orten ihrer Sondersiedlung oder in den GULAG-Lagern ihre angeblich e kollektive zweifa-ch e Sch uld – als „Vaterlandsverräter“ und als Deutsch e für die Verbrech en des Naziregimes in Deutsch land - durch Sklavenarbeit abbüßen: erniedrigt, verleumdet,

Page 9: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

gehasst, entrech tet und totgesch wiegen.

Gedich t Reinhold Frank, „Unsere Opfer“

Sprech er 1: Diese ganze Zeit in der Verbannung waren Glaube und die deutsch e Mutt ersprach e für sehr viele Deut-sch e in der Sowjetunion Rück halt, Hoff nungsquelle und eigentlich e Heimat. In versch iedenen Zeiten haben russlanddeutsch e Autoren Gedich te über ihre Mutt er-sprach e verfasst. In keiner anderen deutsch sprach igen Minderheitenliteratur ist ein dermaßen durch dringen-des, inbrünstiges Bekenntnis zur deutsch en Mutt er-sprach e zu fi nden.

Sprech er 2: Die Mutt ersprach e wird als Symbol der verlorenen Heimat und der Hoff nung, sie irgendwann zu fi nden, empfunden. In vielen Gedich ten sch wingt ein geradezu trotziges Bekenntnis zur deutsch en Sprach e mit, die auf sch ändlich ste Weise erniedrigt und missbrauch t wur-de. Eines der ergreifendsten Gedich te, das den Begriff Mutt ersprach e thematisiert, ist „An meine Mutt erspra-ch e“ von Erna Hummel. Sie wurde 1914 an der Wolga geboren, 1941 nach Sibirien verbannt, nach dem Krieg arbeitete sie als Lehrerin in Kasach stan und an der Wol-ga.

Gedich t Erna Hummel, „An meine Mutt ersprach e“Gedich t Waldemar Herdt, „Mein Mutt erlaut“

Sprech er 1: Dieses unermesslich e Trauma der sch uldlosen Sch uld, der Sch uld für das, was die Deutsch en in der Sowjet-union nie getan hatt en, hat sich in das kollektive Ge-däch tnis der Volksgruppe eingebrannt – nich t nur in das der Zeitzeugengeneration, sondern auch in das der zweiten und dritt en Generation. Jahrzehntelang durft en die Russlanddeutsch en nich t über ihr Sch ick sal sprech en oder sch reiben.

Sprech er 2:In den Nach kriegsjahren wurden die Deutsch en in der Sowjetunion lange totgesch wiegen. Weder in Zeitun-gen, Zeitsch rift en oder Büch ern noch in Reden oder Radiosendungen wurden sie erwähnt. Der Adenauer-Besuch im September 1955 und die Aufnahme diplo-matisch er Beziehungen zwisch en Moskau und Bonn besch leunigten den Prozess der Entlassung der Deut-sch en aus den Sondersiedlungen.

Sprech er 1: Mit dem Dekret des Obersten Sowjets der UdSS R vom 13. Dezember 1955 „Über die Aufh ebung der Besch rän-kungen in der Rech tsstellung der Deutsch en und ihrer Familienangehörigen, die sich in den Sondersiedlungen befi nden“ wurde die erniedrigende Kommandantur aufgehoben, nich t aber das Verbot, in die Heimatorte zurück zukehren. Die Sehnsuch t nach der angestamm-ten Heimat kommt in zahlreich en Gedich ten und Lie-

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

9

dern zum Ausdruck .

Sprech er 2: Auch der Regierungserlass von 1948 legte die Verban-nung der Deutsch en auf „ewige Zeiten” fest. Der Erlass von 1964 sprach die Deutsch en von der Sch uld des Ver-rats im Deportationsdekret vom 28. August 1941 frei, und der Erlass von 1972 hob die Einsch ränkungen in der Wahl des Wohnortes auf. Diese Erlasse brach ten den Deutsch en zwar gewisse Erleich terungen, aber nich t den Freispruch vom Generalverdach t - in der Öf-fentlich keit wurde die Volksgruppe nach wie vor totge-sch wiegen.

Gedich t Viktor Sch nitt ke, „Die Russlanddeutsch en“Gedich te Waldemar Weber,

„Gräber der Väter“, „In der Heimat der Väter“

Sprech er 1:Durch die Aufl ösung aller kulturellen Institutionen in den Herkunft sgebieten, Sondersiedlung unter Kom-mandanturaufsich t, Zerstreuung über Sibirien, Kasach s-tan und Mitt elasien sowie Studiums- und Berufsverbot wurde die Grundlage für eine eigenständige Entwick -lung der Deutsch en unwiederbringlich zerstört.

Sprech er 2:Unter den Verhältnissen der staatlich organisierten Assimilierung der Deutsch en war ihre deutsch e Mut-tersprach e jahrzehntelang ein Sorgenkind. In der Mut-tersprach e - in versch iedenen Mundartformen geläufi g - fand die versprengte und totgesch wiegene Volks-gruppe nach dem Krieg ihre eigentlich e Heimat. Ab-gekoppelt vom Mutt erland, verkümmerte die deutsch e Mutt ersprach e immer mehr, die Russifi zierung und der Sprach verlust griff en rasant um sich . Dieser Prozess kam auch in den Gedich ten russlanddeutsch er Autoren zum Ausdruck .

Gedich t Viktor Sch nitt ke, „Ich hab mich in fremde Sprach en verirrt“

Gedich t Wendelin Mangold, „Mutt ersprach e“Gedich t Robert Weber, „Mutt ersprach e“

Sprech er 1: 1939 galt noch für 88 Prozent der Russlanddeutsch en Deutsch als Mutt ersprach e, 1959 waren es 75 Prozent, 1989 nur noch 48 Prozent mit immer rasch er werden-der Abnahmetendenz. Um der endgültigen Aufl ösung und dem völligen Versch winden zu entgehen, blieb für viele nur der Weg in die historisch e Heimat, nach Deutsch land. Die fortsch reitende Russifi zierung wur-de von russlanddeutsch en Autoren immer wieder auch humoristisch dargestellt, zum Beispiel in Sch wänken oder Gedich ten als deutsch -russisch er Kauderwelsch .

Sch wank Artur Jordan,„Wiar sch wezt denn to noch Taitsch ?“

Page 10: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Sprech er 2:Die Liberalisierung in der Gorbatsch ow-Zeit nach 1985 sch uf gewisse Voraussetzungen für die Aufarbeitung der Gesch ich te der Russlanddeutsch en und ihre weite-re Rehabilitierung. Mit dem Ende der 80er Jahre wur-den Tabu-Themen wie Deportation, verleumderisch en Erlasse, Arbeitsarmee und stalinistisch e Konzentra-tionslager durch broch en. Dutzende Artikel zu dieser Thematik ersch ienen in russlanddeutsch en und russi-sch en Zeitungen.

Sprech er 1:Aber dieser Prozess wurde nie abgesch lossen – die Russlanddeutsch en bleiben nach wie vor die einzige ehemals repressierte Volksgruppe der ehemaligen So-wjetunion, die politisch nich t endgültig rehabilitiert worden ist. Die kulturelle Wiederbelebung der 80er und 90er Jahre in Form von Volkskunst prägte das na-tionale Selbstbewusstsein der Deutsch en. Und sie be-stärkte die Forderungen nach der Wiederherstellung der deutsch en Autonomie, die unerhört blieben.

Gedich t Hermann Arnhold, „Bis heute verfemt“

Sprech er 2:Vor der massenhaft en Auswanderungswelle Anfang der 90er Jahre lebten in der Sowjetunion 1989 noch 2.040.000 Deutsch e: 960.000 in Kasach stan, 840.000 in Russland, der Rest in Kirgisien, Usbekistan und der Ukraine. Um der Aufl ösung und dem völligen Ver-sch winden zu entgehen, blieb für viele nur der Weg in die historisch e Heimat. Etwa 2 Millionen Russland-deutsch e sind allein seit Anfang der 90er Jahren bis heute gekommen.

Gedich t Robert Weber, „Der letzte Auswanderer“

Sprech er 1:Mit Deutsch land im Herzen gingen die Vorfahren der Russlanddeutsch en vor fast 250 Jahren nach Russland und begannen entsch lossen, Wurzeln zu sch lagen in der fremden Umwelt. Mit der Zeit verwurzelten sie sich tief im Russenland und wurden zu Russland-Deut-sch en mit all ihren Sitt en und Bräuch en.

Sprech er 2:Die Nach kommen dieser deutsch en Auswanderer kom-men seit über fünf Jahrzehnten in die frühere Heimat ihrer Vorfahren zurück . Sie such en für sich , ihre Kinder und Enkel ein Heim und eine Heimat, wo sie sich end-lich wohl fühlen können. Etwa 2,5 russlanddeutsch e Heimkehrer, Aussiedler und Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion – so die politisch en Etikett en – leben heute in Deutsch land. Viele mit Russland im Herzen und Deutsch land im Sinn.

Gedich t von Pastorin Irmgard Stoldt, „Wer bin ich ?“

Sprech er 1: Die Such e nach Heimat und Beheimatung bleibt nach

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

10

wie vor der Mitt elpunkt des russlanddeutsch en Selbst-verständnisses, ganz im Sinne des „Volkes auf dem Weg“. Angesich ts der vielen gezwungenen und frei-willigen Migrationen innerhalb der 240-jährigen Ge-sch ich te der Russlanddeutsch en ist es nach wie vor ein sch merzvoller Prozess mit vielen Brüch en. Diese Befi ndlich keiten und das Leben zwisch en zwei Welten mit Erwartungen und Entt äusch ungen, aber auch Hoff -nungen und Heimatfi ndung besch reiben viele russ-landdeutsch e Autoren in ihren Gedich ten.

Gedich t Robert Weber, „Sch were Gedenkenfolge“Gedich t Johann Warkentin,

„Wie lange noch heimatlos?“Gedich t Lilia Koop, „Das Zwisch engedich t“

Sprech er 2:Heute sind die Deutsch en aus Russland zwar wieder manch mal heimatlos, aber nich t hoff nungslos. Sie hof-fen in ihrem neuen Zuhause glück lich sein zu können. Als ihre Vorfahren nach Russland gingen, trugen sie in ihrem Herzen die Hoff nung, irgendwann zurück keh-ren zu können. Es war ein weiter Weg zurück .

Gedich t Viktor Heinz, „Der Alte“

Sprech er 1:Für viele konnte dieser Traum nie in Erfüllung gehen. Und bei denen, die durch die Hölle gegangen sind, am Leben geblieben und heute unter uns sind, bleibt die Wunde noch immer off en, die sch reck lich en Erinne-rungen lassen nich t los. Unter uns befi nden sich eini-ge Zeitzeugen, die diese sch reck lich en Jahre erlebt und überlebt haben. Die möch ten wir heute ehren. (Blumen und Erinnerungsgesch enke für die ehemaligen Trudarmis-ten.)

Sprech er 2:Die Nostalgie, die viele Russlanddeutsch e bei dem Ge-danken an die zurück gelassenen Dörfer und Städte er-fasst, in denen sie geboren sind, an die sch önen Jahre der Kindheit und Jungend, gibt viel Spielraum für Mu-sik und Poesie. „Drei weiße Birken in meiner Heimat stehen…“. Wo stehen denn die drei weißen Birken? An der Wolga, in Kasach stan, in Sibirien oder in Bayern, im Sauerland oder irgendwo noch in Deutsch land?

Lied „Drei weiße Birken in meiner Heimat stehen…“

Sprech er 1:Erinnerung heißt, sich mit der eigenen Gesch ich te und der der neuen-alten Heimat auseinander zu setzen. Dieser Prozess tut nich t nur den Russlanddeutsch en, sondern auch der deutsch en Gesellsch aft gut. Die Ge-sch ich te der Russlanddeutsch en in der Sowjetunion – auch wenn sie wenig direkte Berührungspunkte mit der Gesch ich te Deutsch lands hatt e, auch wenn sie sich in ständiger Wech selwirkung befand, ist dennoch ein bisher verborgen gebliebener Teil der gesamtdeutsch en Gesch ich te.

Page 11: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Sprech er 2:Erinnern für die Zukunft – lautet das Mott o der heu-tigen Veranstaltung. Für die Deutsch en aus Russland bedeutet das auch Anerkennung und Akzeptanz im Land ihrer Vorfahren. Das setzt das Wissen über ihre wech selvolle, nich t selten tragisch e und opferreich e Gesch ich te voraus. Die meisten Deutsch en aus der ehe-maligen Sowjetunion haben hier ihre Heimat gefun-den und leisten in allen Lebensbereich en ihren Beitrag zum Wohle der deutsch en Gesellsch aft . Wir singen das „Deutsch landlied“

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

11

Deutsch landlied

Sprech er 1:Wir hoff en, dieser Abend hat dazu beigetragen, die dunkelsten Seiten der russlanddeutsch en Gesch ich te zu durch leuch ten. Wir bedanken uns bei allen für das zahlreich e Kommen und sch ließen den Abend mit ei-ner kleinen Musikpräsentation klassisch er Werke ab.

Musikpräsentation klassisch er Werke

Page 12: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

12

Wir Deutsch en aus Russlandbeklagen heute an diesem gedenkwürdigen Tag un-sere Toten, Hundertt ausende Brüder und Sch western, die unter der Willkürherrsch aft in Russland und der Sowjetunion leiden und sterben mussten. Wir bekla-gen all die, deren Geduld grenzenlos und deren Lei-den unermesslich war.

Wir gedenken derer,die einst auf dem besch werlich en Wege nach Russ-land, bei Plünderungen und Überfällen der Noma-denvölker an der Wolga, im Sch warzmeergebiet und im Kaukasus oder in der fremden Gefangensch aft vor über zwei Jahrhunderten ihr Leben lassen mussten.

Wir gedenken derer, die dem Zarenregime oder bei deutsch en Pogromen Anfang des 20. Jahrhundert zum Opfer fi elen.

Wir denken an die, die während des Roten Terrors der bolsch ewistisch en Revolution in Russland und im nach folgenden Bürger-krieg auf sch ändlich ste Weise umkommen mussten. Wir denken an die,die im Jahre 1929 bei Beginn der Kollektivierung in die Wälder des Nordens versch ick t wurden und dort durch Hunger und Kälte elend zugrunde gehen muss-ten.

Wir gedenken derer,die in den Jahren 1921, 1933 und 1947 zu Zehntausen-den dem Hunger zum Opfer fi elen.

Wir trauern um die Tausenden, die in den Terrorjahren 1937-38 unter Stalins Blutherr-sch aft verhaft et und in Gefängnissen und Lagern er-sch ossen wurden.

Wir denken an die, die in den Lagern des hohen Nordens, in den Berg-werken des Urals und Sibiriens, in den geheimnisum-witt erten Wäldern der Taiga, in den ausgebrannten Sandwüsten Mitt elasiens einen qualvollen Hunger- und Sch wäch etod starben.

Wir denken an die,die um ihres Glaubens willen als Märtyrer sterben mussten, an die katholisch en und evangelisch en Geist-lich en, an die Kirch enältesten, an die glaubenstreuen Männer und Frauen, die als Blutzeugen ihr Leben las-sen mussten.

Wir trauern um die,die 1941, bei der Versch leppung nach Sibirien, unter-wegs bei Bombenangriff en ums Leben kamen.

Wir denken an die,die bei Beginn und während des Zweiten Weltkriegs als Geiseln nur wegen ihrer deutsch en Volkszugehö-rigkeit ersch ossen wurden.

Wir denken an die Zehntausenden,die in den Arbeitslagern der „Trudarmij a“ verhun-gerten oder in brutaler Weise vernich tet wurden - nie konnten sie wieder zu Frau und Kindern zurück keh-ren.

Wir gedenken der deutsch en Frauen,die während des Zweiten Weltkrieges, von ihren Män-nern getrennt, sich für ihre Kinder aufopferten, Skla-venarbeit leisten mussten und von tyrannisch en Auf-sehern gesch lagen und misshandelt wurden, bis sie der Tod von ihrem Elend erlöste.

Wir trauern um die,die auf dem Fluch tweg vom Warthegau nach Westen ersch ossen oder von Panzern überfahren wurden.

Wir trauern um die,die 1945 auf dem Weg von Deutsch land in die Wälder des Nordens und nach Sibirien ihren Tod fanden.

Wir gedenken all derer,die den Zeitpunkt der Wahrheit und der Gerech tigkeit gegenüber der Russlanddeutsch en und des Wieder-sehens mit der Urheimat ihrer Vorfahren nich t erlebt haben.

(Text in großen Teilen nach dem Wortlaut von Frau Pasto-rin Irmgard Stoldt bei der Kranzniederlegung in Friedland am Ostermontag 1991.)

Szenario: Texte, Lieder, Gedichte

Totenehrung - Unseren Toten zur Ehre

Page 13: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

13

„Großer Gott,wir loben dich!“

Text: Ignaz Franz (1719-1790),Musik: Peter Ritter (1770-1847)

Großer Gott , wir loben dich ,Herr, wir preisen deine Stärke,Vor dir beugt die Erde sich Und bewundert deine Werke.Wie du warst vor aller Zeit,So bleibst du in Ewigkeit.

Alles, was dich preisen kann,Cherubim und Seraphinen,Stimmen dir ein Loblied an;Alle Engel, die dir dienen,Rufen dir in sel‘ger Ruh‘:Heilig, heilig, heilig! zu.

Alle Tage wollen wirDich und deinen Namen preisenUnd zu allen Zeiten dirEhre, Lob und Dank erweisen.Rett aus Sünden, rett aus Tod,Sei uns gnädig Herre Gott .

Herr, erbarm, erbarme dich !Auf uns komme, Herr, dein Segen!Deine Güte zeige sich Allen der Verheißung wegen.Auf dich hoff en wir allein;Lass uns nich t verloren sein!

Szenario: Texte, Lieder, Gedichte

Page 14: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

14

Lieder nach der Melodie des bekannten „Moorsoldaten“-Liedes,das von Ernst Busch gesungen wurde:

Alexander Jost

WaldsoldatenHier im trüben Nadelwaldeist der Iwdellag gebaut,Wo wir fern von unsrer HeimatHinter Stach eldraht verstaut.Wir sind die Trudarmisten.Bewach t von RotarmistenIm Wald.

Morgens ziehen wir die Sch litt en,In den Wald zur Arbeit hin.Laden sie mit dick en Stämmen,Doch zur Heimat steht der Sinn.Wir sind die Waldsoldaten,Die Stämme aufgeladenIm Wald.

Viele sind im Wald gestorben,Wo sie ruhen ohne Grab.Ihre Frauen voller SorgenWarten auf den Siegestag.Es waren Waldsoldaten,Die nich t einmal begrabenIm Wald.

Unbekannter Autor

ArbeitssoldatenWohin auch das Auge blick et,Wald und Himmel nur ringsum.Vogelsang uns nich t erquick et,Tannen rings versch neit und stumm.

Refrain:Wir sind die Arbeitssoldaten und sch aff enmit Säg‘ und Spaten im Wald.

Hier in dieser öden Heideist das Lager aufgebaut,wo wir fern von jeder Freudehinter Stach eldraht verstaut.

Refrain:

Morgens ziehen die Kolonnenin den Wald zur Arbeit hin,sägen wir bei Frost und Winterdoch zur Heimat steht der Sinn.

Refrain:

Auf und nieder geh‘n die Posten,keiner, keiner kann hindurch .Fluch t wird nur das Leben kosten,vielfach ist umzäunt die Burch !

Refrain:

Nach der Heimat jeder sehnt sich ,zu den Eltern, Weib und Kind.Manch e Brust ein Seufzer dehnet,weil wir hier gefangen sind.

Refrain:

Doch für uns gibt es kein Klagen,ewig kann nich t Winter sein.Einmal werden froh wir sagen:Heimat, du bist wieder mein.

Refrain:Dann sagen die Arbeitssoldaten:Weg mit Säg‘ und Spaten nach Haus!

Szenario: Texte, Lieder, Gedichte

Page 15: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Wir gehen alle Morgen wiederunseren Weg zur Arbeit hin.Dieselben Bilder immer wieder,denselben Weg wir immer zieh‘n.Nur langsam ziehen die Kolonnen,unsere Sch ritt e, die sind sch wer.Die Wach e sch reit, die Hunde bellen,nur still die Tannen um uns her.Zwei Stunden Weg zur Arbeitsstelle,zwölf Stunden währt der Arbeitstag.Zwei Stunden dann zurück zur Hölle,die man da nannte den GULag.Die Arbeitsstelle war der Urwald,wo wir Bäume fällen mussten.Der Winter so unbarmherzig kalt -sch reck lich wir noch hungern mussten.Sch wer die Arbeit, Stech mück en plagten,hungern war unser Tagestun.Doch niemals darfst du dich beklagen,und niemals darfst du etwas ruh‘n.Im Winter nur zersch lissene Kleider,kein Trudarmist Filzstiefel hat;und unter Null, das Thermometer,zeigt immer wieder vierzig Grad.Nun monoton die Säge singetihr alltäglich es Klagelied;die Kälte bis zum Herzen dringet -durch Beine und durch jedes Glied.Und nach der Arbeit wir marsch ieren,hin zu dem verruch ten Lager. Doch manch er muss den andren führen,weil er ohne Kraft und mager.Holz mussten wir ins Lager tragen,wenn man uns ins Lager führte -und wer sein Holz nich t konnte tragenzum Lohn den Flintensch aft verspürte.Wir bekamen ein wenig Brüheund noch ein kleines Stück ch en Brot.Das war der Lohn für unsre Mühe,viele starben den Hungertod.Und in der Nach t auf harten Liegenquälen uns die Wanzen sehr.Unsere Kleider, voller Läuse,bringen uns noch Seuch en her.Nur einen Tag in zwei Monaten,der uns zur Ruhe dienen soll;wir müssen Toilett en säubern,die Vorbestraft e mach ten voll.Den Kot, den mussten wir mit Tragennun tragen in den nahen Wald.Niemand entgehet diesen Plagen -ja, niemand ist dafür zu alt.

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

15

Reinhold Deines

Ballade von der Trudarmee„Zu Haus“ die Kinder und Verwandten -hungernd und weinend warten sieauf ein ersehntes Wiedersehen,doch nur vergeblich hoff en sie.Denn der Vater und auch die Mutt erwurden zu Tode hier gequält.Die meisten starben noch vor Hunger,man hat die Toten nie gezählt.Um Mitt ernach t ist der Appell,da werden alle wir gezählt.Es wird immer wieder festgestellt,dass irgendjemand wieder fehlt.In zersch lissenen Kleider stehen wir dabei Frost von vierzig Grad.Zott eln gewunden um die Füße -Filzstiefel trägt nur der Soldat.Ja, heute fehlt der alte Peter,niemand weiß, wann er versch wunden;und als man nach ihm such te später,wurde tot er aufgefunden.Gestorben unter seiner Pritsch e,ein‘ toten Raben in der Hand,dazu der Hunger ihn getriebenin seinem „freien Sowjetland“!Einst als gepriesener Sch auspielerpries er Stalin und die Partei;dass ihn der Hunger drück te nieder,ist den Kremlbossen einerlei.Auf den Raswod treibt man uns an,in Herrgott sfrüh‘, um halb sech s Uhr.Es spielt ein gebrech lich -alter Mann:„Strana wstajot so slawoju.“Auch der Musikus ist gestorben,vor dem Tore, bei dem Raswod;und es spielte am näch sten Morgenein and‘rer, wartend auf den Tod.Und so zogen nun alle MorgenLeich ensch litt en an uns vorbei.„Es hol der Teufel alle Deutsch en!“,triumphierte die Komm-Partei.

Epilog

Vier lange Jahre waren wirhinter Stach eldraht versperrt.Von uns zwei Viertel wurden hierin die Erde eingesch arrt.

Ohne Sch uld und ohne Gerich t,nur deshalb, weil wir Deutsch e sind,wurden für immer wir versch ick t...Versch ont blieb auch kein Säugekind...

Page 16: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

16

Szenario: Texte, Lieder, Gedichte

Page 17: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

17

Der Fronarmisten sieben PlagenSieben unerhörte Sklavenplagenwaren Fronarmisten auferlegt,und sie mussten duldend sie ertragen,wie ein Lastt ier seine Lasten trägt.

Erste Plage waren die Sch ikanenin den Lagern hinter Stach eldraht,die die Bosse täglich neu ersannen -und die sch euten keine Missetat.

Eine zweite, eine sch limme Plage:täglich zwölf bis vierzehn Stunden langKnoch enarbeit, selten Ruhetage,bis sie ihre letzte Kraft versch lang.

Dazu kam der Marterplage dritt e,mit der zweiten engstens im Verein:Hunger - unter welch em alle litt en -,dieser war, weiß Gott , die sch limmste Pein.

Vierte Plage waren tags die Sch naken,nach ts der roten Wanzen stinkig Heer,die nich t unterließen, sie zu zwack en, und - es gab dagegen kerne Wehr.

Mit dem Winter kam die fünft e Plage: Dauerfröste, messersch arf und hart,für den Hungrigen nich t zu ertragen,und so manch er ist im Sch nee erstarrt.

Sech stens war die Last der Herzenssorgenum die Näch sten: Eltern, Frau und Kind.Ob sie satt sind, ob sie wohl geborgen?Manch er wusste nich t mal, wo sie sind.

Und die siebte Plage war das Wartenauf das Ende aller Wartezeit,auf die Stunde, die von allen hartenunerhörten Plagen sie befreit.

Das Vaterunserder deutschen FronarmistenVater unser,bist du noch im Himmel?So höre, wie dein Nameals Fluch missbrauch t,dein Wille verhöhnt wirdin Stalins Hölle auf Erden. Der Tyrann und seine Satrapenhaben die Mach tüber Leben und Tod;sie entziehen uns das täglich e Brotund lassen uns Hungers verreck en.Doch führe uns nich t in Versuch ung,die Stiefel unsrer Peiniger zu leck en.Verleih uns die Kraft zum Überleben.Die Sch uld, dass wir Deutsch e sind,brauch en unsere Besch uldigeruns nich t vergeben.Wir aber vergeben ihnen ihr Hassen,denn sie wissen nich t, was sie tun.

Bettelkind in Sibirien, 1942Es trippelt und stolpert bei Sch nee und bei Windauf sibirisch en Wegen ein deutsch es Kind.Die Eltern, die nahm man ihm weg mit Gewalt,und Oma liegt krank, und der Ofen ist kalt. Drei Tage kein Brot mehr im ganzen Haus -da trieb es der Hunger zum Bett eln hinaus.Fremd ist ihm die Sprach e im weltfremden Ort,es kennt nur ein einziges russisch es Wort:

Statt „Brot“ sagt‘s jetzt „Chleb“, und sein Händch en streck t‘s vor,steht frierend vergebens vor manch fremdem Tor.Man stößt es und jagt es mit Drohungen fort:„Versch winde, Verfl uch ter, zieh weg aus dem Ort!“

Szenario: Texte, Lieder, Gedichte

Gedichte von Reinhold Frank

Page 18: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Ihm sch windelt vor Hunger, die Kraft geht ihm aus,der Abendwind sch iebt es zum Dorfe hinaus.Die Nach t ist so dunkel und frostig der Wind,sibirisch e Straßen gefahrenreich sind.

Der Sturm rast vorüber. Die Wolken ziehn ab.Am Wegrand erstarrt liegt ein Kind ohne Grab,sein fl ehendes Händch en zum Himmel gereck t,von sch neeweißem Leich entuch gnädig bedeck t.

Unsere OpferTausende unserer Sch western,Tausende unserer Brüdertrieb man in der Hölle Tor –und es sch luck te siemit gierigem Rach en…Stramme Wäch ter standen davor,sie zu bewach en.

Brach blieben liegen die Felder,die sie einst bestellt.Sch rie auch nach BrotSch on die halbe Welt.Während die gestrigen BauernBeim Roden von WäldernIn Massen fanden den Tod.Wie viele Mütt er,wie viele Vätersind nich t zurück gekommen?Wie viele KinderBlieben als Waisen zurück ?Doch nich t einer ihrer Peinigerist wegen Mordenweder zur Rede gestelltnoch verurteilt worden.Was wir erlitt en, das blieb unermessen…Doch blieb die Erinnerung, es bleibt unvergessen.

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

18

Page 19: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

19

Erna HummelAn meine Muttersprache

Durch dich verlor ich einst mein Vaterhaus.Erniedrigt musst’ ich in die Welt hinaus...Doch deiner Lieder traute Melodienließ leise ich in meine Seele ziehen.

Als deinetwegen ich im Sterben lag,warst du es doch , die neue Kraft mir gab.Und wenn man deinetwegen mich verhöhnt,hab ich mit meiner Liebe dich gekrönt.

Und als der Tod durch Mensch enreihen sch lich und Grab um Grab sich öff nete für dich , hat nie mein Mund an dir Verrat geübt,du bliebst mir nah, ich habe dich geliebt.

Wo man veräch tlich dreimal dich verfl uch t, hab’ ich dein Wort, dein zärtlich Wort gesuch t.Und wenn kein Freund mehr klopft e an der Tür,warst du mein Trost – ich fl üch tete zu dir.

Im tiefsten Elend und im größten Sch merzgehörte dir mein sch uldlos sch uldig‘ Herz.Ein Tränenmeer hat meinen Blick getrübt,wenn Freveltaten man an dir geübt.

Auch hier warst du und sagtest: „Weine nich t!Die Wahrheit siegt, wirft über mich ihr Lich t.Still deine Tränen, denn der Tag ist nah, wo du erfährst, wie unrech t mir gesch ah!“

Ich glaubte dir, ich jubelte dir zuund fand durch dich auch die ersehnte Ruh.Aus deinen Quellen sch öpft e ich den Saft , der mich gesund und glaubensfroh gemach t.

Wenn ich im Staub auch deinetwegen Lag,bliebst du die Kraft , die neue Hoff nung gab.Wenn ich auch tausendmal durch dich verlor:Ein „Hoch !“ dem Glück , das ich durch dich erkor!

Szenario: Texte, Lieder, Gedichte

Page 20: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

20

Waldemar Herdt Mein Mutterlaut

Ich wurde sch uldlos der Jugend beraubt,von heimisch er Sch olle vertrieben.Nur du warst mir, heiliger Mutt erlaut,ein Trost in der Fremde geblieben.

Mit dir sch ritt ich barfuß und hungrig im Walddurch eisige Sümpfe und Pfützen.Verlor ich im Unglück den letzten Halt,warst du meine einzige Stütze.

Ich wurde für dich hinter Stach eldrahtvon Läusen und Wanzen gebissen.Du warst in Verzweifl ung mein einziger Staatauf hartem verkrustetem Kissen.

Nur dir könnt‘ ich heimlich in sch lafl oser Nach tans Herz meinen Kummer legen,denn anderswo ward ich verhöhnt und verlach t.Du weißt ja, warum und weswegen.

Für dich wurde Hoff mann lebendig durch spießt.Für dich will ich streiten und sterben.Wenn sich über mir der Sargdeck el sch ließt,dann sollen die Enkel dich erben.

