MATHEMATISCHE MODELLIERUNG – EIN »CURRICULUM VITAE«und... · EIN »CURRICULUM VITAE« Helmut...

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1 MATHEMATISCHE MODELLIERUNG – EIN »CURRICULUM VITAE« Helmut Neunzert, Fraunhofer-ITWM Vortrag auf der Tagung »Geschichte und Modellierung«, Jena, Februar 2012 Das Thema dieses Kolloquiums ist die mathematische Modellierung im Unterricht, wie sie entstand und wie sie heute ist und wie sie morgen sein könnte. Das ist ein großes Thema – es ist auch für mich persönlich ein großes Thema, es ist mein Curriculum Vitae, weil es 35 Jahre meines beruflichen Lebens bestimmte. In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts begannen Kollegen in Oxford, Claremont in Kalifornien und Linz, Probleme der Industrie in die Hochschule zu holen und dort mit Studenten zu bearbeiten. In Kalifor- nien hieß das »mathematical clinic«, weil, in ihrer Vorstellung die Probleme krank hereinkamen und als geheilt entlassen wurden. Die Aktivitäten in Oxford, die schon 1968 begannen, hießen: »Study Group with Industry«. Das wollten wir in KL machen, da ich nach 12 Jahren in der Forschung an die Hochschule zurückgekehrt war, weil ich die Überzeugung gewonnen hatte, dass wir unsere Studenten nicht zu Ebenbildern der Professoren, sondern zu tüchtigen Problemlösern ausbilden sollten. »Problemsolving«, was das bedeutet, hat z. B. Alan Tayler, der die Oxforder Aktivitäten initiiert hatte, in dieser Folie beschrieben

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MATHEMATISCHE MODELLIERUNG –

EIN »CURRICULUM VITAE«

Helmut Neunzert, Fraunhofer-ITWM Vortrag auf der Tagung »Geschichte und Modellierung«, Jena, Februar 2012

Das Thema dieses Kolloquiums ist die mathematische Modellierung im Unterricht, wie sie entstand und wie sie heute ist und wie sie morgen sein könnte. Das ist ein großes Thema – es ist auch für mich persönlich ein großes Thema, es ist mein Curriculum Vitae, weil es 35 Jahre meines beruflichen Lebens bestimmte.

In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts begannen Kollegen in Oxford, Claremont in Kalifornien und Linz, Probleme der Industrie in die Hochschule zu holen und dort mit Studenten zu bearbeiten. In Kalifor-nien hieß das »mathematical clinic«, weil, in ihrer Vorstellung die Probleme krank hereinkamen und als geheilt entlassen wurden. Die Aktivitäten in Oxford, die schon 1968 begannen, hießen: »Study Group with Industry«.

Das wollten wir in KL machen, da ich nach 12 Jahren in der Forschung an die Hochschule zurückgekehrt war, weil ich die Überzeugung gewonnen hatte, dass wir unsere Studenten nicht zu Ebenbildern der Professoren, sondern zu tüchtigen Problemlösern ausbilden sollten.

»Problemsolving«, was das bedeutet, hat z. B. Alan Tayler, der die Oxforder Aktivitäten initiiert hatte, in dieser Folie beschrieben

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Der große Teil der Kollegen in Ost und West waren zu meiner Studienzeit Bourbakisten.

Mathematik war eine deduktive Wissenschaft ohne Beziehung zur realen Welt. In der Schule gab es in den 70er Jahren Mengenlehre. Was das bedeutet , hat Morris Kline vom Courant Institut in New York kurz charakterisiert.

Der Didaktikkollege an meiner Hochschule definiert in einem Schulbuch eine Funktion als rechtsinvariante Relation; es gibt keine Idee für die Bedeutung des Begriffs Funktion, obwohl wir ja alle täglich mit dem Funktionsbegriff konfrontiert werden.

Nun hatte Wissenschaft im Laufe der Geschichte verschiedene Aufgaben – um 1900 hatte sich diese Auf-gabe mit Helmholtz und seinem Schüler Hertz verändert. Ziel war nicht »Naturverständnis«, sondern

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»Vorhersage«. Das veränderte auch die Methodik. Dazu als Beleg die Einleitung zur »Mechanik« von Heinrich Hertz.

