Mcluhan Understanding Media

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,:;{tr;;#,ii Magische Kanäle. Marshall Mcluhan I. The Medium is the Message Der kanadische Anglist Herbert Marshall Mcluhan ist unter den Pionieren der Medientheorie der pronrinenteste. Während zahlreiche Kollegennur in Fachkreisen diskutieft wurden,er- langtenseineThesen, die keiner bestimmten Disziplin zuzu- ordnen waren, große Popularität. Er brachte lautstarkauf den Punkt,was Eric A. Havelock und andere nur im Rahmen ihrer begrenzten Studiengebiete anzudenken wagten:"The medium is the message". Die Hauptwerke "The Gutenberg Galaxy" und "Understanding Media",r die Anfang der sechziger Jahreer- schienen, erregten vor allem in Kanadaund den USA großes Aufsehen. Die These vom Ende der Gutenberg-Ara und dern Anbruch eines neuen elektrischen Zeitaltersfiel dort auf den fruchtbaren Boden einer Aufbruchstimmung, ausgelöst einer- seits durchdasAufkommen der Pop-Artund andererseits durch die Entstehung einer Protest-JugendkLtltur. Mcluhans provo- kante ldeen polarisierten die ciffentliche und die akademische Diskussion. Während ihn die eine Seiteals Wirrkopf und po- pulistischen Schwätzer brandmarkte, stilisierte ihn die andere zum Hellseher und "Propheten".2 I N,larshall Mcluhan: The Gutenberg Galary: 'l'he Making of 'fypo- graphicMan, 'foronto I962, deutsch: Die Gutenberg Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Düsseldorf-Wien1968. Neuauflage: Bonn, Parrs 1995. Ders.: Understanding Media: The Extensions of Man, New York 1964, deutsch: Die ntagischen Kanäle."[Jnder- standing Media",Düsseldorl'-Wien 1968, Ncuauflage: Düsseldorf'- Wien 1992. t Vgl Philip Marchand: Marshall Mcluhan. The Medium and thc Messenger, New York 1989, Kap. 9.

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sekundärliteratur über Marschall McLuhan

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Magische Kanäle. Marshall Mcluhan

I. The Medium is the Message

Der kanadische Anglist Herbert Marshall Mcluhan ist unterden Pionieren der Medientheorie der pronrinenteste. Währendzahlreiche Kollegen nur in Fachkreisen diskutieft wurden, er-langten seine Thesen, die keiner bestimmten Disziplin zuzu-ordnen waren, große Popularität. Er brachte lautstark auf denPunkt, was Eric A. Havelock und andere nur im Rahmen ihrerbegrenzten Studiengebiete anzudenken wagten: "The mediumis the message". Die Hauptwerke "The Gutenberg Galaxy" und"Understanding Media",r die Anfang der sechziger Jahre er-schienen, erregten vor allem in Kanada und den USA großesAufsehen. Die These vom Ende der Gutenberg-Ara und dernAnbruch eines neuen elektrischen Zeitalters fiel dort auf denfruchtbaren Boden einer Aufbruchstimmung, ausgelöst einer-seits durch das Aufkommen der Pop-Art und andererseits durchdie Entstehung einer Protest-JugendkLtltur. Mcluhans provo-kante ldeen polarisierten die ciffentl iche und die akademischeDiskussion. Während ihn die eine Seite als Wirrkopf und po-pulistischen Schwätzer brandmarkte, sti l isierte ihn die anderezum Hellseher und "Propheten".2

I N,larshall Mcluhan: The Gutenberg Galary: 'l'he Making of 'fypo-

graphic Man, ' foronto I962, deutsch: Die Gutenberg Galaxis. DasEnde des Buchzeitalters. Düsseldorf-Wien 1968. Neuauflage:Bonn, Parrs 1995. Ders.: Understanding Media: The Extensions ofMan, New York 1964, deutsch: Die ntagischen Kanäle. "[Jnder-standing Media", Düsseldorl ' -Wien 1968, Ncuauflage: Düsseldorf '-Wien 1992.

t Vgl Phi l ip Marchand: Marshall Mcluhan. The Medium and thcMessenger, New York 1989, Kap. 9.

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Im Gegensatz zur breiten Rezeption im englischsprachigenRaum erfuhren Mcluhans Schriften in der BRD keine ver-gleichbare Resonanz. Der Grund lag in der Ablehnung durchgroße Teile der Linken, die in ihm einen polit ischen Gegnersah. Deutlich sind Hans Magnus Enzensbergers Aussagen im1970 veröffentl ichten "Baukasten zu einer Theorie der Me-dien". McLuhan wird zwar zugeslanden, die "Produktivkraftder neuen Medien" erkannt zu haben, aber diese Erkenntnisbliebe folgenlos:

"Unlähig zu jeder Theorrebildung, bringt Mcl,uhan sein Materialnicht auf den Begriff, sondern auf den Generalnenner einer reak-tionären Flcilslehre. "r

Enzensberger nennt den Kanadier den "Bauchredner" einer"apolitschen Avantgarde" von Andy Warhol bis zu den Beatles,deren radikaler und kreativer Umgang mit den Medien zwaranerkennenswert sei, die sich aber aufgrund mangelnden polit i-schen Bewußtseins vom Kapitalismus vereinnahmen lasse.4

Die anftingliche Mcluhan-Rezeption war durch ernphati-sches Für und Wider gekennzeichnet und inhaltl ich auf wenigepopuläre Aussagen beschränkt. Erst die zeitl iche Distanz derachtziger Jahre fiihrte zu einer ausgewogeneren und gründ-licheren Kenntnisnahme der Thesen. Heute ist die Aus-einandersetzung mit seinem Werk fi ir jeden medientheoreti-schen Ansatz unabdingbar geworden. Zwarhat sich an der Um-strittenheit vieler Aussagen nichts geändert, aber es findet sichkaum eine Medientheorie. die sich nicht wenigstens implizit aufMcluhan stützt. Aufft i l l ig verbreitet ist dabei das Verfahren,seine Schriften nicht als einheitl iche Theorie zu behandeln,sondern als Steinbruch, aus dem bestimmte Ideen genutZ wer-den können und andere nicht. So beruft sich eine Vielzahl un-

IIans Magnus Enzensberger: "Baukasten zu einer Theorie der Me-d ien" . in : Kursbuch 20 . 1970. S . 177.Ebd.

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terschiedlichster, teilweise konträrer Positionen auf ihn. DieserSachverhalt läßt nicht auf fahrlässigen Umgang mit McluhansWerk schließen, ganz im Gegenteil: es sind die Texte selbst,die eine derartige Behandlung ermöglichen oder sogar heraus-fordern.

Mcluhan war nicht daran gelegen, eine konsistente Theorie imSinne der herrschenden Wissenschaftsauffassung zLt prä-sentieren. Er war vielmehr davon überzeugt, daß nach dem En-de der Gutenberg-Galaxis auch die wissenschaftl ichen Metho-den, die mit dem Leitmedium Buch verknüpft waren, keineGültigkeit mehr beanspruchen konnten. Dazu gehörten die Be-schreibung der Wirklichkeit durch isolierte Kausalprozesse unddas lineare Denken inr Rahmen von einheitl ichen Wissens-schemata oder -systemen. Dem neuen Leitmedium Elektrizität,das heterogene Orte, Menschen und gesellschaftl iche Prozesseinstantan verband, mußte auch eine neue Form des Denkensfolgen. Diese stellt Mcluhan in seinen Büchern vor. Obgleiches überzogen wäre, das Ergebnis als irrationales Konglomeratskurri ler Einfi i l le zu bezeichnen, wie es flühe Krit iker gernetaten,s ist doch eine einigermaßen unorthodoxe Art von "Theo-rie" entstanden. Die vorliegenden Schriften sind kaleidosko-partige Gebilde aus ldeen, die sich den gängigen Beurteilungs-kriterien entziehen.

Mcluhans meist beiläufig gehaltene Außerungen zur Me-thode finden sich in seinen Büchern verstreut. Die Grundideebesteht darin, die Form der Linearität durch die Figur einesMosaiks zu ersetzen. Das Verfahren analytischer Trennungensoll durch den Aufiveis von Konstellationen, Wechselwirkun-gen und Beziehungen zwischen Phänomenen auf verschiedenenEbenen abgelöst werden. Im Resultat ergibt sich "eine mosaik-artige Konfiguration oder Galaxis" (1995, S. 269). Auf dieseWeise setzt das Bild der Gutenberg-Galaris das Medium Buchnicht nur mit der Entwickluns der modernen Wissenschaft in

t Vgl den von Cerald Emanuel Stearn herausgegebenen Sammel-band: Mcluhan für und rvider, Düsseldorf '-Wien 1969.

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Beziehung, sondern auch mit weniger naheliegenden histori-schen Erscheinungen wie der Entstehung von Nationalstaatenund dem Aufkommen mechanischer Technik. Ein wichtigesMoment des Mosaiks ist der Analogieschluß. Dies erinnert anOswald Spenglers Unterscheidung der Denkformen: "Formel',,"Gesetz" und "System" sind für Spengler mathematische Denk-figuren, die nur in bezug auf tote Formen Geltung haben. Die"Analogie" dagegen ist das Mittel, Organisches und Lebendigeszu verstehen.6 Auch Mcluhans methodische überlegungenzielen darauf ab, Lebendigkeit in den Bereich des Theoreti-schen zu integrieren. Entsprechende Vorzüge der , 'Mosaiknte-thode" erläutert er mit Verweis auf den kanadischen ökonomenHarold Innis. Während philosophische Systeme seit Descartes"Verbraucherpackungen" darstellten, die durch ihre IineareStruktur vom Rezipienten passiv konsumieft werden können(1995, S. 305), l iefere Innis den Lesem einen "Do-it-yourself-Baukasten", der aktive Beteil igung am Gedanken erfordere.Dies sei dem Verfahren progressiver Kunst vergleichbar, dennauch ein "syrnbolistischer Dichter oder ein abstrakter Maler"beziehe sein Publikum ins Werk ein (1995, S. 270). Generell isrMcluhan der Meinung, die Kunst sei eher in der Lage, mit dermedialen Situation des 20. Jahrhunderts umzugehen als jedeArt von Theorie.T

Offenheit des Ausdrucks, die eine Vielfalt von Bedeutunsenermöglicht und mannigfache Anschlüsse zuläßt, spielt eine gro-ße Rolle für das neue Denken. Angemessene Vorbilder findetMcluhan im prämodernen Wissen. So betont er die Kreativitätder Ausdrucksformen oraler Kulturen, die - in der Scholastiknoch lebendig - erst durch den Buchdruck aus der Wissenschaftausgeschlossen wurden. Wie bereits Nietzsche stellt er dieRhetorik als Erkenntnisform gegen die klassische Logik. DieBestandteile der "Redekunst", wie Aphorismus. Maxime.Spr ichworr , Wortspie l . A l l i terat ion u.ä. b i lden e inen Denkst i l .

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der durch den unvollständigen Charakter der Aussagen den Re-zipienten einbezieht. Diese Ausdruckstypen enthalten Gedan-kenschichten, die freigelegt, Anspielungen, die aufgedeckt undAssoziationen, die in verschiedene Richtungen verfolgt werdenkönnen. Für Mcluhan ist Denken dieser Art nicht auf den Be-weis hin angelegt, sondem auf ldeenreichtum, der mosaikartigentfaltet wird. Das Wissen bewahrt so einen Teil der lebendi-gen Vielfalt, die in der sinnlichen Wahrnehmung gegeben ist.Dagegen grenzt die Linearität deduktiver oder induktiver Logikden Reichtumr der Wahrnehmung aus und erschwert zudemdurch ihre geschlossene Form das Mit und Weiterdenken(1995 , S . r27 f ) .