Szenario: Texte, Lieder, Gedichte

Page 21: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

21

Gedichtevon Viktor Schnittke

Die RusslanddeutschenPfl üge ziehen über die Gräber.Die Toten liegen tiefer.Die Gemeinde von einst – vertrieben.Die Vorväter bleiben da.... Ihre Dörfer sch webenim Nebel der Vergangenheit.Ihre Herden weidenunter dem Horizont.Die Glock en ihrer Kirch enliegen in der Erde.Was hält den verstreutenVolksstamm zusammen?Das Bewusstsein eines vor Jahrhundertenbegangenen Irrtums?Die Träume der Väter?

***

Wie sich mein Weg auch wand,wohin mich prophetisch e Ruferimmer auch lock ten, ich fandzurück zum heimisch en Ufer.Augen versch ütt et mit Sand –Ohren betäubt mit Parolen –Gefoltert der Mensch enverstand –Heimat und Sprach e gestohlen –Das Haus meiner Väter verbrannt –Im Herzen Verzich t und Verwesung –Doch führt mich die rett ende Handdes Heimwehs zurück zur Genesung.

***

Ich hab mich in fremde Sprach en verirrt,zu fremden Stämmen gesellt.Mit vierundzwanzig steh ich verwirrtin einer fremden Welt.Der Heimweg wird wohl ein weiter sein.Ich fürch te, ich sch aff es nich t.Als Wegweiser da – ein besch riebener Stein,dort – ein erlosch enes Lich t.

Szenario: Texte, Lieder, Gedichte

Page 22: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

22

Gedichtevon Waldemar Weber

Gräber der Väter Eine ganze Generationaufgewach sen ohne Gräber der VäterEin anderes Lebensgefühlsch webendes EntwurzeltseinTrauernbeim Anblick der Wolkendie zu den Toten fl iegen

In der Heimat der VäterAstrach ansteppe.Gott eshäusermit ausgehack ten Augen.Nich ts gebliebenvom Kirch spiel,kein Haus, kein Baum, kein Grab.Statt des Dorfes,das Straßburg hieß -nur Disteln und Federgras.Luthers Kirch en in asiatisch er Weite,einsame Riesen, verirrt, verdurstetauf dem Wege zu einemnur ihnen bekanntem Ziel.Wie von Kerzen,von ihren Wändentropft die Vergangenheitin den Sand.

***

VIEL zusammen gesch wiegenViel Sch weigen zusammengespartFür Kinder reich t es und KindeskinderWohin damitWie es in Stille verwandelndie von allen zu hören ist

Szenario: Texte, Lieder, Gedichte

Page 23: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

23

MutterspracheWendelin Mangold

Wenn man stets daran erinnert wirdPer Dekret und durch Verbot undZensur und eigene Angstprozedur,Weiß man wenigstens, dass es sie gibtUnd ist in sie vernarrt und verliebt.

Robert Weber

Du, eine leidgeprüft e Kellerpfl anze,wie lang bist du ohne Lich t verblieben?Faul sch immerndie bleich süch tig-dünnen Triebe.Es riech t nach Asselnund nach Wasserwanzen.Zerfressen ist die Kraft der Wurzelwörter.Die Mundart siech t unrein und fruch tloskrumm...O komm doch endlich ,kluger Frühlingsgärtner!Pfl anz meine Mutt ersprach ein die Sonne um!

Szenario: Texte, Lieder, Gedichte

Page 24: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Wie bekannt, hat uns die Wirklich keit des Le-bens in Großstädten und Kleinstädten sowie in Klein- und Großdörfern verstreut. Manch -

mal haben wir gar keine Zeit zum Treff en, umso mehr zu einer guten Unterhaltung. Dann treff en sich die Leute im Hotel „Olympia-Reisen“, im Flugzeug nach Hannover oder Frankfurt oder im Zug, der nach Berlin eilt…Aber wie sch ön ist es doch auf dem Lande, wo noch so e pißje Taitsch gesch wätzt wjard! So fein und saft ig! Krumm un sch ep kamr sich to manch mol lach e... So sch limm sin tie Sach e... Stellen sie sich mal so ein Gespräch vor: „Mai trei Pridurke to dr Haam, tie wole ushe kaa Sme-tane, tie isne so sch irne, Maslo is ne ja aach sch irne, tie Sliwki sin so wredne... Dr Speck is dlja Serdza slisch -kom wredne! Ach die Klaa mach t mr sch on Majage! Des korotskoje Moloko is wkusneje. Vom domasch ni Syr treje se tie Nas, wie unsr Polkan von dr gorjatsch e Kasch a... Wie mr to noch waidr lewe so? To sol mir toch wol tie Khosjaistwo polnostju vom Dwor prodawaje un jedr Nedelja in dr Stadt tie Produkte pokupaje. Awr wjar kan tes resch aje, wjard tes desch ewle oder doroshe?... Mr muß sich jo viel gorbatize, awr mit seinr Skotina uwm Hoof wer‘s toch spokoineje! Gwis - to muss mr dr Mornt rano un dr Oownt w Tem-note ales fi tre un treng.e, muß mr ales tsch istide. Awr wsjesch taki: tie Kuh im Sarai - to hot mr imr sai Smeta-na, Pudr, Sliwki, sweshi Moloko. Von tjare Swinja hoste swoje Mjaso, Salo, mr kan sich ch udo-bedno ‚n Wedro odr zwai Fet rastopljaje. Tie

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

24

Gusi bestruch ate konesch no dr zeli Dwor. tene iir Mja-so sch meck t wsjesch taki lutsch e wie tie amerikaniske Okorotsch ka, to pin ich mr uwerena.Duratsch kow net. Tie Perja wil sch on kaan, awr ten Puch wole al - jez sin toch al so vrikt wore mit iire Reli-gij a un dr Zerkowj, un to kamr zu dem Roshdestwo so 4 -5 Gusi prodawaje! Un jez noch samoje glawnoje is, tas tie mol wdruk zwaa Roshdestvo prasdnuje am dwad-zatj pjatoe Dekabrja un am sedjmoje Janwarja. Kak ni smesch no, awr to kamr toch e pißje Kelt sarabatiwaje! Na un konesch no, wsjesch taki oone Skotina is ‚s aach ufm Dwor tsch isch e, im Haus is‘s oone Sapach i. Mr prauch aach utrom rano net wskakiwaie un dr Owent kamr tsch as lenger am Telewisor size.“Ja, meine lieben Freunde, ich sehe, Sie haben mich gut verstanden! Sie haben so gut gelach t! Ich will ja nich t spott en, aber sprech en Sie wohl nich t auch so!? Viel-leich t hätt e man da nich t lach en sollen, vielleich t sollte man weinen? Unsere Sprach e… Sie wurde verboten, sie wurde ver-folgt, sie wurde gehasst, sie wurde besch impft und be-lach t - viel Bitt eres musste sie erleben. Und wollen wir doch ehrlich sein: Sind wir nich t selbst sch uld daran, dass unsere Jugend, unsere Kinder und Enkel heute nich t deutsch sprech en!? Sie haben keine deutsch en Lieder und Tänze, sie können kaum lesen. Man hat im Haus kein deutsch es Buch und keine deutsch e Zei-tung... Sind wir nich t selbst sch uld daran!? Wir können und sollen für unsere Sprach e und Kultur kämpfen, morgen kann es vielleich t zu spät sein!

Artur Iordan, Omsk (1995)

Wiar schwezt denn to noch Taitsch?(Schwank)

Szenario: Texte, Lieder, Gedichte

Page 25: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

25

Hermann Arnhold Bis heute verfemt

Sie wurden verfolgt und verach tet.Sie wurden verdammt und geach tet.Sie haben in Lagern gesch mach tetund wurden als Deutsch e entrech tet...

Entt äusch ung, Entfremdung, Ermüdung.Wie lange, wie lange noch warten?Was ist den Verfemten geblieben?Statt Sonne - nur düstere Sch att en.

Die niedrigen Wolken am Himmelverhüllen den Ort der Erhöhung.Die Tage der Hoff nung verklingen:Bedrängte in stummer Empörung...

Herrsch t heute wie früher die Lüge,die aus ist auf Streit und Verfeindung?Wer stampft die Gerech tigkeit nieder?Die Willkür? Der Hass? Die Verleumdung?

Wie lang noch in Finsternis wandeln?Wie lange den Kummer noch tragen?Mein Volk wird bis heute misshandelt.Wann kommen die Deutsch en zu Gnaden?

Szenario: Texte, Lieder, Gedichte

Page 26: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

26

Gedichte von Robert Weber

Der letzte AuswandererStill ist das Dorf.Bald hier, bald dort -eine Beere blitztin den Sträuch ern.Eine einsame Krähe sitztauf einer versch neiten Vogelsch euch e.Sie hat keine Angstvor dem alten Mann(er hock t stillauf der leeren Bankvor dem Haus),weil er nich ts mehr kann,weil er nich ts mehr will,weil er weiß:Sein Dorfwandert aus...

Schwere GedankenfolgeVor drei Jahrhunderten hatt e ich in Deutsch landein Urgroßvater- und Urgroßmutt erland,wo deutsch gesproch en wurde.Vor einem halben Jahrhunderthatt e ich an der WolgaGroßvater- und Großmutt erland,wo deutsch zu sprech en verboten wurde.Während des allersch reck lich sten Kriegeshatt e ich im rück wärtigen Sibirienein Ohne-Vater-und-Mutt erland,wo deutsch zu sprech en lebensgefährlich war.Nun habe ich vor mirsolch ein riesengroßes Land,dass ich es „mein Land“nur mit größter Mühe nennen kann,um so mehr, da hierdeutsch zu sprech en befremdlich ist...Werde ich irgendwannein eigenes Stück ch en Heimaterde haben,wo deutsch fröhlich gesproch en wird?

Der letzte Auswanderer

Still ist das Dorf.Bald hier, bald dort -eine Beere blitztin den Sträuch ern.Eine einsame Krähe sitztauf einer versch neiten Vogelsch euch e.Sie hat keine Angstvor dem alten Mann(er hock t stillauf der leeren Bankvor dem Haus),weil er nich ts mehr kann,weil er nich ts mehr will,weil er weiß:Sein Dorfwandert aus...

Szenario: Texte, Lieder, Gedichte

Page 27: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

27

Irmgard Stoldt Wer bin ich?“

Wer bin ich ?Russlanddeutsch er? Volksdeutsch er? Wolgadeutsch er?Sowjetdeutsch er? Deutsch stämmiger Sowjetbürger?Deutsch russe auch ?Was noch ? Was denn noch ? Doch , doch , ja noch .Ausgewiesen, eingewiesen, integriert und assimiliert.Hier Aussiedler, dort Umsiedler,Emigrant und Immigrant, Auswanderer und Einwanderer.Russisch er Bürger deutsch er Zunge.Vertriebener Flüch tling, versch leppter Häft ling noch dazu.Aus dem Gewahrsam fremden Staates Sch ließlich freigegeben.Was will man denn noch von mir?Was mach t man hier mit mir?Was sollen denn diese Etikett en festhalten und bestimmen?Merkmale sind das, die mein Sch ick sal zeich nenUnd festnageln für immer.Entsch eidungen hoher Politik sind das,Maßnahmen von Behörden.Was soll diese Distanz bewirken?Warum nimmt man mich nich t so, wie ich bin?Heimkehrer bin ich doch .Ein Deutsch er, weiter nich ts.Ein Deutsch er, der den ganzen Hass,Die Rach e gegen Deutsch land stellvertretendFühlen, tragen und erdulden musste.Fast verhungert, dem Tod entronnen sind meine Eltern,Besch impft , zurück gesetzt in Sch ule und Beruf,Riss ich mich los…Die ganze Jugend, die ihre Ängste überwand,Sie drängt zurück zur alten Heimat… koste es,was es wolle.Nur wenigen ist es gelungen, an ihr Ziel zu kommen.Und nun bin ich da.Und danke, danke, danke. ..Vieltausendmal.Wer bin ich jetzt?Kein fremder Gastarbeiter,Der irgendwann zurück gehen will,Sondern euer Landsmann,Der endlich nun daheim istUnd in Kirch enbüch ern die Namenseiner Ahnen such t,die einst des Vaterlandes NotGezwungen auszuwandern. ..Wer bin ich ?Volksdeutsch er? Wolgadeutsch er? Russlanddeutsch er?Sch warzmeerdeutsch er?Hier stehe ich , ich kann nich t anders.So bin ich , wie ich bin, nehmt mich , wie ich binIch bin ein Deutsch er…

(VadW 6/1976)

Szenario: Texte, Lieder, Gedichte

Page 28: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

28

Johann Warkentin

Wie lange noch heimatlos?Was jetzt gesch ieht, das ist für viele TausendWie‘n Tunnelgang bei ungewissem Lich t,für manch e - wie ein Urteil im Gerich t,zu hart und ohne die Bewährungsklausel.

Wir kommen an, den Kopf noch voller Flausen.(Selbst wer sch on gut Besch eid weiß, glaubt es nich t!)Dann prallt der Traum vom endlich en Zuhausehart auf die nack ten Fakten und zerbrich t.

Fakt ist: Die sich der Heimatliebe sch ämen,verwehren uns das Rech t zu lieben hämisch -Herkunft und Sch ick sal zählen da nich t groß.

Einst zogen wir nach Russland als die „Stummen“,-heut können wir nur stammeln, kläglich mummeln -wie lange bleiben wir noch heimatlos?

Szenario: Texte, Lieder, Gedichte

Page 29: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

29

Lilia Koop

Das ZwischengedichtZwisch en zwei WegenIst die Welt so kümmerlich ,So unerträglich eng,So streng…

Zwisch en zwei GrenzenLiegt die Sch welle,Und beiderseits ertrinkst duIn den Vorwurfswellen.

Zwisch en zwei Welten,Da gibt es keine Helden:Wo du auch stehst in deiner Sch wermut,Da blüht der Wermut.

Über zwei ÖdenDer Himmel sch webt in grauerOhnmach t.Er gibt keine Antwort auf die Frage:was nun?Leben?Brennen?Verblöden?Zwisch en zwei Wegen,Zwisch en zwei Grenzen.Zwisch en zwei Öden.

Szenario: Texte, Lieder, Gedichte

Page 30: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

30

Viktor Heinz

Der AlteSein Blick fl ack ert über den Rhein,aber er hört das Plätsch ern der Wolga,des Obs und der Kolyma.Bereits in der Wiege hatt e er angezogendie Sch aft stiefel,denn der Marsch ,der sich abgezeich net hatt e am Himmel,war weit und anstrengend.

Eingefressenhat sich in seine Hautder Feldstaub von Saratow,der Kohlenstaub von Karagandader radioaktive Staub von Semipalatinsk.

Eingesch nitt enhat sich in sein Gesich tdie Peitsch e des Aufsehers in Norilskund die Faust des Untersuch ungsrich tersin Magadan.

Irgendwo in der sibirisch en Taigafi ndet mal jemandden Abdruck seiner sch wieligen Fingeran einer Bogensäge.Irgendwo in einer Einzelzelle in Irkutskist sein Kalender in die Betonwand eingeritzt.Irgendwo im hohen Nordenist sein lautloser Sch reiin der frostigen Luft zu Eis erstarrt.

Er steht am Ufer des Rheinsund hat die Sch aft stiefel an,die man ihm einstin die Wiege gelegt hatt e.

Er will sie mitnehmenins Grab.Aber sein Marsch ist noch nich tbeendet.

Szenario: Texte, Lieder, Gedichte

Page 31: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

31

Drei weiße Birken(Melodie volkstümlich )

Refrain:Drei weiße BirkenIn meiner Heimat stehn.Drei weiße Birken Die möch te ich wiedersehn.

Denn dort, so weit von hier In der grünen, grünen HeideDa war ich glück lich mit dir,Und das vergess ich nie.

Refrain:

Ein Absch ied muss nich t für immer sein.Ich träume noch vom Glück .Es grünen die Birken im Sonnensch ein,Und sagen, du kommst zurück .

Refrain:

Szenario: Texte, Lieder, Gedichte

Page 32: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

1. Helenendorf im Kaukasus -jahrzehntelang war’s nur ein Gruß,der aus der Ferne zu mir kam,in Fantasie Gestalt annahm.Doch unverhofft kam dann der Tag,von dem ich jetzt berich ten mag.

2. Ein nett er Mensch , der lud uns ein,zu nehmen selbst in Augensch ein,wo einst der Väter Wiege standund was geworden aus dem Land,aus diesem sch önen Paradies,aus dem man uns brutal verstieß

3. Benommen steht ich vor der Lastdes Bergmassivs im Sonnenglast.Der Kaukasus!! Ein langer Traum!!Den Keppes links, den sieht man kaum,und rech ts dehnt sich das weite Feld,von Vohrers Wein, wie man erzählt.

4. Fährt näher man dann zu dem Ort -die Baumallee, die ist jetzt fort -,sieht rech ts den Turm man der Mosch eevom neuen Friedhof, das tut weh!Denn unser Friedhof, welch ein Graus,sieht wirklich ganz verheerend aus.

5. Die Bäume alle abgefällt,kein Weg, kein Steg den Blick verstellt.Noch manch er Grabstein liegt herum,mit deutsch er Insch rift , grad und krumm.Vertraute Namen allemal,dies hier zu sehen - welch e Qual!!

6. Doch kommt man in die Ort herein,legt sich ein wenig unsre Pein,denn große Bäume, wundersch ön,hier rech ts und links der Straße steh’n.Bewundernd seh’ ich diese Prach t,die uns’re Ahnen sich erdach t.

7. Ein kleines grünes Wunderlandwurd’ hier erbaut im Wüstensand.Grandios geplant, die Straßen breit,ein Wasserlauf an jeder Seit’,damit das kostbar kühle Nassnähr’ Mensch en, Tiere, Baum und Gras.

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

32

Gisela Rasper (Eppstein im Taunus)

Besuch in Helenendorf(September 1998)

Das Gedich t entstand nach einem Besuch in der ehemaligen deutsch en Kolonie Helenendorf, heute Chanlar in Aserbaidsch an. Chanlar liegt circa sieben Kilometer von Gandsch a entfernt am Gandsch a-Fluss.

8. Wenn dann der Blick zur Seite sch weift ,Balkone, Treppen, Tore greift ,zum Giebeldach hinauf sich sch wingt,wo noch die Prach t der Ziegel blinkt,dann spür ich tief in meinem Herz’den Stolz und auch zugleich den Sch merz.

9. Ich bin sehr stolz auf dieses Werk,das hier entstanden vor dem Berg;wo Ausdauer und Mut und Fleiß,Entbehrungen, viel Müh’ und Sch weiß,wo hundert Jahre Reich tum sch uf,davon noch heute geht der Ruf.

10. Die Deutsch en lobt man heute sehrund zeigt voll Stolz uns alles her,was unsere Vorfahren gebaut.Man geht so weit - ich hab’ gesch aut!! -,dass man in Zukunft sch reibt sogarHelenendorf anstatt Chanlar!!

11. Und näch stes Jahr ist, hört und staunt,ein Jubiläum anberaumt:Man feiert hundertach tzig Jahr’,dass hier ein Ort gegründet war.So stolz ist man auf diese Stadt,die deutsch e Art gesch aff en hat.

12. Doch bin ich wohl gespannt gar sehr,ob man erzählt auch diese Mär:dass man vor zirka sech zig Jahr’die deutsch en Mensch en aus Chanlarganz unverhofft und ungefragtbrutal von Haus und Hof gejagt??

13. Ich weiß nich t, ob man dort erzählt,wie viele Jahre sehr gequältdie Mensch en wurden, groß und klein,nur weil sie wollten Deutsch e sein??Durch Psych oterror man und Todverbreitet hat ganz große Not?

14. Die Sprach e nahm man ihnen wegund nannte ihren Gott : ein Dreck !!Die Ehrenrech te aberkannt,hat man sie ganz weit fort verbannt,allein total auf sich gestellt,in eine völlig and’re Welt.

Page 33: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

15. Ließ ohne Kleidung sie im Eis,hineingepferch t in Jurtensch weiß.Man ließ sie sch uft en ohne Brotund ohne Obdach in der Not.Familien riss man ganz entzweiund lösch te viele aus dabei,

16. Es war ein Morden mit System,gedach t als Quitt ung wohl zudem,für das, was Deutsch e angetanin ihrem Herrenrassenwahnden andern Völkern in der Welt,den Blick durch Hass und Gier verstellt.

17. Das Jubiläum in Chanlar,veranstaltet im neuen Jahr,ist sich erlich ein guter Grund,uns auch zu mach en deutlich kund,was aus dem Rassenwahnsinn wird,wenn der des Mensch en Handeln kürt.

18. Und heute ist der Ort Chanlarganz voller Leben wunderbar:In kleinen Gruppen sitzt der Mann,sie spielen, reden, stundenlang.Die Gänse watsch eln auf der Straß’,ganz unberührt vom Autogas.

19. Die Kinder hier zur Sch ule geh’n,herausgeputzt, ganz wundersch ön:in sch warz und weiß, einheitlich garmit weißer Sch leife in dem Haar.Dem Fremden freundlich eingestellt,sind neugierig sie auf die Welt.

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

33

20. Und in den Straßen der Basar,ein lustig buntes Bild das war:Gemüse Nudeln, Klopapier,Haarnadeln, Film, das gab es hier.Vor manch em Haus die Oma garbietet Tomaten, Bohnen dar.

21. Ganz groß gesch rieben wird auch heut’die Gastfreundsch aft der neuen Leut’.Wie ehdem in dem alten Ortist man auch jetzt willkommen dort.Es wird sofort der Tee gemach tund man mit Herzlich keit bedach t.

22. Helenendorf im Kaukasus,der kleine Ort am Gandsch a-Fluss,ist heut’ ein Platz, wo die Mixturvon östlich er und Westkulturgelungen ist und wo präsentsind Okzident und Orient.

23. So ist es sch ließlich doch gesch eh’n,was von den Zaren vorgeseh’n:dass deutsch e Siedlungen im Landdie Völker mach en dort bekanntmit deutsch er Lebensart und -weis’!Nur sollt’ es so nich t sein, ich weiß!

24. Doch bin ich froh, dass in dem Ortdas Leben sch reitet weiter fortund dass der Ahnen Aufb auwerkgesch ätzt wird sehr dort an dem Berg.So grüße ich jetzt ganz zum Sch lussHelenendorf am Gandsch a-Fluss!

Page 34: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

34

Der schwarze Tagund seine Kinder

Eine Collage“Laut genauen Angaben, die die Militärbehörden erhalten haben, be-fi nden sich unter der in den Wolgarayons wohnenden deutsch en Be-völkerung Tausende und aber Tausende Diversanten und Spi o ne, die nach dem aus Deutsch land gegebenen Signal Explosionen in den von den Wolgadeutsch en besiedelten Rayons hervorrufen sollen.”(Aus dem Erlass des Präsidiums des Obersten Sow jets der Sowjet-union “Über die Umsiedlung der Deutsch en, die in den Wolgarayons wohnen” vom 28. August 1941.)

Und das, als die Wehrmach t sch on kurz vor Leningrad stand, große Teile des Baltikums, Weiß russlands und der Ukraine eingenommen, in Kesselsch lach ten die ersten hundertt ausend Rotarmis ten getötet und gefangen genommen hatt e.

So wurden wir über Nach t der Willkür ausgeliefert, zum Ver-derben verdammt und zu Freiwild erklärt.

Was Wunder, wenn auch noch heute nach 66 Jahren folgende Zeilen bei mir entstehen:

Man hat uns gehasst, verfolgt, verbannt,als Fritzen, Gitleristen, Fasch isten besch impft ,und wir haben ihre Sprach e gut verstanden.

Sie haben uns entrech tet, mundtot gemach t,deutsch sprech en, lesen und denken verboten,und wir haben ihre Sprach e gut gelernt.

Sie haben uns unter Kommandanturaufsich tgestellt, für immer die Rück kehr verwehrt,und wir haben ihre Töch ter und Söhne geheiratet.

Und als wir endlich nach Deutsch land durft en,nahmen wir ihre Töch ter und Söhne mit,und sie weinten und weinen uns immer noch nach .

Wendelin Mangold, 4/9/07

Szenario: Texte, Lieder, Gedichte

Page 35: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

35

Erlassdes Präsidiums des Obersten Sowjets

der UdSSR vom 28. August 1941„Über die Übersiedlung der Deutschen,

die in den Wolgarayons wohnen“Laut genauen Angaben, die die Militärbehörden erhalten haben, befi nden sich unter der in den Wolgarayons wohnenden deutsch en Bevölkerung Tausende und aber Tausende Diversanten und Spione, die nach dem aus Deutsch land gegebenen Signal Explosionen in den von den Wolgadeutsch en besiedelten Rayons hervorrufen sollen. Über das Vorhandensein einer solch großen Anzahl von Diversanten und Spionen unter den Wolgadeutsch en hat keiner der Deutsch en, die in den Wolgarayons wohnen, die Sowjetbehörden in Kenntnis gesetzt, folglich verheimlich t die deutsch e Bevölkerung der Wolga-rayons die Anwesenheit in ihrer Mitt e der Feinde des Sowjetvolkes und der Sow jetmach t. Falls aber auf Anweisung aus Deutsch land die deutsch en Diversan-ten und Spione in der Republik der Wolgadeutsch en oder in den angrenzenden Rayons Diversionsakte ausführen werden und Blut vergossen wird, wird die Sowjetregierung laut den Gesetzen der Kriegszeit vor die Notwendigkeit gestellt, Strafmaßnahmen gegen-über der gesamten Wolgabevölkerung zu ergreifen. Zweck s Vorbeugung dieser unerwünsch ten Ersch einungen und um kein ernstes Blutvergießen zuzulassen, hat das Präsidium des Obers-ten Sowjets der UdSS R es für notwendig gefunden, die gesamte deut-sch e in den Wolgarayons wohnende Bevölkerung in andere Rayons zu übersiedeln, wobei den Überzusiedelten Land zuzuteilen und eine staatlich e Hilfe für die Einrich tung in den neuen Rayons zu er-weisen ist. Zweck s Ansiedlung sind die an Ack erland reich en Rayons des Nowosibirsker und Omsker Gebiets, des Altaigaus, Kasach stans und andere Nach barortsch aft en bestimmt.In Übereinstimmung mit diesem wurde dem Staatlich en Komitee für Landesverteidigung vorgesch lagen, die Übersiedlung der gesamten Wolgadeutsch en unverzüglich auszuführen und die überzusiedeln-den Wolgadeutsch en mit Land und Nutzländereien in den neuen Ra-yons sich erzustellen. Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSS R,M. KalininSekretär des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSS R,A. GorkinMoskau, Kreml, 28. August 1941

Szenario: Texte, Lieder, Gedichte

Page 36: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

ERINNERN FÜR DIE ZUKUNFT

1941-2011: 70 Jahre Deportation

der Deutschen in der Sowjetunion

Page 37: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Krieg... Grelle Blitze aus blauendem Himmel.Aus Tausenden Kehlen -der Schrei vereint.Vernichtend die unwiderlegbare Wahrheit:Er spricht MEINE Sprache, der mächtige Feind.

(Nelly Wacker)

Page 38: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Bis Ende 1941 wurden 894.626 Deutsche nach Sibirien und Kasachstan verbannt (444.115 davon Wolgadeutsche).

Page 39: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Auswanderung nach Russland:- auf Einladung Katharinas II. im 18. Jh. an die Wolga- auf Einladung des Zaren Alexander I. im 19. Jh. in das Schwarzmeergebiet und den Kaukasus

Aus Rheinhessen,Der Pfalz, Württem-berg, Baden, dem Elsass,Bayern.(Bild:Viktor Hurr)

Page 40: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Aus etwa 304 deutschen Mutterkolonien entwickelten sich 3.232 Tochtersiedlungen.

Aus 100.000 Einwanderern wurde in 135 Jahren eineVolksgruppe von 1.790.500Personen (1897).

(Bild:Viktor Hurr)

Page 41: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

1918 – Arbeitskommune der Wolgadeutschen 1924 – Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen mit der Hauptstadt Engels

DeutscheHoch- und Fachschulen,Zeitungen,Staatsverlage,Theater.Vor 1941 lebten 1,4 Mio. Deutsche in der UdSSR.

Page 42: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Mit 14,7 Prozent (!) Opfern bei einem Bevölkerungsanteil von nur 1,4 Prozent waren die Deutschen die am meisten verfolgte nationale Bevölkerungsgruppe

Verfolgungen: 1914-1918Hungeropfer:1921, 1933Enteignung:1928-1931 Verfolgungen,Repressalien:1937-38

Page 43: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

1941 beganndie Deportation der Deutschen in der UdSSR.Betroffen:Die Deutschen auf der Krim, im Wolgagebiet, in der Ukraine,im Kaukasus, in den Gebieten Leningrad und Moskau.

(Bild: Andreas Prediger)

Page 44: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

„Erlass 1941 – Vertreibung“ (Bild: Alexander Wormsbecher)

Page 45: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

„Vertreibung, 1941“ (Bild: Viktor Hurr)

Page 46: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

„Mobilisierung in die Trudarmee“ (Bild: Viktor Hurr)

Page 47: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

„Trudarmee – Arbeitslager“ (Bild: Viktor Hurr)

Page 48: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

ZWANGSARBEIT

Etwa 350.000 der 1,1 Millionen deutschen Jugendlichen, Männer und Frauen mussten Zwangsarbeit Leisten.(Bild: Viktor Hurr)

Page 49: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Zehntausende starben einen qualvollen Tod:

Jugendliche,Frauen und Männer von 15 bis 55 Jahren.

(Bild: Viktor Hurr)

Page 50: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Vernichtung durch ArbeitKeine andere Volksgruppe in der Sowjetunionwurde in diesem Ausmaßphysisch Ausgebeutet.(Bild: Andreas Prediger)

Page 51: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Das Leid der deutschen Frauen und Kinder –das düsterste Kapitel der russlanddeutschen Geschichte in der Kriegszeit

„Ver-trei-bung“

(Bild: IsoldeHartwahn)

Page 52: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

„Vertriebene“(Bild: Isolde Hartwahn)

Tausende Kinderbliebenelternlos zurück.

Page 53: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

„Verzweiflung“(Plastik: Jakob Wedel)

Niemand hat gezählt, wie viele deutsche Kinder ihrem Schicksal überlassen Wurden.

Page 54: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Zehntausende deutsche Frauen leisteten Sklavenarbeit in der Trudarmee. (Bild: Oskar Aul)

Page 55: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Kollektive „Schuld“ – „Die Heimatlosen“

DeutscheArbeits-kolonnengab es nochviele Jahrenach dem Krieg.

(Bild: JohannesGräfenstein)

Page 56: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Glaube und Muttersprache – die eigentliche Heimat

Page 57: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Verbannungsorte – für viele Jahre (Bild: Viktor Hurr)

Page 58: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Was hält den verstreuten Volksstamm zusammen? Pflüge ziehen über die Gräber.Die Toten liegen tiefer.Die Gemeinde von einst –vertrieben…Die Glocken ihrer Kirchenliegen in der Erde…

(Viktor Schnittke)

Page 59: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Ein weiter Weg zurück…

2,5 Mio.Deutsche aus Russlandleben heute inDeutsch-Land.

Page 60: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Die Vergangenheit lässt nicht losSein Blick flackert über den Rhein,aber er hört das Plätschern der Wolga,des Obs und der Kolyma…(Viktor Heinz)

Page 61: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Drei weiße Birken in meinerHeimat stehen...

