Mecklenburg-Vorpommern€¦ · 1 Utta Danella: eigentlich Utta Schneider (1920 – 2015), verfasste...

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Mecklenburg-Vorpommern Die nachstehenden Prüfungsaufgaben sollen den Schülerinnen und Schülern des Landes sowohl zur individuellen Prüfungsvorbereitung als auch im Rahmen des Unterrichts in Lernsituationen zur Verfügung gestellt werden, eine Nutzung als Klausur unter abiturähnlichen Bedingungen ist damit ausgeschlossen. Der Nutzerkreis ist auf Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte des Landes Mecklenburg- Vorpommern beschränkt. Dieses Dokument ist urheberrechtlich geschützt und darf weder analog noch digital veröffentlicht werden. Eine Weitergabe, insbesondere an Nachhilfeinstitute, Verlage oder ähnliche Einrichtungen, ist untersagt. Sowohl dieses Titelblatt als auch der Text der Fußzeile dürfen nicht von den Aufgaben getrennt werden. Zentralabitur 2019 Deutsch Erhöhtes Anforderungsniveau Prüfungsaufgaben

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  • Mecklenburg-Vorpommern

    Die nachstehenden Prüfungsaufgaben sollen den Schülerinnen und Schülern des Landes sowohl zur individuellen Prüfungsvorbereitung als auch im Rahmen des Unterrichts in Lernsituationen zur Verfügung gestellt werden, eine Nutzung als Klausur unter abiturähnlichen Bedingungen ist damit ausgeschlossen. Der Nutzerkreis ist auf Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte des Landes Mecklenburg-Vorpommern beschränkt. Dieses Dokument ist urheberrechtlich geschützt und darf weder analog noch digital veröffentlicht werden. Eine Weitergabe, insbesondere an Nachhilfeinstitute, Verlage oder ähnliche Einrichtungen, ist untersagt. Sowohl dieses Titelblatt als auch der Text der Fußzeile dürfen nicht von den Aufgaben getrennt werden.

    Zentralabitur 2019

    Deutsch

    Erhöhtes Anforderungsniveau

    Prüfungsaufgaben

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    Block I

    B Sandra Danicke: »Das Bewerten von allem, was wir nutzen und sehen, ist

    fast so üblich geworden wie Zähneputzen. Als gehöre

    Notenverteilen zu unserer Verbraucherpflicht«

    (Textauszug)

    1. Analysieren Sie den Textauszug und bewerten Sie seine Gestaltungs- und

    Wirkungsweise.

    2. Setzen Sie sich kritisch mit der von Danicke geschilderten Entwicklung des

    Bewertens und Kommentierens auseinander.

    Der Schwerpunkt liegt auf der ersten Aufgabe.

    Sandra Danicke (*1968): »Das Bewerten von allem, was wir nutzen und sehen, ist

    fast so üblich geworden wie Zähneputzen. Als gehöre

    Notenverteilen zu unserer Verbraucherpflicht«

    (Textauszug)

    Sandra Danicke (*1968) ist eine deutsche Kunsthistorikerin, Kunstkritikerin und Autorin.

    Vor ein paar Jahren habe ich einen Zukunftsroman gelesen. Er handelt von einer Frau, die in

    einem Internetkonzern bei der Kundenbetreuung arbeitet. Die Kunden bewerten sie. Die

    Vorgesetzten bewerten sie ebenfalls, oft mehrmals täglich. Auch von ihr wird erwartet, dass 3

    sie Dinge bewertet, Veranstaltungen, Aktivitäten, permanent. Fast rund um die Uhr. An vier

    verschiedenen Bildschirmen gleichzeitig. Das Buch – The Circle von Dave Eggers – ist

    inzwischen auch verfilmt worden. Ich hielt es für völlig überzogen. Bis ich kürzlich aus dem 6

    Urlaub kam und die Flughafentoilette aufsuchte.