Geistige Offenheit verlangt Mcluhan noch in anderer Hin-sicht, y*enn er die "Methode des schwebenden Urteils" als ein-zige der heutigen Situation adäquate bezeichnet (1992, S. 80;1995, S. 342). Diese besteht auf der-Relativität der eigenenkulturell - das heißt medial - bedingten Perspektive. Für McLu-han sind der Ausgang der wissenschaftl ichen Reflexiön von ei-nem "festen Standpunkt" ebenso wie die Zentralperspektive inder Malerei ein Produkt des Buchdrucks und insofern überholt.Die Efektrizität, die angefangen mit dem Telegraphen das Zu-sammenrücken der Welt zum "global vil lage" herbeiführte, laßtden Menschen heute pluralistisch in vielen Kulturen gleichzei-tig leben. So wird jedes Denken, das die eigene mediale Be-dingtheit nicht wahrhaben wil l und auf seiner Superiorität ge-genüber anderen Formen beharrt, praktisch ad absurdum ge-nihrt (1995, S. 38). AIs dem veralteten ausgrenzenden Denkenüberlegen erweist sich die Technik des schwebenden Urteils,"die uns erlaubt, die Grenzen unserer eigenen Voraussetzungenzu überschreiten, indem wir an ihnen Kritik üben" (ebd.). DieBetrachtung anderer Kulturen darf nicht nach den Maßstäbender eigenen geschehen. Dies gilt besonders für den historischenBlick: Mcluhan schreibt vehement gegen die Borniertheit derModerne an, indem er die Fruchtbarkeit des vorneuzeitl ichenDenkens betont. Mit der Mahnung, nicht jede Form "anderen"Wissens als primitiv abzuwerten, stand er nicht allein, 1962 er-schien zeiteleich mit "The Gutenberg Galaxy" Claude Ldvi-

Osrvald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einerMorphologie der Weltgeschichre, München 1993. S.41.S . u . , I c i l I V .

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Strauss' "La Pensde Sauvage" (Das Wilde Denken).8 In aktuel-len Termini ließe sich sagen, daß Mcluhan eine Iftitik der Mo-derne und des Eurozentrismus anstrebte. Zur Verdeutlichungder Schwierigkeiten zeitgemäßer Theoriebildung rekurriertMcluhan auf Edgar Allan Poes Erzählung "A Descent into theMaelström":e Ein Fischerboot gerät in einen riesenhaften Mee-resstrudel und wird in schneller Kreiselbewegung zum Grundgezogen. Nur einer der Fischer kann sich retten, weil er nicht inPanik gerät, sondern das ihn umgebende Chaos beobachtet,schließlich die Funktionsweise des Wasserwirbels erkennt undsein Wissen zum Entkommen nutzen kann (1969, S. 150; 1995,S. 96; 1996, S. 7). 'o Nach dieser Parabel gäbe es keinen archi-medischen Punkt, von dem eine Theorie heute ausgehen könn-te. Statt dessen müßte sie sich inmitten des Gedränges situierenund ohne festen Boden unter den Füßen, selbst Teil des Ge-schehens, die Vorgänge in ihrer Umwelt nachvollziehen. Tat-sächlich zeichnet Standpunkf und Ortlosigkeit postmoderneAnsätze aus, die Letztbegründung nicht mehr für möglich hal-ten.

Anschaulich wird das neue Denken in dem 1967 erschiene-nen Buch "The Medium Is the Massage",rl das in Zusammen-arbeit mit dem Graphiker Quentin Fiore und Jerome Agel ent-stand. Der Titel, der mit Mcluhans bekanntestem Satz spielt,ist nicht nur ein Scherz, sondern zeigt durch die Andeutung dersinnlich-massierenden Effekte der Medien auch eine Facette

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Claude Ldvi-Strauss: La Pensde Sauvage, Paris 1962.Deutsch: Edgar Al lan Poe: "Ein Sturz in den Malstrom", in: Ge-samtwerk in zehn Bänden, Hans Dieter Müller und Kuno Schu-mann (Hrsg.), Olten 1966.Wobei McLuhan al lerdings unterschlägt, daß der Fischer in der Er-zählung nicht als Weiser, sondern als gebrochener Mann weiter-lebt. dem niemand seine Geschichte glaubt.Marshall Mcluhan, Quentin Fiore, Jerome Agel: The Medium Isthe Massage: An Inventiory of Effects, New york, 1967, deutsch:Das Medium ist Massage, Frankfuft am Main-Berl in-Wien 1969und 1984

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der Bedeutung dieses Satzes auf. Das Wortspiel steht für dieungewöhnliche Auffassung von Theorie, denn "ein scharfsinni-ger Witz kann belangvoller sein als Platitüden zwischen zweiBuchdeckeln" (1969, S. 1O)*lThe Medium Is the Massage" istnicht nur populäre Kurzfassung einiger zentraler Ideen McLu-hans, sondern auch das Experiment einer der Aussage entspre-chenden Repräsentation. Es handelt sich um den Versuch, das\4_edium Buch im Buch selbst aufzuheben, der eine Collage ausZitaten, Fotos, Comics, Karikaturen und Textpassagen ergibt'Die heterogenen Elemente dieses Mosaiks ergänzen einanderund ermöglichen die mehrdimensionale Auffassung der Bot-schaft. Fehlende Seitenzahlen, ständig wechselndes Layout unddie Verwendung von Spiegelschrift brechen Lesegewo_hnheitenauf und verleiten den Leser zum Selberdenken. Auch wennMcluhans übrige Bücher weniger experimentell gestaltet sind,l iest sich sein Sti l durchweg alles andere als "wissenschaftl ich".Essayistisch gehalten, sind seine Schriften durchsetzt mit Apho-rismen, Anspielungen, Metaphern und plakativen Aussagen, diean Werbeslogans erinnern. Starke Thesen bleiben häufig unbe-gründet, wilde Assoziationen werden kaum ausge{iihrt, Wider-sprüche sind nicht selten. Die Texte präsentieren sich als Puz-zles, die dem Leser sowohl Geduld als auch Phantasie abfor-dern.

Zu dem fypischen Stil gehört auch der eklektizistische Um-gang mit wissenschaftlichem Material. Vor allem "The Guten-berg Galaxy" bildet über weite Strecken ein Patchwork aus Zi-taten. Dabei treten die unterschiedlichsten Fachrichtungen aufiPhilosophen, Kunsthistoriker, Theologen, Anthropologen undKünstler werden ebenso angeftihrt wie Physiker, Biologen undMathematiker. Mcluhans Ansatz ist fticherübergreifend - oderum es modischer auszudrücken: "transdisziplinär" - ausgerich-tet, da das angestrebte neue Denken nicht nur kulturelle, son-dern auch wissenschaftliche Grenzen überwinden soll. McLu-hans Quellen sind dementsprechend vielfiiltig, die Ursprüngeund Bezugspunkte seiner Arbeit schwer zu lokalisieren.

Einen wichtigen Anstoß fiir die Entwicklung von Medien-theorie überhaupt gaben die Forschungen eines Altphilologen

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in den zwanziger und dreißiger Jahren. Milman Parry analy-sierte das Werk Homers auf der Suche nach der Logik dessenKonstruktion und machte eine revolutionäre Entdeckung. Nach-denr Generationen von Wissenschaftlem die Originalität derHomerischen Stilmittel hervorgehoben hatten, wies Parry nach,daß diese Charakteristika nicht der Intention des Dichters, son-dern der Tradition oraler Wissensüberlieferung geschuldetsind.r2 Mit anderen Worten, die Struktur der HomerischenDichtung ergibt sich aus den Regeln oraler Mnemotechnik.Damit war der klassischen Homerinterpretation der Boden ent-zogen und - schlimmer noch - nachgewiesen, daß sie ihrem Ge-genstand die Regeln der eigenen Zeit unterschoben hatte. Par-rys Arbeiten beeinflußten die Literaturforschung und Kul-turtheorie. In der Folge kamen die kulturellen Wirkungen desMediums Sckift zum wissenschaftlichen Bewußtsein, und dieDifferenz von oraler und literaler Kultur wurde zum For-schungsgegenstand. In dieser Richtung arbeiteten auch Eric A.Havelock, der von 193 I bis 1947 in Toronto lehrte, und WalterJ. Ong, Freund und Schüler Mcl-uhans.

Stark prägte Mcluhan die Studienzeit in Cambridge, wo erdie Literaturtheorie des New Criticism kennenlernte. Ebensofolgenreich war seine dortige Beschäftigung rnit der modernenengf ischen Literatur. Edgar Allen Poe, Ezra Pound und JamesJoyce werden in seinen Büchern immer wieder als herausra-gende Künstler genannt und zitiert. Eine besondere Beziehungentstand zu Pound, mit dem er einen langjährigen Briefivechselunterhielt. Mcluhan bewunderte vor allem Pounds literarischeTechnik, die er als mosaikartige Konstruktion auffaßte. Er sahin dem umstrittenen Literaten eine verwandte Seele, dessen Vi-sion einer vorkapitalistischen Kultur seiner eigenen Begeiste-rung fi.ir das Mittelalter entgegenkam.rl

Auch Mcluhans Bekanntschaft mit dem Ökonomeq.tlglgldA. Innis erwies sich als fruchtbar. Diesen beschäftiete in seinen

' ' Milman Parrl : L' Epithöte tradit ionel le dans Homöre, Paris 1928.Ir McLuhan st ieß nicht unbedingt auf Gegenliebe. Vgl. Marchancl.

1989. S. 96ff.

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späten Werken der Zusammenhang zwischen Kultur und denMedien der Kommunikation.ra Innis*entwickelt die These, daßsich die Geschichte in eine Äbfolgti kultureller Epochen ein-teilen läßt, die wiederum von den jeweils dominanten Kom-munikationsmedien geprägt sind. Das heißt, Formen der sozia-len Organisation, besonders die Stmkturen von Wissen undHenschaft werden von Techniken der Kommunikation be-stimmt. Die Theorie bildet ein Amalgam aus Ökonomie undEpistemologie, denn aus den materiellen Eigenschaften der Me-dien werden sowohl Handlungsweisen und Machtgeflige abge-leitet als auch Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis.Nach Innis verursacht jedes Medium eine spezielle Tendenzder Kommunikation. Dabei lassen sich grundsätzlich zwei Ka-tegorien unterscheiden: I{edien sind entweder auf Zeit oder auf(ggm.bezogen. Während erstere der Kommunikation eine zeit-liche Orientierung ermöglichen, begünstigen letztere die Orien-tieiung am Raum. Stein- oder Tontafeln zum Beispiel sind dau-erhafte, aber schwer transportable Medien. Sie begünstigen dieKonservierung von Wissen und kontroll ierende Herschaft überZeit. Papier dagegen ist ein eher kurzlebiges Material, dafüraber leicht zu transportieren; -es-fördert die räumliche Ausdeh-nung von Wissen und Macht. ?eitorientierte Kommunikations-medien verbindet Innis mit Gesellschaftsformen, die auf Tradi-tion, Dauer und Religion basieren und sozial in stabile, hierar-chische Strukturen gegliedert sind. Solche Gesellschaften, wiedas Agypten der Pharaonen, zeigen sich ebenso stabil wie sta-tisch und entwicklungsunftihig. Raumorientierte Kommunikati-onsmedien dagegen schaffen expandierende Reiche, deren or-ganisierte Zirkulation von Wissen säkularisierend wirkt und zuwissenschaftlichem Fortschritt ftihrt. In diesem Kontext gründetHerrschaft auf abstrakter politischer Autorität. Gesellschaftendieser Art, wie das neuzeitl iche Europa, charakterisiert Innis alsdynamisch und innovativ, aber instabil. Für ihn sind beideFormen der Kultur letztlich problematisch, weil eine Kommuni-

ra Harold A. Innis: Empire and Comrnunications, Oxford 1950;Ders.:The Bias of Conrmunication, Toronto 1951.

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kationsweise dominiert. Im antiken Griechenland dagegen siehter eine Epoche, die im Übergang zwischen oraler und literalerKultur ein Gleichgewicht zwischen Raum- und Zeitorientierungherstellen konnte. Die ideale Gesellschaftsform setzt demnacheine Harmonie der Kommunikationsmedien voraus.