An der Wolga?In Kasachstan?In Sibirien?OderirgendwoinDeutschland?

Page 62: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

„Die letzte Kraft“ – Gedenkstätte in Berlin (Jakob Wedel)

Page 63: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Unter Sonderkommandantur

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hörten dieschlimmsten Repressionen gegen die Deutschen in derSowjetunion auf, ihre Diskriminierung ging jedochweiter. Sie waren ihrer Heimat beraubt und standen alsBürger zweiter Klasse unter staatlicher Sonderaufsicht(Sonderkommandantur).Das Ende der Kommandanturaufsicht kam erst miteinem Erlass vom 13. Dezember 1955. Darin wurdendie Deutschen anderen Sowjetbürgern formal gleichge-stellt, mussten aber auf die Rückkehr in ihre Heimator-te und die Rückgabe ihres Vermögens verzichten.

Under Special RegimeAfter the end of World War II the worst repressionsagainst the Germans in the Soviet Union ended, buttheir discrimination went on. They were deprived oftheir home, and as second class citizens they were keptunder special regime.This special regime was not finished, before the decreeof December 13, 1955, was released. Thereby the Ger-mans were formally equated with other citizens of theSoviet Union, though they had to abdicate the returnto their hometowns and the restitution of their proper-ty.

Keine Rehabilitation

Bis zum heutigen Tag ist es in keinem Staat der ehema-ligen Sowjetunion zu einer faktischen Rehabilitationder Deutschen aus Russland gekommen. Und das,obwohl die in dem Erlass vom 28. August 1941 erhobe-nen Vorwürfe bereits durch einen Erlass vom 29.August 1964 formal aufgehoben wurden: “Das Lebenhat erwiesen, dass diese pauschal erhobenen Anschul-digungen haltlos und Ausdruck der angesichts desPersonenkults um Stalin herrschenden Willkür waren.”

Die Organisationen der Deutschen aus Russlandsind sich einig:

Ohne eine wirkliche Rehabilitationwird es niemals eine historische Gerechtigkeit

für die Deutschen aus Russland geben!

No RehabilitationDown to the present day not a single state of the for-mer Soviet Union has factually rehabilitated the Ger-mans from Russia, although the accusations of thedecree of August 28, 1941, were formally abolished bya decree of August 29, 1964: “Life has proved, thatthese overall accusations were causeless and a result ofthe arbitrariness generated by the Stalinistic personali-ty cult.“

The organizations of the Germans from Russiaare agreed:

Without a true rehabilitationthe Germans from Russia

will never obtain historic justice.

Landsmannschaft der Deutschen aus Russland(Association of Germans from Russia)Raitelsbergstraße 49, 70188 Stuttgart

Deutschland (Germany)Tel.: (0049)-0711-166590

E-Mail: [email protected]: www.deutscheausrussland.de

28. August 1941Gedenktag

der Deutschen aus RusslandWir trauern um unsere Opfer

der Verfolgung und Vertreibungin der ehemaligen Sowjetunion

August 28, 1941Commemoration Day

of the Germans from RussiaWe grieve for our victims

of the persecution and banishmentin the former Soviet Union

Landsmannschaftder Deutschen aus Russland

Associationof Germans from Russia

Sowjetischer Sondersiedlerausweis des deutschenLiteraturwissenschaftlers Woldemar Ekkert.Under special regime: Soviet pass of the Germanliterary scientist Woldemar Ekkert.

Gedenkfeier (commemoration)in Stuttgart-Bad Cannstatt 2006.

Page 64: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Der Erlass vom 28. August 1941

Zwei Monate nach Beginn des deutsch-sowjetischenKrieges am 22. Juni 1941 wurde der Erlass des sowjeti-schen Regimes “Über die Übersiedlung der Deutschen,die in den Wolgarayons wohnen“ herausgegeben, derdie deutschen Bewohner des Wolgagebietes in will-kürlicher Weise beschuldigte, aggressive Aktionengegen die Sowjetunion zu planen und “Feinde desSowjetvolkes und der Sowjetmacht“ zu verstecken.Diese falschen Vorwürfe wurden zum Anlass für dieDeportation aller Deutschen des Wolgagebietesgenommen.

The Decree of August 28, 1941

Two months after the beginning of the war betweenGermany and the Soviet Union on June 22, 1941, thedecree of the Soviet regime “About the Banishment ofthe Germans, who live in the Volga Rayons (Districts)“was released, which arbitrarily accused the Germanresidents of the Volga Territory of planning aggressiveactions against the Soviet Union and of hiding “ene-mies of the Soviet nation and the Soviet government”.These false allegations prompted the deportation of allGermans living in the Volga Territory.

Alle Deutschen in der Sowjetunionwurden zu Opfern

In dem Erlass vom 28. August 1941 waren nur dieDeutschen im Wolgagebiet genannt, es wurden jedochalle Deutschen in der Sowjetunion zu Opfern der Ver-treibung und der sowjetischen Zwangsarbeitslager,ganz gleich, ob sie am Schwarzen Meer, im Kaukasus,auf der Krim, in Wolhynien oder anderen Gebietenwohnten.Innerhalb von nur drei Monaten wurden nach offiziel-len Angaben beinahe 800.000 Deutsche aus dem euro-päischen Teil der Sowjetunion nach Sibirien und Ka-sachstan zwangsumgesiedelt.

All Germans in the Soviet Unionbecame Victims

Although the decree of August 28, 1941, had men-tioned only the Germans living in the Volga Territory,all Germans in the Soviet Union became victims of thebanishment and the Soviet forced labour camps, nomatter whether they lived at the Black Sea, in theCaucasus, in the Crimea, in Volhynia or in other terri-tories.According to official information, within only threemonths 800.000 Germans were banished from theEuropean part of the Soviet Union and forced to live inSiberia and Kazakhstan.

Traumatisierungund Tod

Die Vertreibung brachte den Deutschen in der Sowjet-union unendliches Leid. Sie erlagen als völlig Unschul-dige zu Hunderttausenden den unmenschlichen Le-bensbedingungen in den Zwangsarbeitslagern, sie ver-hungerten und erfroren. Sie mussten hilflos mit anse-hen, wie ihre Verwandten, Freunde und Nachbarnstarben.Noch heute leiden sie unter den traumatischen Erleb-nissen dieser Jahre.

Traumatic Experiencesand Death

The banishment brought endless suffering to the Ger-mans in the Soviet Union. Hundreds of thousands ofwholly innocent people lost their lifes because of inhu-man living conditions in the forced labour camps, theydied of hunger and froze to death. Helplessly they hadto watch their relatives, friends and neighbors die.They still are afflicted with the traumatic experiencesof these years.

Eingangstor in das sowjetische ZwangsarbeitslagerTscheljabmetallurgstroj.Entrance to the Soviet forced labour campChelyabmetallurgstroy.

Insassen eines sowjetischen Zwangsarbeitslagers.Inmates of a Soviet forced labour camp.

Page 65: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Für davon Betroff ene ist es ganz gewiss ohne jede Bedeutung, ob man das Unrech t, dem sie zum Opfer fallen, als Vertreibung, Verbannung oder

Deportation bezeich net. Dennoch unternehmen wir anhand von Texten, die wir beim Bund der Vertrie-benen, auf Wikipedia und anderswo gefunden ha-ben, den Versuch , zumindest sprach lich ein wenig Klarheit in die repressiven Maßnahmen zu bringen, denen die Deutsch en in der ehemaligen Sowjetunion ausgesetzt waren:

Der Begriff der Vertreibung ist weder juristisch noch historisch klar und unmissverständlich defi niert, es ist vielmehr ein Terminus der politisch en Sprach e. Dar-über hinaus werden zahlreich e Synonyme verwendet, die aber jeweils für sich eine eigene Bedeutung haben.Vertreibung beinhaltet erzwungenes Verlassen eines Ortes oder Gebietes aufgrund von (staatlich er) Verfol-gung und Diskriminierung, erzwungene Fluch t auf-grund von Androhung von Gewalt oder Androhung der Ausweisung.In Deutsch land und Österreich wird der Begriff „Ver-treibung“ im Alltagsverständnis vor allem verbunden mit der Fluch t, Ausweisung und Zwangsumsiedlung von Deutsch en aus den Ostgebieten des Deutsch en Reich es sowie aus dem Sudetenland, die nach dem II. Weltkrieges im Ergebnis alliierter Übereinkunft unter die Verwaltung Polens und der Sowjetunion gefallen waren beziehungsweise wieder Teil der Tsch ech oslo-wakei wurden.In der Sowjetisch en Besatzungszone und in der DDR war „Umsiedler“ die offi zielle Bezeich nung. Der Begriff „Vertriebene“ wurde vermieden.Deportation ist die staatlich e Verbringung von Men-sch en in andere Gebiete, die in der Regel aufgrund eines Gesetzes oder Erlasses für den Antritt von Straf-maßnahmen, zur Unterdrück ung von politisch en Geg-nern oder zur Isolierung von ethnisch en Minderheiten ausgesproch en wird.Ausweisung ist ein Verwaltungsakt mit dem Ziel, die Anwesenheit des Betroff enen im Land zu beenden und ihm die Wiedereinreise und (weitere) Aufenthaltser-laubnis zu verwehren.Absch iebung ist der behördlich e Vollzug einer in ei-nem rech tsstaatlich en Verfahren festgestellten Ausrei-sepfl ich t (Ausweisung).Flüch tlinge verlassen ihre Heimat nich t auf behörd-lich e Anordnung, sondern um einer möglich erweise Existenz bedrohenden Gefahr zu entgehen. Im Unter-sch ied zu Vertriebenen werden sie nich t unmitt elbar zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen. Falls Flüch t-lingen oder Ausgewiesenen die Rück kehr in ihre Hei-mat verwehrt wird, untersch eidet sich ihre Lage nich t mehr von der Lage von Vertriebenen.Ethnisch e Säuberung wurde mit der Weiterentwick -lung des Völkerstrafrech ts bei Juristen und Historikern

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

65

als Begriff etabliert, der verwandt, aber nich t gleich be-deutend mit „Vertreibung“ ist. Ethnisch e Säuberung impliziert, dass durch Entfernung einer Bevölkerungs-gruppe ein homogenes Siedlungsgebiet einer anderen Bevölkerungsgruppe gesch aff en werden soll.Staatlich erzwungene Umsiedlung hat in Imperien auch immer wieder dem Zweck gedient, versch iedene Bevölkerungsgruppen zu misch en, um dadurch sepa-ratistisch en Aktivitäten vorzubeugen.Eine Verbannung ist die Verweisung einer Person aus ihrer gewohnten Umgebung oder angestammten Heimat. Anders als das Exil ist die Verbannung nie-mals freiwillig, sondern Folge eines andauernden au-toritativen Zwangs, der den Betroff enen die Rück kehr verwehrt oder ihre Freizügigkeit besch ränkt. Häufi g bleibt der Verbannte auch innerhalb des Herrsch aft s- oder Einfl ussbereich s derjenigen, die die Verbannung ausgesproch en haben (zum Beispiel in einer Strafk olo-nie oder abgelegenen Gegend des Landes). In der Ge-sch ich te praktizierten versch iedene Mäch te wie etwa Russland oder Großbritannien die Verbannung von Delinquenten besonders auch zum Zweck e der Koloni-sierung abgelegener oder weit entfernter Gebiete (Sibi-rien, Australien).Die Versch leppung ist eine Entführung eines oder mehrerer Mensch en, um sich die Fähigkeiten oder besondere Eigensch aft en der Entführten zunutze zu mach en. Versch leppte Personen werden im Gegensatz zu Entführten in der Regel nie freigelassen, aber auch nich t nach wenigen Woch en ermordet, sondern leben viele Jahre, oft bis an ihr (natürlich es) Lebensende, in der Obhut der Entführer.Als Evakuierung wird das Räumen von Gebieten be-zeich net. Meist fi ndet sich der Begriff im Zusammen-hang mit Gefahrenstellen wie Katastrophengebieten, zum Beispiel Übersch wemmungen, Bränden oder Bombenalarmen. Die Zeit einer Evakuierung wird als Evakuierungsdauer bezeich net. Die Begriff e Räumung und Evakuierung werden dabei zwar häufi g synonym gebrauch t, dennoch bezeich net „Evakuierung“ rich ti-ger einen geplanten („Evakuierungsplan“) Vorgang, während der Begriff „Räumung“ in der Fach welt eher für das ungeplante Räumen von Gebieten Verwendung fi ndet.Seit dem II. Weltkrieg wird die in großem Umfang praktizierte Fortsch aff ung von Mensch und Material aus von Bombardierungen oder Kampfh andlungen be-drohten Städten und Gegenden in sich ere Gebiete als Evakuierung bezeich net.Eine weitere Bedeutung wurde dem Begriff im Zweiten Weltkrieg von den Nationalsozialisten beigefügt. Eva-kuieren diente, wie die synonym verwendeten Begrif-fe Sonderbehandlung, Endlösung und Umsiedlung, als Tarnbezeich nung für Deportation und Tötung von Mensch en.

Vertreibung, Verbannung, Deportation...Ein Beitrag zur Begriffsklärung

Page 66: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Familienzusammenführung, Heimkehrer, Spät-heimkehrer, Spätaussiedler, Aussiedler, Ab-kömmlinge – das ist nur ein Teil der Rech tstitel,

unter denen Deutsch e aus der ehemaligen Sowjetuni-on Aufnahme in Deutsch land gefunden haben bzw. noch in Deutsch land aufgenommen werden können. Oft wird die Frage gestellt: Wieso?

Art. 116 des Grundgesetzes lautet:

„(1) Deutsch er im Sinne dieses Grundgesetzes ist vor-behaltlich anderweitiger gesetzlich er Regelung, wer die deutsch e Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüch tling oder Vertriebener deutsch er Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatt e oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutsch en Reich es nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.

Die Deutsch en in der Sowjetunion hatt en in ihrer über-wiegenden Mehrheit seit Generationen die russisch e, dann die sowjetisch e Staatsangehörigkeit. Nach 1991 wurde diese zunehmend durch die Staatsangehörig-keit der GUS-Republiken abgelöst. Bleibt die Frage: Sind sie Flüch tlinge oder Vertriebene?Mit der Vertreibung von Deutsch en wird zumeist die unmitt elbar bei Kriegsende und in den ersten Nach -kriegsjahren erfolgte Vertreibung der deutsch en Be-völkerung aus den deutsch en Ostprovinzen, die unter fremder Verwaltung standen, sowie von Deutsch en aus den Ländern Ostmitt el- und Südosteuropas verstan-den.Die Deutsch en in der Sowjetunion wurden bekanntlich nich t nach Deutsch land vertrieben, sondern aus ihren angestammten Siedlungsgebieten nach Osten depor-tiert. Diese Deportationen der Jahre 1941-1944 wur-den im sowjetisch en Sprach gebrauch als Umsiedlung oder Aussiedlung bezeich net. Die Deportationen aus Deutsch land und anderen Ländern in den Jahren 1945-1955 wurden als „Repatriierung“ bezeich net. Können die Russlanddeutsch en dennoch als Heimatvertriebene gelten?Wer Vertriebener ist, kann in § 1 des Bundesvertriebe-nengesetzes nach gelesen werden:

„(1) Vertriebener ist, wer als deutsch er Staatsangehöriger oder deutsch er Volkszugehöriger seinen Wohnsitz in den ehemals unter fremder Verwaltung stehenden deutsch en Ostgebieten oder in den Gebieten außerhalb der Grenzen des Deutsch en Reich es nach dem Gebietsstande vom 31. Dezember 1937 hatt e und diesen im Zusammenhang mit den Ereignissen des zweiten Weltkrieges infolge Ver-treibung, insbesondere durch Ausweisung oder Fluch t, verloren hat.

[…] (3) Als Vertriebener gilt auch , wer, ohne selbst deutsch er

Staatsangehöriger oder deutsch er Volkszugehöriger zu

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

66

sein, als Ehegatt e eines Vertriebenen seinen Wohnsitz oder in den Fällen des Absatzes 2 Nr. 5 als Ehegatt e eines deutsch en Staatsangehörigen oder deutsch en Volkszu-gehörigen den ständigen Aufenthalt in den in Absatz 1 genannten Gebieten verloren hat.“

Der Verlust des Wohnsitzes konnte eintreten durch :

1. die Verhaft ung mit ansch ließender Einweisung in Untersuch ungsgefängnisse, Straf- oder Arbeitslager;

2. die Aushebung für die „Arbeitskolonnen“ durch die Kreiswehrersatzämter (voenkomat);

3. die Deportation;4. die Evakuierung im Bestand der Belegsch aft von

Industriebetrieben, Konstruktionsbüros oder For-sch ungsinstituten;

5. die Evakuierung von Familienangehörigen von Parteifunktionären, Offi zieren der Roten Armee und des Volkskommissariats des Innern (NKVD) sowie anderer Regierungs- und Verwaltungsorgane;

6. die administrative Umsiedlung durch deutsch e Be-hörden („Heim ins Reich “) und die „Repatriierung“ in die UdSS R (1945-1955).

Bei der Evakuierung von Deutsch en im Bestand der Belegsch aft en von Industriebetrieben usw. unterla-gen diese der Arbeitspfl ich t und waren in der Bewe-gungsfreiheit, wie alle anderen ihres Kontingents, be-sch ränkt. Dies war eine kriegsnotwendige Maßnahme und kann nich t als Vertreibung angesehen werden. Die Lage änderte sich allerdings mit der Aussonderung aus der Stammbelegsch aft und der Überführung der Deut-sch en in „Arbeitskolonnen“ oder der Einweisung in Sondersiedlungen.Über die Evakuierung von Deutsch en, die zur Katego-rie 5 gerech net werden können, liegen nur vereinzelte Informationen vor. Sie waren nich t zahlreich .Bedeutend größer war die Personenzahl der Kategori-en 1 bis 3. Mit der Verhängung des Kriegszustands am 22. Juni 1941 wurde den Militärbehörden die Befugnis erteilt, auf administrativem Wege aus ihrem Zustän-digkeitsbereich Personen auszusiedeln, die als sozial gefährlich eingestuft wurden.Am 4. Juli 1941 erließen die Volkskommissariate für Inneres (NKVD) und für Staatssich erheit (NKGB) eine gemeinsame Direktive „Über Maßnahmen zur Aussiedlung von sozial gefährlich en Elementen von Territorien, über die der Kriegszustand verhängt wur-de“ und übernahmen damit die Zuständigkeit für die Durch führung der „Aussiedlung“.Die ersten Verhaft ungen gab es bereits am 22. Juni 1941. Verhaft eten auf der Grundlage dieser Direktive wurde meistens antisowjetisch e Agitation, konterrevolutio-näre Tätigkeit oder politisch e Unzuverlässigkeit in-kriminiert. Das Strafmaß lag bei fünf oder ach t Jahren Arbeitslager. Arbeitsunfähige Männer und Frauen im

Dr. Alfred EisfeldSind die Deutschen aus der UdSSR Vertriebene?

Page 67: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Alter über 60 Jahre unterlagen nich t der Aussiedlung.1

Sie sollten ohne jeglich e Versorgung zurück gelassen werden.Verhaft ungen wurden aber auch im Landesinnern, so in der Wolgarepublik oder in Sibirien durch geführt.Verhaft ungen, Aushebungen für die „Arbeitskolon-nen“ und Deportationen verliefen in mehreren Gebie-ten zeitgleich . Lediglich bei der totalen Deportation der deutsch en Zivilbevölkerung gab es eine zeitlich e Abfol-ge, die weniger mit Kriegsereignissen denn mit Kapazi-täten der Behörden zu erklären ist.

DeportationenDie Deportationen der Deutsch en aus versch iedenen Regionen des europäisch en Teils der Sowjetunion er-folgten nach dem Überfall deutsch er Truppen auf die Sowjetunion im Juni 1941. Unter Deportationen wird hier nich t die Verhaft ung von Einzelpersonen verstan-den, die als vermeintlich e „sozial gefährlich e Elemen-te“ nach Verhängung des Kriegszustands verhaft et und zu langen Haft strafen, häufi g zum Tode verurteilt wur-den.Im Juli 1941 erfolgte auf Besch luss des NKVD die De-portation von 1.200 Familien von Deutsch en, die sch on einmal, 1932-1933, aus grenznahen Orten der Ukraine verbannt wurden, aus der Karelo-Finnisch en SS R in die Komi ASS R.2

Die am 12. August 1941 vom Militärrat der Westfront befohlene Räumung einer fünf km breiten Kampfzo-ne von sämtlich er Zivilbevölkerung konnte wegen des sch nellen Vormarsch es der deutsch en Truppen nich t durch geführt werden. Gleich es galt für die auf 25 km. erweiterte Kampfzone.Mehrere Indizien sprech en dafür, dass die sowjetisch e Führung am 12. August, spätestens jedoch am 14. Au-gust die Deportation der Deutsch en allein auf Grund ihrer Volkszugehörigkeit aus frontnahen Regionen besch lossen hat.3 Sich er belegt ist, dass der Befehl des Oberkommandos der Roten Armee vom 14. August 1941 u.a. die unverzüglich e Räumung der Krim von den ortsansässigen Deutsch en vorsah.4 Die Deportation wurde in der Zeit vom 15. bis 22. August 1941 durch ge-führt.5 Nach Erinnerungen wurden auch die Mennoni-ten aus westlich des Dnjeprs gelegenen Dörfern des Ge-biets Zaporož’e am 15. August auf Fuhrwerke verladen und unter Bewach ung durch Milizionäre nach Osten geleitet.6 Aus Franzfeld wurde die Deportation am 17. August 1941 eingeleitet.7

Am 26. August 1941 fassten der Rat der Volkskommis-sare der UdSS R und das Zentralkomitee der kommu-nistisch en Partei den Besch luss über die Umsiedlung der Deutsch en aus der Wolgarepublik und den benach -barten Gebieten Saratow und Stalingrad.Am selben Tag befahlen der Kriegsrat der Leningrader Front den Besch luss Nr. 196 „Über die unbedingte Eva-kuierung der deutsch en und fi nnisch en Bevölkerung aus den Vororten der Stadt Leningrad“ und der Kriegs-rat der Südfront die „Evakuierung“ der deutsch en Be-

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

67

völkerung von der Halbinsel Krim und aus dem Gebiet Dnjepropetrowsk.8

Die Befehle der Militärbehörden stützten sich auf das Dekret des Obersten Sowjets der UdSS R über die Ver-hängung des Kriegsrech ts. Danach waren die arbeits-unfähigen Männer und Frauen über 60 Jahre von der „Evakuierung“ ausgenommen9 und sollten zurück ge-lassen werden.Die „Evakuierung“ von 96.000 Finnen und Deutsch en aus dem Umland von Leningrad wurde am 29. August 1941 besch lossen10 und sollte zwisch en dem 31. August und 7. September 194111 unter der Leitung von Parteise-kretären und Vorsitzenden der Rayonvollzugskomitees durch geführt und von Einheiten des NKVD und von Militäreinheiten der Nordfront überwach t werden.Der stellvertretende Volkskommissar des Innern Mer-kulov wies in seinem Berich t vom 30. August darauf hin, dass es sich dabei nich t um eine administrative Aussiedlung, sondern um eine zwangsweise Evakuie-rung handle.12 Dies wurde auch bei den nach folgenden „Umsiedlungen“ unmissverständlich so gehalten.Die Deportation aus der ASS R der Wolgadeutsch en, den Gebieten Saratow und Stalingrad war für die Zeit zwisch en dem 3. und 20. September vorgesehen. Es wurde ausdrück lich darauf hingewiesen, dass alle Deutsch en ohne Ausnahme13, darunter auch Mitglieder der kommunistisch en Partei und des Jugendverbandes Komsomol sowie Familienangehörige von Soldaten und Offi zieren14, der Deportation unterlagen.Die Deportation wurde von 1.550 Angehörigen des NKVD, 3.250 Milizionären und 13.150 Soldaten durch -geführt und überwach t.15

Aus der Literatur ist bekannt, dass die Deportation be-reits am 31. August begonnen hat und am 20. Septem-ber 1941 abgesch lossen wurde. Aus der Wolgarepublik wurden über 365.000 und aus den Gebieten Saratov und Stalingrad weitere 72.951 Deutsch e nach Sibirien und Kasach stan deportiert.16

Im Untersch ied zur Deportation der Deutsch en von der Krim wurden Deutsch e, die in der Wolgaregion in Misch ehen mit nich tdeutsch en Männern lebten, von der Deportation ausgenommen.Am 31. August folgte ein Besch luss des Politbüros der Kommunistisch en Partei „Über die Deutsch en, die auf dem Territorium der Ukrainisch en SS R leben“, und am 6. September wurde die Deportation der Deutsch en aus der Stadt und dem Gebiet Moskau (8.617 Personen) und dem Gebiet Rostov (21.400 Personen) besch lossen. Bis zum 20. September wurden in Moskau und im Mos-kauer Gebiet 1.142 Deutsch e verhaft et und 8.449 nach Kasach stan verbrach t.Von der Deportation wurden Frauen und Kinder aus-genommen, die in Misch ehen lebten, Alte und Invali-den, wich tige Fach leute (auf Fürsprach e ihrer Dienst-stellen) und Familienangehörige von Militärs, die außer Verdach t waren, sowie eine Anzahl von Personen „aus operativen Erwägungen“ der Sich erheitsorgane.17

Mitt e September 1941 lag dem Staatlich en Verteidi-gungskomitee der UdSS R der Entwurf eines Besch lus-ses über die Deportation aller Deutsch en aus dem

Page 68: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

europäisch en Teil Russlands, aus den Transkaukasi-sch en Republiken und den an China und die Mongo-lei grenzenden Regionen und Gebieten in Fernost nach Ka sach stan vor.18 Dieser Entwurf wurde so nich t be-sch lossen. Statt dessen folgten Besch lüsse über die De-portation aus versch iedenen Territorien.Am 21. September leitete das NKVD dem Staatlich en Verteidigungskomitee ein Projekt des Besch lusses über die Verhaft ung und Umsiedlung nach Kasach stan von Deutsch en, die in den Regionen Krasnodar und Ordžonikidze, dem Gebiet Tula und den autonomen Republiken Kabardino-Balkarien und Nord-Osetien wohnen, zu.19 In der Bezeich nung des Besch luss Nr. 698 vom 21. September 1941 war der Begriff „Verhaft ung“ nich t enthalten.Zur Durch führung der Deportation aus den Regionen Krasnodar, Ordžonikidze, dem Gebiet Tula, den Au-tonomen Republiken Kabardino-Balkarien und Nord-Osetien wurden 425 Mitarbeiter des NKVD, 550 Milizi-onäre und 5.750 Militärangehörige abgestellt.20

Zur Durch führung der am 22. September besch los-senen Deportation der Deutsch en aus den Gebieten Zaporož’e (63.000 Personen), Stalino (41.000 Personen) und Vorošilovgrad (5.487 Personen) wurden 600 Ange-hörige des NKVD, 2.700 Milizionäre und 3.000 Solda-ten entsandt.21

Den sowjetisch en Behörden gelang wegen des rasch en Vormarsch es der Wehrmach t die Deportation von 79.589 Personen, die nach Kasach stan und in das Gebiet Novosibirsk verbrach t wurden.22

Aus einem Berich t von Berij a ist bekannt, dass zwisch en dem 2. und 5. September 1941 in diesen Gebieten 7.091 Deutsch e unter dem Vorwurf, sie seien „antisowjetisch e Elemente“, verhaft et und 13.484 männlich e Einwohner dieser Gebiete „mobilisiert und unter Bewach ung auf Baustellen des GULAG des NKVD der UdSS R“ geleitet wurden.23 Über das Sch ick sal dieser Verhaft eten und Mobilisierten gibt es noch keinen Überblick .Eine erste Auswertung der Namenslisten von repres-sierten Einwohnern des Gebiets Stalino, die inzwisch en rehabilitiert wurden, hat folgendes Bild ergeben:Unter den Personen, deren Namen mit A, B und W beginnen, konnten 225 Deutsch e identifi ziert werden. Sech s von ihnen wurden zwisch en dem 23. Juni und 7. August verhaft et, 96 Personen (42,7 %) vom 3. bis 6. September. Von den 225 Personen wurden zehn zu fünf Jahren Lagerhaft , 34 Personen zu ach t Jahren Lagerhaft , sech s Personen zu zehn Jahren Lagerhaft , eine Person zur Verbannung in die Region Krasnojarsk und drei Personen zum Tod verurteilt.Während des Transports kamen von November bis De-zember 1941 25 Personen ums Leben gekommen, fünf blieben versch ollen.Von den in Arbeitslager Eingewiesenen aus dieser Gruppe kamen im Lager Iwdel‘ in den Jahren 1941-1942 37 Personen, 1943 weitere sech s Personen, 1944 zwei Personen und 1945 ebenfalls zwei Personen ums Leben.Im Lager Kraslag verstarben 1942 zwei Personen, im Lager Sevurallag eine Person, im Lager Swerdlowsk

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

68

1942 zwei Personen, im Stalingrader Lager Nr. 5 1941 drei Personen und 1942 zwei Personen.Somit kamen von den 225 Personen während des Trans-ports und in fünf Lagern des NKVD 82 Personen ums Leben und fünf blieben vermisst.24

Deportiert wurden nich t nur Deutsch e, die im euro-päisch en Teil der UdSS R wohnhaft waren. Im Gebiet Orenburg, in Kasach stan und den mitt elasiatisch en Re-publiken wurde die städtisch e deutsch e Bevölkerung entsprech end dem Besch luss des Volkskommissarenra-tes der UdSS R vom 30. Oktober 1941 in entlegene länd-lich e Gegenden deportiert.Bekannt sind aber auch Deportationen ländlich er Be-völkerung im Gebiet Karaganda in andere Orte des Ge-bietes (Besch luss des VKR Nr. 187-rs) sowie wiederholte Deportationen der in sibirisch e Gebiete eingewiesenen Deportierten aus dem europäisch en Teil der UdSS R (Verordnung des NKVD der UdSS R Nr. 13227-rs).