Diese »Scheinbilder« bestanden z.B. in den Feldlinien eines Dipols (das ist wohl Hertz’ berühmtestes Scheinbild), meist aber aus mathematischen Gleichungen. Die Mathematik war das Werkzeug der Vorher-sage, denn sie war oft der Rohstoff der Modelle, immer die Methode der Auswertung der Modelle. Modellierung und Berechnung wurden genuin mathematische Aufgaben, denen sich allerdings die Physiker mehr und mehr, die Mathematiker nach 1900 immer weniger widmeten. Die Physiker nahmen die Mathematik ernst, die Mathematiker die Physik immer weniger.

Ein Beleg dafür ist der Text von 1997 von Vladimir Igorevich Arnold.

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Er nennt die ab 1950 vorherrschende Bourbaki – Mathematik »scholastische Mathematik«, die »weder geeignet ist für die Lehre, noch für die Anwendung in irgendwelchen anderen Wissenschaften.«

Wie sehr Arnold mit seinen »billigen Experimenten« recht hatte, war den meisten seiner Zuhörer, damals in Paris, nicht klar. Die mathematischen Modelle hatten nämlich, so um 1970, ein Werkzeug bekommen, den Computer. Wo man früher, z.B. in den Arbeiten von Iris Runge bei Osram oder auch noch in Study Groups in Oxford, die Modelle so weit vereinfachen musste, dass sie analytisch zu lösen waren (die nume-rischen Methoden ihres Vaters Carl Runge halfen Iris wenig, denn sie waren kaum mit Bleistift und Papier durchführbar), gelang es schon in Linz oder Kaiserslautern, die Modelle mit Hilfe der Computer numerisch auszuwerten und so in realistischen (3-d) Situationen zuverlässige Aussagen zu machen. Es sind – so nannte es der russische Akademiker A. A. Samarskii – »numerische Experimente«; und die sind viel viel billiger als reale Experimente.

Modellierung und Berechnung ergeben dann die Simulation eines realen Prozesses oder Produktes.

An die Simulation lässt sich immer Optimierung anschließen; ein virtueller Prozess, ein virtuelles Produkt lässt sich einfacher variieren und deshalb optimieren als ein realer Prozess, ein reales Produkt. Und das ist ja, was die Firmen wünschen. Bessere, möglichst optimale Produkte, billigere, schnellere Produktions-prozesse. Was »optimal« heißt, ist in der Realität viel schwieriger, da gibt es viele, sich oft widersprechen-de Kriterien – aber das ist ein anderes Thema.

Lassen Sie mich kurz erwähnen, dass dieses Modellieren, Simulieren, Optimieren (MSO) die Basis unseres Fraunhofer-Instituts ist, an dem ich noch in Teilzeit sehr aktiv bin.

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Doch jetzt habe ich mich etwas verirrt. Dies ist ja ein Didaktik – Kolloquium, das der Modellierung im Unterricht gewidmet ist. Obwohl: Es schadet der Schule nicht, wenn sie wenigstens ein wenig weiß, was »draußen« in Forschung und Praxis passiert!

Modellieren in der Schule: Das ist ein sehr altes Thema, das früher unter dem Stichwort »Textaufgaben« lief. Wie alt zeigt ein Buch von Georg Zindl, Direktor der k. k. Musterhauptschule in Prag, von 1841.

Es ist aber auch ein aktuelles Thema, wie fast jedes Abitur zeigt, hier z. B. eine Aufgabe aus dem Projekt SINUS.

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Oder: Sicher schon viel besser eine Pisa-Aufgabe.

Dass Modellierung in der Schule heftig diskutiert wird, zeigt dieser Beitrag im Dezemberheft der Mit-teilungen der DMV, die von einer Bemerkung des Berliner Mathematikers Ziegler angeregt wurde.

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Weitere Beiträge aus Universitäten und Fachhochschulen stimmen da zu. Ich hoffe, dass Sie am Ende des Vortrags verstanden haben werden, dass hier Missverständnisse vorliegen, die wohl der Tatsache ge-schuldet sind, dass die Diskutanten keine nennenswerten eigenen Erfahrungen haben.