Der Kontakt zu Innis gab Mcluhan wichtige Anstöße. Nichtumsonst bezeichnet er Jhe Gutenberg Galaxy" als "Fußnote"zu Innis'Arbeiten (1995, S.63). -Vor allem im großen Gestusder Hauptwerke ist dieser Einfluß zu erkennen. Mcluhans er-stes Buch "The Mechanical Bride",rs das 195 I erschien, be-schäftigt sich noch mit dem Phänomen der Werbung. "TheGutenberg Galaxy" und "Understanding Media", die nach lan-ger Pause in den sechziger Jahren herauskamen, schreiben dann- wie Innis - Medientheorie als Kulturtheorie.

II. The Extensions of Man

Das erste Kapitel von "Understanding Media" beginnt mit derberühmten Feststellung, das Medium sei die Botschaft. Ge-meint sind die persönlichen und sozialen Auswirkungen vonMedien, die sich aus ihrer Anwendung ergeben ( 1992, S. l7).

"Denn die >Botschaft< jedes Mediums oder jeder Technik ist dieVeränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, die es der Si-tuation des Menschen bringt." (1992, S. 18)

Technik verändert die Dimensionen von Raum und Zeit, be-stimmt generell die Schemata, in denen die Welt wahrgenom-men wird. Die Botschaft eines Mediums ist also das, was es mitMenschen macht und nicht etwa, wie das Alltagsverständnissuggeriert, der Inhalt desselben. Der "Programminhalt" der

' ' Marshall Mcluhan: The Mechanical Bride. Folklore of Industr ialMan, New York, 195 l , deutsch: Die mechanische Braut. Volks-kultur des industr iel len Menschen, Amsterdam 1996.

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Medien, Fernseh- und Radiosendungen oder die Sto-ry!4Zeitung, sind medie4b_e_ole!-ts9!._t11ql"qv- nt (I992, S. 69).Beispiel des elektrischen Lichts stützt diese These, denn dasquasi "inhaltslose" Medium verdeutlicht die wahre message:Welche Tätigkeiten oder Ereignisse beleuchtet werden, ob einKrankenhaus oder ein Fußballstadion hell erleuchtet wird, istim einzelnen unerheblich. Den Medientheoretiker interessiertallein die Tatsache, daß das elektrische Licht die Formen desmenschlichen Zusammenlebens erheblich verwandelt hat(1992, S. 18). Der "lnhalt" eines Mediums ist nach Mcluhanein anderes Medium: Sprache ist der Inhalt der Schrift, diesewiederum Inhalt des Buchdrucks und der ist der Inhalt des Te-legrafen (ebd.). Dieser "Inhalt" verschleiert die Wirkungsweiseder Medien. lenfiwori]ffiää'äEäift-fiffiöT-EfiElffen"t.-Ntcl,nhan'veisleicht sich - nicht eben bescheiden - mit Louis Pasteur, dergezwungen war, seine ungläubigen Zeitgenossen von der Exi-stenz eines unsichtbaren Feindes zu überzeugen (1992, S. 29).Auch die Verwendungsweise einer Technik macht im Hinblickauf ihre Wirkungen keinen Unterschied. Die "Nachtwandler-mentalität", die von der Neutralität technischer Mittel ausgehtund allein deren Nutzung bewerten wil l, verhält sich Medien-wirkungen gegenüber ahnungslos (1992, S. 2l). Der Einsatz ei-ner bestimmten Technik hat Konsequenzen sowohl filr dasSelbstverhältnis als auch für die Intersubjektivität, gleichgültigob eine Maschine "Cornflakes oder Cadil lacs produziert"( t992, S. 17) ,

Das Wesen medialer Botschaften entwickelt Mcluhan mitHilfe physiologischer und wahrnehmungstheoretischer Thesen.

"Die Auswirkungen der Technik zeigen sich nicht in Meinungenund Vorstellungen, sondern sie verlagern das Schwergewicht inunserer Sinnesorganisation oder die Gesetzmäßigkeiten unsererWahrnehmung ständig und widerstandslos." (1992, S. 30)

Wahrnehmung funktioniert fiir Mcluhan als Zusammenspielder verschiedenen Sinne. Die Koordination des Vorgangs über-

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Ernst Kapp: Grundlinien einer Phi losophie der T echnik, Braun-schweig 1877.Sigmund Freud: Das Unbehasen in der Kultur. Fra:.-rkfurt am Main1972.

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nomen.r8 Für Gehlen ist Technik notwendige Folge der biologi-schen Ausstattung des Menschen. Im Vergleich zum Tier, des-sen Instinkte es in die Umwelt integrieren, erweist sich derMensch als "Mängelwesen". Er ist durch das Fehlen sichererInstinkte, aber auch besonderer Angrifß- oder Fluchtorganekörperlich schlecht ausgerüstet. Technik stellt die überlebens-notwendige Kompensation dieser Mängel dar und folgt dabeidrei Prinzipien: Organersatz, Organverstärkung und Organent-lastung. Waffen zum Beispiel treten an die Stelle nicht vorhan-dener Organe, Hammer oder Mikroskop überbieten die Lei-stungen verschiedener Organe, und das Rad entlastet den Kör-per, erspaft die Anstrengung der Fortbewegung.re

Für Mcluhan sind Körperausweitungen jedoch nicht Ergeb-nis der bloßen Projektion oder Entlastung bestimmter Organe,sondern Resultat einer "Amputation". Die brutalere Ter-minologie deutet auf ein wichtiges Kennzeichen des Vorgangshin: Er bleibt unbewußt. Die Ausgrenzung eines Organs stellteinen schweren Eingriff in den Körper dar und verursacht einenSchock. Automatisch wird die Wahrnehmung blockiert, der sogelähmte Mensch ist keiner Erkenntnis ftihig. "Selbst-amputation schließt Selbsterkenntnis aus" (1992, S. 59).Mcluhan erläutert diesen Umstand mit Hilfe des Narziß-My-thos: Das Wort "Narziß" kommt von "narkosis", Betäubung.Narziß, durch die Ausweitung seiner selbst betäubt, war nichtin der Lage, sein Gegenüber im Spiegel zu identifizieren (1992,S 5 7) _D9l-149!-s9b_9&9l91_slgb in se iner Tgghlil! ni.,c!t wie*4er,sondern sieht in ihr eine flemde Erscheinuns. Damit bleibt auch"i,n6dwußt üä äiö Aüffiäünfän äes IGöffi-äts-?ö3Cä"8""-standteile existieren und ihn ebenso bestimmen wie seine na-

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Arnold Gehlen: Anthropologische und Sozialpsychologische Un-tersuchungen, Reinbek 1986.Die genannten Theorien wurden zur Verdeutlichung der körperbe-zogenen Technikauffassung herangezogen. Da Mcluhan sich nichtauf sie bezieht, ist es unwahrscheinl ich, daß sie ihm bekanntwaren.

nimmt das Zentralnervensystem (ZNS). Wird d€r Funktionszu-sammenhang durch körperlichen Streß, Überlasr trng oder Uber-reizung geftihrdet, so reagiert das ZNS mit "A:-/nputation oderAbsonderung" des betroffenen Körperteils Q9e421 S' 58)' DasRad zum Beispiel stellt eine Absonderung des Fußes dar' Esmuß als proaukt eines Prozesses begriffin 1y.:lrden, den dieMedien Schrift und Geld in Gang brachten. 51" 7:rweite{9n undbeschleunigten Handel und Verkehr enorrn, w '4s zur Uberla-stung des Fortbewegungs- und Transportmittels -7"uß führte' Dieanschließende Amputaiion ergab die "Erfindur-rg" des Rades(ebd.). Jede neue Technik ist. wie schon im 111 -el "Understan-

q. ding Med ia; rhtExtendffi ; öiVil:g9ggl_94t4U-lWS-itu:e1 je,s- qr,e-nschlichen Körpers.-T.öirnlk'fi

Eäztig"äüruen Körper zu erkläre:4 hat durchausgeisteswissenschaftl iche Tradition. Emst Kapp - 4gr .-l87Lh-.Deutschlanddi.r.rt.--ry$gr-teqiqqlr;T['-19.t9p"üi-c.de-i"Is€h.uik-vorlegte, uetstehtG-ffiä äi säJii j.,iär teiFr n ischen Erfi n-dung.16 Vom Werkzeug bis zur komplizierten ,-rr"Iaschine gehtdie Entwicklung von Artefakten auf "Organprojgktion" zurück.Der Mensch projiziert Organe, Glieder oder Fur,- ktionen seinesLeibes in die Außenwelt und vergegenständ1;r1'rg sich selbst inden Objekten. Aus der Vorstellung der "Erfinü r.rng" wird beiKapp die der Nachahmung, denn Technik 1.tr;ltiert aus derImitation des Körpers. So sind Axt oder Hammer Nachbildun-gen der Hand oder des Armes, optische Apparate in Anlehnungan das Auge konstruiert, und der Telegraph Lo piert das Ner-vensystem. Kapps Hypothese wirkte in vielen Tl--,eorlen welter.SismundFJeud1-sJg*ygn:^lrot!9!9!ge!{.\4.9t'?'l-F:htuon

__r.:Ili L-el:913il.ye StgeIJ.t g_g*s, l.Auc h A rno r d u e h I e n ve r-steht in seiner Än'thröpöiogü-Tä;hnik als leibbezogenes Phä-

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türlichen Organe. Unftihig zur Selbsterkenntnis, ist der Menschihren Wirkungen ausgeliefert.

"Das Sehen, Verwenden oder Wahrnehmen irgendeiner Erweite-rung unserer selbst in technischer Form heißt notwendigerweiseauch, sie einbeziehen. Radiohören oder eine bedruckte Seite lesenheißt, diese Ausweitungen unserer selbst in unser persönliches Sy-stem aufzunehmen und die >Schließung( oder die Verdrängung derWahrnehmung, die darauf automatisch folgt, mitmachen. Geradedie dauernde Aufnahme unserer eigenen Technik in den All tag ver-setzt uns in die narzißt ische Rolle unterschwell igen Bewußtseinsoder der Betäubung in bezug auf diese Abbilder von uns selbst."(1992,5 .62 \

Jean Baudrillard geht es ebenfalls um den Zusammenschlußvon Technik und Körper, wenn er schreibt:

"Durch die virtuel len Maschinen und die neuen ' fechnologien je-doch bin ich keineswegs entfremdet. Sie bi lden mit mir einen inte-grierten Schaltkreis (dies ist das Prinzip des Interface). Groß- undMikrocomputer, Fernsehen und Video und selbst der Fotoapparatsind wie Kontaktl insen, durchsichtige Prothesen, die derart in denKörper integriert sind, daß sie fast schon genetisch zu ihm gehören,r . . . ) . "20

Baudri l lard wendet die Idee al lerdings negativ, wenn er alsFolge der Integration einen grotesken Zustand postuliert, derüber Entfremdung hinausgehend den Menschen zum Teil derApparatur macht. Mcluhan dagegen behandelt die Verbindung

, von Körp-er.t{l-d_Teqbllh als anthropologische Tatsache. Im Er-gebnis der Kombination sieht er keine Entmenschlichung, son-dern konstatiert neutral und grundsätzlich eine Veränderungdes körperlichen Zustandes und damit der Wahrnehmuns.

20 Jean Baudri l lard: "Videowelt und fraktales Subiekt, ' , in: phi loso-phien der neuen Technologie. ARS EI_ECTRONICA (Hrsg.), Ber-l i n 1 9 8 9 , S . 1 2 5 .