Verbleib des Eigentumsund BevölkerungsaustauschMit dem Besch luss des Volkskommissarenrates der UdSS R und des ZK der Kommunistisch en Partei über die Deportation der Deutsch en aus der ASS RdWD und den Gebieten Saratow und Stalingrad wurden umge-hend Besch lüsse über die Bewirtsch aft ung des zurück -gelassenen Landes getroff en.In Ausführung der Verordnung des Sownarkom und des ZK der VKP(b) vom 26. August 1941 besch loss das Stalingrader Gebietsparteikomitee am 27. August die Entsendung von 5.080 Kolch osbauern, Kombinenfüh-rer, Traktoristen und sonstiger Bevölkerung zur Ver-rich tung von landwirtsch aft lich en Arbeiten im Gebiet der ASS RdWD. Sie sollten dort nich t später als am 2. September, d. h. noch vor der Deportation der Wolga-deutsch en, eintreff en.25

Auf Ersuch en des Gebietsparteikomitees Saratov vom 27. August besch loss die Regierung der UdSS R die Einweisung von 44.744 Familien aus einer Reihe von Gebieten Russlands und der Ukraine. Sie sollten in elf Rayons der Wolgarepublik, die am 7. September 1941 dem Gebiet Saratov zugesch lagen wurden, angesiedelt werden. Dafür standen 1,2 Mio. ha Land zur Verfü-gung, davon 908.600 ha Ack erland, 33.103 Wohnhäu-ser mit Wirtsch aft sgebäuden, 120.000 Stück Rindvieh, 120.000 Ziegen und Sch afe, ca. 20.000 Pferde und ca. 1.500 Kamele.26

Dieses gemeinsch aft lich e und individuelle Eigentum wurde entsprech end der Instruktion des NKVD über die Übernahme des Eigentums der landwirtsch aft li-ch en Betriebe (Kolch osen und Sowch osen) und der Kolch osmitglieder vom 30. August 194127 von staatli-ch en Vertretern entgegen genommen.Die deportierten Deutsch en bekamen Besch einigungen über das zurück gelassene individuelle Eigentum und deren Wert ausgehändigt.28 Besch einigungen, teils auf Vordruck en, teils handgesch rieben, sind aus mehreren russisch en Gebieten bekannt. Das zurück gelassene in-dividuelle Eigentum sollte den Deportierten am neuen

Page 69: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Wohnort ersetzt werden, doch dazu kam es nur verein-zelt und teilweise.Das Gebiet der Wolgarepublik wurde per Besch luss des Volkskommisarenrates und des ZK der Kommu-nistisch en Partei vom 6. September auf die Gebiete Saratow und Stalingrad aufgeteilt. Am 7. September folgte darüber hinaus ein Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSS R.29 Diese Gebietsauft eilung der Wolgarepublik war verfassungswidrig, da sie ohne Zustimmung des Obersten Sowjets der ASS RdWD und des Obersten Sowjets der RSFSR vorgenommen wur-de.Die als Kriegsfl üch tlinge und Umsiedler aus benach -barten Gebieten Russlands in den Saratover Teil der Wolgarepublik eingewiesenen Siedler waren dort nur sch wer zu halten, da die Versorgung mit Lebensmit-teln, Brennstoff u.a. unzureich end war. So wurden bis zum Juli 1943 rund 30 % der Häuser und Wirtsch aft sge-bäude als Brennholz verfeuert. Bis Juni 1946 waren von ehemals 33.103 Häusern in elf Rayons 20.000 zerstört. Kriegsfl üch tlinge aus westlich en Gebieten Russlands und der Ostukraine bemühten sich nach der Befreiung ihrer Dörfer und Städte dorthin zurück zukehren. Diese hohe Fluktuation sollte in den Nach kriegsjahren wie-derholt durch neue Siedler ausgeglich en werden, doch auch von den in den Jahren 1945-1950 eingewiesenen 2.679 Familien (11.620 Personen) sollen nur 2.036 in den Siedlungen verblieben sein.30 Über den Verbleib des Eigentums der in der Ostukrai-ne in den ersten Kriegsmonaten Verhaft eten ist nur be-kannt, dass viele von ihnen neben der Haft strafe mit Verbüßung im Arbeitslager auch mit dem Entzug des persönlich en Eigentums bestraft wurden. Über den Verbleib des Eigentums der Mobilisierten und der De-portierten gibt es keine gesich erten Kenntnisse.

Administrative Umsiedlung(„Heim ins Reich“) und Deportationenaus der Ukraine 1944-1945Während des Zweiten Weltkrieges wurden auch die auf von deutsch en Truppen besetzten Gebieten leben-den sog. Volksdeutsch en mehrfach umgesiedelt. Davon waren sowohl die in der Nähe von Leningrad und im Narew-Gebiet als auch die in der Zone der Militärver-waltung lebenden Russlanddeutsch en betroff en. Sie wurden teils sofort zur Ansiedlung in den Warthegau gebrach t, teils für Siedlungsprojekte im Reich skommis-sariat Ukraine herangezogen.Nach der Niederlage der Wehrmach t in der Sch lach t um Stalingrad begann der Rück zug der deutsch en Truppen. Vorab wurden die noch in ihren Dörfern und Städten wohnhaft en Deutsch en auf Anordnung deut-sch er Behörden nach Westen in Marsch gesetzt.Seinem Wesen nach war diese sog. administrative Um-siedlung sowohl Fluch t vor der vorrück enden Roten Armee als auch Mobilisierung der sog. Volksdeutsch en für Siedlungsvorhaben der NS-Führung in annektierten Teilen Polens und in Sch lesien. Volksdeutsch e, die nach

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

69

Vorstellungen der SS für den Osteinsatz nich t tauglich waren, wurden zur Verrich tung von Arbeit, teils in Ar-beitslagern, in Deutsch land gesch ick t.Insgesamt wurden durch diese Aktion ca. 350.000 Deutsch e aus der Sowjetunion außer Landes gebrach t. Die in der Ukraine zurück gebliebenen Volksdeutsch en wurden von den sowjetisch en Sich erheitsorganen auf-gespürt, verhaft et und als Vaterlandsverräter zu Haft -strafen in Sonderlagern des NKVD in der Region Kras-nojarsk und im Gebiet Novosibirsk, später auch in der Komi ASS R und in anderen Landesteilen verurteilt.Mit dem Vorrück en der Roten Armee gelangten auch diese Russlanddeutsch en in das Blick feld der sowjeti-sch en Behörden. Sie unterlagen der unbedingten Re-patriierung in die UdSS R, wurden aber nich t in ihre Heimatdörfer, sondern in die Verbannungsgebiete im europäisch en Norden des Landes, in Sibirien, Kasach s-tan und Mitt elasien geleitet.31

Die genaue Anzahl der „Repatriierten“ ist bislang nich t bekannt. 1945 zählte man 203.795 „Repatriierte“, doch kamen im Verlauf von zehn Jahren weitere dazu. Sie wurden entsprech end der Direktive des NKVD Nr. 181 vom 11. Oktober 1945 allen anderen Sondersiedlern gleich gestellt.32

Mit der Befreiung der besetzten Gebiete begannen die zurück gekehrten Verwaltungsorgane der einzelnen Gebiete der Ukraine in die nunmehr mensch enleeren deutsch en Dörfer Ukrainer einzuweisen, die von der Sowjetregierung in der Westukraine als Störfaktor be-trach tet wurden. Die deutsch en Ortsnamen wurden ge-gen russisch e bzw. ukrainisch e ausgetausch t.Nach Beendigung der Kampfh andlungen in Europa und der Versch iebung der polnisch en Grenze nach Westen wurde die Deportation von Teilen der ukrainisch en Be-völkerung aus Polen eingeleitet. Auf Besch luss des ZK der KP der Ukraine und des Ministerrates der UdSS R vom 3. Oktober 1945 sollten sie in ehemals deutsch en Siedlungen der Ukraine eingewiesen werden.33

Rechtlicher Status der DeportiertenAus dem europäisch en Teil der Sowjetunion wurden in den Jahren 1941-1944 rund 890.000 deutsch e Sow-jetbürger nach Sibirien und Kasach stan deportiert. Sie wurden zumeist bestehenden Betrieben zugeteilt und in dazu gehörenden Siedlungen untergebrach t. Sie standen unter der Aufsich t des NKVD und waren von vorneherein in ihrer Bewegungsfreiheit eingesch ränkt. Der rech tlich e Status blieb aber ungeklärt. Im Febru-ar 1944 wurden Sonderkommandanturen für einzelne Rayons und Siedlungen eingerich tet und das Statut für Sonderkommandanturen mit Nennung der Rech te und Pfl ich ten der Sondersiedler in Kraft gesetzt. Am 8. Ja-nuar 1945 wurde eine Aktualisierung des Sondersied-ler-Statuts erlassen, mit dem die Sippenhaft versch ärft wurde und sch on für kleinste Verstöße Strafen verhängt werden konnten. Ab 1945 wurden auch die bereits vor dem Krieg in Si-birien und Kasach stan wohnhaft en sog. ortsansässigen Deutsch en der Aufsich t der Sonderkommandantur des

Page 70: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

NKVD unterstellt. Ab 1947 wurde das System der Über-wach ung mehrfach versch ärft . Das unerlaubte Verlas-sen des Aufenthaltsortes wurde nun erst mit bis zu drei Jahren Freiheitsentzug bestraft ; ab dem 21. Februar 1948 wurde das Strafmaß auf bis zu zehn Jahre Haft erhöht, und jedes Familienoberhaut musste monatlich persönlich zur Registrierung beim Kommandanten des NKVD ersch einen.Mit Inkraft treten der Verordnung des Ministerrates der UdSS R vom 24. November 1948 (Erlass des Obersten Sowjets der UdSS R vom 26. November 1948) wurde das unerlaubte Entfernen aus dem Ansiedlungsort mit bis zu 20 Jahren Zwangsarbeit bestraft .34 Zu einer Ab-sch wäch ung dieses Regimes mit seinen drakonisch en Strafen kam es erst nach Stalins Tod.

ArbeitskolonnenAm 10. Januar 1942 besch loss das Staatlich e Verteidi-gungskomitee, etwa 120.000 deutsch e Männer im Alter von 17 bis 50 Jahren zur Verrich tung von Arbeiten in besonderen „Arbeitskolonnen“ der „Arbeitsarmee“ zu mobilisieren.35 Am 14. Februar 1942 wurde die Mobilisierung aller noch verbliebenen Männer dieser Jahrgänge angeordnet. Auf Besch luss des Staatlich en Verteidigungskomitees vom 7. Oktober 1942 wurden zusätzlich Männer im Alter von 15-16 und von 51-55 Jahren eingezogen.36

Zugleich wurde die Mobilisierung aller Frauen im Alter zwisch en 16 und 45 Jahren zum Einsatz in Arbeitsko-lonnen für die gesamte Dauer des Krieges verfügt. Von der Mobilisierung wurden nur Sch wangere und Frauen ausgenommen, die Kinder unter drei Jahren zu betreu-en hatt en. Ziff . 3 dieses Besch lusses sah vor: „Kinder über drei Jahre werden den anderen Mitgliedern der je-weiligen Familie in Pfl ege gegeben. Sind keine anderen Familienmitglieder außer den zu Mobilisierenden vor-handen, so werden die Kinder den näch sten Angehöri-gen oder den deutsch en Kolch osen in Pfl ege gegeben.Die örtlich en Sowjets der Werktätigendeputierten wer-den verpfl ich tet, Maßnahmen zur Unterbringung der ohne Eltern bleibenden Kinder der zu mobilisierenden Deutsch en zu ergreifen.“37

Nach Berech nungen wurden ca. 246.000 russlanddeut-sch e Männer im Alter zwisch en 15 und 50 Jahren und ca. 70.000 russlanddeutsch e Frauen im Alter zwisch en 16 und 45 Jahren in die „Arbeitsarmee“ eingezogen. V. Krieger kommt in seinen Untersuch ungen zu einer Ge-samtzahl von 350.000 deutsch en Zwangsarbeitern, d. h. dass jeder Dritt e aus dieser Volksgruppe sich während des Krieges in Arbeitslagern befand.38

Die Einberufungsquote der Männer lag bei 80 bis 90 Prozent, die der Frauen bei etwa einem Dritt el der ent-sprech enden arbeitsfähigen Jahrgänge. Bei Frauen, die weniger als drei Kinder bzw. keines unter drei Jahren hatt en, lag die Einberufungsquote bei nahezu 100 Pro-zent.Damit waren die deutsch en Familien für viele Jahre getrennt, Tausende von Kindern blieben ohne Aufsich t und Fürsorge. Viele von ihnen kamen in Kinderheime;

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

70

sie erhielten andere Namen und konnten in der Folge ihre Eltern nich t mehr fi nden.Insbesondere in den Jahren 1942 und 1943, als die Bau-stellen für die Aufnahme dieser großen Anzahl von überwiegend bäuerlich en Häft lingen nich t vorbereitet waren, war die Sterblich keit außerordentlich hoch . Sie trug genozidale Züge. So kam im Lager Vjatlag im Win-ter 1942 über ein Dritt el der Lagerinsassen ums Leben.39 Selbst nach Statistiken des NKVD waren zum 1. Januar 1943 rund 26 % der Arbeitsarmisten arbeitsunfähig.Der russisch e Historiker V. Berdinskich sch reibt über die Behandlung der Deutsch en in den Zwangsarbeits-lagern: „Sinn und Zweck der Überstellung der Russ-landdeutsch en in die Zuständigkeit des NKVD sei es gewesen, dass diese Mobilisierten ihre Muskelkraft zur Erfüllung des ihnen zugewiesenen Programms restlos zur Verfügung stellen sollten, um ‚vollständig amorti-siert‘ zu sterben.“40 Wer die Arbeitslager überlebte und entlassen wurde, kam zu seinen Angehörigen unter das Regime der Sondersiedlung.

Deportation wurde zur VertreibungDie Absch wäch ung des Regimes der Sondersiedlung begann 1954 mit der Entlassung von deutsch en Frau-en von Frontkämpfern, von minderjährigen Kindern, von Kinder aus Misch ehen (wenn diese die Volkszuge-hörigkeit des nich tdeutsch en Elternteils wählten), von Ordensträgern, Kommunisten und Fach leuten ausge-wählter Berufe.Am 13. Dezember 1955 wurde vom Obersten Sowjet der UdSS R sch ließlich die Aufh ebung des Regimes der Sondersiedlung besch lossen. Zugleich wurde aber ein Verbot der Rück kehr in die Siedlungsgebiete der Vor-kriegszeit verhängt. Jeder deportierte, für die Arbeits-kolonnen mobilisierte oder repatriierte Deutsch e muss-te vor seiner Entlassung aus der Sondersiedlung eine entsprech ende Erklärung untersch rieben. Damit wur-de aus der von bewaff neten Kräft en durch geführten Deportation eine von den Verwaltungsbehörden über-wach te, erzwungene Vertreibung aus der Heimat.41

Diese Vertreibung wurde für die Ukraine per Regie-rungsbesch lüsse 1956 und 1958 bekräft igt. Das bei der Deportation konfi szierte Eigentum aller Deportierten wurde nich t erstatt et und blieb endgültig verloren.Bei der Teilrehabilitierung durch das Dekret des Obers-ten Sowjets der UdSS R vom 29. August 1964 wurde die 1941 gegen die Deutsch en, die in der Wolgaregion sie-delten, erhobenen Ansch uldigungen der Kollaboration mit dem Feind als pausch al und unbegründet bezeich -net. Sie sollten aber weiterhin in den Verbannungsor-ten bleiben. Diesem Ziel dienten mehrere Kampagnen der KPdSU zur Sesshaft mach ung in den Gebieten der Zwangsansiedlung, insbesondere auch nach der for-mellen Aufh ebung des Rück kehrverbots 1972.In den Jahren 1989-1990 wurde immerhin unter Ein-beziehung der Gesellsch aft „Wiedergeburt“ versuch t, Deutsch e für die Rück kehr an die Wolga und in fünf Gebiete der Ukraine zu gewinnen, da die demographi-sch e Entwick lung zu einer fortsch reitenden Überalte-

Page 71: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

rung und einem akuten Arbeitskräft emangel in ehe-mals deutsch en Siedlungen geführt hatt e.Sowohl die ukrainisch e als auch die russisch e Regie-rung brach ten diese Bemühungen der regionalen Ver-waltungen zum Sch eitern. Die Aussage des russisch en Präsidenten B. Jelzin vom 8. Januar 1992, wonach die Wolgadeutsch en ihre Republik auf dem Gelände des verseuch ten Truppenübungsplatzes „Kapustin Jar“ erreich en könnten, sofern sie dort 90 % der Bevölke-rung stellen würden, bildete faktisch das Ende der Be-mühungen um eine vollständige Rehabilitierung der Wolgadeutsch en. Daran ändert nich ts, dass sich einige hundert Familien mit Unterstützung der russisch en und vor allem der deutsch en Regierung im Wolgage-biet eine neue Existenz aufb auen konnten.

Aus den Deportationen der Kriegsjahre wurde eine endgültige Vertreibung. Das kollektive und indivi-duelle Eigentum, alle Bildungs- und Kultureinrich -tungen gingen unwiederbringlich verloren. Auch Kirch engebäude, sofern diese noch vollständig oder zum Teil erhalten geblieben sind, und Grundstück e, die ehemals in kirch lich em Besitz waren, können nich t mehr an die Gemeinden zurück gegeben wer-den, wie dies Gesetze Russlands, der Ukraine und an-derer GUS-Republiken vorsehen. Diese Gemeinden existieren nich t mehr.

Anmerkungen

1 Sbornik zakonodatel’nych i normativnych aktov o repressijach i reabilitacii žertv političeskich repressij: v 2-ch častjach. Hrsg.: General’naja prokuratura RF. Pod obšč. red. G. F. Vesnovskoj. Kursk 1999. Č. 1, S. 218.

2 „Po rešeniju pravitel’stva Sojuza SSR…Sost.: N.F.Bugaj, A.M.Gonov. Nal’čik 2003, S. 246-247.

3 Eisfeld, A.; Martynenko, V.: Ėtnični nimci Ukraїny pid čas Drugoї svitovoї vijny i v povoenni roky. In: Ukraїna v drugij svitovij vijni: pogljad z XXI st. Knyga perša. Kyjiv 2011, S. 607.

4 Broševan, V.; Renpening, V.: Bol‘ i pamjat‘ krymskich nemcev (1941-2001 gg.): istoriko-dokumental’naja kniga. Simferopol‘ 2002, S. 116; Reabilitovannye istoriej: Avtonomnaja respublika Krym. Red. kol.: Antipenko, V. P.; Omel’čuk, D. V.; Akulov, M. P. u.a. Kn. 2, Simferopol‘ 2006, S. 8.

5 Stalinskie deportacii. 1928-1953. Sost.: N. L. Pobol‘; P. M. Poljan. Moskva 2005, S. 323.

6 Wisotzki, E.: Die Überlebensstrategien der rußlanddeutschen Men-noniten: Diss. phil. Bonn 1992, S. 107-108.

7 Loewen, J.: Jasykowo. Siedlungsschicksal am Dnjepr. Winnipeg 1995, S. 100-105.

8 Berdinskich, V. A.: Specposelency. Političeskaja ssylka narodov Sovetskoj Rossii. Moskva 2005, S. 151.

9 Stalinskie deportacii 1928 – 1953. Sost. N. L. Pobol‘, P. M. Poljan. Moskva 2005, S. 327.

10 „Po rešeniju pravitel’stva Sojuza SSR…, S. 251.11 „Po rešeniju pravitel’stva Sojuza SSR…, S. 255.

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

71

12 Stalinskie deportacii… , S. 328.13 Stalinskie deportacii…, S. 288.14 Stalinskie deportacii…, S. 296.15 Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee. Deutsche in der Sow-

jetunion 1941 bis 1956. Hrsg. von Alfred Eisfeld und Victor Herdt. Köln 1996, S. 49.

16 German, A.: Nemeckaja avtonomija na Volge 1918-1941. Čast‘ II. Avtonomnaja respublika 1924-1941. Saratov 1994, S. 302-303.

17 Stalinskie deportacii…, S. 333.18 Stalinskie deportacii…, S. 334-337.19 Stalinskie deportacii…, S. 337.20 Deutsch in: Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee. Deutsche

in der Sowjetunion 1941 bis 1956. Hrsg. von Alfred Eisfeld und Victor Herdt. Köln 1996, S. 89.

21 Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee..., S. 93.22 Berdinskich, V. A.: Specposelency..., S. 330.23 Stalinskie deportacii…, S. 348.24 Berechnet nach: Reabilitovani istorieju: Donec’ka oblast‘. Pred.

redkol.: Grymčak Ju. M. Doneck 2005. Kn. 2., S. 16-498.25 Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee…, S. 47.26 Cherdt, V. [Herdt, V.]: Ėtno-demografi českie processy v Saratovs-

koj oblasti v 1940-e gody. In: Rossijskie nemcy na Donu, Kavkaze i Volge. Materialy Rossijsko-Germanskoj naučnoj konferencii. Anapa, 22-26 sentjabrja 1994 g. Moskva 1995, S. 215.

27 Stalinskie deportacii…, S. 303-308.28 Eisfeld, A.: Die Russlanddeutschen. Mit Beiträgen von D. Brandes

und W. Kahle. 2. Erweiterte und aktualisierte Aufl age. München 1999, S. 123.

29 Vedomosti Verchovnogo Soveta SSSR. 1941. Nr. 40.30 Cherdt, V. [Herdt, V.]: Ėtno-demografi českie processy v Saratovs-

koj oblasti v 1940-e gody. In: Rossijskie nemcy na Donu, Kavkaze i Volge. Materialy Rossijsko-Germanskoj naučnoj konferencii. Anapa, 22-26 sentjabrja 1994 g. Moskva 1995, S. 218-219.

31 Eisfeld, A.: „Repatriierung“ in die Fremde. In: Von der Autono-miegründung zur Verbannung und Entrechtung. Die Jahre 1918 und 1941 bis 1948 in der Geschichte der Deutschen aus Russ-land. Hrsg.: Alfred Eisfeld. Stuttgart 2008, S. 123-136; russisch: Repatriacija na čužbinu… (repatriacija sovetskich nemcev 1946-1947 gg.). In: Z archiviv VUČK, GPU, NKVD, KGB. Naukovyj i dokumental’nyj žurnal. Nr. 2 (29). Kyjv, 2007, S. 99-119. S. a. http://www.reabit.org.ua/fi les/store/J2007.2.pdf.

32 Istorija stalinskogo GULAGa, S. 473.33 Gosudarstvennyj archiv Dnepropetrovskoj oblasti (GADO). F. 19,

op. 4, d. 268, l. 23.34 Herdt, V.: Die Neuordnung des Sondersiedlungsregimes und das

Dekret vom 26. November 1948. In: Von der Autonomiegründung zur Verbannung und Entrechtung. Die Jahre 1918 und 1941 bis 1948 in der Geschichte der Deutschen aus Russland. Hrsg.: Alfred Eisfeld. Stuttgart 2008, S. 204-211.

35 Auman, V. A., Čebotareva, V. G.: Istoria rossijskich nemcev v doku-mentach (1763-1992). Moskva, 1993. S. 171.

36 Ebenda, S. 172-173.37 Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee…, S. 183.38 Krieger, V.: Einsatz im Zwangsarbeitslager. In: Von der Autono-

miegründung zur Verbannung und Entrechtung. Die Jahre 1918 und 1941 bis 1948 in der Geschichte der Deutschen aus Russland. Hrsg.: Alfred Eisfeld. Stuttgart 2008, S. 143.

39 Berdinskich, V.: Istorija odnogo lagerja (Vjatlag). Moskva 2001, S. 213.

40 Berdinskich, V.: Specposelency…, S. 325.41 Zur Defi nition der Vertreibung s. Zayas, A. de: 50 Thesen zur Ver-

treibung. London/München 2008, S. 11.

Page 72: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Juni bis September 1936:Ca. 15.000 Deutsch e aus grenznahen Gebieten der Uk-rainisch en SS R wurden in das Gebiet Karaganda der Kasach isch en SS R zwangsumgesiedelt.Grundlage: Verordnung des Rates der Volkskommissare der UdSS R vom 28. April 1936 Nr. 776–120ss.

Juni-August 1941:27.970 Deutsch e wurden in entlegene Regionen der UdSS R deportiert.Grundlage: Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSS R vom 22. Juni 1941 „Über den Kriegszustand“; Befehle von Kriegs-räten einzelner Fronten; Direktive des NKVD der UdSS R und des NKGB der UdSS R vom 4. Juli 1941 Nr. 238-131 „Über Maßnahmen zur Umsiedlung von sozial-gefährlich en Elementen aus Rayons, über die der Kriegszustand verhängt worden ist“.

August 1941:1.200 Arbeitssiedler, ehemalige Bauern aus grenznahen Gebieten der Ukrainisch en SS R, die in die vormals Ka-relisch e ASS R zwangsumgesiedelt worden waren, wur-den in die ASS R der Komi deportiert.Grundlage: Befehl des Volkskommissars des Innern der UdSS R über die Umsiedlung deutsch er Arbeitssiedler aus der Karelo-Finni-sch en SS R in die Komi ASS R (3. August 1941).

August 1941:Ca. 50.000 Deutsch e von der Krim wurden vorüberge-hend in die Region Ordžonikidze und ca. 3.000 in das Gebiet Rostov zwangsumgesiedelt. Von September bis Oktober erfolgte ihre Deportation zusammen mit den anderen Deutsch en aus diesen Gebieten nach Kazach s-tan und Sibirien (siehe unten).Grundlage:Besch luss des Rates für Evakuierung vom 15. August 1941 Nr. SĖ-75ss.Im Oktober 1941 erfolgte eine Nach umsiedlung von 2.233 Deutsch en von der Krim in das Gebiet Omsk und in die Kazach isch e SS R.

August-November 1941:Ca. 10.000 Deutsch e aus der Stadt und dem Gebiet Leningrad wurden in die Gebiete Omsk und Irkutsk, die Region Krasnojarsk und in die Jakutisch e ASS R zwangsumgesiedelt. (Es gibt auch Angaben, wonach 6.500 Deutsch e aus den Vororten von Leningrad in das Gebiet Džambul der Kazach isch en SS R zwangsumge-siedelt worden seien.)

März 1942:Nach umsiedlung von Deutsch en aus dem Gebiet Le-ningrad.

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

72

Grundlage:Befehl des Kriegsrats der Leningrader Front vom 26. Au-gust 1941 Nr. 196ss „Über die vollständige Evakuierung der deutsch en und fi nnisch en Bevölkerung aus den Vororten von Leningrad; Befehl des Kriegsrates der Leningrader Front Nr. 00713 vom 9. März 1942“.

3. - 20. September 1941:Ca. 371.000 Deutsch e aus der Republik der Wolgadeut-sch en, ca. 46.700 aus dem Gebiet Saratov und ca. 26.200 aus dem Gebiet Stalingrad in die Kazach isch e SS R, die sibirisch en Regionen Krasnojarsk und Altaj und die si-birisch en Gebiete Omsk und Novosibirsk deportiert.Grundlagen: Verordnung des Rates der Volkskommissare der UdSS R und des Zentralkomitees der KPdSU (B) vom 26. August 1941 Nr. 2056-933ss „Über die Umsiedlung aller Deutsch en der Republik der Wolgadeutsch en und der Gebiete Saratov und Stalingrad in andere Regionen und Gebiete“; Befehl des NKVD der UdSS R vom 27. August 1941 Nr. 001158 „Über Maßnahmen zur Durch führung der Operation zur Aussied-lung der Deutsch en aus der Republik der Wolgadeutsch en, den Gebieten Saratov und Stalingrad“; Erlass des Präsidi-ums des Obersten Sowjets der UdSS R vom 28. August 1941 „Über die Umsiedlung der Deutsch en, die in den Wolgara-yons leben“.

August-September 1941:Alle Deutsch en in der Ukrainisch en SS R, die als „anti-sowjetisch es Element“ eingestuft worden waren, soll-ten verhaft et und alle Männer deutsch er Volkszuge-hörigkeit im Alter zwisch en 16 und 60 Jahren, die sich auf dem Territorium der Ukrainisch en SS R aufh ielten, sollten für Arbeiten in Baubataillonen des NKVD mobi-lisiert werden. Diese Maßnahmen konnten wegen des sch nellen deutsch en Vormarsch es nur zum Teil durch -geführt werden. Es wurden dennoch 13 Baubataillone mit 18.600 Deutsch en aus der Ukraine aufgestellt und auf vier Objekte des NKVD verteilt – Ivdel’lag, Soli-kambumstroj, Bogoslovstroj und Kimpersajlag.Grundlage:Besch luss des Politbüros des CK der VKP(b) vom 31. August 1941 »Über die Deutsch en, die auf dem Territorium der Uk-rainisch en SS R leben«.

September 1941:8.248 (nach anderen Angaben 8.640) Deutsch e aus der Stadt und dem Gebiet Moskau wurden in die Gebie-te Akmolinsk, Karaganda und Kzyl-Orda sowie über 38.000 (nach anderen Angaben sollen es zwisch en 21.400 und 33.300 gewesen sein) Deutsch e aus dem Ge-biet Rostov, von denen ca. 3.000 ursprünglich dorthin von der Krim „evakuiert“ worden waren (siehe oben), in die Gebiete Süd-Kazach stan, Džambul, Kzyl-Orda der Kazach isch en SS R, nach anderen Angaben zum Teil

Zeittafel der Deportationen(zusammengestellt von Viktor Herdt)

Page 73: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

auch in die Region Altaj und in das Gebiet Novosibirsk deportiert.

Mai-Juni 1942:Nach umsiedlung der verbliebenen Deutsch en im Ge-biet Rostov.Grundlage: Besch luss des Staatlich en Verteidigungskomitees der UdSS R Nr. 636ss vom 6. September 1941 über die Umsiedlung der Deutsch en aus der Stadt und dem Gebiet Moskau sowie aus dem Gebiet Rostov; Befehl des Volkskommissars des Innern der UdSS R Nr. 001237 vom 8./9. September 1941 „Über Maßnahmen zur Durch führung der Operation zur Umsied-lung der Deutsch en aus der Stadt und dem Gebiet Moskau“; Besch luss des Staatlich en Verteidigungskomitees Nr. 1828ss vom 29. Mai 1942.

September-Oktober 1941:Deportiert wurden:- 37.300 Deutsch e aus der Region Krasnodar in die Ge-

biete Ost-Kazach stan, Džambul, Karaganda, Pavlodar, Semipalatinsk und Süd-Kazach stan der Kazach isch en SS R und in das Gebiet Novosibirsk;

- 88.903 Deutsch e aus der Region Ordžonikidze, dar-unter ca. 50.000 Deutsch e von der Krim, die vorüber-gehend dort angesiedelt worden waren (siehe oben), in die Gebiete Karaganda, Kustanaj, Pavlodar, Nord-Kazach stan, Semipalatinsk und Süd-Kazach stan der Kazach isch en SS R;

- 3.058 Deutsch e aus dem Gebiet Tula (darunter 356 Deutsch e aus der Stadt Moskau) in das Gebiet Kara-ganda der Kazach isch en SS R;

- 5.083 Deutsch e aus der Kabardino-Balkarisch en ASS R in das Gebiet Alma-Ata der Kazach isch en SS R;

- 2.415 Deutsch e aus der Nord-Osetisch en ASS R in das Gebiet Alma-Ata der Kazach isch en SS R.

Mai-Juni 1942:Nach umsiedlung der verbliebenen Deutsch en aus der Region Krasnodar.Grundlage: Besch luss des Staatlich en Verteidigungskomitees der UdSS R Nr. 698ss vom 21. September 1941 „Über die Umsiedlung der Deutsch en aus den Regionen Krasnodar und Ordžonikidze, dem Gebiet Tula, der Kabardino–Balkarisch en und Nord–Osetisch en ASS R“; Befehl des Volkskommissars für Innere Angelegenheiten der UdSS R Nr. 001347 vom 22. Septem-ber 1941 „Über Maßnahmen zur Durch führung der Um-siedlung der Deutsch en aus den Regionen Krasnodar und Ordžonikidze, dem Gebiet Tula, der Kabardino–Balkarisch en und der Nord–Osetisch en ASS R“; Besch luss des Staatlich en Verteidigungskomitees Nr. 1828ss vom 29. Mai 1942.