    Ich hatte mir gerade die Hände gewaschen und war bemüht, nichts mehr anzufassen, als

    mich eine Reihe bunter Smileys dazu aufforderte, per Knopfdruck die Sauberkeit der 9

    Sanitäranlagen zu bewerten. Gerade so, als sei ich bei irgendeinem Prüfdienst angestellt,

    der die Effizienz der Putzkolonne zu kontrollieren hat. Leicht verärgert ging ich zum

    Gepäckband. Als ich meinen Koffer in Empfang genommen hatte, warteten wieder Smileys. 12

    Diesmal war es die Geschwindigkeit der Gepäckbeförderung, die ich bewerten sollte, obwohl

    ich mich dafür nicht im Geringsten qualifiziert fühlte. Woher soll ich wissen, welches die

    angemessene Zeit für die Beförderung der Koffer ist, wenn ich den Arbeitsablauf gar nicht 15

    kenne?

    […]

    Menschen bewerten, was ihnen begegnet. Das ist normal. Es dauert nur eine

    Zehntelsekunde, bis wir uns einen ersten prägenden Eindruck von unserem Gegenüber 18

    verschafft haben. Wenn wir eine Wohnung besichtigen, wissen wir meist sofort, ob sie für

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    uns infrage kommt. Nur war es die längste Zeit so, dass wir diese Erkenntnisse allenfalls im

    Freundeskreis kundtaten. In den vergangenen Jahren jedoch ist das Bewerten von nahezu 21

    allem, was wir nutzen und sehen, fast so üblich geworden wie das tägliche Zähneputzen.

    Routiniert werden wir von Dienstleistern abgefragt, als gehöre das Verteilen von Noten zu

    unserer verdammten Verbraucherpflicht. 24

    Einmal sollte ich telefonisch eine Dame vom Callcenter meines Telefonanbieters bewerten,

    und das bereits kurz nachdem ich mich bei ihr darüber beschwert hatte, dass mein Internet

    nicht funktioniert. Sie hatte veranlasst, dass mir ein neuer Router geschickt wurde. Dass das 27

    Quatsch war, merkte ich erst Tage später, als ich der Dame längst ein Gut erteilt hatte. Ich

    hatte ihr nicht schaden wollen, sie war ja nett gewesen. Hinterher fühlte ich mich

    missbraucht. Unfreiwillig war ich von einer Kontrollinstanz eingespannt worden, deren 30

    Methoden ich ablehne.

    Wozu überhaupt soll dieses ständige Bewerten gut sein? Ist doch logisch, werden viele

    sagen: Es hilft dem Unternehmen, Service und Produkte zu verbessern, und es hilft anderen 33

    Kunden, die richtige Wahl zu treffen. Dass die Mehrheit der Verbraucher das so sieht, zeigen

    zahlreiche Studien. Eine Umfrage des Digitalverbands Bitkom etwa ergab, dass 65 Prozent

    der Befragten Kundenbewertungen in Online-Shops als Entscheidungshilfe nutzen. Aber 36

    treffen sie damit wirklich immer die beste Wahl?

    Ich glaube: Nein, und das kann ich ausnahmsweise beurteilen, weil ich selbst oft nur auf

    Bewertungen anderer zurückgegriffen habe. Bei der Suche nach einer Unterkunft in einer 39

    fremden Stadt etwa oder beim Kauf einer neuen Matratze. Ich habe auch schon

    Bewertungen studiert, die mir völlig fremde Menschen über die Kompetenz eines

    Orthopäden oder einer Zahnärztin hinterlassen haben. Fakt ist allerdings, dass mich solche 42

    Recherchen meist verwirrt zurücklassen. Wenn ich die Anmerkungen über ein Hotel lese,

    verunsichert es mich, wenn fünf Leute alles super fanden, aber einer die Hellhörigkeit der

    Zimmer moniert. Wenn jemand kritisiert, der Arzt sei so kurz angebunden, weiß ich nicht, ob 45

    ich das nicht eher gut finden soll, weil der vermutlich schnell auf den Punkt kommt. Auch bei

    der Matratzensuche kam ich nicht weiter, schließlich haben die meisten Menschen ein

    anderes Gewicht und ein anderes Schlafverhalten als ich. Und trotzdem habe ich Stunden, 48

    nein: Wochen meines Lebens mit Alltagsexpertisen von Hinz und Kunz vergeudet.