Magische Kanäle. Marshall Mcluhan 53

"Jede Erfindung oder neue Technik ist eine Ausweitung oderSelbstamputation unseres natürlichen Körpers, und eine solcheAusweitung verlangt auch ein neues Verhältnis oder neues Gleich-gewicht der anderen Organe und Ausweitungen der Körper unter-e inander." ( 1992, S. 6 l )

Das Zusammenspiel der Sinne, das die Wahrnehmung aus-macht, besteht nach Mcluhan nicht konstant, sondern kannunterschiedlichen Mustem folgen. Er vergleicht dies mit demPhänomen der Farbe. Die Sinnesempfindung ist wie eine Farbeimmer "hundertprozentig", aber das Verhältnis der einzelnenKomponenten, die beide enthalten, "kann unendlich variieren"(1992, S. 6l). Verschiedene Rottöne sind rot, sie sind jedochunterschiedlich zusammengesetzt. Ebenso kann die Kom-position differenter Empfindungen in der Wahrnehmung ver-schieden gewichtet sein. Verstärkt etwa eine an das Ohr ge-richtete Technik den Schall, betrifft dies gleichzeitig auch Tast-. Geschmacks-. Gesichtssinn und verändert das Verhältnis un-tereinander. Auf diese Weise erzeugt jede neue Technik ein an-deres Wechselspiel der Sinne und ein neues Wahrnehmungs-muster. Technik bestimmt die Art und Weise, in welcher derMensch die Welt wahrnimmt und erf?ihrt. Mcluhan bezeichnetMedien als "Metaphern", weil sie wie diese den Erfahrungeneine Form geben (1995, S. 6). Indem sie immer neue Variantender Perzeption hervorbringen und bestimmen, wie gesehen, ge-hört und gefiihlt wird, übertragen sie Erfahrungen in neue For-men (1992, S. 74). Wahrnehmung geschieht demnach nie un-mittelbar, sondern immer schon technisch strukturiert undpräformiert.

-_M_c_l-g!a-L.Unterscheidet in diesem Zusammenhang grund-s4tzU.c.LzwgrA$gr-v,_o-nlyl_gdis_t':.ki[gulAklle,::Llg1li9ll\4"-d i e n eqwe ite rn np 1 e i n qn S i44,. _qgd -2rcr.139 taj Jf.e_ i..-l-hl-" (,L993J35). Dem einzelnen Sinn wird eine Fülle von Daten und Ein-zelheiten geboten. "Kalte" Medien dagegen liefem quantitativund qualitativ weniger Information, denn zum einen stellen sieweniger Daten zur Verfügung, und zum anderen sind diese eherunspezifischer denn präziser Art. Die Gegenüberstellung von

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Photographie und Karikatur macht die Differenz deutlich: Er-stere gilt als heißes Medium, weil das Photo fur den Betrachteroptisch "detailreich" ist, während die "kühle" Karikatur demAuge wenig Information bietet, weil sie nur mit Andeutungenund Umrissen arbeitet (ebd.). Heiße Medien, wie Buch, Radiound Film, geben dem jeweils angesprochenen Sinn große Men-gen an Material, das eher passiv aufgenommen werden kann.Die Detail4lgr.Ut_kaltcr -Mpdien-.verlangt Ergänzung und Ver-

* v gl! g_tilplf i g,un g der M i ttp i l ung V_sr-n Rez.ipien ten, _ -d iei e Me d i e nerfordern"persönlicheBeteiligu4g'l-dps.Bubl-tkgn-S.-P-g-z*qge!.q:

*-*r.g-g*S!f1q!g gt4_Ielp.fge b,e!4e bieten dem Ohr wenig Eindeu-tiges oder klar Definiertes, das Gelingen der Kommunikationhängt daher von der Partizipation der Beteiligten ab. Gemäß ih-ren Eigenschaften wirken heiße und kalte Medien unterschied-lich auf den Menschen. Es findet sich bei Mcluhan keine ex-plizite Bewertung, die Vor- oder Nachteile, positive oder nega-tive Folgen gegeneinander abwägt. Seinem Konzept der Wahr-nehmung liegt jedoch die ldee eines harmonischen Zusammen-spiels der Sinne zugrunde. Dies leistet der "Tastsinn", den ernicht als einzelnen Sinn unter anderen betrachtet. sondern alsdynamische Einheit der Empfindung.

"Unser Wort >erfassen< oder rbegreifen< selbst schon rveist auf dieArt und Weise hin, wie wir eine Sache durch eine andere verste-hen, wie wir viele Seiten gleichzeit ig durch n.rehr als einen Sinn zurselben Zeit manipul ieren und aufnehmen. Es beginnt nun klarzu-werden, daß das >Tastgeftihl< nicht die Flaut ist, sondern dasWechselspiel al ler Sinne, und beim r>ln-Fühlung-bleiben< oderr>Fühlungaufnehmen< handelt es sich um eine fruchtbare Verbin-dung al ler Sinne, um Gesichtseindrücke, die in Schallempfindun-gen und Schallempfindungen, die in Bewegungen und Ceschmacks-und Geruchsempfindungen übertragen werden." (1992, S. 78)

Takti l i tät steht für "Synästhesie", die Gesamtheit sinnl icherEmpfindungen (1995, S. 52). Zwar bi lden die verschiedenenSinne eigene Bereiche mit eigenen Regeln, wie Optik und Aku-st ik, aber erst die takt i le Verbindung al ler Tei le macht per_

Magische Kanäle. Marshall Mcluhan 55

zeption aus. Damit ist nicht bloße Addition der einzelnen Kom-ponenten gemeint, es handelt sich vielmehr um einen kom-plexen Vorgang des Transfers von Eindrücken. Das Wech-selspiel der Sinne, aus dem die Wahmehmung der Welt hervor-geht, kombiniert und kontrastiert sinnliche Impressionen allerArt. Dies erhellt nochmals die Bedeutung der "Mosaik-methode" Mcluhans. Auch das Mosaik stellt ein Zusammen-spiel verschiedener Facetten her, die einander ergänzen und er-klären. Es ermöglicht eine mehrdimensionale Auffassung desjeweiligen Sachverhalts, wie die Sinnesorgane eine vielschich-tige Wahrnehmung der Wirklichkeit erlauben. Eine streng lo-gisch lineare Argumentation in der Theorie würde - ähnlich wiedie Dominanz eines Sinnes - in der Praxis zur Verengung desBlickfeldes fi.ihren. Für Mcluhan setzt die uneingeschränkte,komplexe oder ganzheitliche Wahrnehmung der Welt eine ma-ximale Beteiligung aller Sinne voraus.

Die Vorstellung einer Harmonie der Sinne frihrt von derThese der Körperausweitung zu einem historischen Modell derTechnikentwicklung. Denn Mcluhan sieht im Streben nachGleichgewicht ein biologisches Prinzip: Organismen sind stän-dig bemüht, einen "inneren Gleichgewichtszustand" aufrecht-zuerhalten, das heißt, Krankheit zu bekämpfen und Verände-rungen der Umwelt abzufangen (1992, S. I l9). So reagiert dermenschliche Körper auf Überlastung mit der "Amputation" ei-nes Körperteils. Diese verändert aber das Ganze der sinnlichenEmpfindung und führt daher zu neuen Belastungen (1992,S. 85). Jede Entlastung bringt neue Belastung mit sich. Mit an-deren Worten: Hat die Ausweitung des Körpers einmal begon'nen, wird der Prozeß zum Selbstläufer.

"Physiologisch wird der Mensch bei normaler Verwendung seinertechnischen Mittel (oder seines vielseitig erweiterten Körpers)dauernd durch sie verändert und findet seinerseits immer wiederneue Wege, um seine Technik zu verändern. Der Mensch wird so-zusagen zum Geschlechtsteil der Maschinenwelt, wie es die Bienefür die Pflanzenwelt ist, die es ihnen möglich macht, sich zu be-fruchten und immer neue Formen zu entfalten." (1992, S. 63)

ELENA
Hervorheben
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Die Ausweitung des menschlichen Körpers gleicht einem Teu-felskreis, der immer neue Technologie produziert. Der Menschselbst, betäubt und narkotisiert, macht sich zum "servomecha-nismus" seiner Objekte. Mcluhan nennt den Indianer "Servo-mechanismus" seines Kanus und den Beamten Anhängsel sei-ner Uhr (ebd.). In Unkenntnis der Wirkungen der Technik dientder Mensch seinen Produkten wie Göttern. Dieser Dienst wirddurch die Verbesserung der Lebensverhältnisse und die An-nehmlichkeiten der Zivil isation belohnr (ebd.). Das möglicheEnde des Teuf'elskreises ergibt sich für Mcluhan erst im Zeit-alter der Elekrizitat.

Mcluhans Reflexionen über Medien sind im Kern wahr-nehmungstheoretisch. Diese Herangehensweise macht sie aktu-ell, denn heute ist auch über die Medientheorie hinaus das pro-blem der Weltwahrnehmung zu einem zentralen Thema derWissenschaft geworden. Es kann geradezu von einer theore-tischen Renaissance der Wahrnehmung gesprochen werden. Sostimmen zum Beispiel systemtheoretische (Niklas Luhmann),kybernetische (Heinz von Foerster) und konstruktivistische(Siegfried J. Schmidt) Theorien darin überein, das produkt derWahrnehmung nicht mehr als Abbild einer gegebenen Realitätzu behandeln. Wahrnehmung gilt nicht länger als passiver Akt,sondern als Tätigkeit des Gehirns und der Sinne, die aktiv dieErfahrungswirklichkeit hervorbringt. Wirklichkeit wird dem-nach nicht passiv aufgenofirmen, sondern konstruiert, das Bildder Welt, das so entsteht, ist kein Abbild, sondern eine Kon-struktion. "Konstruktion" bezeichnet dabei keine intentionaleHandlung. sondern einen kulturell vermittelten vorbewußtenVorgang. Wie die Welt erfahren wird, hängt somjt wesentlichvon den kulturellen Bedingungen der Wahrnehmung ab. Diegenannten Ansätze beziehen daher - auf unterschiedliche Weise- Medien als konstitutive Faktoren der Wahrnehmuns in ih_reUntersuchungen ein. Ahnlichen Motiven foleen aktuälle Ent-wicklungen im Bereich der ästhetischen Theorie. Eine neueRichtung stellt zur Diskussion, Asthetik wieder in der ur-sprünglichen Bedeutung von aisthesis (Wahrnehmung) zu kon_zipieren. Das heißt, die Wissenschaft der Asthetik soll nicht

Masische Kanäle. Marshall McLuhan

länger auf den Gegenstand Kunst beschränkt bleiben, sondernals übergreifende Disziplin, als eine Art Grundlagenforschungneu entworfen werden, Notwendig wird diese Erneuerung lautWolfgang Welsch, weil sich in den Wissenschaften zunehmenddas Bewußtsein des ästhetischen Charakters des Erkennensdurchsetzt.2r Die miftlerweile verbreitete Einsicht, daß Wissen-schaft auf keinem letzten Fundament ruht, sondem mit Kon-strukten und Modellen arbeitet, ftihrt nach Welsch zu der wei-tergehenden Annahme, daß die theoretischen Mittel des Den-ken s tetztl i ch fi kti ona I än=-lmdürus ;fiä. Närzsötiä' Äiis iöüt,

E[enntnT- bä3iäi'e ijbäiliäfrTüf -äShät i sche n E l em enten wieAnschauungsformen, Projektionen, Phantasmen, Bildern undMetaphern, verse_l_2.*_den Wissenschaftler in die Lage des

Sy":ll_";',_q.a)t"t[ll9.l]}.e-'l_19}i,bl0!-d9g,g!.soriäeü-kraiärt-Dadt Gäi,TimGrt ;l;iläffiöTsifi öffiffi -itrffi ün g I i ch en S inn e,die das ehemalige Stiefkind der Philosophie, die Wahrneh-mung, wieder ins Zentrum stellt. Auch in aisthetischen Ansät-zen spielt die Untersuchung medialer Wirkungen eine wichtigeRolle.22 Diese Beispiele zeigen Anknüpfungspunkte fi ir eineheut ige McLuhan-Lektüre.