September-Oktober 1941:Deportationen von- ca. 14.500 (von ca. 53.500) Deutsch en aus dem Gebiet

Zaporož‘e nach Kazach stan (geplant war die Zwangs-umsiedlung in die Gebiete Aktjubinsk, Džambul, Karaganda, Kzyl-Orda, Kustanaj und Semipalatinsk) und in das Gebiet Novosibirsk;

- 35.477 Deutsch en aus dem Gebiet Stalino in die Gebie-te Alma-Ata, Akmolinsk, Ost-Kazach stan, Pavlodar

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

73

und Semipalatinsk der Kazach isch en SS R;- 9.858 Deutsch en aus dem Gebiet Vorošilovgrad in die

Gebiete Nord-Kazach stan und Semipalatinsk.Ein Teil dieses “Kontingents“ wurde unterwegs aus den Zügen geholt und für den Straßenbau im Gebiet Astrach an‘ verpfl ich tet, so dass in den Bestimmungsor-ten nich t alle ankamen.Die Angaben über die Zahl der deportierten Deutsch en aus den drei Gebieten der Ukrainisch en SS R variieren sehr stark, weil durch den sch nellen Vormarsch der Wehrmach t die Deportationen der Deutsch en aus die-sen Gebieten zum Teil nich t statt fi nden konnten. Im Jahre 1948 wurde in einer statistisch en Übersich t des NKVD die Zahl der aus diesen Gebieten Deportierten mit 79.589 (von 109.487) angegeben.Grundlage: Besch luss des Staatlich en Verteidigungskomitees der UdSS R Nr. 702ss vom 22. September 1941 „Über die Umsiedlung der Deutsch en aus den Gebieten Zaporož‘e, Stalino und Vorošilovgrad“; Befehl des Volkskommissars für Innere An-gelegenheiten der UdSS R Nr. 001354 vom 23. September 1941 „Über Maßnahmen zur Durch führung der Umsied-lung der Deutsch en aus den Gebieten Zaporož‘e, Stalino und Vorošilovgrad“.

15.-22. Oktober 1941und Juni 1942:

5.308 Deutsch e aus dem Gebiet Voronež wurden in die sibirisch en Gebiete Omsk und Novosibirsk zwangsum-gesiedelt.Grundlage: Besch luss des Staatlich en Verteidigungskomitees der UdSS R Nr. 743ss vom 8. Oktober 1941 „Über die Umsiedlung der Deutsch en aus dem Gebiet Voronež“; Befehl des NKVD der UdSS R Nr. 001488 vom 11. Oktober 1941 „Über Maß-nahmen zur Durch führung der Deutsch en aus dem Gebiet Voronež“.

15.-30. Oktober 1941:Deportiert wurden:- aus der Georgisch en SS R ca. 20.400 (von 23.580) Per-

sonen deutsch er Volkszugehörigkeit über Baku und Krasnovodsk in die Gebiete Alma-Ata, Džambul, Süd-Kazach stan, Pavlodar und Semipalatinsk der Ka-zach isch en SS R;

- aus der Azerbajdžanisch en SS R ca. 22.700 deutsch e Volkszugehörige (von 22.841 registrierten) über Baku und Krasnovodsk in die Gebiete Akmolinsk, Kusta-naj, Karaganda, Nord-Kazach stan und Pavlodar der Kazach isch en SS R;

- ca. 200 Personen deutsch er Volkszugehötigkeit aus der Armenisch en SS R über Baku und Krasnovodsk in das Gebiet Pavlodar der Kazach isch en SS R.

Grundlage:Besch luss des Staatlich en Verteidigungskomitees der UdSS R Nr. 744ss vom 8. Oktober 1941“ Über die Umsiedlung der Deutsch en aus der Georgisch en, der Azerbajdžanisch en und der Armenisch en SS R; Befehl des NKVD der UdSS R Nr. 001487 vom 11. Oktober 1941 über Maßnahmen des NKVD zur Durch führung der Umsiedlung der Deutsch en aus der

Page 74: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Georgisch en, der Azerbajdžanisch en und der Armenisch en SS R“.

20.-23. Oktober 1941:2.544 (nach anderen Angaben 3.162) Deutsch e aus dem Gebiet Gor’kij wurden in das sibirisch e Gebiet Omsk deportiert.Grundlage: Befehl des NKVD der UdSS R Nr. 001507 vom 15. Oktober 1941 „Über Maßnahmen zur Umsiedlung der Deutsch en aus dem Gebiet Gor‘kij “. (In dem Befehl gibt es einen Ver-weis, dass die Umsiedlung auf Grund eines Besch lusses des Staatlich en Verteidigungskomitees erfolgte.)

25.-30. Oktober 1941:Aus der Dagestanisch en ASS R wurden 7.306 (regist-riert waren lediglich 4012, zur Umsiedlung waren 4.580 vorgesehen) in das Gebiet Akmolinsk der Kazach isch en SS R zwangsumgesiedelt. Grundlage:Besch luss des Staatlich en Verteidigungskomitees der UdSS R Nr. 827ss „Über die Umsiedlung der Deutsch en aus der Dagestanisch en ASS R und der ASS R der Čečenen und Ingušen“; Befehl des NKVD der UdSS R Nr. 001529 vom 24. Oktober 1941 „Über Maßnahmen zur Umsiedlung der Deutsch en aus der Dagestanisch en ASS R und der ASS R der Čečenen und Ingušen“.

Oktober-November 1941Deutsch e aus Industriezentren und -gebieten wurden in landwirtsch aft lich e Regionen umgesiedelt.Grundlage:Verordnung des Sovnarkom der UdSS R vom 30. Oktober 1941 Nr. 57–k „Über die Ansiedlung von Personen deut-sch er Nationalität aus Industriegebieten in landwirtsch aft -lich e Regionen“.

3.-10. November 1941:Deportation von 5.525 (von ca. 6.000 registrierten) Deutsch en aus der Kalmück isch en ASS R in das Gebiet Akmolinsk der Kazach isch en SS R.Grundlage:Verordnung des Rates der Volkskommissare der UdSS R vom

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

74

2. November 1941 Nr. 84–ks „Über die Umsiedlung der Deutsch en aus der Kalmück isch en ASS R“; Befehl des NKVD der UdSS R Nr. 001543 vom 3. November 1941 „Über Maß-nahmen zur Durch führung der Umsiedlung der Deutsch en aus der Kalmück isch en ASS R“.

November 1941Deutsch e wurden aus grenznahen Gegenden des Ge-biets Čita ins Gebietsinnere zwangsumgesiedelt.Grundlage: Verordnung des Sovnarkom der UdSS R vom 14. November 1941 Nr. 180–ks „Über die Umsiedlung von Personen deut-sch er Nationalität aus Grenzgebieten ins Hinterland inner-halb des Gebiets Čita“.

1.-10. Dezember 1941:Deportation von 8.665 (nach anderen Angaben 8.787)Deutsch en aus der Stadt und dem Gebiet Kyjbyšev (re-gistriert waren ca. 11.500 Deutsch e) in die Gebiete Ka-raganda und Nord-Kazach stan der Kazach isch en SS R.Grundlage:Verordnung des Sovnarkom der UdSS R vom 21. Novem-ber 1941 Nr. 280–ks „Über die Aussiedlung der Deutsch en aus dem Gebiet Kyjbyšev“; Befehl des NKVD der UdSS R Nr. 001790 vom 23. November 1941 über Maßnahmen zur Durch führung der Umsiedlung der Deutsch en aus dem Ge-biet Kyjbyšev“.

Deportationen von Deutsch en auf Grund von Befeh-len von Kriegsräten einzelner Fronten erfolgten je nach Vormarsch der Wehrmach t aus- dem Gebiet Char‘kov in die Kazach isch e SS R – 851

Personen;- dem Gebiet Dnepropetrovsk in die Kazach isch e SS R

(nach anderen Angaben in die Region Altaj) – 3.384 Personen;

- dem Gebiet Odessa in die Region Altaj – ca. 6.000 Per-sonen.

Juni 1942Nach der Befreiung des Gebiets Kalinin durch die Rote Armee wurden 267 Deutsch e in das Gebiet Omsk de-portiert.

Page 75: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Vorboten der Katastrophe Den unmitt elbaren Anlass zur Aufl ösung der autono-men Republik und zur Einleitung der totalen Depor-tation der deutsch en Minderheit konnte ein Brief der Politbüro-Mitglieder Andrei Sch danow, Wjatsch eslaw Molotow und Georgi Malenkow an Stalin vom 24. Au-gust 1941 geben, in dem sie ihn über den vereinbarten Besch luss informierten, die Aussiedlung von 88.700 Finnen und 6.700 Deutsch en aus dem Gebiet Leningrad unverzüglich einzuleiten.1

Sch on Woch en zuvor drängte die militärisch e Führung, ähnlich wie im Ersten Weltkrieg, mit Hinweisen auf die „verräterisch en“ Aktivitäten der deutsch en Bevölke-rung auf ihre Ausweisung aus den frontnahen Gebie-ten. So traf am 3. August 1941 im Hauptquartier des Oberkommandos der sowjetisch en Streitkräft e folgen-de Gefech tsmeldung des Kriegsrats der Südfront ein2:

„1. Die Kriegshandlungen am Dnestr haben gezeigt, dass die deutsch e Bevölkerung auf unsere zurück wei-ch enden Truppen aus Fenstern und Gärten sch oss. Es wurde ferner festgestellt, dass die einmarsch ierenden deutsch en Truppen am 1. August in einem deutsch en Dorf mit Brot und Salz begrüßt wurden. Auf dem Ter-ritorium der Front gibt es eine Vielzahl von Siedlungen mit deutsch er Bevölkerung.

2. Wir bitt en, den örtlich en Mach torganen Anweisungen über die unverzüglich e Aussiedlung der unzuverlässigen Elemente zu geben.“

Bis heute gibt es keine Belege dafür, dass derartige Aktionen irgendwo tatsäch lich statt fanden. Immerhin trug dieses Telegramm Stalins Vermerk „Towarisch tsch u Berij a. Nado wyselit s treskom! – Dem Genossen Berij a. Raus mit Ihnen, so dass die Türen knallen!“ und wies noch einen weiteren Eintrag auf: „Dem Volkskom-missar (Berij a – V.K.) wurde dies mitgeteilt. 25.08.41.“ Drei Woch en lang lag diese Gefech tsmeldung auf Sta-lins Tisch , bevor er den passenden Zeitpunkt kommen sah und mit einem wohl kalkulierten Wutausbruch („Raus mit ihnen...“) die Verbannung der als illo-yal empfundenen „heimisch en“ Deutsch en einleitete. Bezeich nenderweise betraf diese Anweisung vorerst nich t die besch uldigten Sch warzmeer-, sondern die weit von der Frontlinie entfernt gelegenen und noch „unverdäch tigen“Wolgadeutsch en. Das kann nur mit der Absich t erklärt werden, die angeblich e Illoyalität der Deutsch en für die Liquidation der autonomen Re-publik zu nutzen.

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

75

Der Entschluss zur DeportationNoch am selben Tag bereitete der NKWD-Chef eine Vorlage über die Aussiedlung der Deutsch en aus dem Wolgagebiet vor und reich te sie ins Politbüro ein. Am 26. August 1941 ordnete Stalin, unterstützt von seinen engsten Mitarbeitern und Anhängern, die Aussiedlung der Wolgadeutsch en an. Dies wurde als Entsch eidung des ZK der bolsch ewistisch en Partei und der Regierung getarnt. In diesem streng geheimen Besch luss, der sich nur an einen engeren Kreis der Partei- und Staatsführer rich tete, fehlten jeglich e Sch uldzuweisungen. Die aus insgesamt 19 Artikeln bestehende Direktive – in betont sach lich er Lesart verfasst – vermitt elt den Eindruck ei-ner Anweisung zur planmäßigen Übersiedlung.3 Einen Tag später erließ das Kommissariat (Ministe-rium) des Inneren, zuständig für solch e „Mensch en-transfers“, zwei wich tige Anordnungen. Es handelte sich zum einen um den Befehl Nr. 001158, untersch rie-ben von Berij a, „Über Maßnahmen zur Durch führung der Operation zur Umsiedlung der Deutsch en aus der Wolgadeutsch en Republik, aus den Gebieten Saratow und Stalingrad.“ Die Deportation sollte am 2. Septem-ber beginnen und bis zum 20. September abgesch lossen sein.Das zweite Dokument hieß „Instruktion zur Durch -führung der Umsiedlung der Deutsch en, die in der ASS R der Wolgadeutsch en, in den Gebieten Saratow und Stalingrad ansässig sind“. Die ersten Zeilen die-ser Handlungsanweisung ließen an dem totalen Cha-rakter dieser Maßnahme keinen Zweifel: „Überzusie-deln sind alle Einwohner deutsch er Nationalität, die in den Städten und ländlich en Siedlungen der ASS R der Wolgadeutsch en, der Gebiete Saratow und Stalingrad leben. Mitglieder der Partei und des kommunistisch en Jugendverbands Komsomol sind gleich zeitig mit den anderen umzusiedeln“.Einzig Frauen, deren Ehemänner nich t Deutsch e wa-ren, blieben von der Verbannung versch ont.4

Da es sich um die Aufl ösung einer in der Unionsver-fassung erwähnten autonomen Republik handelte, ließ das Politbüro am 28. August 1941 einen mit fadensch ei-nigen Kollaborationsvorwürfen bestück ten Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSS R verab-sch ieden, der von dem willenlosen nominellen Staats-oberhaupt Mich ail Kalinin untersch rieben wurde.Im Gegensatz zu dem „intern“ verfassten Regierungs- und Parteibesch luss wurde im Erlass vom 28. August gegen die Deutsch en die sch werwiegende Anklage von „Tausenden und Zehntausenden Diversanten und Spi-onen“ unter ihnen erhoben und sie somit zu Feinden des Sowjetstaates erklärt.Die Verbannung der deutsch en Diasporagruppen aus dem übrigen europäisch en Teil der Sowjetunion erfolg-te in den darauf folgenden Woch en und Monaten auf

Dr. Viktor KriegerVorgeschichte und Umstände der Deportation im Jahre 1941*

* Vom Autor durch gesehene und leich t gekürzte Fassung des Erstdruck es von: Vorgesch ich te und Umstände der Deportation der Russlanddeutsch en im Jahr 1941, in: Volk auf dem Weg Nr. 8-9/2006, S. 14-16.

Page 76: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

geheime Besch lüsse des Staatlich en Verteidigungsko-mitees (GKO) sowie auf Befehle des NKWD und der Kriegsräte einzelner Fronten hin. In einigen Fällen wurde die Anordnung über die Ausweisung durch den Rat der Volkskommissäre der UdSS R oder die jeweilige Unionsrepublik verfasst.5

In der darauf folgenden Zeit zett elte das Kommissari-at des Inneren eine regelrech te Jagd auf Sowjetbürger deutsch er Herkunft an, um die noch nich t registrierten Personen zu erfassen und abzusch ieben:6

“Weil eine Registrierung der Deutsch en in der Stadt Tula fehlte, wird zur Zeit seitens der Milizverwaltung eine verdeck te Arbeit zum Aufspüren aller auf dem Territorium der Stadt wohnhaft en Deutsch en durch die Wohnungsämter abgewick elt. Außerdem wird dieselbe Arbeit von Sonderabteilungen der Betriebe und Behör-den... und der verdeck ten Informanten der operativen Abteilungen des NKWD ausgeführt. Diese Arbeit muss am 27. September dieses Jahres [1941] vollendet sein.“

Das Verhalten der Betroffenenund der Mehrheitsbevölkerung Noch am 29. August – drei Tage nach dem geheimen De-portationsbesch luss – ersch ien in der Republikzeitung „Nach rich ten“ ein Leitartikel, in dem unter anderem zu lesen war: „Unser Volk, das Sowjetvolk der freien und glück lich en ASS RdWD, ist stolz, dass es in diesem gro-ßen Krieg um die Unabhängigkeit unseres Vaterlandes in einer Reihe mit dem großen russisch en Brudervolke, mit allen Völkern der Sowjetunion kämpft .“Diese Nummer enthielt zudem ausführlich e Sch ilde-rungen über den Heldentod des wolgadeutsch en Kom-somolzen Heinrich Hoff mann aus dem Kanton Krasny Kut, worüber einige Tage zuvor die zentrale sowjeti-sch e Jugendzeitung „Komsomolskaja Prawda“ berich -tete, und druck te den Sch wur seiner Krasny Kuter Ver-bandsgenossen ab.Der am näch sten Tag veröff entlich te Erlass „Über die Übersiedlung der Deutsch en, die in den Wolgarayons wohnen“ ersch ütt erte daher die Betroff enen zutiefst und rief Fassungslosigkeit und Empörung hervor; es kam jedoch zu keinen off enen Protestaktionen.Der Geheimdienst verzeich nete folgende Aussagen: „Wovon der Zarismus geträumt hat – die Deutsch en nach Sibirien zu verbannen – wird jetzt verwirklich t.“ „Das war zu erwarten gewesen. Hitler beginnt Russ-land immer mehr in die Enge zu treiben, bald werden die deutsch en Truppen bis nach Stalingrad und Engels vorstoßen, deshalb fährt man uns raus.“7

In der Stadt und im Gebiet Moskau versuch ten vier Per-sonen nach der Bekanntgabe des Aussiedlungsbefehls Selbstmord zu begehen. Ein Ehepaar nahm sich das Le-ben, weil die Frau aus gesundheitlich en Gründen nich t wegziehen konnte.Eine derartige Verleumdung und Erniedrigung un-geach tet individueller „Verdienste“ nach 1917 wirkte besonders entt äusch end auf die Partei- und Komso-

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

76

molmitglieder, auf die deutsch en Funktionäre und den Großteil der „neuen“ Intelligenz.Sch merzlich e Desillusion trieb einige Führungskräf-te trotz Parteidisziplin zu originellen Protestaktionen: Der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare der ASS RdWD, Alexander Heck mann, der noch einige Wo-ch en zuvor das „glück lich e und wohlhabende“ Leben der Wolgadeutsch en als gleich berech tigte Nation im „Bruderbunde der Sowjetvölker“ gepriesen hatt e, fuhr vor der Abreise nach Sibirien mit seinem Dienstwagen auf den Stadtmarkt in Engels. Dort begann er, „de-monstrativ“ Hausratgegenstände und Kleidungsstück e anzubieten. „Sogar den Ministerpräsidenten haben sie gezwungen, private Sach en auf dem Basar zu verkau-fen“, soll Heck mann in diesem Zusammenhang gesagt haben. Für diese „antisowjetisch e“ Handlung sch loss man ihn umgehend aus der Partei aus.8

In der Stadt Naltsch ik, der Metropole der nordkaukasi-sch en Republik Kabardino-Balkarien, wandte sich der Deutsch e Heller, ein Parteianwärter, bei der Bekannt-mach ung der Aussiedlung zum Sekretär der Stadtpar-teikomitees und sch leuderte ihm sein Mitgliedsbuch entgegen mit den Worten: „Wieso demütigen sie uns und vernich ten ehrlich e Leute, ich fahre nich t, soll man mich doch ersch ießen.“Aber selbst verbaler Ungehorsam war eine Ausnahme; die überwältigende Mehrheit der Deutsch en fügte sich widerstandslos ihrem Sch ick sal.Die Reaktionen der andersethnisch en Bevölkerung auf die Verbannung der Russlanddeutsch en waren unter-sch iedlich . In engeren Freundes- und Verwandtsch aft s-kreisen sowie unter Kollegen am Arbeitsplatz gab es Beispiele von Solidarität, Mensch lich keit und Unter-stützung, die von den Behörden angeprangert wur-den.Einige prominente Persönlich keiten deutsch er Herkunft konnten dank Bitt gesuch en einfl ussreich er Freunde vor Ausweisung, berufl ich er Degradierung und Einwei-sung ins Arbeitslager versch ont werden.Das Sch ick sal des bedeutenden Pianisten und Pädago-gen Heinrich Neuhaus ist ein Beispiel dafür. Er wurde am 4. November 1941 als Deutsch er in Moskau ver-haft et und danach in die Verbannung gesch ick t. Dank der Bemühungen seiner Sch üler und Kollegen, u.a. Dmitri Sch ostakowitsch , bekam er die Erlaubnis, in Swerdlowsk zu wohnen und am Konservatorium zu unterrich ten, bevor er 1944 wieder nach Moskau zu-rück kehren durft e.9

Nur ganz wenige Zeitgenossen hatt en den Mut, wenn auch nur in privater Umgebung, die Deportationen als Verbrech en zu bezeich nen. Zu diesen Aufrich tigen ge-hörte der weltberühmte Sch rift steller Boris Pasternak, der in einem Brief an seine Frau Sinaida Nikolaewna am 12. September 1941 sch rieb:10

„Sch on vor einigen Tagen wurde über die totale Aus-siedlung der ganzen Republik der Wolgadeutsch en (bis zu einer Mio. Mensch en) nach Zentralasien oder hinter das Altaj-Gebirge gesproch en. Und plötzlich erreich t es die Moskauer Deutsch en, beispielsweise Rita William.

Page 77: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Ausgerech net in dieser sch reck lich en regnerisch en Nach t [in der dieser Brief niedergesch rieben wurde] haben in Peredelkino Kaisers und Elsners davon erfahren, ehr-lich e, unsch uldige und arbeitsame Leute, die bei Paw-lenkos wohnen. Sie müssen morgen nach Kasach stan, hinter Tasch kent, ausziehen. Die ganze Nach t hat mich das bedrück t. Wie viel Leid und Übel gibt es doch überall, zu welch en Höhen ballt sich die mensch lich e Verwüs-tung, wie viele Aufrech nungen, die sich oft überdeck en, bewahrt die mensch lich e Rach such t, wie viele Jahrzehnte sollen bis zur beiderseitigen Versöhnung in der Zukunft vergehen?“

Solch e Ansich ten gehörten jedoch zu den Ausnahmen. Wie es in Diktaturen üblich ist, sch wiegen die meisten oder sch auten weg. Durch die seit Mitt e der 1930er Jah-re in Gang gesetzte großrussisch e Interpretation der Gesch ich te war die sowjetisch e Bevölkerung für die Aufnahme von antideutsch en Ressentiments empfäng-lich geworden.Weder in den Städten Moskau, Engels oder Saratow, wo vor Augen russisch er, ukrainisch er, jüdisch er oder tatarisch er Nach barn und Arbeitskollegen Deutsch e in Sammelstellen der Miliz getrieben und in Güterzügen verfrach tet wurden, noch auf dem Lande kam es zu ei-nem off enen Protest gegen diese Aktionen.Nich t wenige billigten dieses Vorgehen. Von der massi-ven Hasspropaganda verblendet, konnten oder wollten die Einwohner des Landes zwisch en ihren deutsch en Landsleuten und dem Aggressor keinen Untersch ied mach en: „Es ist gut, dass die Deutsch en umgesiedelt werden, längst hätt e dies gesch ehen müssen, unter ihnen sind viele Spione. Die Deutsch en an der Front misshandeln unsere Kämpfer und unsere friedlich en Einwohner.“11

Nach der VerbannungEine nich t unbeträch tlich e Zahl der ehemaligen Nach -barn beteiligte sich sogar an Diebeszügen in die nun herrenlosen Siedlungen, so dass das Saratower Gebiets-parteikomitee am 22. September 1941, wenige Tage nach der Verbannung, in einer Sitzung die „beispiello-sen Plünderungen“ der verlassenen und requirierten Güter geißelte.Ähnlich e Vorkommnisse gab es in anderen von den Deutsch en zurück gelassenen Orten. Am 24. Januar 1942 erließ Mich ail Suslow, Sekretär des Regionspartei-komitees Stawropol im Nordkaukasus, eine besondere Anordnung zur erneuten Bestandsaufnahme und zum wirksamen Sch utz des von den Deutsch en konfi szier-ten privaten und kolch oseigenen Besitzes, der sonst verfallen oder ausgeraubt worden wäre.12

Um die Erinnerung an die einstigen Einwohner des Wolgagebiets endgültig zu eliminieren, verfügte das Präsidium des Obersten Sowjets der Russisch en Föde-ration im Erlass vom 19. Mai 1942 die Russifi zierung der deutsch en Ortsnamen.Einige Siedlungen hatt en sch on früher deutsch -russi-sch e Namen gehabt; ab sofort durft en nur die letzteren

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

77

benutzt werden. Die anderen erhielten größtenteils pa-triotisch e sowjetrussisch e Toponyme: die Stadt Balzer hieß nun Krasnoarmejsk, d.h. Rotarmist; eine der ältes-ten und größten wolgadeutsch en Siedlung Marienthal (gegründet 1766) mutierte zu Sowetskoje; Jost wurde nun in Oktjabrskoje umbenannt usw.Wo es aus verbliebenen ideologisch en Gründen gewis-se Hemmungen gab, handelte man zurück haltender: Die ehemalige Hauptstadt Engels durft e ihren erst im Oktober 1931 verliehenen Namen beibehalten; von Marxstadt blieb nur die erste Hälft e übrig; der verrä-terisch e Zusatz -stadt musste weg.13 Entsprech ende Umbenennungen fanden in allen Republiken und Pro-vinzen, aus denen die Deutsch en zwangsausgesiedelt wurden, statt .

Anmerkungen

1 Musaev V.: Političeskaja istorija Ingermanlandii v konce XIX-XX veke [Politische Geschichte Ingermanlands Ende des 19. und im 20. Jahrhundert]. Kischinew, St.-Petersburg 2001, S. 256-257.

2 Alfred Eisfeld, Victor Herdt (Hg.): Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee: Deutsche in der Sowjetunion 1941 bis 1956. Köln 1996, S. 45.

3 Der vollständige Text dieses Beschlusses ist nachgedruckt in: German, A.: Istorija Respubliki nemcev Povolž’ja v sobytijach, faktach, dokumentach [Geschichte der deutschen Wolgarepublik in Ereignissen, Fakten, Dokumenten]. 2-e Aufl age. Moskau 2000, S. 229-233.

4 Der Text des Befehles: Deportacii narodov SSSR (1930-e – 1950-e gody). Deportacija nemcev (sentjabr‘ 1941-fevral‘ 1942 gg.) [Deportationen der Völker der UdSSR (1930er-1950er Jahre). Deportation der Deutschen (September 1941 - Februar 1942)]. Moskau 1995, S.70-74. Für die Instruktion gibt es eine deutsche Übersetzung: Eisfeld/Herdt (1996), S. 50-53. In zeitgenössischen behördlichen Dokumenten ist anstelle von „Deportation“ kaschie-rend lediglich von einer „Umsiedlung“ die Rede.

5 Die meisten Befehle aus dem Jahr 1941, die die Deportation der deutschen Minderheit aus einzelnen Territorien, Regionen und so-gar Städten (Moskau, Gorki) im europäischen Russland anordnen, sind in der Dokumentation von Eisfeld/Herdt nachzulesen.

6 Deportacii narodov (1995), S. 116. 7 German (2000), S. 239. 8 Viktor Krieger: Sowjetische Kriegspropaganda und die Deportati-

on der Russlanddeutschen, in: ders., Russlanddeutsche nach 1941 als Personen minderen Rechts: Deportation, Zwangsarbeitslager, Germanophobie, geheimpolizeiliche Verfolgung, 2008 (im Druck).

9 Neuhaus, Militsa: Über das Leben von Heinrich Neuhaus, in: Heinrich Neuhaus (1888-1964) zum 110. Geburtsjahr. Aspek-te interkultureller Beziehung in Pianistik und Musikgeschichte zwischen dem östlichen Europa und Deutschland. Sinzig 2000, S.101-108.

10 Pis’ma B.L. Pasternaka k žene Z.N. Nejgauz-Pasternak [Boris L. Pasternaks Briefe an seine Frau Sinaida N. Neuhaus-Pasternak]. Moskau 1993, S. 137. Margarita (Rita) William war die Schwester der Frau seines Bruders Alexander Pasternak. Petr Pawlenko wohnte in der Nachbarschaft zu Pasternak in der Schriftsteller-siedlung Peredelkino.

11 Krieger (2008), im Druck.12 ibid.13 Alfred Eisfeld (Hrsg.): Karta ASSR nemcev Povolž’ja - Kar-

te der ASSR der Wolgadeutschen. Texthandbuch. Göttingen 1997, S. 27, 30-31. Dieses Dekret bezog sich auf das Gebiet Saratow. Umbenennungen der deutschen Toponyme der Kantone (Rayons), die dem Gebiet Stalingrad zugeschlagen wurden, ordnete ein ähnlicher Ukas vom 4. April 1942 an.