Dabei gibt es schon seit fast 100 Jahren gescheitere Aussagen dazu, die sogar in Jena entstanden sind. Renate Tobies hat mich schon vor Jahren auf Mathilde Vaerting aufmerksam gemacht, auf ihr Buch »Neue Wege im mathematischen Unterricht«, von 1921.

Ich will nur einige, wenige Sätze zitieren:

Die praktischen Ideen, die in der Doktorarbeit einer Schülerin entwickelt wurden, sind heute nicht mehr ganz zeitgemäß, denn es geht um Gedächtnishilfen, die heute andere Medien einbeziehen müssen. Frau Vaerting modelliert nicht wirklich, aber ihre Klagen sind nicht überholt.

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Erwähnen will ich noch den Bulgaren Sendov, Mathematiker in Sofia, Präsident der Akademie der Wissen-schaft und Vizepräsident eines UNESCO – Programms für Informatik, heute bulgarischer Botschafter in Japan.

Er machte in Chivkov’s Bulgarien ein Großexperiment mit 29 Schulklassen über 12 Jahre – er ist also kein Theoretiker. Er will, dass man die Hierarchie: Information – Wissen – Weisheit im Unterricht umsetzt, also Informationen speichert (das »klassische« Lernen), sie in nutzbares und persönliches Wissen verwandelt (sie z. B. in Modellen anwendet) und schließlich dieses Wissen in weisen Entscheidungen und Handlungen umsetzt. Da gibt es viele sehr praktische Anregungen, insbesondere auch für den Informatikunterricht – aber das ist wieder ein anderes Thema.

Für uns hier entscheidend ist der Unterschied, der sich in den Wörtern »problemgetrieben« und »metho-dengetrieben« ausdrückt.

Alle Textaufgaben, die wir gesehen haben, sind methodengetrieben: Man will eine mathematische Metho-de einüben und verkleidet diese Übung in eine praktische Aufgabe. Es sind nicht »eingekleidete«, es sind verkleidete Aufgaben. Problemgetrieben sind Aufgaben, bei denen das Problem und seine Lösung im Vordergrund stehen; die Aufgabe bestimmt oder beeinflusst die Methode – und nicht umgekehrt. Man weiß nicht von vornherein, ob man Analysis, Geometrie, Algebra, Statistik oder Optimierung benötigt, um das Modell zu formulieren. »Man« weiß nicht: Schüler und Lehrer wissen nicht, sie müssen sich darauf einlassen. Der Lehrer büßt seinen Kompetenzvorsprung ein, er riskiert etwas. Aber natürlich kann man Problemlösen auch lernen – am besten durch Tun.

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Ich will Ihnen nun 2 typische Modellierungsaufgaben für Modellierungs– oder Projektwochen der gymna-sialen Oberstufe zeigen. Eine entstand im letzten Jahr im ITWM aus einem Industrieprojekt, die andere fand ich im schwedischen Wald.

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Quelle: Schülermodellierungswoche 2003, Lambrecht: Teile der Ergebnispräsentation zur Aufgabe »Wieviel Holz bekommt man aus einem Wald?«

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Lassen Sie mich zum Schluss ein wenig über historische Aspekte nachdenken – als Nichthistoriker, also laienhaft.

Der Zweck der Wissenschaft, das WARUM, hat sich in der Geschichte oft verändert. In dem spannenden Buch »The Scientific Revolution« von Steven Shapin 1996, das übrigens mit dem schönen Satz beginnt »There was no such thing as the Scientific Revolution, and this is a book about it.« – in diesem Buch stel-len 3 Kapitel die 3 Fragen: »What was known?« – »How was it known?« – »What was the knowledge for?« – Mir geht es also um die 3. Frage, das WOZU.

Vor 1600 etwa interessierte man sich vor allem für das Ungewöhnliche, das Anormale, am liebsten für Monster. Die Natur war beseelt, man suchte und fand Ähnlichkeiten, »similarities«. Der Philosoph Michel Foucault spricht von den Epistemen, die allen geistigen Aktivitäten einer Zeit zugrunde liegen – und in dieser Zeit gilt das Epistem »Ähnlichkeit«. Mathematik spielte da weniger eine Rolle.