K I ar erkennbar sind_:rl_lerdtltgt*gq9h d!9-**hyÄ*S1.*deg* *.kl.1gptl.dqf St:pg.q!,1i1-e.tlTc Ein zentraler Mangel liegt indem unklaren Medienbegriff. Die Ausweitung des Körpers um-faßt vom Rad bis zum Computer Technik-gan_2.?-llgeme,in eineUnterscheidung zwischen Medien und Technik ist in diesemRahmen kaum zu treffen. Mcluhan verwendet "Medium" und"Technik" häufig synonym. Der Umfang des Begriffs geht nochdarüber hinaus, in "Understanding Media" werden Straßen,Häuser, die Mode und das Geld als Medien behandelt. Dies

2 l

22

Wolfgang Welsch: "Asthetische Grundzüge im gegenwärt igenDenken: Asthetik außerhalb der Asthetik - Für eine neue Form derDiszipl in", in: Ders:, Grenzgänge der Asthetik. Stuttgart 1996, S.6 2 - 1 0 6 ; S . 1 3 5 - 1 8 1 .Vgl. dazu: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven eineranderen Asthetik, Karlheinz Barck, Peter Gente, Heide Paris,Stefan Richter (Hrsg.). Leipzig 1990.

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Hervorheben
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58 Magische Kanäle. Marshall Mcluhan

wirft die Frage auf, ob die undifferenzierte Terminologie nichtzwangsläufig zu Pauschalurteilen frihrt. Tatsächlich finden sichim Text nicht wenige unplausible Verallgemeinerungen, wiedie Unterscheidung zwischen England und Amerika einerseitsund Europa andererseits: Die angelsächsische Kultur sei voll-ständig vom Alphabet geprägt, während Europas "erdhaftere"Völker noch starke Anteile oraler Kultur aufuiesen (1992, S.340). Karl Marx' Theorie wird mit dem Hinweis abgetan, sieverkenne die Bedeutung des Telegraphen als Beginn einer neu-en Ara der Kommunikation (1992, S. 53). Weniger komisch istMcluhans Bemerkung, Hitler habe seine "polit ische Existenznur (sic) dem Radio und den Lautsprecheranlagen" zu verdan-ke n ( I e e 2, S . 3 a 3 ).D_i e s*e_ gn { a,hn!i"qly*9 nei 19_"1':{ Bg:IlFl .9 i -ner bvpq(rophel . M.edjel4qffa"s$u.n&"._Me.Luhans Betrachtungvon Kultur und Gesellschaft läßt keinen Raum flir soziale. po-litische oder ökonomische F?[iören'ind-;rTöf söüi?-impiiiite-änen

üffi r;äiistiö.t'en-Ärisüucä-nä die Medientheorie. AuchUmberto Eco kritisiert die unklare Terminologie, wenn erschreibt, viele Thesen Mcluhans folgten aus der fehlendenB innendi fferenzierung se ines Medienbegriffs. Wichtig s ind ftirEco die Unterscheidungen zwischen Sende- und Empfangsge-rät, dem Kanal, durch den ein Signal gesendet wird, dem ver-wendeten Code und der Botschaft. Das elektrische Licht wäredemzufolge "Medium" in mindestens drei Bedeutungen: eskann als "lnformationssignal", als "Botschaft" oder als "Kanal"vorkommen. Eco betont, daß die Wirkung eines medialen Phä-nomens nur beurteilt werden kann, wenn seine spezielle Rolleim Kommunikationsprozeß berücksichtigt wird.2r In dieserHinsicht erweist sich auch die Formel "the medium is the mes-sage" als vage und vieldeutig. Dem sowohl der Code - dieStruktur des Kommunikationssystems - als auch der Kanal - dieMaterialität der technischen Geräte - könnten die Botschaft

2r Umberto Eco: "Für eine semiolosische Gueri l la ' , . in: Ders:. über+uott und dre welt. Essays und Cilossen. München 1988, S. 149,I 5 0

Magische Kanäle. Marshall McLuhan 59

ausmachen.24 Eco weiß, daß seine Kritik im Namen einer linea-ren, logischen Argumentation glatt an Mcluhans Denkungsartvorbei zielt und, so angebracht sie auch sein mag, den Zauberder Assozial ion zerstön:

" ldeen, auch wenn sie wild durcheinander daherkommen, gute mitschlechten vermischt, wecken andere ldeen, und sei 's auch nur, umsie zu widerlegen. Also lest Mcluhan, aber dann geht hin und ver-sucht, euren Freunden davon zu erzählen. So werdet ihr gezwun-gen sein, eine Reihenfolge zu rvählen, und werdet die Halluzina-t ion überwinden."25

III. The Gutenberg Galaxy

Mcluhan teilt die Geschichte in vier Epochen ein: die oraleStammeskultur, die literale Manuskript-Kultur, die Gutenberg-Galaxis und das elektronische Zeitalter. Für die Zäsur zwischenden Zeitabschnitten ist jeweils das Auftreten eines neuen Medi-ums verantwortlich, die Schrift beendet die orale Phase, derBuchdruck und die Elektrizitat revolutionieren anschließendKultur und Gesellschaft. Die Periodisierung behauptet keineNotwendigkeit des historischen Ablaufs, denn auch heute exi-stieren noch orale Kulturen. "The Gutenberg Galaxy: The Ma-king of Typographic Man" behandelt hauptsächlich die Zeit desUmbruchs zur Ara des Buches.

Orale Kultur beschreibt Mcluhan als eine "Welt des Ohtes",denn der Mensch, der nur über das Medium der gesprochenenSprache verftigt, lebt im akustischen Raum. Sowohl die Kom-munikation als auch die Überlieferung des Wissens findensprachlich statt, somit ist das Ohr wichtigstes Sinnesorgan. DieWahrnehmungswelt des Ohres zeichnet sich durch Dynamik,

2a Umberto Eco: "Vom Cogito interruptus", in: a.a.O., S. 261.25 A.a .o . , s . 265.

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60 Magische Kanäle. Marshall Mcluhan

Diskontinuität und Simultaneität aus: Geräusche und Klängetreten zunächst als chaotisches Wimvarr auf und sind im Ver-gleich zu optischen Eindrücken schwerer zu identifizieren undklassifizieren. Im Bereich der Akustik gibt es kein Zentrum undkeine festen Grenzen, Töne sind schwer lokalisier- und defi-nierbar (1995, S. 22,23). Die Orientierung anhand des Gehör-sinnes richtet sich daher nach anderen Regeln als den visuellenPrinzipien der Kausalität. Den Stammesverband oraler Kultu-ren charakterisiert Mcluhan als Geflecht totaler gegenseitiger"Abhängigkeit und Wechselbeziehung", das Individualitätebensowenig zuläßt, wie das Gehör einen einzelnen Ton ausGeräuschen iso l ieren kann (1995, S.27) . Die Überbeanspru-chung des Ohres läßt kein Wechselspiel der Sinne zu, statt des-sen erzeugt sie eine "Tyrannei" des Ohres (1995, S. 34).

"Der Terror ist in jeder oralen Gesellschaft der Normalzustand.denn in ihr rvirkt allzeit alles aufalles ein." (1995. S. 40)

Das Auftauchen des Mediums Schrift erzeugt eine einschnei-dende Veränderung, denn es flihrt den Menschen aus demStammesdasein in die Zivilisation, gibt ihm "ein Auge flir einOhr" (1995, S. 33). Dies leistet nach Mcluhan.jedoch erst dasphonetische Alphabet, piktographische, ideographische oderhieroglyphische Schriften hatten keine derartigen Auswirkun-gen (1995, S. 27). Die Hieroglyphe oder das Ideogramm sindkomplere "Gestalten", die alle Sinne zugleich ansprechen. Sieerfordern eine takti le Entschlüsselung (1995, S. 43). Im phone-tischen Alphabet dagegen wird das einzelne Zeichen bedeu-tungslos. Diese Abstraktion bewirkt, daß es nur noch das Augeanspricht (1995, S. 54). Die phonetische Schrift beseitigt dieDominanz des Ohres in der Wahrnehmung, da sie die visuelleKomponente betont. Das Auge nimmt, anders als das Ohr, dis-kete Erscheinungen in räumlicher Ordnung wahr. OptischeEindrücke bieten nach Mcluhan eher als andere sinnlicheEmpfindungen eine Grundlage für das Erkennen von Regel-und Gesetzmäßigkeiten.

Magische Kanäle. Marshall Mcluhan 6l

"Das Visuelle begünstigt das Explizite, das Uniforme und das Kon-tinuierliche. sei es in der Malerei, der Dichtung, in der Logik undder Geschichte." (1995, S. 7 l )

Ist der Wandel vom "sakralen nicht-alphabetisierten" zum "zi-vilisierten alphabetisierten oder profanen" Menschen gesche-hen, beginnt die Kultur des handgeschriebenen Buches, dienach Mcluhan vom 5. Jahrhundert v. Chr. bis zum 15. Jahr-hundert n. Chr. andauerte (1995, S. 92). Während die oraleKultur Wahmehmung auf das Ohr reduzierte und der Buch-druck viel später das Auge zur Herrschaft über die anderenSinne brachte, steht die Manuskript-Kultur zwischen beiden flirSynästhesie und Taktilität. Sie ltirdert "das Einfrihlungsvermö-gen und die Beteil igung aller Sinne" (1995, S. 34). Diese Thesevertritt Mcluhan unter Berufung auf die Eigenschaften desManuskriptes und die Wissenschaftspraxis, die es begünstigt.Zur Zeit des handgeschriebenen Buches entsprach "Lesen"lautem Lesen. was einen eher oralen und taktilen Wortgebrauchausmachte. Akustisches Lesen hieß, gesprochenen Worten zu-hören, somit stellte diese Technik ein Zusammenspiel von Ge-sichtssinn und Gehör her (1995, S. 112). Sie war einerseits Teilder fortbestehenden oralen Tradition, denn noch im Mittelalterfand Literatur wenige Leser, dafür aber um so mehr Zuhörer(1995, S. 110). Zum anderen verlangte das Manuskript selbstnach akustischer Lektüre, denn es war nur schwer zu entziffern.Bis zum späten Mittelalter wurden einzelne Wörter nicht ge-tremt, die Texte variierten in Orthographie und Grammatikbeträchtl ich und oft fehlte jegliche Interpunktion (1995. S.105). Bei der Auffassung des Inhalts mußte das orientierungs-lose Auge durch Stimme und Ohr ergänzt werden.

Im Vergleich zur Rezeption gedruckter Bücher schildert Mc-Luhan die frühere Lesepraxis als aktiven sinnlichen Vorgang,der in den zeitgenössischen Kontext eines beweglichen intel-lektuellen Lebens paßte. Er nennt die Manuskript-Kultur eine"Do iI yourself-Kultur", die sich nicht an Konsumenten, son-dem an Produzenten richtete (1995, S. 164). Manuskripte, häu-

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62 Magische Kanäle. Marshall Mcluhan

fig einmalige Wertgegenstände, mußten zur Benutzung kopiertwerden, was Lektüre fast notwendig mit Abschrift verkoppelte.Da die Texte nur in Ausnahmeftillen datiert oder einem be-stimmten Verfasser zugerechnet wurden, ermöglichte und mo-tivierte das Abschreiben ein Weiterschreiben (1995, S. 165).Das Wissen der ManuskriprKultur sieht Mcluhan als FIuß, andem unzählige anonyme Produzenten teilhatten. Das Ergebnishatte selten einheitliche Form: Manuskriptbände enthieltenoftmals Schriftstücke unterschiedlicher Herkunft und unter-schiedlicher Thematik, selbst Texte eines Verfassers warendem Duktus nach heterogen. Ständiger Wechsel in Tonfall, Stilund Standpunkt war die Regel(1995, S. 169), und StilmittelderRhetorik überwogen die logische Argumentation. Wissen undWissenschaften hatten demzufolge eine weitgehend offene, un-abgeschlossene Struktur.