Page 78: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

S. (russ. specposelency) ist ein Oberbegriff für sowj. Bür-ger minderen Rech ts, die im Zuge einer administrativen Repression enteignet, in Familienverbänden in unwirt-lich e Gebiete des Landes verbannt, dort unter polizeili-ch e Aufsich t gestellt u. dafür eingesetzt wurden, diese Gegenden landwirtsch aft lich zu ersch ließen oder neue Industriebetriebe aufzubauen. Administrative Repres-sion in der Sowjetunion bedeutete eine kollektive Be-strafung bestimmter sozialer, religiöser oder nationaler Bev.gruppen aufgrund vermeintlich er „Gefährdung“ der sozialistisch en Staatsordnung u. zwar ohne ein rech tskräft iges individuelles Gerich tsurteil.Zunäch st bildeten die enteigneten wohlhabenden Bau-ern, sog. Kulaken, das Gros der S. Sie waren die ersten Opfer des seit Ende der 1920er Jahre eingesch lagenen Kurses der radikalen Umgestaltung der bestehenden kulturellen, sozialen u. wirt. Ordnung. Der Besch luss des Politbüros ZK der VKP(b) vom 30.1.1930 leitete die Zwangsaussiedlung der „Kulaken“ aus den wich -tigsten getreideproduzierenden Regionen ein: In der Ukraine betraf dies z. B. an die 64.000, im Nordkauka-sus 38.000, im Gebiet der Unteren Wolga 31.000 Fami-lien. In den folgenden zwei Jahren wurden insgesamt 381.173 Familien mit 1.803.392 Angehörigen deportiert. Nach dem Absch luss der Kollektivierung ließen die Repressalien zwar nach , doch wurden bis 1940 weitere 489.882 Bauern als Neuzugänge registriert, so dass die Gesamtzahl der Verbannten nahezu 2,3 Mio. Mensch en umfasste. Die neuen Wohnorte lagen v. a. im Uralgebiet u. im Hohen N, in Westsibirien (Sibirien) u. Kasach stan. Diese karg besiedelten Gegenden waren für eine sol-ch e massenhaft e Aufnahme der kinderreich en Familien vollkommen ungeeignet, so dass allein 1932-33 241.000 Todesfälle zu beklagen waren. 629.000 Verbannte fl üch -teten bis zum 1.1.1941 aus den Orten der Pfl ich tansied-lung. Zum 1.7.1938 verteilten sich die registrierten 997.329 S. auf 1.741 von der übrigen Bevölkerung abgesonderten sog. Arbeitssiedlungen (russ. trudposelki). Eine wich tige Aufgabe sahen die Partei- u. Sowjetstel-len darin, die heranwach sende Generation der ausge-siedelten Kulaken für die „Sach e des Sozialismus“ zu gewinnen. Deshalb leiteten die Regierungsbesch lüsse v. 22.10.1938 u. 21.11.1939 die Befreiung v. der Kom-mandanturaufsich t für Personen ein, die zum Zeit-punkt der Verbannung jünger als 16 waren. Mit den Einberufungen der jüngeren Jahrgänge in die Rote Ar-mee während des dt.-sowj. Krieges wurde diese Lock e-rung auf Familienmitglieder v. Soldaten ausgedehnt. Die absolute u. relative Zahl der verbannten Kulaken, unter denen die Russen im Vergleich zu anderen Nati-onalitäten mit Abstand dominierten, ging im Laufe der Zeit stark zurück : 1948 stellten sie mit 138.000 Personen

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

78

6,1% aller S. u. 1953 nur noch 24.000 oder weniger als 1%. Um die ehem. Kulaken vor allem von den Angehö-rigen der verbannten Völker zu untersch eiden, wurden sie in der Behördensprach e meist als „Arbeitssiedler“ (russ. trudposelency) bzw. „Arbeitsübersiedler“ (russ. trudpereselency) tituliert.Die seit Mitt e der 1930er Jahre eingeleitete innenpoliti-sch e Wende zum Sowjetpatriotismus mit einer starken russozentrisch en Komponente führte zu einer deutli-ch en Abkehr v. der adm. u. strafrech tlich en Verfolgung auf Grundlage des – wenn auch rech t versch wom-menen – Klassenprinzips hin zu einer ausgeprägten Feindseligkeit gegenüber den als „unzuverlässig“, „verräterisch “ und „feindlich “ defi nierten Nationali-täten ( Nationale Operationen des NKVD der UdSS R 1937-1938). Eine der ersten derartigen Operationen war die Aus-siedlung der fi nnisch en Bev. im April u. Mai 1935 aus den Grenzgebieten um Leningrad ( Finnen: Deporta-tion aus dem Gebiet Leningrad 1930-1944). Von 23.200 Finnen kamen 8.400 nach Kasach stan u. der Rest nach Sibirien. Im April 1936 fasste der Rat der Volkskommis-sare der UdSS R den geheimen Besch luss „Über die Aus-siedlung von 15.000 polnisch en und deutsch en Haus-halten aus der Ukrainisch en SS R u. ihre wirtsch aft lich e Einrich tung im Gebiet Karaganda der Kasach isch en SS R“ ( Polen aus der Ukraine: Umsiedlung nach Ka-sach stan in den 1930er Jahren), worauf offi ziellen An-gaben zufolge 69.300 Personen aus den Grenzgebieten der Ukraine nach Kasach stan verbannt wurden; die Po-len mach ten dabei mit etwa 75 % das Gros der Zwangs-ausgesiedelten aus. Ein Jahr später ereilte das gleich e Sch ick sal auch 171.800 Sowjet-Koreaner, die aus dem Fernen O ausnahmslos nach Zentralasien deportiert wurden. In diesen Jahren folgten ihnen einige Tausend Iraner und Kurden aus Armenien und Aserbeidsch an.Nach der Einverleibung der poln. Ostgebiete, des Balti-kums u. Bessarabiens in den Jahren 1939/40 ( Deutsch -sowjetisch er Grenzvertrag) kam es bis zum dt. Angriff auf die Sowjetunion zu Massendeportationen „antiso-wjetisch er Elemente“ aus diesen Gebieten, v. a. von Po-len ( Ukraine als Deportationsgebiet (1939 – Anfang 1950er Jahre)), Esten ( E.: Deportation in und nach dem 2. Wk.), Lett en ( L.: Deportation in und nach dem 2. Wk.) u. Litauern, aber auch jüd. Flüch tlingen. Dabei handelte es sich insgesamt um etwa 470.000 Personen, die größtenteils in die östlich en Gebiete der UdSS R ver-sch ick t wurden.Der Ausbruch des dt.-sowj. Krieges führte zu einer Radikalisierung des Vorgehens in Bezug auf mehrere ethn. Gruppen. Der Besch luss des Rates der Volkskom-missare u. des ZK der VKP(b) v. 26.08.1941, der dem zwei Tage später verabsch iedeten offi ziellen Ukas vor-ausging, ordnete die Aussiedlung der Wolgadeutsch en an ( Deutsch e aus dem Wolgagebiet). Die übrigen dt. Diasporagruppen im europ. Teil der Sowjetunion wur-

Dr. Viktor KriegerSondlersiedler*

* Beitrag des Verfasser im Lexikon „Das Jahrhundert der Vertreibun-gen“.

Page 79: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

den in den darauf folgenden Woch en u. Monaten auf Grundlage geheimer Sonderbesch lüsse des Staatlich en Verteidigungskomitees (russ. Gosudarstvennyj komi-tet oborony (GKO)), des Rates der Volkskommissariate sowie von Befehlen des NKVD verbannt ( Deutsch e aus dem Sch warzmeergebiet, D. aus Trans- (Süd)kaukasien). Offi ziellen Angaben zufolge wurden zum 1.1.1942 insgesamt 794.000 Personen „umgesiedelt“, unter ihnen 438.700 Wolgadeutsch e. Das war die größ-te ethn. Deportation in der Gesch ich te der Sowjetuni-on: Etwa die Hälft e der Deutsch en wurde in sibirisch en Provinzen angesiedelt; die andere Hälft e gelangte nach Kasach stan. Nach Kriegsende transferierte der NKVD in diese Regionen auch an die 210.000 sog. „Repatriier-te“ ( Repatriierung), d. h. Personen dt. Abstammung, die unter rum. und reich sdeutsch e Besatzung geraten waren u. dann unter Zwang vornehmlich aus dem Warthegau ( W. als Aus- und Ansiedlungsgebiet) in die Sowjetunion zurück kehren mussten. Auch ein Teil der bereits vor 1941 im asiatisch en Teil der Sowjetunion lebenden Deutsch en wurde unter die S. eingereiht.Kollektive Repressalien wurden in den Jahren 1943-1945 auch gegen Völker wie die Kalmück en, Tsch et-sch enen u. Ingusch en, Krimtataren, Karatsch aen und Balkarer verhängt. Ihre Autonomien wurden aufgelöst u. sie selbst nach Sibirien, Kasach stan, Kirgisien u. Us-bekistan (Zentralasien) zwangsausgesiedelt. Katastro-phale Lebensbedingungen an den neuen Siedlungs-orten führten dazu, dass z. B. von den registrierten 606.600 Deportierten aus dem Nordkaukasus 146.900 Mensch en oder 24,2 % bis zum 1.10.1948 an Hunger u. Krankheit verstarben. Im Untersch ied zu den verbann-ten Kulaken wurden Angehörige der „bestraft en“ Völ-ker als Sondersiedler auf bereits bestehende ländlich e Orte mit ansässiger Bevölkerung verteilt.Die S. wurden in den meisten Bereich en des kulturellen, gesellsch aft lich en u. politisch en Lebens im Vergleich zum durch sch nitt lich en Sowjetbürger massiv benach -teiligt. Sie standen unter direkter adm. Gewalt der Ray-ons- u. Ortskommandanturen des NKVD u. waren der Willkür der Kommandanten u. des zugehörigen Per-sonals sch utzlos ausgeliefert. Sie durft en die Orte der Zwangsansiedlung nich t verlassen u. mussten sch were körperlich e Arbeit in der Landwirtsch aft oder als ein-fach e Arbeiter im Kohlebergbau, in der Waldwirtsch aft bzw. auf Baustellen verrich ten. Ihnen war der Besuch v. weiterbildenden Anstalten u. Hoch sch ulen erheblich ersch wert. So standen laut einem Besch luss des ZK der KP Kasach stans vom Mai 1952 etwa 1. Mio. S.n nur 105 Studienplätze zur Verfügung. Zusammen mit den Re-striktionen in Bezug auf Aufnahme in den Komm. Ju-gendverband (russ. Komsomol) u. in die Partei waren ihre soz. Aufstiegsch ancen sehr gering. Die erstarkten großrussisch en u. antiwestlich en Ten-denzen in der Innenpolitik der Nach kriegsjahre, die versch ärft e außenpolitisch e Konfrontation u. die da-durch ausufernde Spionagemanie führten zu einer neuen Welle der Deportationen und zu einer merkli-ch en Versch lech terung der Lage der S. Es handelte sich zum einen um festgenommene Teil-

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

79

nehmer und Familienangehörige der Teilnehmer des bewaff neten Widerstandes in der Ukraine, behörd-lich erseits als OUN-Leute bezeich net (russ. ounovcy, von OUN – Organisation Ukrainisch er Nationalisten). Allein in den Jahren 1944-47 wurden 100.300 ounovcy vornehmlich in Sibirien, aber auch in den Gebieten Ka-raganda und Arch angel’sk zwangsangesiedelt. Bis 1949 erfolgte die Deportation von 20.500 Personen aus Est-land, 41.900 aus Lett land und 81.200 aus Litauen. Die Säuberungswelle erfasste auch andere Gebiete des Lan-des: Nach dem Besch luss des Ministerrats der UdSS R vom 6. April 1949 mussten 35.800 ehem. Grundbesitzer, deutsch e „Helfer“, Kulaken u.a. mit ihren Familienan-gehörigen die Republik Moldau verlassen. Ein ande-rer Regierungsbesch luss vom 29. Mai d.J. ordnete die Zwangsaussiedlung von 57.700 Personen, vornehmlich Griech en, aber auch Armenier und Türken aus dem Sch warzmeergebiet an. Vor allem der Erlass des Präsidiums des Obersten Sow-jets der UdSS R vom 26.11.1948, der die Verbannung der repressierten Völker auf ewig festsch rieb, war Aus-druck des vorherrsch enden xenophoben Klimas der ersten Nach kriegsjahre. Fortan legten die NKVD-Kom-mandanturen für jeden S., der älter als 16 Jahre war, eine Personalakte an, in dem sein komplett er Lebens-verlauf fi xiert wurde. Jeder musste sich einmal im Mo-nat persönlich beim Chef der Sonderkommandantur melden u. durft e sich ohne seine sch rift lich e Erlaubnis nich t mehr als fünf Kilometer v. seinem zugewiesenen Wohnort entfernen. Dagegen wurden die Vlasov-Leute (russ. vlasovcy), ehemalige sowjetisch e Soldaten und Of-fi ziere, in der Mehrheit ethnisch e Russen, die ihren Eid gebroch en haben und den bewaff neten Kampf gegen ihre Kameraden in untersch iedlich en Verbänden der deutsch en Wehrmach t führten, von der Staatsführung sehr milde behandelt. Die insgesamt 177.600 Personen zählenden vlasovcy wurden begnadigt und mussten laut dem Besch luss des Staatlich en Verteidigungskomi-tees Nr. 9871 vom 18.08.1945 nur sech s Jahre in Sonder-siedlungen verweilen.Unter den zum 1.1.1953 registrierten 2.820.000 S.n stell-ten die Deutsch en mit 1.225.000 (43,4 %) mit Abstand die größte Gruppe, gefolgt von 316.700 Tsch etsch enen (11,2 %), 175.000 ounovcy (6,2 %), 165.300 Krimtataren (5,8 %), 83.500 Ingusch en, 81.500 Kalmück en u.a. klei-neren nationalen, relig. und sozialen Kontingenten (insgesamt 33 Kategorien). 1954 begann die sukzessive Aufh ebung der bestehen-den Freiheitseinsch ränkungen (Rehabilitierung). Zum 1.1.1959 befanden sich nur noch 49.400 S. unter admi-nistrativer Aufsich t, u. der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSS R vom 6.12.1964 Ende 1964 befreite auch die letzten administrativ Verbannten.

Lit.: V. ZEMSKOV, Specposelency v SS SR 1930-1960. Moskva 2003; L. VIOLA, The Unknown Gulag. The Lost World of Stalin’s Special Sett lements. Oxford u.a. 2007; De-portation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee: Deutsch e in der Sowjetunion 1941 bis 1956. Hg. A. EISFELD/V. HERDT. Köln 1996.

Page 80: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

T. (russ. trudarmij a) ist ein euphemistisch er Terminus für ein besonderes System der Zwangsarbeit, das in der Sowjetunion in den Jahren 1941-1946 v. a. für russland-deutsch e Jugendlich e, Männer u. Frauen aufgebaut wurde. Die Liquidation der ASS R der Wolgadeutsch en, die Verbannung der dt. Minderheit in den asiatisch en Teil des Landes u. ihre weitgehende Entrech tung mach te sie zum bevorzugten Objekt staatlich er Ausbeutungs-politik ( Deutsch e aus dem Wolgagebiet, Deutsch e aus dem Sch warzmeergebiet). Aus praktisch en Grün-den wäre eine massenhaft e Aburteilung v. Hundert-tausenden Deutsch en u. ihre Überführung in Strafl ager (russ. ispravitel’no-trudovoj lager’ (ITL), Lager) nich t zweck mäßig gewesen. Deshalb sch uf man eine neue Lager-Kategorie, die sog. mobilizovannye nemcy (russ., „mobilisierte Deutsch e“) eine Zwitt erkonstruktion aus einem rekrutierten Bauarbeiter u. einem Strafgefange-nen, wobei sie in der Lagerstatistik keine Erwähnung fanden. Der zwangsmobilisierte Deutsch e besaß typi-sch e Merkmale eines Lagerinsassen: Unterbringung in v. Stach eldraht umzingelten Barack en, Arbeitseinsatz u. Freizeit unter milit. Bewach ung, Ess- u. Verpfl egungs-rationen nach den Normen des GULag, Verbot jeglich er nich t gebilligter Kontakte mit der zivilen Bev. Die Aus-hebung durch örtlich e Kriegskommissariate des Vertei-digungsministeriums u. ihre Unterstellung unter die Kriegsgerich tsbarkeit verlieh dieser Kategorie gewis-se Züge einer milit. Rekrutierung: Das eigenmäch tige Verlassen des zugewiesenen Einsatzortes wurde nich t als Fluch t, sondern als Desertion bezeich net u. entspre-ch end geahndet. Zum Sch luss deuteten das Vorhan-densein v. gesonderten Partei- u. Komsomolzenorgani-sationen der mobilisierten Deutsch en, wenn auch mit stark reduzierten Befugnissen, u. die vorgesehene Ent-lohnung nach Besoldungsgruppen für zivile Berufe auf verbliebene Elemente bürgerlich er Rech te hin. Eingeleitet wurde die massenhaft e Zwangsrekrutie-rung v. Männern im Alter v. 17 bis 50 Jahren durch die streng geheimen Besch lüsse des Staatlich en Verteidi-gungskomitees (russ. Gosudarstvennyj komitet oborony (GKO)) v. 10.1 u. 14.2.1942. Beide Aushebungen betrafen 133.900 Deutsch e. Einen Teil der Mobilisierten sch ick te man auf Großbaustellen, die das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (NKVD) erst zu Beginn des Krieges oder kurz davor übernommen hatt e. Dort sollten im Eiltempo ohne Rück sich t auf Verluste ver-sch iedene Bauvorhaben realisiert werden: so befanden sich zum 1.1.1943 auf der Baustelle zur Errich tung des Čeljabinsker Hütt enkombinats (russ. Čeljabmetallurgstroj NKVD SS SR) 27.783 Zwangsarbeiter; auf der Baustelle des Bogoslover Aluminiumwerkes, Gebiet Sverdlovsk (russ. BAZ-Stroj NKVD SS SR) weitere 12.683 Mobili-

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

80

sierte usw. Die ankommenden Arbeitskräft e wurden in sog. Bautrupps (russ. strojotrjady) eingeteilt, die ihrer-seits aus Kolonnen bis zu tausend Mann u. letztere aus Brigaden untersch iedlich er Größe bestanden. An der Spitze der Arbeitskolonnen standen andersethnisch e Vorgesetzte (russ. načal’niki) u. Politoffi ziere. Ande-re Zwangsarbeiter wiederum kamen in sch on existie-rende Strafl ager als Ersatz für in kämpfende Truppen überstellte oder vorzeitig entlassene Häft linge. Dort wurden sie getrennt v. den übrigen Häft lingen u. der freien Belegsch aft untergebrach t u. eingesetzt.Eine Besonderheit dieser Aushebung war ihr totaler Charakter. Neben den einfach en Arbeitern u. Bauern fand sich in den Arbeitslagern die gesamte intellektu-elle u. Funktionärssch ich t der Russlanddeutsch en wie-der: Abgeordnete, Minister u. Regierungsbeamte, Pro-fessoren u. Dozenten, Sch rift steller u. Ärzte, Lehrer u. Ingenieure, Offi ziere u. Rich ter. Am 14. Oktober 1942 übertrug man diese Bestimmungen auch auf Minder-heiten, deren „Mutt erländer“ im Krieg mit der UdSS R standen. Einige Tausend Männer in wehrpfl ich tigem Alter fi nnisch er, ung., it. oder rum. Herkunft mussten ebenfalls Zwangsarbeitsdienst leisten.Unvollständigen Angaben zufolge kamen im Laufe des Krieges auf die dem NKVD unterstellten Objekte etwa 182.000 Zwangsarbeiter. Diese Ziff er sch ließt ca. 18.600 Deutsch e aus der Ukrainisch en SS R ein, die noch An-fang September 1941 rekrutiert u. vorerst in milit. Bau-bataillonen organisiert wurden. Später wurde dieses Kontingent in die Kategorie „mobilisierte Deutsch e“ überführt. Keine gesich erten Aussagen lassen sich in-des über die Zehntausende ehemaliger russlanddeut-sch er Soldaten u. Offi ziere der Roten Armee mach en: Sie wurden teilweise in Arbeitslager überstellt, andere wiederum durft en in den Baubataillons versch iedener Volkskommissariate verbleiben. Miserable Arbeits- u. Lebensbedingungen, rück sich tloser Einsatz u. fakti-sch e Straff reiheit des Lager- u. Betriebspersonals führ-ten dazu, dass unter den Mobilisierten in kürzester Zeit eine große Zahl v. Todes- u. sch weren Krankheitsfällen zu verzeich nen war: Allein 1942 verstarben nach offi -zieller Statistik 12.047 Einberufene oder 10,3 % v. den zum 1.1.1943 registrierten Zwangsarbeitern (117.429). Auf Grund totalen körperlich en Verfalls mussten wei-tere 8.073 Personen entlassen werden. Am 7.10.1942 ordnete das GKO mit Iosif Stalin an der Spitze die Ausweitung der Rekrutierung des dt. „Kon-tingents“ auf Jugendlich e u. ältere Männer im Alter v. 15 bis 16 u. 51 bis 55 sowie Frauen im Alter v. 16 bis 45 Jahren an. Lediglich sch wangere Frauen u. solch e, die Kinder unter 3 Jahren hatt en, blieben v. der Mobilisie-rung versch ont. Im Laufe v. nur wenigen Woch en hatt e man durch die Kriegskommissariate insgesamt 123.552 Personen, darunter 52.742 Frauen ausgehoben und auf Tausende von Kilometern entfernt liegenden Objekte eingesetzt, ähnlich wie bei den vorher zwangsverpfl ich -

Dr. Viktor KriegerArbeitsarmee*

* Beitrag des Verfasser im Lexikon „Das Jahrhundert der Vertreibun-gen“.

Page 81: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

teten Männern, getrennt von Kindern und anderen Fa-milienangehörigen. Weitere Einberufungen, wenn auch geringeren Umfangs, folgten in den näch sten Monaten u. Jahren. Dieses Mal wurden sie zum großen Teil auf andere Industriebranch en verteilt: Zum 1.1.1944 wa-ren im Volkskommissariat für Kohleförderung 56.551 Deutsch e eingesetzt, für Erdölförderung 30.250, für Munition 8.021 usw. Organisiert in Form v. separaten Arbeitskolonnen, standen sie unter der direkten Verfü-gungsgewalt der Betriebsleitung; wogegen dem Innen-ministerium die administrative u. geheimpolizeilich e „Betreuung“ oblag.Bei der Unterdrück ung u. Terrorisierung der mobilisier-ten Deutsch en spielte v. a. die Geheimpolizei eine wich ti-ge Rolle. Vertreter der Staatssich erheit im Lager war die berüch tigte „Operativ-tsch ekistisch e Abteilung“ (russ. Operčast’ (OČO)). Obwohl Teil der Lagerverwaltung, agierten die Mitarbeiter der OČO weitgehend autonom u. unterstanden territ. den Gebietsverwaltungen des NKVD u. der operativen Verwaltung der GULag-Zen-trale. Bis zum Juli 1944 wurden 8.543 Zwangsarbeiter aufgrund v. Fluch tversuch en, angeblich en Sabotageak-ten, Selbstverstümmelungen oder konterrevolutionärer Arbeit verhaft et u. von ihnen 6.392 zu langjähriger Haft im Strafl ager u. 526 zum Tode verurteilt.Bereits im Jahre 1945 begannen in einzelnen Volkskom-missariaten die Aufl ösung der Arbeitskolonnen u. die Überführung der dt. Zwangsarbeiter in die Stammbe-legsch aft der Betriebe bzw. Bauorganisationen. Im Sys-tem des NKVD erfolgte dies erst mit der Direktive Nr.

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

81

68 v. 15.3.1946. Allerdings erhielten sie nich t die Rech te eines normalen Sowjetbürgers, sondern bekamen den Status eines Sondersiedlers ( Sondersiedler) verlie-hen. Nur mit Einverständnis der Betriebsleitung u. des zuständigen Kommandanten konnten ehem. Mobili-sierte an den Ort ihrer Pfl ich tansiedlung zurück kehren oder – soweit die Wohnverhältnisse es zuließen – ihre Familien zu sich holen. Die Zusammenführung der auseinandergerissenen Familien dauerte indes bis in die zweite Hälft e der 1950er Jahre.Keine andere Ethnie in der Sowjetunion hat solch eine umfassende physisch e Ausbeutung erlebt: Von den 1,1 Mio. Russlanddeutsch en, die sich während des Krieges im sowj. Mach tbereich befanden, mussten etwa 350.000 Jugendlich e, Männer u. Frauen fern von ihren Familien und unter Militärgerich tsbarkeit gestellt, Zwangsar-beit leisten. Eine verläßlich e Zahl der Opfer läßt sich bislang nich t quantifi zieren; die Sterblich keitsrate soll Hoch rech nungen aus einzelnen Lagern zufolge nich t weniger als 20 % betragen.

Lit.: V. KRIEGER, Einsatz im Zwangsarbeitslager, in: Von der Autonomiegründung zur Verbannung und Entrech tung. Die Jahre 1918 und 1941 bis 1948 in der Gesch ich te der Deutsch en in Russland. Hg. A. EISFELD. Stutt gart 2008, 137-161; A. GERMAN/A. KUROČKIN, Nemcy SS SR v „trudovoj armii“ (1941-1945). Moskva 1998; Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee: Deutsch e in der Sowjetunion 1941 bis 1956. Hg. A. EISFELD/V. HERDT. Köln 1996.

Page 82: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

82

Verlauf der Deportation der Deutschen in der UdSSRim Jahr 1941

Page 83: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

83

Verteilung der russlanddeutschen Zwangsarbeiterauf die Bauobjekte und Strafl ager des NKWD,

Rekrutierungen Januar-Februar 1942

GKO – Gosudarstvenny Komitet Oborony (Staatlich es Verteidigungskomitees), das höch ste Staats- und Re-gierungsorgan in der UdSS R während des Krieges.Hier soll berück sich tigt werden, dass etwa 25.000 Per-sonen dem Volkskommissariat für Eisenbahnverkehr und der Rest dem NKVD zugeteilt wurden. Beide Aus-hebungen betrafen insgesamt 133.900 Männer.

Dislokation:

* Gebiet Uljanowsk, Region Mitt lere Wolga** Gebiet Tsch eljabinsk, Uralregion

*** Gebiet Swerdlowsk, Uralregion**** Gebiet Molotow (ab 1956 Perm), Uralregion***** Gebiet Kirow, Region Mitt lere Wolga****** Komi ASS R, Nordwestrussland******* Region Krasnojarsk, Sibirien******** Gebiet Amur, Ferner Osten

P.S. Hier werden nich t alle Lager bzw. Einsatzorte des NKWD aufgezeigt und nich t alle Mobilisierungen. Viktor Krieger

Page 84: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Aug. 1941: Befehl des Kriegsrates über die Umsiedlung der Deutsch en aus Dnjepropetrowsk, Charkow, Krim, Le-ningrad.28.8.1941: Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets der Sowjetunion über die Umsiedlung der Deutsch en aus den Wolga-Rayons.31.8.1941: Besch luss des Politbüros des ZKs der KPdSU über die Umsiedlung der Ukraine-Deutsch en.6.9.1941: Besch luss des Staatlich en Verteidigungskomitees über die Umsiedlung aus Moskau und Rostow.6.9.1941: Befehl des Volkskommissariats des Innern der ASS RdWD über die Sich erstellung der Dokumente der ASS R.7.9.1941: Erlass des Obersten Sowjets über die Auft eilung der ehemaligen ASS RdWD auf die Gebiete Saratow und Stalingrad.8.9.1941: Besch luss des Staatlich en Verteidigungskomitees über die Versetzung deutsch er Rotarmisten in die Trud-warmee16.9.1941: Die Führer der ASS RdWD, Heck mann und Korbmach er, werden aus der KP ausgesch lossen21.9.1941: Deutsch e aus Krasnodar, Ordsch onikidse, Tula, Kabardino-Balkarien und Nord-Ossetien werden zwangs-umgesiedelt.22.9.1941: Deutsch e aus Saporoshje, Stalino und Woro-sch ilowgrad werden umgesiedelt; Kalinin folgt bald.7.10.1941: Aufstellung von Arbeitskolonnen aus Wehr-pfl ich tigen.8.10.1941: Zwangsumsiedlung aus Woronesch , Georgien, Aserbaidsch an und Armenien. 15.10.1941: Zwangsmsiedlung der Deutsch en aus dem Ge-biet Gorki.22.10.1941: Zwangsumsiedlung aus Dagestan, Tsch etsch e-nien und Ingusch etien.28.10.1941: Meldung über die Umsiedlung von Deut-sch en: 872.578 umsiedlungspfl ich tig, 749.613 bereits um-gesiedelt.

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

84

25.12.1941: 894.626 Deutsch e wurden bereits umgesiedelt, davon 376717 Wolgadeutsch e1941: Leiter des GULAG Nasedkin: Massengräber für Trud armisten genehmigt.Ende 1941: In der ASS R der WD haben sich ca. 100.000 neue Sowjetbürger niedergelassen.4.1.1941: Goldene Zahnprothesen dürfen von verstorbe-nen Strafgefangenen entfernt werden.10.1.1942: Alle deutsch en Männer zwisch en 17 und 50 kommen für die Dauer des Krieges zur Trudarmee.9.3.1942: Umsiedlung der Deutsch en aus dem Gebiet Le-ningrad.15.5.1942: Brigadeingenieur Komarowski: „Die Mensch en erhalten 300g Brot und Wassersuppe, sind zu sch wach für Verhöre.“19.5.1942: Deutsch e Ortsnamen in der ASS R d. WD wer-den geändert7.10.1942: Männer von 15 bis 55 Jahren und Frauen von 16-45 Jahren werden zur Trudarmee geholt, ausgenom-men Sch wangere und Frauen mit Kindern unter 3 Jahren. 7.1.1944: Befehl des NKWD über die Verhaft ung und Ver-sch ick ung von Volksdeutsch en in SondersiedlungenMai 1944: Aus einem Berich t: „Aus der Krim wurden 62.000 Deutsch e ausgesiedelt“Juli 1944: Von der Krim werden weitere 1.119 Deutsch e neben 183.155 Tataren und ca 40.000 Angehörigen anderer Nationalitäten zwangsausgesiedelt.20.10.1944: Auf der Krim werden deutsch e, tatarisch e und griech isch e Namen von Ortsch aft en u.Ä. geändert.8.1.1945: Für die Übertretung der Einsch ränkungen (Ver-lassen des Wohnortes) werden Strafen angedroht.1941-1945: Von insgesamt 8.543 zur Verantwortung gezo-genen deutsch en Trudarmisten wurden 6.916 verurteilt.1941-1945: In Sondersiedlungen eingetroff ene Deutsch e: 949829, davon 446480 Wolgadeutsch e.1941-1945: Als höch ste Zahl werden 1.209.430 deutsch e Sondersiedler genannt, davon 846.340 Erwach sene.

Stationen der Verfolgung der Deutschenin der Sowjetunion 1941-1945 - eine Auswahl

Page 85: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

02.02.1915 „Liquidationsgesetz“; Deutsch e an der Westgrenze (Wolhynier) nach Sibirien13.12.1915 „Liquidationsgesetz“ wird versch ärft (Enteignung der westlich wohnenden Russlanddeutsch en)16.02.1936 „Umsiedlung“ von Deutsch en und Polen nach Kasach stan23.06.1940 „Umsiedlung Fremdvölkisch er“ aus Stadt und Gebiet Murmansk28.06.1941 „Umsiedlung sozial-gefährlich er Elemente“ aus Gebieten im KriegszustandJuli 1941 „Umsiedlung“ aus der Karelo-Finnisch en ASS R und der ASS R der Komi12.08.1941 1. Verordnung über die „Umsiedlung“ der Wolgadeutsch enAugust 1941 „Umsiedlung“ aus DnjepropetrowskAugust 1941 „Umsiedlung“ aus CharkowAugust 1941 „Umsiedlung“ von der Krim26.08.1941 „Umsiedlung“ von Deutsch en und Finnen aus Stadt und Gebiet Leningrad28.08.1941 Ukas über die „Umsiedlung“ der Wolgadeutsch en06.09.1941 „Umsiedlung“ aus Moskau und Rostow21.09.1941 „Umsiedlung“ aus Tula und dem Nordkaukasus22.09.1941 (Rest)-„Umsiedlung“ aus Saporoshje, „Umsiedlung“ vom Don und aus DonetzSept./Okt. 41 „Umsiedlung“ aus dem Gebiet Kalinin08.10.1941 „Umsiedlung“ aus dem Gebiet Woronesch 08.10.1942 „Umsiedlung“ aus dem Kaukasus15.10.1941 „Umsiedlung“ aus dem Gebiet Gorki 22.10.1941 „Umsiedlung“ Deutsch er aus Dagestan und Tsch etsch eno-Ingusch etien 10.01.1942 Deutsch e Männer zwisch en 17 und 50 Jahren in die Trudarmij a19.05.1942 Änderung deutsch er Namen an der Wolga20.05.1942 zusätzlich e Aussiedlung aus der Region Krasnodar und Rostow07.10.1942 Deutsch e Männer zwisch en 15 und 55 Jahren in die Trudarmee 10.10.1942 Frauen zwisch en 16 und 45 in die Trudarmij a07.01.1944 Versch ick ung Volksdeutsch er in Sondersiedlungen02.06.1944 Versch ick ung der sich immer noch auf der Krim befi ndenden Deutsch en24.08.1944 Versch ick ung Volksdeutsch er aus dem Nordkaukasus.08.01.1945 Einsch ränkung der Rech te der Sonder-Umsiedler, Meldepfl ich t wird festgesch rieben26.11.1948 Verbannung auf ewig wird festgesch rieben, eigenmäch tiger Wegzug (Fluch t) vom Wohnsitz wird mit 20 Jahren Zwangsarbeit bestraft .