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Dann kam die Zeit Galileis, man wollte die Natur, so wie sie ist, verstehen. Man wollte mit der Wissen-schaft die Natur enthüllen.

Die Mathematik bekommt nun eine bedeutende Rolle, »das Buch der Natur ist in mathematischen Zeichen geschrieben«. Man kann sagen, dass sich die Natur in die Mathematik abbilden lässt. Man machte mathe-matische Modelle – und sie dienten dem Verständnis. Man muss das nicht als Revolution verstehen – siehe Shapin. Aber es war neu und aufregend. Ende des 19. Jahrhunderts, als Helmholtz und sein Schüler Hertz die deutsche Physik bestimmten, wandelte sich der Zweck der Wissenschaft. Jetzt ging es um Vorhersage.

Es gibt einen ganz praktischen Unterschied zwischen Verständnis und Vorhersage, der mir in vielen Dis-kussionen mit meinen Oxforder Kollegen über ihre »Study Groups« im Vergleich zu unseren »Problem-lösungsseminaren« klar geworden ist. Dort, in Oxford, wird zu einem gegebenen, meist industriellen, Problem ein Modell aufgestellt und dieses dann solange vereinfacht, bis es «lösbar« ist. (Das verbirgt sich hinter Alan Taylers Ratschlag: »Think hard before rushing to the computer«). Die Vereinfachung, meist asymptotische Näherungen, bei denen oft »kleine Parameter« gegen null gehen, verändern das Verhalten des modellierten Systems nicht im Wesentlichen, nicht in seiner Struktur. Die Lösungen verhalten sich also ähnlich, aber die Daten sind ungenau. Man kann z.B. ein – oder zweidimensionale Probleme behandeln anstelle des realen dreidimensionalen. Wenn die Lösungen des vereinfachten Systems etwa periodisch sind oder in endlicher Zeit explodieren, so kann man auf ein ähnliches Verhalten des realen Systems schließen. Dieses wird also verstanden; aber es wird in seinem Verhalten nicht vorhergesagt. Manchmal will die Industrie nur Verständnis – und so war das z.B. auch bei Iris Runge. Bezahlen tut die Industrie meist nur für Vorhersage.

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Man kann auch visualisieren, wie eine andere unserer früheren Sofia-Kowalewskaja-Professorinnen, Marie Farge, gezeigt hat:

Zur Vorhersage muss man das volle Modell mit einer vorgegebenen Genauigkeit »lösen«. Dazu braucht man gute numerische Mathematik und eine geschickte Nutzung des Computers. Diese hinreichend genauen Lösungen genügend präziser Modelle – diese sind die Simulationen.

Man simuliert Herstellungsprozesse, z. B. das Gießen von Eisen. Man simuliert auch das Verhalten von Produkten, z. B. von Robotern.

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Man simuliert alles so genau, dass man die Lunker im Gießprozess vorhersagen und schließlich vermeiden kann oder dass man auch das extreme Verhalten von Roboterkabeln berechnen und dadurch Kollisionen vermeiden kann.

Das alles ist neu, völlig neu, zumindest in der industriellen Praxis. Man kann nicht von einer wissenschaft-lichen Revolution, vielleicht aber von einer technologischen Revolution sprechen, die da seit ca. 30 bis 40 Jahren passiert.

Die Geschichte der Modelle. ihre Rolle auch in Bezug auf die verschiedenen Zwecke der Wissenschaft ist noch zu schreiben. Hoffentlich tun sich Historiker zusammen mit aktiven Modellierern, um ein gutes Ab-bild des wirklichen Geschehens zu geben. Die Philosophie der Modellbildung, die ich kenne, hat dies ver-säumt.

Vielleicht tragen Tagungen wie die heutige, solche Historiker wie Renate Tobies dazu bei. Da sie ja noch 30 Jahre aktiv sein will, kann ich nur sagen: GLÜCK AUF !

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