Gutenbergs Erfindung schuf mit dem gedruckten Buch ein neu-es Medium, das grundsätzliche Veränderungen in Gang setzte,welche die Sphären des Wissens. des Staates, der Produktionund des Individuums gleichermaßen ergriffen. Mcluhans Be-schreibung der Entstehung der Gutenberg-Galaxis stellt derenElemente im Sinne der Mosaikmethode phänomenologisch zu-sammen. Im Zentrum steht die Typographie; Eigenschaften, dieer ihr, ihrem Produkt oder dem ihr zugeordneten Sinn zu-spricht, tauchen als Charakteristika der ganzen Epoche wiederauf. Der Druck selbst, die "Mechanisierung der Schreibkunst",war nach Mcluhan die vermutlich erste Mechanisierung einer"Handfertigkeit". Erstmals gelang es, eine Bewegung in einechronologische Abfolge "statischer Momentaufirahmen" zuübersetzen (1995, S. 156) . Der dynamische Ablauf wurde "v i -suell arretiert und aufgespalten", analytisch zerlegt und maschi-nell umgesetzt. Diese erste "Übersetzung" konnte im Anschlußauf andere Handlungen übertragen werden und stellt den Aus-gangspunkt der industriellen Mechanisierung dar ( 1995,

Magische Kanäle. Marshall Mcluhan 63

S. 188).26 Das Produkt des "Fließbands beweglicher Typen",das gedruckte Buch, war anders als das Manuskript ein "Mas-senprodukt". Der Druck lieferte das erste uniforme und wieder-holbare "Konsumgut" (1995, S. 156). Mcluhans Vokabularhebt deutlich die Beziehung zum Bereich der Optik hervor,dem er im Gegensatz zur Akustik Begriffe wie Statik, Konti-nuität, Homogenität und Wiederholbarkeit zuordnet (1995, S.73). Das heiße Medium des Drucks bezieht sich ausschließlichauf das Auge und fi.ihrt die vom Alphabet eingeleitete Betonungdes Visuellen weiter, bis hin zur Dominanz des Gesichtssinns.Typographische Kultur drängt die Vielfalt der Sinnesempfin-dung in den Hintergrund, indem sie die Wahrnehmung "visuellhomogenis ier t " (1995, S. 157) .

"Diese Art von Verzerrung oder Reduktion unserer gesamten Sin-neserfahrung auf den Bereich eines einzigen Sinnes ist in der Ten-denz jedoch die Auswirkung der 'I'ypographie auf die Künste undWissenschaft wie auch auf das menschliche Empfinden." (ebd.)

Ausdruck dieser Tatsache ist filr Mcluhan die historisch neu-artige "starre Haltung" eines Gesichts- oder Standpunktes(ebd.). Je mehr der Druck das Schreiben bestimmt, desto eherbeziehen Autoren in Wissenschaft und Literatur einen "Stand-punkt", vertreten eine spezielle Auffassung oder These undnehmen eine dezidierte Haltung zum Gegenstand ein. Auf dieseWeise erhalten Persönlichkeit und individuelle Ansicht desVerfassers immer mehr Relevanz. Im Bereich der Malerei führtdie Entdeckung der Zentralperspektive zur Definition räumli-cher Standpunkte und weist dem Betrachter eine fixe Blick-richtung zu. McLuhan interpretiert recht unorthodox dieseNeuerung als Einschränkung der Sinnlichkeit zugunsten visu-

26 An dieser Stelle zeigt sich Mcluhans unbeschwerter Umgang mitder Geschichte: Er verlegt den Beginn der Industrialisierung um-standslos 300 Jahre vor. So erscheinen der mechanische Webstuhloder die Dampfmaschine gegenüber dem Buchdruck als marginaletechnische Entwicklunsen.

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64 Magische Kanäle. Marshall Mcluhan

eller Statik. Für ihn konnte die mittelalterliche zweidimensio-nale Malerei einerseits komplexere Beziehungen darstellen undandererseits taktiler rezipiert werden (1995, S. 159). Der "starreGesichtspunkt", den Mcluhan auch für die Prinzipien des Na-tionalismus und Individualismus geltend macht, bedeutet in je-dem Fall die Festlegung auf bestimmte Aspekte und den Aus-schluß oder die Nichtachtung anderer (1995, 5.274).

Mit dem Buchdruck entstand ein neuer Wissenstypus, derauf der Übertragung "nicht-visueller Erscheinungen wie derBewegung und der Energie in visuelle Kategorien" basierte(1995, S. 193). Die Zerlegung von Prozessen in einzelne Seg-mente erlaubte nicht nur die Rekonstruktion von Handlungen inGestalt mechanischer Apparaturen, sie l ieß sich auch zur wis-senschaftlichen Methode systematisieren. War Erfahrung erstim Sinne der visuellen Wahrnehmung vereinheitlicht, konntesie den Parametern der Quantität untergeordnet werden (ebd.).Räumliche Darstellungen wie Wissenschemata, Diagrammeoder auch Maßeinheiten sind für Mcluhan Ausdrucksformen,die diese Unterordnung wirksam vollzogen (1995, S. 198). Par-allel dazu folgte die Praxis der Präzisierung wissenschaftl icherTerminologie der reduktionistischen Logik der Typographie,denn die Definition von Begriffen raubte den Wörtern jedesLeben und trennte sie von der Vielfalt der Wahrnehmung(1995, S. 205). Wissen wurde zunehmend nach den Kriteriender Nützlichkeit und der Anwendbarkeit beurteilt, und dasWort geriet unter dieselbe Logik. Schließlich verweist "Metho-de" als regelgeleitetes Denken nach Mcluhan auf das MediumBuch: sowohl das Setzen als auch das Verfassen eines fortlau-fenden Textes beruht auf einer schematischen räumlichen An-ordnung von Tei len (1995, S. 217) . Dieser Uni formierungspro-zeß der Sprache, des Denkens und des Wissens bildete dieVoraussetzung für den neuzeitl ichen Fortschritt:

"Ohne eine Technik. die danach strebt, Erfahrungen einent homo-genisierenden Prozeß zu unterwerl'en, kann es eine Gesellschaftkaum je zu einer Herrschaft über die Naturkräfte oder auch nur zu

Magische Kanäle. Marshall Mcluhan 65

eincr Organisation menschlicher Anstrengung bringen." (1995, S.204)

Mcluhan konstatiert als Fazit des medialen Umbruchs einenachhaltige Trennung von Geftihl und Verstand. Der wissen-schaftliche Wahrheitsbegriff orientiene sich immer mehr anMeßbarkeiten, empirischen Daten exakter Versuche und einerformalisierten Beweisfi.ihrung, als deren Vorbild die mathema-tische Logik fungierte. Die Wahrheiten der Kunst, der Religionund der Ethik gerieten zur persönlichen Meinung oder Privat-angelegenheit ohne objektive Relevanz (1995, S. 207). Diemoderne Wissenschaft schloß alle Arten von Gefühl aus ihrerSphäre aus und erzielte gewaltige Fortschritte um den Preis ei-ner Engführung des Denkens. Der Charakter dieses Denkensentsprach dem einer logischen Maschine, Mcluhan sieht espersonifiziert in der Gestalt des Sherlock Holmes (1995, S.213). Die Logik der Typographie gipfelte also in der Identif i-kation von Erkenntnis und Ratio, die die sinnliche Wahrneh-mung zu ihrem inationalen Gegenpart erklärte. Eine Auffas-sung, die sich nach Mcluhan als Relikt der Gutenberg-Galaxisbis heute gehalten hat und gegen die sein Ansatz vehementFront macht.

Die Druckerpresse veränderte nicht nur das akademische,sondern auch das öffentl iche und private Leben. Für Mcluhanist der Nationalismus, der zur Bildung der europäischen Natio-nalstaaten flihrte, eng mit der Typographie verknüpft. Sie bil-dete den Motor bei der Formierung der verschiedenen Landes-sprachen und machte Schritt f irr Schritt das internationale La-tein obsolet. Vom 12. bis 15. Jahrhundert wandelten sich dieVolkssprachen noch beträchtl ich, im 16. Jahrhundert kamen dieUmbildungen ins Stocken und 100 Jahre später hatten sich dieverschiedenen Sprachen gefestigt (1995, S. 286). Die verein-heitlichende Tendenz des Drucks hatte zu festen Regeln derOrthographie und Grammatik geführt (ebd.). Erst auf dieserBasis konnten Nationall iteratur und Nationalbewußtsein entste-hen.

!i.

Page 15: Mcluhan Understanding Media

66 Magische Kanäle. Marshall Mcluhan

"Vielleicht sind der Buchdruck und der Nationalismus einanderschon einfach deshalb zugeordnet, weil durch den Buchdruck einVolk zum ersten Male sich selbst sieht. Die Landessprache ge-währt. indem sie in hoher Bildschärfe erscheint, einen Einblick indie gesellschaftl iche Einheit, die sich in der Ausdehnung mit denlandessprachlichen Grenzen deckt." (1995, S. 270)

Mit dem Druck wurde aus der jeweiligen Nationalsprache eine"Lautsprecheranlage" (1995, S. 241). Das heißt, Flugschriften,Bücher und Presse konnten potentiell alle Menschen erreichen.Dies machte die Landessprache zum "Massenmedium", zu ei-nem Mittel "der zentralen staatlichen Lenkung der Gesell-schaft", das es zuvor in keiner Form gegeben hatte (1995, S.293). Für Mcluhan ist die Wirkung der Typographie an dereinheitlichen Organisationsform der bürgerlichen Gesellschaftabzulesen, die das heterogene Feudalsystem ablöste. Diese ge-sellschaftliche Umwälzung erfolgte im Rahmen eines langwie-rigen Homogenisierungsprozesses, der erst zum Abschluß kam,als nicht nur das Buch die Kultur okkupiert hatte, sondern dieBuchdruck-Technik in der Industrialisierung auch auf "Arbeits-und Produktionsmethoden" angewendet wurde (1995, S. 275).Die historische Entwicklung selbst verlief nicht homogen, stattdessen rief sie gegensätzliche Effekte hervor. So ermöglichteGutenbergs Erfindung einerseits einen "rigorosen Zentralis-mus" und beftirderte andererseits das Prinzip des "Individua-l ismus" (1995, S.216).Das Buch ste l l te dem Indiv iduum eineBühne zur Verftigung, seine Persönlichkeit schöpferisch auszu-drücken. Es schuf den modernen "Autor", während es gleich-zeitig die Gleichschaltung des Lebens und der Einzelnen vor-antrieb. Mcluhan betrachtet beide Tendenzen als Seiten einerMedaille, die auf die Regeln der visuellen Quantifizierung zu-rückgehen.

"Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit fanden ihren natürlichsten,wenn auch phantasielosesten Ausdruck in der Uniformität der re-volutionären Bürgerheere. Sie waren genaue Wiederholungen nichtbloß der Druckseite, sondern des Fließbandes." (1995, 5.277)

Magische Kanäle. Marshall Mcluhan 67

Die Errungenschaften der Französischen Revolution sind ausder Sicht Mcluhans in Wahrheit Effekte des Buchdrucks. Die-ser macht die Menschen frei, aber auch gleich. Die Freiheit al-ler und die Garantie gleicher Rechte flir alle setzen die Sub-sumption der Einzelnen unter ein Schema voraus. Konsequen-terweise ergibt sich die Alternative zwischen der Ausgrenzungvon Individuen oder der entflemdenden Anpassung (1995,S.263). Als Produkte des Buches stehen einander zwei Men-schentypen gegenüber: der "Außenseiter oder Rand-Mensch"und der "Stadtmensch oder Bourgeois" (1995, S. 265). Ersteren- in dem unschwer der Künstler zu erkennen ist - beschreibtMcluhan als "feudal, aristokratisch, integral, unabhängig" und"oral". Der fieie Bürger dagegen ist "individuell, uniform,gleichgeschaltet, angepaßt" und "visuell" (ebd.).