Quellen:- Alfred Eisfeld/Victor Herdt, „Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee“.- W. A. Aumann/V.G. Tsch ebotarewa: „Istorij a Rossij skich Nemzew w Dokumentach “.

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

85

Erlasse, Ukase u.Ä. zur Vertreibung der Russlanddeutschen

Page 86: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

2011 jährt sich der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der Sowjetunion vom 28. August 1941 „Über die Umsiedlung der Deutsch en, die in den Wolga-Rayons leben“ zum 70. Mal.Gemeinsam sollten wir uns aus diesem Anlass daran erinnern, dass das Jahr 1941 zum tragisch en Wendepunkt in der Gesch ich te der Deutsch en in der Sowjetunion wurde.Sie wurden aus dem europäisch en Teil des Landes nach Sibirien, Kasach stan und Mitt elasien deportiert und fast 15 Jahre lang in Sondersiedlungen, in der „Trudarmee“, in Strafl agern und in Ge-fängnissen festgehalten.Hundertt ausende von ihnen starben den Hungertod, erlagen ih-ren Verletzungen oder trugen bleibende gesundheitlich e Sch äden davon.Unsere Volksgruppe hat ihre historisch gewach senen Siedlungen, das persönlich e und kollektive Eigentum, alle Kultur- und Bil-dungseinrich tungen für immer verloren.Wir verkennen nich t den Auslöser dieser Katastrophe - den von Deutsch land verursach ten Krieg. Wissensch aft lich belegt ist aber auch , dass unsere Landsleute keine Gefahr für die Sowjetunion und die Rote Armee darstellten. Sie waren keine „fünft e Kolon-ne“. Die Bundesrepublik Deutsch land bekennt sich zur historisch en Verantwortung für die Kriegsfolgen, von denen sich unsere Volks-gruppe bis heute nich t erholt hat.Die Aufnahme von über 2,5 Millionen Aussiedlern und Spätaus-siedlern und ihren Familienangehörigen aus der ehemaligen So-wjetunion und die Hilfen für die Deutsch en, die in Russland und anderen GUS-Republiken bleiben werden, sind ein sich tbares Zei-ch en dafür.Die Russisch e Föderation hat in ihrem Zuständigkeitsbereich ebenfalls eine Reihe von Maßnahmen ergriff en, um das Sch ick sal der politisch Repressierten zu erleich tern und ihnen eine Lebens-perspektive zu geben.Wir vermissen aber bis heute sch merzlich eine politisch e Rehabili-tierung unserer Volksgruppe. Mehrfach wurde bereits an den Prä-sidenten Russlands und den Ministerpräsidenten die Bitt e um ein klares Bekenntnis zur Vergangenheit, um einfühlsame Worte des Bedauerns und des Mitgefühls gerich tet.Der 70. Jahrestag der Deportation der Wolgadeutsch en wäre der geeignete Zeitpunkt, und Tsch eljabinsk oder Iwdel wären dafür passende Orte.Die Verfolgung der Deutsch en in der Stalin-Ära wurde nich t von der Russisch en Föderation durch geführt, sondern von der Sowjet-union. Sie kann aber mit der politisch en Rehabilitation ein für die Zukunft wich tiges Zeich en setzen.

Aus der Stellungnahme des Bundesvorsitzendender Landsmannsch aft , Adolf Fetsch ,

zur Sitzung der 16. Deutsch -Russisch en-Regierungskommissionfür Angelegenheiten der Russlanddeutsch en

vom 15. bis 16. April 2010 in Potsdam

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

86

Zur Rehabilitation der Volksgruppe

Page 87: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Das verleumderisch e Dekret vom 28. August 1941, das die Wolgadeutsch en und somit die ganze Volksgruppe für Jahrzehnte sch uld-

los an den Pranger stellte und den Untergang der Deutsch en in der Sowjetunion endgültig besiegelte, markiert einen tiefen und bis in die Gegenwart nach -wirkenden Einsch nitt in der russlanddeutsch en Ge-sch ich te.

Darin wurde behauptet, dass es in der Wolgarepublik Zehntausende von Diversanten (Saboteuren) und Spi-onen gebe, die „auf ein von Deutsch land zu gebendes Signal Sabotageakte in den von Wolgadeutsch en be-siedelten Gebieten auszuführen haben“. Infolgedessen sehe sich „die Sowjetregierung gezwungen, Strafmaß-nahmen gegen die gesamtdeutsch e Bevölkerung des Wolgagebiets zu ergreifen“.Die Zwangsumsiedlung sollte nich t nur auf die Wol-gadeutsch en besch ränkt bleiben. Auch die Deutsch en auf der Krim, in der Ukraine und im Kaukasus sowie in den Gebieten Leningrad, Moskau oder Rostow am Don wurden davon betroff en. Für die Russlanddeut-sch en war der deutsch -sowjetisch e Krieg eine Katastro-phe, die einen jahrzehntelangen Opfergang der Volks-gruppe heraufb esch wor: Den enormen mensch lich en Verlusten folgte der Verlust der Sprach e, Kultur und nationalen Identität.Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee sind Be-griff e aus dem Alltag dreier Generationen der Russ-landdeutsch en - der unmitt elbar Betroff enen, ihrer Kinder und Enkel. Jede russlanddeutsch e Familie hat-te Opfer der Willkürherrsch aft in der Sowjetunion zu beklagen. Das Grauenhaft e war jahrelang Normalität. Zehntausende starben einen qualvollen Hunger- und Sch wäch etod während der Deportation, in den Kon-zentrationslagern der Arbeitsarmee im Hohen Norden, in den Bergwerken des Urals und Sibiriens, in den Wäl-dern der Taiga und in den Sandwüsten Mitt elasiens oder wurden in brutaler Weise bereits in den Terrorjah-ren 1937-1938 vernich tet.Zehntausende deutsch e Frauen leisteten nich t nur Skla-venarbeit in der Arbeitsarmee, wo sie von tyrannisch en Aufsehern gesch lagen und misshandelt wurden, son-dern sie mussten sich , von ihren Männern getrennt, für ihre Kinder aufopfern, bis sie der Tod von ihrem Elend erlöste.Zehntausende wurden auf dem Weg nach dem Westen ersch ossen und von Panzern überfahren oder sie fan-den ihren Tod bei der leidvollen Versch leppung 1945 in den Wäldern des Nordens oder in Sibirien.Noch viele Jahre nach Kriegsende sollten die Russland-deutsch en in den Orten ihrer Sondersiedlung oder in den GULAG-Lagern ihre angeblich e kollektive zweifa-ch e Sch uld – als „Vaterlandsverräter“ und als Deutsch e für die Verbrech en des Naziregimes in Deutsch land - durch Sklavenarbeit abbüßen: erniedrigt, verleumdet,

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

87

gehasst, entrech tet und totgesch wiegen.Das sch ick salsprägende Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets von 1948 verordnete, dass die Deut-sch en in die für sie „bestimmten Rayons auf ewige Zei-ten umgesiedelt wurden“. Das Jahr 1955 brach te die lang ersehnte Aufh ebung der Sonderaufsich t, ließ je-doch das Verbot, in die Stammgebiete zurück zukehren, in Kraft . Die Dekrete von 1964 und 1972 verkündeten zwar einige weitere Erleich terungen in der Rech tslage der Russlanddeutsch en, wurden aber der breiten Öf-fentlich keit vorenthalten und blieben somit gesch ich t-lich folgenlos.Die Autonomiebewegung hat im Zeich en von Glasnost und Perestroika zwar neue Nahrung erhalten, die For-derungen nach einer Wiederherstellung der Staatlich -keit blieben jedoch unerhört. Die Russlanddeutsch en warten noch immer auf ihre volle Rehabilitierung und eine Entsch uldigung für das erlitt ene Leid.Die massenweise Ausreise der Deutsch en aus den Nach folgestaaten der Sowjetunion ist das Ergebnis der unberech enbaren Politik in der Ex-UdSS R und der halb-herzigen Förder- und Rehabilitierungsmaßnahmen, die die Zukunft der Volksgruppe untergruben.Vor genau zehn Jahren, am Vorabend des 60. Depor-tationstages der Russlanddeutsch en, nahm das russi-sch e Parlament mit überwältigender Stimmenmehrheit einen Appell an den damaligen Präsidenten Putin an. Darin wurde er gebeten, sich im Namen des Staates bei der russlanddeutsch en Bevölkerung für die „Will-kür, die gewaltsame Umsiedlung und die langjährige Besch neidung von Rech ten“ unter sow jetisch er Herr-sch aft zu entsch uldigen. 60 Jahre nach der Vertreibung der Deutsch en aus ihren Stammgebieten sei es an der Zeit „diese rech tswidrigen repressiven Maßnahmen rich tig zu bewerten“. In dem Besch luss hieß es, die Russlanddeutsch en seien „das einzige unterdrück te Volk Russlands, das bis jetzt politisch nich t rehabilitiert ist“ und dem die Wiederherstellung der Autonomie bis heute verweigert werde. Die Entsch uldigung - als Akt endgültiger Gerech tigkeit und Willkürfolgenbereini-gung - wäre unter anderem ein Zeich en für ernste de-mokratisch e Ansätze in Russland.Aber auch zum 70. Deportationstag sieht es nich t so aus, dass die Russlanddeutsch en mit einer vollständi-gen politisch en Rehabilitierung rech nen können.

Die Deportation 1941 versetzte denRusslanddeutschen den TodesstoßDie Lebensumstände der Deutsch en in der Sowjetunion vor dem II. Weltkrieg stellten zwar keine heile Welt dar, hatt en aber gewisse nationale Merkmale. In der Wolga-republik (zwei Dritt el der Bewohner waren Deutsch e) wurden Fach leute auch für die deutsch e Volksgruppe in anderen Gebieten der UdSS R ausgebildet. Überall, wo Deutsch e gesch lossen siedelten, gab es für sie eine

Nina PaulsenDas bestrafte Volk

Page 88: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

kulturelle und administrative Autonomie (Deutsch als Unterrich tssprach e in den Sch ulen, Deutsch als Verwal-tungs- und Gerich tssprach e).Aber bereits zum Sch uljahresbeginn 1938/39 wurden - zunäch st noch außerhalb der Republik der Wolga-deutsch en - alle Sch ulen auf russisch e oder ukrainisch e Unterrich tssprach e umgestellt und 1938-1939 alle deut-sch en Landkreise aufgelöst. Sch on in den 1930er Jah-ren haben Deportationen im Rahmen der so genannten „Entkulakisierung“ (Enteignung der Großbauern durch die Kollektivierung der Landwirtsch aft ) angefangen.

Die Vertreibung:Der Ungewissheit entgegenDer Zweite Weltkrieg versetzte der deutsch en Minder-heit als gesch lossener Volksgruppe in der Sowjetunion den Todesstoß. Die Evakuierung der Deutsch en aus den Gebieten des deutsch en Vormarsch es in entlegene Gebiete war eine der ersten Reaktionen der sowjeti-sch en Regierung auf den Überfall Hitlerdeutsch lands. Als erste wurden die 45.000 Krimdeutsch en ab Juli 1941 zwangsweise innerhalb kürzester Frist nach Zentralasi-en ausgesiedelt. Die offi zielle Erklärung lautete: „Wir bringen euch ins Hinterland, damit ihr nich t unter den Kriegshandlungen zu leiden habt.“Im Wolgagebiet bildete der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSS R „Über die Umsiedlung der Deutsch en, die in den Wolgarayons wohnen“ vom 28. August 1941 die Grundlage für die vom 3. bis 20. September durch geführte Deportation von 376.717 Per-sonen deutsch er Nationalität. Die angeblich kollektive Versch wörung dieser Bevölkerungsgruppe gegen die Sowjetregierung und die Kollaboration mit dem Feind wurden vorausgesetzt und deshalb die kollektive Stra-fe der Zwangsumsiedlung verhängt. Das Dekret hatt e eine willkürlich e Entrech tung aller Angehörigen der deutsch en Volksgruppe in der UdSS R zur Folge.Laut einem Erlass vom 31. August 1941 wurden auch die Ukraine-Deutsch en der Kollaboration mit der Wehrmach t besch uldigt. Aber sch on vorher gelang es den sowjetisch en Behörden in den östlich en Gebieten der Ukraine aufgrund des Blitzvorstoßes der Deut-sch en Wehrmach t, die deutsch en Männer im arbeits- und wehrfähigen Alter abzuziehen. Frauen, Kinder und Greise waren in den Dörfern des Sch warzmeergebietes zurück geblieben. Von den etwa 420.000 Deutsch en, die in der Ukraine lebten, wurden ungefähr 100.000 in den Monaten Juli bis Oktober 1941 deportiert.Sch on Anfang September 1941 begann die Registrie-rung der gesamten zur Deportation vorgesehenen Be-völkerung. Die Deutsch en erhielten strengste Anwei-sung, ihren Wohnort nich t zu verlassen. Die Bahnhöfe und die Straßen der Wolgakolonien wurden von Pat-rouillen des NKWD (sowjetisch e politisch e Geheimpo-lizei 1934-1946) bewach t. Das gesamte beweglich e und unbeweglich e Vermögen der Umsiedler wurde kon-fi sziert. Grundsätzlich konnte jede Familie Proviant, Kleidung und andere nützlich e Gegenstände (bis zu 200 kg je Familienmitglied) mit sich führen. Die außer-

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

88

ordentlich e Hast - für den Aufb ruch waren höch stens 24 Stunden gegeben - ließ jedoch meist nur ein Bündel mit den allernotwendigsten Gegenständen zusammen-kommen.In Güterzüge verfrach tet, 40-60 Personen pro Wag-gon, und unter mensch enunwürdigen Bedingungen wurden die Deutsch en hinter den Ural deportiert. Die Viehwaggons blieben während der gesamten Fahrt von außen verriegelt. Der Proviant war knapp, und Trink-wasser stand in nur ungenügender Menge zur Verfü-gung. Über die Zahl der Opfer, die besonders unter den Kindern und Alten hoch war, liegen keine genauen Angaben vor. Nach mehrwöch iger Reise gelangten die Deportierten an ihre Bestimmungsorte in Sibirien (vor allem in der Altairegion sowie in den Gebieten Nowo-sibirsk und Krasnojarsk), Kasach stan und Mitt elasien.Die letzte massive Deportationsaktion im Oktober 1941 betraf die 25.000 Deutsch en im Südkaukasus und die 50.000 Deutsch en aus dem Gebiet um Leningrad. Aus dem Südkaukasus wurden sie über Baku und das Kas-pisch e Meer nach Krasnowodsk und von dort aus mit der Eisenbahn durch die Wüstengebiete nach Kasach s-tan gebrach t. Da viele Mensch en auf engstem Raum zu-sammengepferch t waren und das Wasser bei extremer Hitze fehlte, überstanden viele Alte und Sch wach e die Fahrt nich t und fanden ihr Grab in den Sandwüsten. Insgesamt wurden etwa 800.000 Deutsch e aus den euro-päisch en Teilen der Sowjetunion hinter den Ural depor-tiert. Ungefähr 400.000 Personen deutsch er Nationalität lebten bereits freiwillig oder unfreiwillig in asiatisch en Gebieten der UdSS R.

Arbeitsarmee – die zweite Deportation: „Wir nagten am Hungertuch“Anfang 1942 begann die zweite Deportation - die Ein-berufung zur Arbeitsarmee (Trudarmij a). Den Ausgang zur Sch aff ung von Arbeitsbataillons bildete der Stalin-Befehl vom 8. September 1941: Dementsprech end soll-ten ab September alle Angehörigen der Roten Armee deutsch er Herkunft , egal ob Offi zier oder Soldat, ent-lassen und in besonderen Arbeitskolonnen von der Front ins Hinterland gesch ick t werden. Diese demobi-lisierten Soldaten und Offi ziere stellten im Herbst 1941 die ersten Einheiten der Arbeitsarmee. Auf der Grundlage eines Befehls des staatlich en Ver-teidigungskomitees vom 10. Januar 1942 erfolgte nun auch die Mobilisierung aller Männer zwisch en 15 und 55 Jahren und Frauen zwisch en 16 und 45 Jahren, die keine Kinder unter drei Jahren hatt en, zur Zwangsar-beit, wo sie wie Staatsfeinde und Vaterlandsverräter behandelt wurden. Dabei wurden die festgesetzten Al-tersgrenzen oft übersch ritt en.Da der größte Teil der Arbeitskolonnen von nun an in das GULAG-System eingegliedert war, handelte es sich um Zwangsarbeitslager, meist von hohen Stach el-drahtzäunen und Wach türmen umgeben. Alle Betroff e-nen kamen unter einem harten Sonderregime (militä-risch organisiert und völlig rech tlos) beim Aufb au von Industriebetrieben, im Berg-, Straßen- und Bahnbau

Page 89: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

sowie in der Land- und Forstwirtsch aft zum Einsatz.„Ich kam in das Lager Iwdel-Lag im Ural. Die letzten hundert Kilometer wurden wir mit Hunden zu Fuß durch den Wald getrieben. Dort war tiefer, tiefer Sch nee und sonst nich ts. Das Lager war leer, als wir ankamen. Außerdem waren dort Zäune und Wach türme. Die Ba-rack en waren alt. Zum Teil fehlten die Fenster, wir wa-ren 40-50 Mann in einer Barack e. Wir haben im Wald Bäume gefällt. Wenn wir von der Arbeit gekommen sind, war die ganze Kleidung nass und gefroren. Es gab eine Kammer, in der die Sach en trock nen sollten. Aber manch es Mal hat das nich t geklappt. Und man hat es nass wieder angezogen und - raus in die Kälte. Anfangs hatt e man noch ein bissch en Kraft von zu Hause. Dann sind die Leute immer sch wäch er und sch wäch er gewor-den, bis sie kaum noch laufen konnten“, erzählt Adam Rusch , Spätaussiedler aus Berlin. (Quelle: Andrea Gotzes „Das haben wir alles überlebt“).Die Verhältnisse, unter denen die Zwangsarbeiter le-ben und arbeiten mussten, glich en in ihrer Unmensch -lich keit denen eines Strafgefangenenlagers oder waren nach Aussagen der Betroff enen noch sch limmer. Auf dem Weg zur Arbeit wurden sie von Soldaten begleitet, die den strengen Befehl hatt en, beim geringsten Ver-dach t sofort von der Sch usswaff e Gebrauch zu mach en. Die Arbeitszeit betrug bis zu 12 Stunden und auch mehr pro Tag. Die Arbeitsbedingungen und Arbeitsnormen waren extrem hart. Hack e und Spaten, Axt und Säge waren dabei oft die einzigen Arbeitsgeräte. Die Verpfl e-gung der Zwangsarbeiter bestand höch stens aus dün-ner Suppe (Balanda) und Brot. Eine medizinisch e Ver-sorgung fehlte in den ersten Jahren fast gänzlich . Alle möglich en Vorgesetzten herrsch ten in völliger Willkür. Das Wort „Fritz“ in der Bedeutung von „Feind“ oder „Fasch ist“ war die üblich e Anrede für den Deutsch en.Die Zwangsarbeiter starben massenweise vor Hunger, Ersch öpfung, fast unerträglich en körperlich en Strapa-zen und unvorstellbaren seelisch en Belastungen. Die Sterblich keit unter den Zwangsarbeitern nahm vor allem in den ersten Jahren der Trudarmee oft katast-rophale Ausmaße an. Der russlanddeutsch e Dich ter Waldemar Spaar (Northeim), der einige Jahre in den Arbeitskolonnen im Gebiet Perm verbrach te, sch reibt: „Alles für die Front - lautete damals die Losung, und zum Gaff en gab es keine Zeit. Wir nagten am Hunger-tuch , und dazu die dürft ige Bekleidung, die Fröste, die Erniedrigungen. Besonders grausam war der Winter 1943. Jeden Tag trug der Beerdigungstrupp 30 bis 35 Tote aus den Barack en heraus. Dystrophie. So hieß die-se sch reck lich e Krankheit, die die Mensch en wegrafft e. Und auch 1944 ereilte viele von uns das gleich e Sch ick -sal.“Die Leich en wurden oft in Massengräbern versch arrt, ohne dass die Angehörigen jemals eine Nach rich t er-hielten. Darüber gibt es unzählige Aussagen von Zeit-zeugen und Betroff enen. Alvina Enzi aus Berlin be-rich tet über die Verhältnisse in einem Arbeitslager bei Tsch eljabinsk: „Die Mensch en hatt en keine Kraft mehr, die anderen zu begraben. Wenn sie auf die Arbeit ge-trieben wurden, sind sie auf dem Weg einfach umge-

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

89

fallen. Dann wurden sie in eine Stube gesch leppt, die war sch on hoch voll. Es kam auch vor, dass sie einen reingesch missen haben, der noch nich t tot war, nur steifgefroren. Der ist dann in dieser Stube warm gewor-den. Man hat auch gehört, wie da und dort noch einer sch nauft … Im Frühjahr haben sie draußen eine Grube gemach t und alle reingesch missen.“ (Quelle: „Das haben wir alles überlebt“.)Nich t weniger furch tbar waren die Verhältnisse in den Rüstungsbetrieben, wo besonders viele russlanddeut-sch e Frauen arbeiteten. Bis zu 300 Einzelteile in zwölf Stunden hatt e eine Zwangsarbeiterin in einem Rüs-tungsbetrieb in Nowosibirsk anzufertigen. Jedes Werk-stück wog über 24 kg. Die fertigen Gesch osshülsen (48 kg!) musste die erst 15 Jahre junge Irma Sch windt ins Lager zur Verpack ung sch leppen. Für diese sch weren Stück e gab es keinen Werkwagen oder sonstige Hilfs-mitt el: „Täglich arbeiteten wir zwölf Stunden in zwei Wech selsch ich ten, ohne Ruhetage. Wenn jemand an unserem Fließband nich t zur Arbeit kam, wurden zwei Mensch en aus der vorhergehenden Sch ich t zurück be-halten, von denen dann jeder noch sech s Stunden für den Fehlenden arbeiten musste. Sie durft en dann auch hinterher nich t nach Hause gehen, sondern mussten nach sech s Stunden Ruhe zur näch sten Sch ich t erneut antreten. Nach diesen 18 Stunden harter, unmensch li-ch er Arbeit fi elen die Mensch en todmüde auf den Fuß-boden im Werk nieder. Auf dem kalten Zementboden der Werkhalle erkälteten sich viele und mussten es mit dem Tode bezahlen.“ (Quelle: Nelly Däs „Alle Spuren sind verweht“.)

Frauen und Kinder in Not –das düsterste Kapitelder traumatischen Geschichteder RusslanddeutschenDas Leid der deutsch en Frauen und Kinder in den Kriegsjahren und danach sind wohl das düsterste Ka-pitel der traumatisch en Gesch ich te der Russlanddeut-sch en. Tausende Kinder blieben elternlos zurück . Sie bekamen keine Lebensmitt el zugeteilt und mussten sehen, wie sie überlebten. Wenn sie Glück hatt en, ver-such ten andere deutsch e Frauen, ihnen eine Bleibe zu geben. Niemand hat gezählt, wie viele Kinder, deren Mütt er in Rüstungswerken und in den Wäldern des Nordens arbeiteten, an den sibirisch en Wegen auf der Such e nach etwas Brot erfroren. Die inzwisch en bereits verstorbene Aussiedlerin Irina Stauch aus Berlin be-rich tete von einem haarsträubenden Fall, der damals eher Normalität war: „Ich kenne eine Frau, die sech s Kinder hatt e. Sie musste auch in die Trudarmee. Als sie zurück kam, waren alle sech s Kinder erfroren. Alle. Die Frau hat den Verstand verloren.“ (Quelle: „Das haben wir alles überlebt“.)Von der sowjetisch en Regierung konnten diese Kinder keinerlei Hilfe erwarten, sie waren nur „Fresser“ und keine Arbeiter. Der Staat brauch te jedoch Arbeiter und noch mals Arbeiter. Das brutale Gesetz - wer nich t ar-

Page 90: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

beitet, darf auch nich t essen - traf die deutsch en Kin-der am häufi gsten. Raisa Ostertag, die bei Gorki in der Trudarmee war, erinnert sich : „Viel später erfuhren wir, dass es um Gorki herum auch Gefängnisse gab, in de-nen elternlose Kinder untergebrach t waren. Diese Ge-fangenenkinder mussten in der Weberei und auf den umliegenden Kolch osen arbeiten. Sie durft en keine Kinder sein und wurden auch nich t als solch e behan-delt. Sie waren Arbeitsvieh. Ich habe einmal so eine Ko-lonne gesehen, als sie an uns vorbeigetrieben wurde: Ausgemergelt, in Lumpen gehüllt, mit kahlgesch ore-nen Köpfen und hungrigen Augen wankten barfüßige Gestalten an mir vorbei. Ein jammervolles Bild, das mich heute noch in meinen Träumen verfolgt!“ (Quelle: „Alle Spuren sind verweht“.)Unzählige Familientragödien spielten sich ab, die noch lange nach dem Krieg fortwirkten. Tamara Beller aus Berlin, damals noch ein Kind, erinnert sich an den Tag, als ihre Mutt er in die Trudarmee musste, wobei der Va-ter sch on seit Monaten dort war und nie mehr zurück -kehrte: „Spät im Herbst 1942 kamen zwei Männer in Uniformen mit einem Sch litt en ohne jede Vorwarnung, und danach haben wir von unserer Mutt er lange nich ts mehr gehört. Sie hat so sch reck lich gesch rien. Die Män-ner haben sie auf dem Sch litt en festgebunden. Wir Kin-der sind noch hinterher gelaufen.“ (Quelle: „Das haben wir alles überlebt“.)Frauen als Holzfällerinnen in den Urwäldern im Nor-den, als Arbeiterinnen in den Bergwerken des Ural und in den Kohlengruben hinter dem Polarkreis - so-wjetisch e Gleich berech tigung pur! Kläglich e Brotratio-nen von bis zu 300-500 Gramm täglich , bitt ere Kälte, Hunger, Not, Misshandlungen und Willkür der Lager-leiter sowie keinerlei Hoff nung auf eine Erlösung und der Tod - als ersehnter Rett er - das war kurz umrissen das Sch ick sal der deutsch en Frauen in den Kriegs- und Nach kriegsjahren.Raisa Ostertag erzählt weiter: „Wir Frauen mussten im Winter in den Wäldern Bäume fällen, die Baumstämme entästen und aus dem Wald sch leppen. Das war eine verdammt harte Arbeit. Unfälle waren an der Tages-ordnung. Das Heizmaterial, das wir in den Barack en benötigten, mussten wir uns selber im Wald besorgen. Für diesen Zweck durft en wir die Baumwurzeln aus-graben. Wir dach ten, uns kommt das ganze Gedärm aus dem Leib, so qualvoll war diese Arbeit. Wir standen oft bis zu den Hüft en im Sch nee. Bei der unmensch lich en Quälerei kamen wir zwangsläufi g ins Sch witzen. Wenn wir dann die Jack en ablegten, zogen wir uns Erkältun-gen zu: Ein Teufelskreis war das! Wer nich t arbeitete, bekam kein Brot, wer kein Brot hatt e, konnte nich t ar-beiten.“Rosalia Wack er, damals Grubenarbeiterin in Lenino-gorsk, wo Buntmetalle gewonnen wurden, erinnert sich : „Es war grauenvoll so tief unter der Erde. Dunkel, nass, kalt. Wenn der Fahrstuhl hinunterfuhr, sch ien es, als versenke er die Arbeiterinnen ins eigene Grab. Man fühlte sich der sch warzen Tiefe auf Leben und Tod aus-geliefert. Es wurde mit Wasserbohrern gearbeitet. Die Frauen wateten den ganzen Tag über im Nassen. Ihre

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

90

Holzpantoff eln hielten das kaum eine Woch e aus, da die Riemen an den Füßen verfaulten... Beständig plag-te alle Arbeiterinnen der Hunger. Die Brotration war ein sch mieriges, teigiges, sch warzes Etwas, worauf wir sehnsüch tig warteten und es dann in Sekundensch nelle versch langen.“ (Quelle: „Alle Spuren sind verweht“.)

Repatriierung: Der leidvolle Wegin die VerbannungDer Repatriierung unterlag ein großer Teil jener ca. 350.000 Deutsch en, denen aufgrund des Vorstoßes der Deutsch en Wehrmach t die Deportation in den Osten für ein Paar Jahre erspart blieb. Beim Rück zug der Wehr-mach t gegen Ende 1943 mussten sie mit in den Westen. Sie wurden größtenteils im Warthegau, in der Gegend um Posen und Lodz, angesiedelt, wo sie die deutsch e Staatsangehörigkeit (Einbürgerung) erwarben.Irina Stauch erinnert sich : „In einem langen Zug waren wir unterwegs in den Westen, man hat keinen Anfang und kein Ende gesehen. Wir wurden bewach t und stän-dig bombardiert. Obwohl wir Fuhrwerke hatt en, muss-ten wir viel, viel zu Fuß laufen, weil die Pferde und Och sen kaum noch konnten. Wir waren so ersch öpft , dass man oft dach te: Jetzt geht es einfach nich t mehr. Auf dem Weg sind viele Mensch en umgekommen.“ (Quelle: „Das haben wir alles überlebt“.)Nach dem Einmarsch der Roten Armee in Deutsch land wurden etwa 250.000 Russlanddeutsch e in die Sowje-tunion „repatriiert“. Festlegungen zur Repatriierung waren bereits im Rahmen eines Geheimabkommens zwisch en sowjetisch en und britisch en Militärbehörden getroff en worden. Auf den Konferenzen von Jalta und Potsdam 1945 wurde die Auslieferung sowjetisch er Staatsbürger an die UdSS R endgültig entsch ieden. Dafür wurden etwa 70 Sammellager eingerich tet. Nur etwa 80.000 Russlanddeutsch en in den westlich en Be-satzungszonen gelang es unterzutauch en und der leid-vollen Versch leppung in den Osten zu entgehen.Um den Abtransport einer so großen Zahl von Men-sch en reibungslos und ohne Widerstand durch führen zu können, hatt e man den Betroff enen die Rück kehr in ihre früheren Wohnorte vorgegaukelt. In Wirklich keit aber wurden sie in den Norden des europäisch en Teils der UdSS R und nach Sibirien versch leppt und wegen „Verrats der sozialistisch en Heimat“ und „engster Kol-laboration mit dem Nazi-Regime“ vielfach zu lebens-langen Verbannung und Zwangsarbeit verurteilt.Der Transport erfolgte in von außen verriegelten Güter-waggons ohne sanitäre Einrich tungen, in die bis zu 120 Personen gepferch t wurden. Die Sterblich keitsrate lag in einigen Waggons bei 30 bis 40 Prozent. Anna Straub erzählt ihre Gesch ich te: „Nach woch enlanger sch lim-mer Fahrt, zusammengepferch t in zugigen Viehwag-gons, kamen wir Ende 1945 im Ural an. Ich war, wie so viele andere, unterwegs sch wer krank geworden, wagte jedoch nich t, das bei den Kontrollen zu sagen, um nich t aus dem Transportzug weggeholt zu werden. Da hieß es, die Zähne zusammenbeißen und aushalten, wenn es auch viele mit dem Leben bezahlen mussten.“

Page 91: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

(Quelle: „Alle Spuren sind verweht“.)Nach einer ausgedehnten Fahrt von bis zu zwei Mona-ten erreich ten die Züge die Bestimmungsorte. „Überall, wo wir hinkamen, wurden wir besch impft . Wir wären die Kriegstreiber, wir hätt en die russisch en Männer in den Tod getrieben, sch rien die Weiber. Der Hass war so groß, es sch ien, als sei ein friedlich es Zusammenleben nie mehr möglich wie zu Hause in der Ukraine. ‚War-um, warum müssen wir die Rech nung für diesen Krieg alleine bezahlen?‘, fragten wir uns.“ So besch reibt eine Russlanddeutsch e ihre Gefühle, die im Zuge der „Re-patriierung“ mit Tausenden Landsleuten aus Deutsch -land nach Sibirien und in den Norden der Sowjetunion deportiert wurde.Wie die anderen Sondersiedler auch mussten sich die Repatriierten regelmäßig bei der Sonderkommandan-tur melden. Die Kommandanten genossen Rech te wie Gutsbesitzer in der Zeit der Leibeigensch aft . Für einen Besuch im Nach bardorf ohne Erlaubnis des Komman-danten gab es zehn Tage Arrest. Für eine Reise, die über die Grenzen des Gebiets hinausführte, drohte eine Stra-fe bis zu 20 Jahren Zuch thaus. Sch ätzungen gehen davon aus, dass die Zahl der Opfer der Deportationen von Deutsch en insgesamt bei etwa 30 Prozent lag. Daraus lässt sich ableiten, dass von 1941 bis 1946 von den etwa 970.000 Deutsch en, die von der Deportation erfasst waren, etwa 300 000 Personen ums Leben kamen. In mehr als 200 Arbeitslagern und Stützpunkten vom Norden des europäisch en Teils bis in den Fernen Osten und sogar in der Mongolei gab es deutsch e Arbeitskolonnen. Die offi ziellen Statistiken über die Verstorbenen in der Arbeitsarmee lassen sich bis heute nich t genau feststellen. Die Trudarmee-Lager blieben vielerorts noch fünf bis zehn Jahre nach dem Krieg bestehen.