    Die Ansprüche der Menschen sind einfach zu verschieden, und meist haben sie mit meinen

    eigenen Bedürfnissen nicht das Geringste zu tun. Nie im Leben würde ich den Kollegen mit 51

    seiner seltsamen Vorliebe für Instantkaffee nach seinem Lieblingsvietnamesen fragen. Aber

    im Netz soll ich plötzlich Menschen vertrauen, die womöglich Kampfhunde züchten und in

    ihrer Freizeit Utta Danella1 lesen. Dass das selten gut gehen kann, liegt eigentlich auf der 54

    Hand.

    Bewertungsportale versprechen stets das größte Glück: die besten Hotels, die schönsten

    Restaurants, die verlässlichste Versicherung, die leckerste Fertigbolognese. Trotzdem sind 57

    wir nicht zufriedener als früher. Weil das vermeintlich Beste eben oft nur dem kleinsten

    gemeinsamen Nenner entspricht, dem Konsens der Masse. Das Spezielle, Eigenwillige droht

    darin unterzugehen. Und ist es nicht so, dass die Meinung der Masse sich oft selbst 60

    1 Utta Danella: eigentlich Utta Schneider (1920 – 2015), verfasste zahlreiche Romane im Bereich der Unterhaltungsliteratur

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    reproduziert? Ich jedenfalls wurde in meinem Bewertungsverhalten schon häufig beeinflusst:

    Als alle einen bestimmten Wein toll fanden, mochte ich mich nicht als Geschmackslaie

    outen, obwohl ich das anders sah. Als alle den Charme einer Airbnb-Wohnung priesen, wäre 63

    es mir kleinkariert vorgekommen, mich über den Schimmel im Kühlschrank aufzuregen.

    Ganz so, als wohne der Massenmeinung eine höhere Wahrheit inne. Dabei weiß ich, dass

    das blanker Unsinn ist. Die Masse kauft Billighackfleisch und fährt Volkswagen. Was soll 66

    daran gut oder gar weise sein?

    Erfunden, um eine Vertrauensbasis zwischen Fremden zu schaffen, haben sich Rating-

    Systeme zu einem Kontrollinstrument entwickelt, das selbst außer Kontrolle geraten ist. […] 69

    Dass der Bewertungswahn vor allem in den USA beängstigende Dimensionen angenommen

    hat, zeigt sich auch an einer App namens Peeple, die dort seit dem vergangenen Jahr auf

    dem Markt ist. Die Anmeldung erfolgt über Facebook, dann kann man Menschen, die bei 72

    Peeple registriert sind, in drei Kategorien „empfehlen“: beruflich, persönlich, romantisch. Eine

    „Empfehlung“ kann jedoch auch negativ sein.

    Wie würde ich in einer solchen App bewertet werden? Und von wem? Vielleicht findet die 75

    Verkäuferin aus der kleinen Boutique, dass ich die anprobierten Klamotten nicht ordentlich

    genug auf den Bügel gehängt habe. Womöglich würde die unsympathische

    Sprechstundenhilfe des Neurologen andere vor meiner labilen Psyche warnen. 78

    […]

    Unterdessen hindert uns das ganze Herumbewerten daran, Erfahrungen zu sammeln, ohne

    die ein Leben nichts wert ist: Überraschungen, Glückstreffer, Fehler gehören dazu.