Obgleich Mcluhan - immer bemüht, Medienwirkungen nurzu beobachten - im Vorwort ankündigt, sich jeder "moralischenWertung" zu enthalten (1995, S. l0), ist seine Abneigung gegendie Gutenberg-Galaxis offenkundig. An diesem Punkt zeigt sichdie Widersprüchlichkeit seines Denkens, denn die Kritik derModerne ist nicht zu überlesen. Explizit wird sie, wenn erschreibt:

"Das Unbewußte ist eine direkte Schöpfung der Buchdruck-Tech-nik, der ständig wachsende Schlackenhaufen eines verdrängten Be-wußtseins."( I 995, S. 304)

Da der Druck das Auge zum Herrscher über die anderen Sinneerhebt, müssen diese "sich nach anderen Heimstätten umschau-en" (1995, S.303). Das heißt, der Großteil der sinnlichen Er-fahrung wird gemäß der typographischen Logik vom Bewußt-sein abgelehnt und ins Unbewußte verdrängt. Dieser Bereichwächst im Kontext einer am Druck orientierten Bildung konti-nuierl ich an ( 1995, S. 3 16). In der Folge sieht Mcluhan die ge-bildete Welt "hypnotisiert" und auf einen Primitivismus, "einAfrika in uns" zurückgeworfen (ebd.). Eine auf Rationalität undVisualität ausgerichtete Kultur verdrängt die Fülle der sinnli-chen Wahrnehmung und erzeugt durch die Ausgrenzung erst ih-

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68 Magische Kanäle. Marshall Mcluhan

ren erklärten Feind: Irrationalität und Dunkelheit. Mcluhan er-kennt im westlichen zivil isierten Menschen ein Wesen, das nurals Schatten oder Bruchteil seiner selbst existiert und in derEnge der Uniformität und dem Dunkel des Unbewußten haust.27

IV. The Global Villase

Die Gutenberg-Galaxis endet mit dem Auftritt des Mediums"Elektrizität"; eine historische Zäsur,28 die auch eine qualitativneue Stufe der Körperausweitung anzeigt Denn das elektrischeNetz stellt nach Mcluhan ein "naturgetreues Modell" des Zen-tralnervensystems dar, mit ihm verlegt der Mensch die seine

27 Dieser Gedanke erinnert an die "Dialekt ik der Aufklärung". ImMittelpunkt des Projektes von Adorno und Horkheimer steht dieIdee einer Zivi l isat ion, die auf der Unterdrückung zentralerAspekte der menschlichen Natur aufgebaut ist. Odysseus läßt sichan den Mast seines Schifles fesseln, um den Lockungen der Si-renen zu entgehen. Dies dient den Autoren als Sinnbi ld der abend-ländischen Kultur der Selbst-Beherrschung. Dem rationalen Selbstgeftihrliche Anteile r.verden unterworfen und verdrängt statt bewäl-t igt Die so erzwungene Zivi l isat ion ist januskopfig, ihr anderesGesicht bleibt immer die nur zugedeckte Barbarei. Betont seijedoch, daß die Paral lelen zu der - Mcluhan vermutl ich unbe-kannten Schrif t - nicht weit reichen. Die "Dialekt ik" basiert einer-seits auf einer völ l ig anderen Systematik als Mcluhans tei lweisegrob pauschalisierende Kritik und ist andererseits durch ein ihmfremdes politisches Arliegen motiviert. Vgl. Max Horkheimer,Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. PhilosophischeFragmente, Frankfurt am Main 1969.

28 Mcluhans These vom Ende der Gutenberg-Galaxis ist von neuerenMedientheorien rveitgehend übernommen worden. Der Bruch wirdjedoch nicht an der Elektrizität festgemacht, sondern an derEntwicklung neuer Speicher- und übertragungsmedien. die dasI-eitmedium Buch sukzessive ablösten. Vgl. dazu Norbert Bolz:Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die Neuen Kommunikationsver-hältnisse. München I 993.

Magische Kanäle. Marshall Mcluhan 69

Sinne koordinierende Instanz nach außen (1992, S. 59). Wäh-rend es sich bei allen fri.iheren Ausweitungen des Körpers - derHand, des Fußes, des Auges - um einzelne Segmente handelte,die in separate Apparaturen umgesetzt wurden. stellt die Elek-trizität einen Zusammenhang her. Gegenüber der "beschränk-ten" und "atomistischen" mechanischen Technik, die aus derZerlegung von Bewegungsabläufen hervorging, ist die elektri-sche "total und umfassend" (1992, S. 75). Sie schafft eine "or-ganische Einheit von ineinandergreifenden Abläufen", einenorganischen Funktionszusammenhang (1992, S. 395). Revolu-tionär sind diese Veränderungen Rir Mcl-uhan, weil sie demMenschen ermöglichen, erstmals das Wesen der Technik unddamit seine eigene Lage zu erkennen. Seit Beginn der Körper-ausweitung hatten die Medien den Menschen narkotisiert undihm "Geftingnisse ohne Mauern errichtet" (1992, S. 32). Nun-melu ist eine Wende möelich:

"Aber es (das Zeitalter der Elektrizität, A.S.) ist bezeichnenderwei-se auch das Zeitalter, in dem wir uns des Unbewußten bewußt sind.Mit unserem systematisch betäubten Zentralnervensystem wird dieAufgabe des bewußten Erfassens und Ordnens auf das physischeLeben des Menschen überlragen, so daß er zum erstenmal dieTechnik als eine Ausweitung seines natürlichen Körpers bewußterlebt. Offenbar hätte es dazu vor dem Zeitalter der Elektrizität, dasuns die Möglichkeit eines augenblicklichen Erfassens des Ge-samtfeldes gab, nicht kommen können." (1992, S. 64)

Diese Sätze lassen zwei Deutungen zu, die sich (mosaikartig)ergänzend eine Erklärung ergeben. Gemeint sein könnte, daßdas durch die Amputation betäubte ZNS keine Koordinationmehr leisten kann und dieselbe daher das Bewußtsein überneh-men muß. Denkbar wäre auch, daß - wie schon beim Buch-druck - ein Analogieschluß vorliegt, der Medium und Er-kenntnis parallelisiert: Die Elektrizität erzeugt ein organischesGanzes. mit dem konliontiert das Denken nicht länger bei ana-lytischen Trennungen und Abgrenzungen stehen bleiben kann,sondern die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Technik

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begreifen muß (1992, S. 22, 125). Diese Einsicht ist jedochnicht mit einer Befreiung von Technik gleichzusetzen, denn dieVerknüpfung der sinnlichen Wahrnehmung mit technischenMedien ist unauflösbar (1992, S. 75). Die Chance der Erkennt-nis l iegt nicht in der Überwindung der Medienwirkungen, son-dern im bewußten Umgang mit ihnen. Zuerst gilt es jedoch,diese Chance zu ergreifen.

Das 20. Jahrhundert ist für Mcluhan eine Zeit des Über-gangs. Es befindet sich an der Grenze zweier Kulturen, denndie Gutenberg-Galaxis wurde zwar abgelöst, aber Wahrneh-mungsschemata verschwinden nicht ad hoc, sondern überlebendie eigene Gültigkeit (1995, S. 3). Phasen kultureller Umbrüchesind schwer zu bewältigen, denn der Zerfall der tradiertenKultur wirkt bedrohlich, ruft Verwirrung, Desorientierung undHilf losigkeit hervor, das Neue erzeugt Angst (1969, S.8): Indieser Situation tritt Konservatismus auf, weil das starre Fest-halten am Alten scheinbar Sicherheit bietet ( 1995, S. 3).McLuhan sieht seine Zeit vollständig von einem "Rück-spiegeldenken" beherrscht, das versucht, "die Aufgaben vonheute mit den Werkzeugen von gestern und den Vorstellungenvon gestern zu lösen" (1969, S. 9). Die "offizielle Kultur"zwinge die neuen Medien unter die Maßstäbe der alten: so wer-de das Fernsehen nach überholten Kriterien, nach seinem Inhaltbeurteilt und zu Zwecken eingesetzt, die noch der Ara des Bu-ches entstammen (1969, S. 94). Aus dieser Perspektive wärenheute verbreitete kulturkrit ische und -pessimistische Theoriender neuen Medien, die auf dem höheren Wert der Buch-Kulturbeharren. nutzlos und anachronistisch. Neil Postmans Ansatzzum Beispiel wäre demnach auf dem erkenntnistheoretischenBoden der Gutenberg-Galaxis zu verorten. Mcluhan bezeich-net das rückwärts gewandte Denken als geftihrlich, denn es ver-stärkt die Angst und enthält den Menschen das entscheidendeWissen über Medien vor (1969, S.94, 100) . Die Chance derErkenntnis, die die neue Form der Technik bietet, kann nur er-folgreich genutzt werden, wenn die Herausforderung des Neuenauch angenommen wird. Dementsprechend ist es McluhansAnliegen, in seinen Schriften Kenntnisse über die Wirkunss-

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weisen alter und neuer Technologie zu vermitteln, eine Anlei-tung zum emanzipativen Mediengebrauch zu geben und damitdie "Autonomie" des Menschen zu ftirdem. Ganz in der - ei-gentlich abgelehnten - Tradition der Aufklärung stehend, will erseinen Zeitgenossen zum "richtigen" Bewußtsein und so zumehr Freiheit verhelfen (1992, S. 27, 68, 82; 1995, S. 4). Die-ser missionarische Impetus wird vom Großteil seiner aktuellenInteryreten unterschlagen, weil er eher zum gegnerischen Lagerder Technikkitiker paßt.2e

Das "Rückspiegeldenken" steht im Gegensatz zu der durchdie Elektrizität umstrukturierten Lebenswelt. Einzig der Jugendbil l igt Mcluhan in den sechziger Jahren eine dem Neuen an-gemessene Haltung zu. Ilve Ablehnung der veralteten Form derBildung und ihr "totales Engagement" entsprächen den Erfor-dern issen derZei t (1969, S. 100) .

"Das Streben unserer Zeit nach Ganzheit, Einflihlungsvermögenund Erlebnistiefe ist eine natürliche Begleiterscheinung der Tech-nik der Elektrizität." (1992, S. l3)

Die Elektrizität ersetzt das mechanistische Prinzip der "Explo-sion" durch die "lmplosion", die die Welt zu einem Dorf zu-sammenzieht. Die elektrische Vernetzung des Globus hat denRaum und die elektrische Geschwindigkeit die Zeit überwun-den, beide Faktoren haben zur Auflrebung von Distanzen allerArt beigetragen. In der Folge werden Individualismus und Na-tionalismus, Erscheinungsformen der Buchdruck-Kultur suk-zessive abgeschafft. An die Stelle der spezialisierten und atomi-sierten Zivilisation tritt das organische Ganze des globalenDorß (1992, S. l l3). Der fragmentierte westliche "Augen-mensch" wird so in die Form der oralen Stammesorganisationversetzt, in ein Netz "gegenseitiger Abhängigkeit", das die

to Vgl. dazu das Mcluhan-Kapitel in: Norbert Bolz: Theorie derneuen Medien. München 1990. Einer der wenigen, die Mcluhanals Aulklärer lesen. ist Frank Ha(mann: Cyber. Phi losophie. Me-dientheoretische Auslotungen, Wien, 1996, S. I I I f f .

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Dominanz des Gesichtssinns untergräbt (1992, S. 67). DieserRahmen begünstigt eine taktil ausgerichtete Wahmehmung undträgt zur Rehabilitation zuvor verdrängter Geftihle bei, denn die"elekffische Schaltungstechnik vershickt die Menschen tief in-einander" (1969, S. 63). Die gegenseitige Abhängigkeit fordertnach Mcluhan Engagement und Anteilnahme am anderen,denn damit "sind wir aneinander beteiligt und füreinander ver-antwortl ich geworden" (1969, S. 24). Auf diese Weise ist aucheine Öffentlichkeit, die sich aus der bloßen Addition im we-sentlichen passiver Individuen ergibt, überholt. Möglich wirdeine neue Form der Politik, die auf aktiver Teilnahme aller amöffentl ichen Geschehen beruht (1969, S.22). Das Medium, dasdiese Partizipation erlaubt, heißt Fernsehen.