Lebenslange Verbannung:Verstreuungals VernichtungsmethodeIn den meisten Orten in Kasach stan, Sibirien oder Mit-telasien, in denen die deportierten Russlanddeutsch en angesiedelt wurden, hatt en die Mensch en keine Vor-stellung, was das Wort „deutsch “ bedeutete. „Dauernd wurden wir als ,Fasch isten‘ besch impft . Wir wussten nich t mal rich tig, was das Wort bedeutet“, sagt Adam Rusch rück blick end.In den Bestimmungsgebieten, verstreut und notdürft ig untergebrach t, unterlagen die Deportierten von An-fang an der polizeilich en Meldepfl ich t und der Aufsich t der NKWD-Organe. Laut einem Berich t der NKWD-Sondersiedlungsverwaltung, die sch on im Herbst 1941 gegründet wurde, waren 1945 unter den 2.230.500 Son-dersiedlern versch iedener Nationalitäten 687 300 Russ-landdeutsch e – fast ein Dritt el.Nach Kriegsende wurde die Verbannung der Volks-gruppe durch ein Dekret des Obersten Sowjets vom 26. November 1948 festgesch rieben. Darin hieß es, dass „die Deutsch en, Kalmyken, Tsch etsch enen, Ingusch en, Balkaren, Finnen, Lett en und andere auf ewige Zeiten

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

91

in die (für sie) bestimmten Rayons umgesiedelt wur-den. Das Verlassen der Ansiedlungsorte ohne Sonder-genehmigung der Organe des Innenministeriums wird mit Zwangsarbeit bis zu 20 Jahren bestraft .“In den Nach kriegsjahren wurden die Deutsch en in der Sowjetunion lange totgesch wiegen. Weder in Zeitun-gen, Zeitsch rift en oder Büch ern noch in Reden oder Radiosendungen wurden sie erwähnt. Der Adenauer-Besuch im September 1955 und die Aufnahme diplo-matisch er Beziehungen zwisch en Moskau und Bonn besch leunigten den Prozess der Entlassung der Deut-sch en aus den Sondersiedlungen.Mit dem Dekret des Obersten Sowjets der UdSS R vom 13. Dezember 1955 „Über die Aufh ebung der Besch rän-kungen in der Rech tsstellung der Deutsch en und ihrer Familienangehörigen, die sich in den Sondersiedlun-gen befi nden“ wurde die erniedrigende Komman-dantur aufgehoben, nich t aber das Verbot, in die Hei-matorte zurück zukehren. Die Deutsch en mussten eine Erklärung untersch reiben, in der sie sich verpfl ich teten, nie wieder in ihre ehemaligen Gebiete zurück zukehren und keine Ansprüch e auf konfi sziertes Eigentum zu er-heben.Die Sowjetführung hatt e off ensich tlich die Absich t, die Assimilation der kleineren Nationalitäten der Sowjet-union durch die „Völkerversch ick ung“ voranzutreiben. Die Ergebnisse dieser Strategie ließen nich t lange auf sich warten. Die Zerstreuung der Russlanddeutsch en führte dazu, dass ein Gemeinsch aft sleben in den über-lieferten Ordnungen nich t mehr möglich war. Damit wurde dieser ethnisch en Gemeinsch aft die wich tigste Grundlage ihrer Existenz und Weiterentwick lung weit-gehend entzogen.Seit Beginn des Zweiten Weltkrieges (also im Zeitraum 1938-1941) gab es keine deutsch en Sch ulen mehr und demzufolge vorerst auch keine Ausbildung in der deutsch en Sprach e. Der Anteil derer, die die deutsch e Mutt ersprach e noch beherrsch ten, ging immer mehr zurück . Mit der sich verstärkenden Urbanisierung der deutsch en Bevölkerung setzte sich auch die sprach lich e Angleich ung an die dominierende Nationalität weiter fort. Es gab zwar noch jahrzehntelang nach dem Krieg gesch lossene Inseln des Deutsch tums in der Altairegion und in den Gebieten Nowosibirsk oder Omsk. Doch die massenweise Ausreise nach Deutsch land in den 90er Jahren hat auch diese Inseln immer mehr unterhöhlt.Bei Volkszählungen gaben Russlanddeutsch e Deutsch als Mutt ersprach e wie folgt an: 1926 - 95 Prozent, 1959 - 75 Prozent, 1970 - 66,8 Prozent, 1979 - 57,7 Prozent und 1989 - 48,7 Prozent. Die Tendenz ist weiter sinkend, trotz der Tatsach e, dass der Versuch , sich öff entlich als Deutsch er zu bekennen, heute für die Zukunft der Fa-milie weit weniger gefährlich ist als früher.

Die teilweise Rehabilitierung -geschichtlich folgenlosAls in den 60er Jahren das „Tauwett er“ anbrach , sch öpf-ten viele Mensch en in der UdSS R Hoff nungen, die sich später als unbegründet erwiesen. So hofft en auch die

Page 92: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Deutsch en, dass sich das Blatt für ihre Lebensbedingun-gen endlich gewendet habe. Zwar nahm der Besch luss des Obersten Sowjets der UdSS R vom 29. August 1964 über die Abänderung des Erlasses vom 28. August 1941 „Über die Umsiedlung der Wolgadeutsch en“ den Ma-kel des Verrats von ihnen: „Das Leben hat gezeigt, dass diese pausch alen Besch uldigungen unbegründet und ein Zeich en der Willkür unter den Bedingungen des Stalinsch en Personenkults waren.“ Aber dieser Frei-spruch stand nur auf dem Papier, denn ein Anspruch auf das bei der Vertreibung konfi szierte Eigentum wie auch die Rück kehr in die ursprünglich en Heimatgebie-te blieben den Deutsch en nach wie vor versagt.Die Forderung der Deutsch en nach der Wiederherstel-lung ihrer autonomen Republik wurde als Nationalis-mus ausgelegt. Die teilweise politisch e Rehabilitierung der Deutsch en war von Chrusch tsch ow vermutlich als Geste des Entgegenkommens gegenüber der Bundes-republik geplant. Auch das Dekret vom 3. November 1972 „Über die Aufh ebung der Besch ränkung in der Wahl des Wohnsitzes, die in der Vergangenheit für ein-

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

92

zelne Kategorien von Bürgern vorgesehen war“ stellte eher eine Sch einlösung dar, denn eine Rück kehr in die ursprünglich en Siedlungsgebiete der Russlanddeut-sch en war weiterhin untersagt. Noch mehr: Das Dekret selbst wurde der Öff entlich keit vorenthalten. Im Zu-sammenhang mit der damaligen Entspannungspolitik kann es als Versuch gewertet werden, eine Lösung der deutsch en Frage in der Sowjetunion anzuregen. Doch zu irgendwelch en positiven Eingriff en ist es nich t ge-kommen.Auch die späteren politisch en Umwandlungen in der Ex-UdSS R, sowohl die Perestroika als auch die Jahre unter Jelzin mit hoff nungsvollen Autonomiebestrebun-gen, blieben für die Russlanddeutsch en gesch ich tlich folgenlos. Die deutsch e Autonomie-Bewegung verwan-delte sich nach einigen Jahren erfolglosen Kampfes um die nationale Eigenständigkeit und die endgültige poli-tisch e Rehabilitierung der Volksgruppe in eine massen-weise Auswanderung nach Deutsch land - als Akt der Verzweifl ung.

Page 93: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Altai 93.468Amur 2.043Arch angelsk 12.315Basch kirien ASS R 11.691Burjato-Mongolien ASS R 2.891Chabarowsk 2.818Dnjepropetrowsk 478Gorki 1.385Irkutsk 5.405Iwanowo 1.809Jakutien ASS R 3.280Karelo-Finnisch e ASS R 73Kasach stan SS R 414.265Kemerowo 58.954Kirgisien SS R 16.504Kirow 6.443Komi ASS R 11.357Kostroma 6.390Krasnojarsk 58.097Kujbysch ew 5.215Kurgan 378Magadan „Daljstroj“ 2.653Mari ASS R 2.512Molotow 43.610Moskau 6.612Nowosibirsk 74.535Omsk 39.407Rjasan 1.508Sach alin 691Swerdlowsk 53.182Tadsch ikistan SS R 20.028Tatarstan ASS R 1.327Tjumen 25.730Tomsk 23.119Tsch eljabinsk 41.634Tsch ita 543Tsch kalow 12.813Tsch uwasch en ASS R 276Tula 12.337Turkmenien SS R 2.544Udmurtien ASS R 7.888Uljanow 652Usbekistan SS R 788Wladimir 97Wologda 9322Gesamt 1106279

(Aus RODINA 10/2002, S. 95ff ,Dr. V. Krieger)

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

93

Wo waren die deportierten Deutschen am 1. Juli 1950?

Page 94: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Johann Kampen,geb. 30. Mai 1921 am Dnjepr

Im Juli 1941 mussten mein Onkel Heinrich Hann und ich aus Chortit-za, Gebiet Saporoshje, zusammen mit deutsch en und ukrainisch en Kolch osarbeitern einen Abtrans-port von Vieh und Masch inen gen Osten durch führen.Anfang August 1941 begann die Trennung der Familien in Rosen-

tal, dem Zwillingsdorf von Chortitza. Deutsch e Fach -leute wurden mit Kommunisten und Juden, die bereits vorsorglich fl üch teten, evakuiert.Mein Onkel Jakob Hann war als Fach mann darunter. Auf dem Transport gingen seine Frau und seine Toch -ter verloren. Er hat seine Verwandten nich t mehr gese-hen. Er starb in den 1990er Jahren in Mitt elasien. Seine sieben Gesch wister, die nach der Zwisch enstation im Warthegau (Herbst 1943) und der Fluch t in den deut-sch en Westen (Winter 1944/45) nach Übersee ausge-wandert waren (1951/52), starben zwisch en 1960 und 2000 in Nordamerika.Von seinen Sch wagern starb mein Onkel Eduard Kon-rad in der Verbannung in Arch angelsk und mein Onkel Julius von Kampen in Kasach stan.Am 22. Juni 1941 waren bereits viele junge Deutsch e aus meiner Umgebung zur Roten Armee eingezogen worden. Man hatt e nach 1939 off enbar nich t mehr so stark nach der Nationalität, sondern nach der Zuverläs-sigkeit entsch ieden.Ausgegrenzt wurden vor allem die Söhne repressierter Eltern. Ich gehörte dazu, weil mein Vater 1938 verhaft et und im Gefängnis von Saporoshje umgebrach t worden war, was uns jedoch erst 1990 vom KGB bestätigt wur-de.Zu den „Glück lich eren“, die im Herbst 1939 zur Ro-ten Armee kamen, gehörte mein gleich altriger Cousin und bester Jugendfreund Theo Hann. Ich beneidete ihn 1940, weil er sch nell Unterleutnant wurde. obwohl er die Pädagogisch e Lehranstalt mit sch lech teren Noten als ich abgesch lossen hatt e und auch im Sport sch lech -ter als ich war.Jahre später beneidete ich Theo nich t mehr. Seine Mut-ter, meine Tante Agathe, sch rieb mir. „Theo ist bereits 1948 in Sibirien gestorben. Er kam im Oktober 1941 in die Trudarmee und wurde erst 1946 entlassen, und das auch nur, weil er todkrank war. Wir haben uns nach 1940 nich t mehr gesehen. Er hat eine Toch ter Katja. Ich hoff e, dass ich Katja noch auf dieser Welt sehen kann.“Tante Agathe war es vergönnt, ihre Sch wiegertoch ter zu sehen, weil sie in Kanada über 90 Jahre alt wurde. Ich habe Katja, die kurz vor dem Tod ihres Vaters ge-boren wurde, mehrmals in Bonn besuch t, wo sie seit 1990 lebt.

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

94

Ein besonderes Kapitel für die Deutsch en in Chortitza war die Zeit unter deutsch er Besatzung vom 18. August 1941 bis September 1943, worüber an anderen Stellen ausführlich berich tet wird.Sehr kritisch wurde es aus meinem näch sten Verwand-tenkreis nur für Onkel Heinrich Hann. Es überlebte nur knapp eine Todeszelle, in die man ihn gesteck t hatt e, weil er aus zwei Gründen verdäch tig war: Er war in den Jahren 1934 bis 1938 Kolch osvorsitzender gewe-sen und arbeitete am Samstag nich t. „Das ist ein Kom-munist und Jude“, urteilten ahnungslose Herren vom Sich erheitsdienst. Dass er überlebte, verdankte seine Familie ihren eigenen Gebeten und dem Wissen eines deutsch en Offi ziers, dass es sehr wohl auch Christen gibt, die wie die Juden den Sabbat heiligen und kein Sch weinefl eisch essen: die Siebentags-Adventisten. Die große Chortitzaer Familie der Hanns gehörte seit 1900 dazu.

Emma Bayer,geb. 30. Mai 1925 an der Wol-ga

Am 30. Mai 1941 wurde ich 16 Jah-re alt. Am 7. Juni beendete ich die 8. Klasse der deutsch en Mitt elsch u-le in Balzer an der Wolga mit einer Belobigung für ausgezeich nete Er-folge und mustergültiges Betragen. Das war zwei Woch en vor dem Be-

ginn des Krieges zwisch en Deutsch land und der Sow-jetunion.Zunäch st merkten wir nich t viel vom Krieg. Doch um den 27. bis 29. August zogen mehrere bewaff nete Kolonnen von Soldaten von der Anlegestelle Ach mat durch unsere Straße in Rich tung Stadtzentrum. Leute eilten herbei und sch auten sich fragend an: „Was hat das zu bedeuten?“Am 30. August ging unser Klassenlehrer von Haus zu Haus und teilte den Sch ülern mit, dass wir das neue Sch uljahr nich t in unserer Sch ule beginnen könnten. Sie sei von Rotarmisten belegt.Am 31. August erhielten wir die deutsch e Zeitung „Nach rich ten“ vom 30. August. Auf der ersten Seite stand der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSS R über die Umsiedlung aller Wolgadeutsch en nach Sibirien und Kasach stan. Der Sch ock war groß.Es dauerte nur einige Tage, bis uns der Abtransport er-reich te. Er erfolgte zuerst mit Pferde- und Och senge-spannen. Später wurden auch Omnibusse und Lastwa-gen eingesetzt.Wir kamen nach Ach mat an der Wolga, wo wir eine Woch e im Freien auf den Weitertransport warteten. Zur Weiterfahrt wurden wir auf Sch leppkähne verladen, die für den Gütertransport gedach t waren. Die Sch iff sreise führte uns nach Uwek, einem Vorort von Saratow. In

Zeitzeugen erzählen

Page 95: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Uwek stand für uns und unsere Habseligkeiten sch on ein großer Transportzug mit zweiach sigen Güterwag-gons bereit. In unserem Waggon waren 43 Personen. Drei von ihnen konnten sich nach ts nich t hinlegen, weil es keinen Platz für sie gab.Das Umladen war sch nell vorbei. Der Zug fuhr gleich los, zuerst über die Brück e auf die andere Seite der Wolga. Niemand wusste, wohin die Reise ging. Unter-wegs gab es gelegentlich Suppen und sogar gute Äpfel zu kaufen, zwei Rubel 50 pro Eimer. Abends wurden die Türen gesch lossen und verriegelt.Wir fuhren die ganze Nach t ohne Stopp. Als die Tür wieder geöff net wurde, hieß es: „Wir sind in Ajagus.“ Das war eine Station in der Nähe von Semipalatinsk.Nach der Weiterfahrt mit der Transsibirisch en Eisen-bahn kamen wir am 29. September in der Altairegion an. Uns blies ein kalter Wind ins Gesich t. Da war uns endgültig klar, dass wir in Sibirien waren.An eine Sch ule war nich t zu denken. Es hieß: „Keine Arbeit, kein Brot!“Sch on am 4. Oktober hatt e ich eine feste Arbeitsstelle, in einer Flach sbrech e. Nach gut 14 Monaten wurde ich von Flach s im Altai auf Wald im Norden des europäisch en Russlands „umqualifi ziert“: Ich kam zur Trudarmee in das „Besserungslager Unsch lag“ im Gebiet Gorki, wo bereits Tausende meiner älteren deutsch en Landsmän-ninnen arbeiteten, hungerten und froren. Dort wurde mir deutlich genug angekreidet, wer ich bin.Es vergingen noch gute ach t Jahre, bis ich mein Leben neu sortieren konnte: arbeiten und lernen, heiraten und sparen, mit drei Kindern arbeiten und studieren, den frühen Tod des Mannes verkraft en und nach Deutsch -land ausreisen.

Christian Kronhardt,geb. 23. Sept. 1928 in Go-rodok, Ukraine

Die erste Nach rich t vom Kriegs-beginn überbrach te mir am Mor-gen des 22. Juni 1941 ein Genos-se vom Dorfsowjet vor unserem Haus in Gorodok im Gebiet Tsch ernigow in der Ukraine mit den Worten: „Christian, spring sch nell zu den Frauen auf dem

Tabakfeld und sag ihnen, dass die Deutsch en die Sow-jetunion überfallen haben!“Die Frauen brach en bei der Nach rich t in Tränen aus. Sie wollen am liebsten sofort die Arbeit „sch meißen“. Ihre Vorarbeiterin (die „Lankowaja“) konnte sie aber davon überzeugen zu bleiben.Sch limmes traf unsere Familie sch on in den ersten Kriegstagen: Onkel Philipp wurde verhaft et, und nach einigen Tagen erfuhren wir, dass er ersch ossen worden war. Wir wussten nur, dass er im Ersten Weltkrieg in deutsch er Gefangensch aft gewesen war. War das der Grund?Am 4. September 1941 kamen die ersten deutsch en Sol-daten auf Motorrädern und Fahrrädern in unser Dorf.

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

95

Sie wussten, das es ein deutsch es Dorf war, und erklär-ten uns, dass sie viele Kameraden verloren hätt en.Ich hatt e keine Probleme, mit ihnen zu sprech en, denn meine Mutt ersprach e war Deutsch , und ich hatt e von meinen fünf Sch ulklassen immerhin zwei in deutsch er Sprach e beendet.Als die Deutsch en kamen, war unsere Kolch ose sch on so gut wie aufgelöst, weil alles Rich tung Osten in Sich er-heit gebrach t worden war. Mein Großvater, eine Tante und drei Onkel hatt en zusammen mit andern Kolch os-arbeitern den Abtransport durch führen müssen.Unterwegs wurden ihnen jedoch Vieh und Masch inen abgenommen, und sie selbst zu anderen bereits ver-bannten Deutsch en nach Tjumen am Polarmeer eskor-tiert. Nach der Aufh ebung der Kommandantur 1956 kamen sie in das Gebiet Nowosibirsk. Ihre Heimat ha-ben sie nie mehr gesehen.Ich wurde mit den anderen Dorfb ewohnern im Herbst 1943 evakuiert und hatt e bis Kriegsende reich lich Ge-legenheit, den Osten Großdeutsch lands kennen zu ler-nen. Den Westen des neuen Deutsch lands versuch e ich seit dem Tag meiner zweiten Heimkehr am 5. Novem-ber 1989 zu ergründen.Die seinerzeitige Evakuierung von Gorodok in den Warthegau mit Pferdegespannen und einigen unliebsa-men Zwisch enstationen dauerte ein halbes Jahr (5. Sep-tember 1943 bis 4. März 1944), der Rück transport von Deutsch land nach Sibirien immerhin gut vier Monate ab Mitt e Mai 1945.Er erfolgte zunäch st mit Lastautos und ab Brest-Li-towsk, wo wir einen Monat aufgehalten wurden, mit der Eisenbahn. Am 26. September 1945 kamen wir in das Gebiet Nowosibirsk Hier arbeitete und lebte ich 44 Jahre bis zu meiner Ausreise nach Deutsch land.Meine neue Heimat ist Augsburg (Bayern), wo ich in der Nähe meiner Sch wester Philippine, meiner Kinder, Enkel und Urenkel lebe und das Grab meiner Frau Al-vine pfl ege, mit der ich über 50 Jahre Glück und Un-glück teilen konnte.

Ella Hiller, geb. 25. Sept.1930in Kassel bei Odessa

Meine Eltern waren sehr gläu-bige Bauern, die mich trotz Kommunismus und Atheis-mus im Geiste des ch ristlich en Glaubens erzogen.Als die deutsch en Soldaten bei uns einmarsch ierten, war ich noch nich t ganz elf Jahre alt. Mir fi el sch on in den ersten Ta-gen der Satz eines Soldaten in blauer Uniform auf: „Da habe ich eine Bombe he runter ge-

sch missen!“ Das war ganz in der Nähe. Wie leich t hätt e die Bombe auch unser Haus treff en können!Ich kann mich auch erinnern, dass bei uns die Kolch ose bald aufgelöst wurde und die Mensch en Land zugeteilt bekamen. Aus Kolch osarbeitern wurden Einzelbauern!

Page 96: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Als Zwölfj ährige musste ich oft auf dem Feld mithelfen, die Kuh nach ihrer Rück kehr von der Weide empfangen und etwas für das Abendessen vorbereiten, denn die Eltern blieben auf dem Feld bis zur Dunkelheit. Wie ich das alles gesch afft habe, ist für mich heute ein Rätsel.Die Sch ule blieb mir auf jeden Fall rech t fremd. In den ersten drei Klassen hatt e ich alles auf Ukrainisch gelernt, und jetzt, da Deutsch e regierten, lernte ich auf Deutsch . Das war aber ein anderes Deutsch als zu Hause.Vom Krieg merkte ich zunäch st nich t viel. Nur dass ir-gendwo gesch ossen wurde, obwohl die Front weit weg war. Im Winter 1943/44 hörten wir auch wieder Kano-nendonner. „Nasch i“, hieß es. So viel Russisch verstand ich trotz zweij ähriger Umerziehung immer noch . „Na-sch i“ bedeutete „unsere“ und „wasch i“ „eure“.„Eure“ aber waren unsere neuen Herren von der deut-sch en Besatzungsmach t. Diese befahlen uns im Früh-jahr 1944, alles stehen und liegen zu lassen und uns auf eine weite Reise vorzubereiten. „Morgen früh geht es los!“, hieß es irgendwann im April. (Wahrsch einlich am 15. April 1944 mit dem so genannten Glück staler oder Nord-treck . Vgl. HB 2004, Seite 9. Anm. d. Red.)Unser Treck mit Pferdegespannen kam nur langsam voran, da die Straßen durch deutsch e Truppen ver-stopft waren, die sich vor der nach rück enden Roten Armee absetzten. Der Weg führte über Bessarabien, Rumänien, Ungarn und die Slowakei in den polnisch en Warthegau. Einen großen Teil des Weges, der mit vielen kriegsbedingten Umwegen wohl 500 km gewesen sein könnte, musste ich hinter den Wagen zu Fuß laufen.In Kalisch an der Prosna wurden wir in drei Kirch en untergebrach t. Nach der Einbürgerung wurden volks-deutsch e Männer zum Militärdienst oder Volkssturm

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

96

eingezogen. Papa kam zur Organisation Todt (OT) an die Front. Das waren Männer, die die Straßen für den Krieg in Ordnung bringen mussten.Als die Rote Armee immer näher rück te, wurden wir weiter nach Chemnitz verfrach tet. Am 20. Mai 1945 übergaben uns Amerikaner an Russen, die uns angeb-lich in die Heimat in der Ukraine bringen sollten. Und tatsäch lich kamen wir zuerst nach Odessa und einen Monat später nach Kassel. Ich glaube, man wusste noch nich t so rech t, was man mit unserem bunten Haufen anfangen sollte. Wahrsch einlich warteten alle auf die Erleuch tung aus Moskau.Die kam bald. Wir durft en nich t in Kassel bleiben. Im Norden und Osten der Sowjetunion wurden dringend Arbeitskräft e gebrauch t. Unser Ziel hieß Syktywkar in der ASS R der Komi.Mamas Trost war sch wach : „Ella, damals warst du vier Jahre alt. Jetzt bist du 15. Es gibt wieder Hunger, Frost und Not.“ Unsere neue Wohnstätt e waren Barack en, unser Arbeitsplatz sch on am näch sten Tag die Taiga. Das war im Winter 1945/46.35 Jahre später landete ich am 29. Mai 1981 als Aussied-lerin mit einem Koff er auf dem Frankfurter Flughafen. Ich bewahre für die vergangene Zeit viele Texte und Fotos aus dem Leben meiner Familie auf.Mein Mann Julius hat die Heimkehr nich t mehr erlebt. Er starb 1976 in Moldawien, gewissermaßen auf hal-bem Weg in unsere Urheimat. Geblieben sind mir ein Sohn und eine Toch ter, drei Enkel, fünf Urenkel und der Ururenkel Rodon. Sie leben in meiner unmitt elba-ren Nach barsch aft in Augsburg, in Heilbronn oder in weiter Ferne in Syktywkar. Johann Kampenh

Page 97: Materialsammlung „70 Jahre Deportation der Deutschen in ...wolgadeutsche.net/other/70_ Jahre_Deportation.pdf · gen Deutsch land, gehören Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung

Der 28. August ist nich t nur ein Trauertag, sondern auch ein besonderes Datum für das Selbstverständnis unserer Volksgruppe.

Das gemeinsam erlitt ene Sch ick sal von Vertreibung, Zwangsarbeit und ansch ließender staatlich er und gesellsch aft lich er Äch tung verbindet alle Russland-deutsch en.

Jeder Russlanddeutsch e, sowohl in den Herkunft sge-bieten als auch in Deutsch land, kennt diese Ereignisse aus familiären Erinnerungen. Leider nimmt heute nich t jeder die Bedeutung dieser Ereignisse wahr. Das Erin-nern an die Deportation und Zwangsarbeit ist nich t nur ein Trauern, sondern vor allem ein Bekenntnis zur russ-landdeutsch en Identität. Der Jugend- und Studenten-ring der Deutsch en aus Russland (JSDR) bemüht sich darum, diesem Gedenken einen übergeordneten Sinn zu geben. Einen Sinn, der bei jedem Betroff enen ein Zu-gehörigkeitsgefühl auslöst.Zum Beispiel im Sinne der Integration. Die Verantwor-tung für das Kriegsfolgensch ick sal der Russlanddeut-sch en verpfl ich tete die Bundesrepublik Deutsch land dazu, uns als deutsch e (Spät-)Aussiedler in der Bundes-republik aufzunehmen. Die bedingungslose Aufnahme von russlanddeutsch en Zuwanderern aus moralisch er Verpfl ich tung mach t Deutsch land in dieser Hinsich t weltweit zu einem einzigartigen Land, was von uns eine Würdigung dieser humanitären Leistung verlangt. Und die bestmöglich e Würdigung ist unsere Integra-tion. Integration kann vieles heißen. Im Wesentlich en gehört dazu das Bekenntnis zum Grundgesetz, d.h. zu freiheitlich -demokratisch en Werten, gesellsch aft lich e und kulturelle Partizipation sowie die Übernahme von Verantwortung für das Sch ick sal dieser Gesellsch aft .

70 Jahre Deportation der Deutsch en in der Sowjetunion

97

Der Jugend- und Studentenring der Deutschen aus Russlandund der 70. Jahrestag der Deportation der Russlanddeutschen

Integration ist aber auch nich t Assimilation, sondern sie beinhaltet die Wahrung unseres kollektiven Erbes als Russlanddeutsch e. In Zeiten einer übertriebenen In-tegrationspolemik mit dem Universalbegriff „Personen mit Migrationshintergrund“ fällt es vielen nich t einfach zu sagen: Wir stammen aus Russland, Kasach stan oder Ukraine, sind aber vor allem Deutsch e. Anders die Ak-zeptanz in der Gesellsch aft . Dass wir eine einzigartige Kultur haben, dass unsere Eltern und Großeltern in ei-nem totalitären Staat völlig unversch uldet diskriminiert wurden, dass man ihnen ihr Deutsch sein jahrzehnte-lang austreiben wollte, aber auch dass unsere Kultur heute zweisprach ig ist, ist in der bundesdeutsch en Ge-sellsch aft immer noch wenig bekannt.Die Realität ist, dass der offi zielle Begriff „Person mit Migrationshintergrund“ auf die Untersch eidung aller Migranten von Altbürgern abzielt. Deswegen liest man in Zeitungen von „Kindern mit russisch en Wurzeln“, „Deutsch -Russen“ oder „deutsch stämmigen Kasa-ch en“. Dass wir zugereist sind, bleibt außer Frage, doch ist der Begriff „Migrationshintergrund“ problemorien-tiert und stempelt uns als Fremde ab. Das Problem liegt hier nich t in einem plötzlich en Umdenken, d.h. dass wir gestern als Deutsch e aufgenommen wurden und heute als „Migranten“ gelten, sondern sch lich t im Vergessen. Besonders die jungen Russlanddeutsch en vergessen, warum wir hierher gekommen sind, und die Aufnah-megesellsch aft vergisst, warum sie uns aufgenommen hat. Daher liegt unsere Aufgabe auch im Erinnern!Der Jugend- und Studentenring der Deutsch en aus Russland plant in diesem Jahr eine Reihe von Veranstal-tungen zum Thema der Deportation und dem Umgang der jungen Generation der Russlanddeutsch en damit.

JSDR-Vorstand