"Beim Fernsehen wird der aktive, erforschende Tastsinn erweitert,der alle Sinne zugleich und nicht bloß den Gesichtssinn einbezieht.Man muß >dabei< sein." (1969, S. 125)

Das "kühle" Medium Fernsehen verlangt nach Mcluhan eineaktive Rezeption. Das Fernsehbild besteht im Unterschied zuPhotographie und Film aus einem "mosaikartigen Maschennetzvon hellen und dunklen Punkten" (1992, S. 358).30 Es ist zwei-dimensional und unvollständig, so muß der Zuschauer selbstden Punkten eine Cestalt verleihen, indem er die "Lücken" desNetzes schließt und das Bild komplettiert (1992, S. 358). Dadieser Vorgang nicht visuell, sondern taktil stattfindet, bringtdas Fernsehen ein "optimales Wechselspiel der Sinne mit sich"(1992. S. 379). Es beteil igt die "Gesamtperson" am Gezeigtenund bietet daher optimale Bedingungen für eine neue Politik(1969, S. 125). Diese These befremdet nicht erst heute, McLu-hans Schüler und Biograph Philip Marchand nennt sie "pseu-doscientific" und berichtet, unter den Kollegen in Toronto habeder Scherz kursiert, Mcluhan besitze ein sehr schlechtes Fern-sehgerät.rr Vermutlich sind seine Ideen auf die damalige Neu-

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heit des Mediums zurtickzufuhren, als von der heutigen routi-nierten Behandlung als Möbelstück und "Nullmedium" nochkeine Rede sein konnte.

Trotz seiner hofftungsvollen Einschätzung der medialen Si-tuation des 20. Jahrhunderts gibt Mcluhan keine eindeutigenZukunftsprognosen ab. Für ihn bleibt off'en, ob das vorhandenePotential positiver Entwicklungsmöglichkeiten zur Entfaltungkommen wird. Er malt jedoch aus, wie eine bessere zukünftigeWelt aussehen könnte:

"Denn es ist jetzt möglich, die Verhältnisse der Sinne untereinan-der so zu programmieren, daß sie dem Zustand des Bewußtseinsnahekommen. (...) Wenn wir einmal unser Zentralnervensystem zurelektromagnetischen Technik ausgeweitet haben, ist es nur mehrein Schritt zur Überlragung unseres Bewußtseins auch auf die Weltder Computer . " (1992, S. 79)

Elektrische Technik bedeutet gleichzeitig Informationstechnik,denn die Elektrizität fonnte die Welt der Maschinen und Gerätenicht nur zu einem organischen Ganzen um, sondern transfor-mierte das mechanische Systern auch zum Infonnationssystem(1992, S. 75). Der Computer könnte mithin die allgemeineSteuerung übernehmen.32 Gemäß der Logik der Körperauswei-tung ist das Medium Computer als Ausweitung des Gehirns zuverstehen und stellt, obgleich Mcluhan dies nicht explizit sagt,ihren Abschluß dar. Diese letzte Stufe der Entwicklung läßt dieInterpretation ihrer Vollendung zu: Der Komplex der Techniktritt nun als komplettes Gegenstück des Menschen auf. Demzu-folge wäre Ergebnis der Körperausweitung, daß der organischeZusammenhang der Technik nun gleich seinem Vorbild quaGehirn lenkbar wird. Auch ohne die Annahme eines Telos oder

r2 Verglichen mit heutigen Standards beland sich die Computertech-nologie in den sechziger Jahren in ihren Anft ingen. Mcluhan haldaher - gegenüber aktuel leren Medientheorien - unklare Vorstel-lungen vom Medium Computer und nur eine dif fuse Idee des Pro-grammierens.

r0 Mcluhan hatte das Schwarz-Weiß-Fernsehen vor Ausen.rr Marchand, 1989, S. 122, 123.

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einer Vollendung der Technikentwicklung steht McluhansDenken im Gegensatz zu Medientheorien, die heute die Ver-selbständigung oder übermacht der Technik beklagen. In die-ser Richtung argumentieren zum Beispiel Viri l io, der von dertechnischen "Kolonialisierung" des Körpers spricht,33 oderBaudril lard, der den Menschen zum "ex-orbitanten" Wesen er-klär1, von den technischen Prothesen aus seinem Leib vertrie_ben.ra Nach Mcluhan verhält es sich gerade umgekehrt, weilerst der technische Forschritt den Horizont eines selbstbe_stimmten Körpers eröffiret. Die Utopie der programmierbarkeitzielt gerade darauf, den Körper von den nicht intendierten Ein-flüssen der Medien zu erlösen: programmiert werden soll dasmediale "Klima". Die im 20. Jahrhundert entstandene Medien_pluralität setzt die Wahrnehnung einer Vielfalt von Wirkunsenaus. Die Eff-ekte heißer oder kalter Medien sind unterschiedlichund variieren je nach Kontext. Ein heißes Medium kann in ei_ner "kühlen Zivil isation" völl ig andere Folgen haben als in ei_ner "heißen" (1992, S.45) . Die ldee der Lenkung d ieser Er-scheinungen lautet:

"Wir kommen sicher noch in den vorstellbaren Bereich einer Welt,die soweit automatisch gesteuert wird, daß wir sagen könnten:>Sechs Stunden rveniger Radioprogramm nächste Woche in Indo-nesien, oder es kommt zu einem starken Nachlassen des Interessesan Literatur.( (...) Ganze Kulturen könnten so programmiert wer_den. um ihr emotionales Klima zu stabil isieren (.. )., ' ( 1992, S. 42)

Der gezielte Einsatz verschiedener Medien soll der Neutralisie_rung ihrer Wirkung dienen und die sinnliche Wahmehmuns ineinem takti len Gleichgewicht halten. Als programmierer käÄennur Künstler in Frage, die aufgrund ihrer speziellen Sensibil i tätallein fi]r diese Aufgabe taugen. Sie ergreift die medialen Nar_kose nicht so stark wie andere Menschen, weil das Wissen derKunst gerade auf dem Experimentieren mit der Wahrnehmung

" Vgl. den Beitrag zu Vir i l io in cl iesem Band.3a Baudr i l la rd . 1989. S . I 15 .

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beruht (1992, S. 84). Künstler sind es auch, die mit Hilfe expe-rimenteller Kombinationen verschiedener Medien die allgemei-ne Betäubung stellenweise aufheben können' "Medienbastarde"brechen Routinen auf und führen so zu einer bewußterenWahrnehmung (1992, S. 7l). Ein "Schiffbruch der Gesell-schaft" kann nach Mcluhan verhindert werden, wenn derKünstler seinen Elfenbeinturm verläßt und den "Kontrollturmder Gesellschaft" übernimmt(1992, S. 83). Seine Utopie machtletztl ich jeden zum Künstler. Er antizipiert einen Zustand, ge-nannt "Automation", in dem das Dasein des Menschen von"Lernen und Wissen" bestimmt sein wird. Denn die Program-mierung der Technik setzt dann Wissen und nicht etwa Arbeitvoraus (1992, S. 76). In der Vision vom automatisierten Welt-dorf stellen Menschen Produkte ausschließlich durch Pro-granrmierung her (1992, S. 399). Diese aus Informationen be-stehende technische Welt hätte die Determinanten der Naturbezwungen, in ihr könnten alle Stoffe beliebig transformiertoder produzien werden. Der Mensch würde nicht mehr arbei-ten, sondern erschaffen.

"Es ist das Bild dcs Goldenen Zeitalters als einer Welt der vollstän-digen Metamorphose oder Übertragung der Natur in menschlicheKunst, die sich unserem Zeitalter der Elektrizität nun eröffnet'"( 1992 ,5 .71 )

Parallelen zu dieser Utopie finden sich bei Vilöm Flusser' des-sen Idee einer "telematischen Gesellschaft" gerade auf der frei-en Entfaltung des Menschen im Rahmen virtueller Welten ba-siert.rs Beide Positionen sind sich nahe, wenn sie den Homo lu-dens dem Homo faber vorziehen. Für sie ist der spielende,kreative Mensch, dem die Technik zur Realisation seiner reingeistigen Produkte verhilft, wahrhaft frei, während der Homofaber irnmer dem Naturzwang verhaftet bleibt. Mcluhan undFlusser geben so der Möglichkeit den Vorrang vor der Wirk-l ichkeit; statt das technikinduziefte Verschwinden der Wirk-

tt Vgl. den Beitrag zu Flusser in diesem Band

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lichkeit zu beklagen, begrüßen sie das Aufscheinen virtuellerMöglichkeiten.

Mcluhans Schüler und heutiger Nachfolger an der Univer-sität Toronto, Denick de Kerckhove, widmet in seinem Buch"Schriftgeburten" ein Kapitel der Frage nach der Bedeutungdes Katholizismus fi.ir Mcluhans Werk.r6 Er war im Alter von25 Jahren zum Katholizismus konvertiert und nach Kerckhoveein tief gläubiger Mensch. Vielleicht erklärt dies seinen uner-schütterl ichen Optimismus;

"Zeichen unserer Zeit ist die Auflehnung gegen aufgezwungeneSchemata. Wir sind plötzlich darauf aus, daß Dinge und Menschensich uns restlos erklären. Es liegt ein tiefer Glaube in dieser neuenHaltung - ein Glaube, der auf eine schließliche Harmonie allerKreatur gerichtet ist." (1992, S. 13, l4)

A .S .

Derrick de Kerckhove: ' ,Marshall Mcluhans Glaube an dieKirche", in: Schrif tgeburten. Vom Alphabet zum Computer, Mün_chen 1995.

Telematik. Vilöm Flusser

Vilöm Flusser ist ein Medienphilosoph, der seine Auffassungenaus einer unglaublichen Fülle von Bezügen entwickelt. Er ar-gumentiert auf eine originelle Weise außerhalb jeder bloß fach-spezifischen Sicht, läßt verbindliche Standards nicht gelten,operiert vielmehr frei mit aus unterschiedlichsten Wissens-gebieten stammenden Termini, Begriffen und Theoremen. Na-tur- und Geisteswissenschaftl iches (Sozialwissenschaftl iches)durchdringen und überfluten sich. Nicht ohne Grund hatte auchdie Festschrift zu seinem 70. Geburtstag, den er 1990 beging -im Herbst des folgenden Jahres verunglückte er bei Prag töd-lich - den ironisch-verehrenden Titel "über flusser".r Er gehörtzu jenen Denkern, die sich mit dem Vorsatz des "nach" - wie in"nachgeschichtl ich" - als nicht mehr eindeutig lokalisierbar ver-stehen, sich vielmehr in einem nicht zielgerichteten, einem "un-systematischen" Prozeß offenen Denkens ständig an ihren Ge-genstand annähern. Der Terminus "nachgeschichtlich" meintdas Ende der (bisherigen) Geschichte. Mehrere Jahrhundertegültige und verbindliche Auffassungen von (l inearer) Entwick-lung, oft "Forlschritt" genannt, sind an ihre Grenzen gelangt.

Flussers Annäherung an diesen heutigen Zustand besteht nunim Herausarbeiten einer Welt-, Menschen- und Gesellschafts-sicht, die die Kommunikation ins Zentrum der Aufinerksamkeitrückt. Es geht ihm um Analyse und Wertung des Umgangs mitInformationen, der die Kultur der Kommunikation wie dieStruktur der Medien prägt. Ausgehend von dieser Diagnoseentwickelt er Szenarien, welche mögliche Tendenzen einerMenschheits- und Zivil isationsentwickluns umreißen und in

I Volker Rapsch (1990): über f lusser.Vi ldm Flusser. Düsseldorf 1990.

Die Festschri l t zum 70. von