    Meine letzte Airbnb-Wohnung auf einer griechischen Insel habe ich bewusst von einem 81

    jungen Mann gemietet, der noch keine einzige Bewertung hatte. Obwohl es wenige Meter

    weiter eine Unterkunft gab, in der zahlreiche Gäste sich offenbar wie in Abrahams Schoß2

    gefühlt hatten. Nennt es Helfersyndrom, nennt es vermessen, aber ich dachte, der Typ hätte 84

    ohne mich nie eine Chance, und buchte. So traf ich Dimix. Er holte uns von der Fähre ab,

    brachte uns in sein gemütliches, sauberes Häuschen, in dem die Kunstwerke seines Vaters

    an den Wänden hingen, und forderte uns auf, seinen prall gefüllten Kühlschrank leer zu 87

    essen.

    Schweren Herzens habe ich ihn hinterher bewertet. Dabei hätte ich diesen Geheimtipp gerne

    für mich behalten. 90

    (2017)

    Die Zeit Nr. 44, 26. Oktober 2017

    2 Abrahams Schoß: Redewendung, die ihren Ursprung in der Bibel in dem Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus

    hat. Der arme Lazarus wird nach seinem Tod von den Engeln in den Schoß Abrahams getragen, wo er, geborgen und glück- lich, keine Not mehr erleiden muss. Der egoistische, reiche Mann landet in der Hölle.

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    Block II

    B Materialgestütztes Schreiben argumentierender Texte

    Verfassen Sie zu Tucholskys These „Was darf die Satire? Alles.“ (M1) einen

    Kommentar für die Rubrik „Jugend schreibt“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

    Nutzen Sie für Ihre Argumentation die beigefügten Materialien und bringen Sie

    eigenes Wissen zum Thema ein.

    Formulieren Sie eine geeignete Überschrift.

    Zitate aus den Materialien werden dem Stil des Kommentars entsprechend ohne

    Zeilenangabe nur unter Nennung der Autorin/des Autors und ggf. des Titels

    angeführt.

    Der Kommentar sollte etwa 1000 Wörter umfassen.

    Material 1: Kurt Tucholsky (unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel). Was darf

    die Satire? (1919)

    Kurt Tucholsky (1890 – 1935) war ein deutscher Journalist und Schriftsteller (schrieb auch

    unter den Pseudonymen Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger und Ignaz Wrobel);

    aufgrund seiner journalistischen Tätigkeit wurden gegen ihn juristische Prozesse eingeleitet.

    Frau Vockerat: »Aber man muß doch seine Freude haben können an der Kunst.«

    Johannes: »Man kann viel mehr haben an der Kunst als seine Freude.«

    Gerhart Hauptmann1 3

    Wenn einer bei uns einen guten politischen Witz macht, dann sitzt halb Deutschland auf dem

    Sofa und nimmt übel.

    Satire scheint eine durchaus negative Sache. Sie sagt: „Nein!“ Eine Satire, die zur Zeichnung 6

    einer Kriegsanleihe2 auffordert, ist keine. Die Satire beißt, lacht, pfeift und trommelt die

    große, bunte Landsknechtstrommel3 gegen alles, was stockt und träge ist.

    Satire ist eine durchaus positive Sache. Nirgends verrät sich der Charakterlose schneller als 9

    hier, nirgends zeigt sich fixer, was ein gewissenloser Hanswurst ist, einer, der heute den

    angreift und morgen den.

    Der Satiriker ist ein gekränkter Idealist: er will die Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun 12

    rennt er gegen das Schlechte an.

    1 Gerhart Hauptmann (1862 – 1946): deutscher Schriftsteller

    2 Kriegsanleihe: Wertpapier, das der Finanzierung eines Krieges dient und dessen Kauf der Gewährung eines Kredits an die

    Regierung gleichkommt. Da Kriegsanleihen häufig nicht zurückgezahlt wurden, verloren Kleinanleger das investierte Geld. 3 Landsknechtstrommel: Vor allem im 16./17. Jahrhundert markierten Landsknechte, angeworbene Berufssoldaten, mit

    Trommeln den Rhythmus der marschierenden Soldaten.

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    Die Satire eines charaktervollen Künstlers, der um des Guten willen kämpft, verdient also

    nicht diese bürgerliche Nichtachtung und das empörte Fauchen, mit dem hierzulande diese 15

    Kunst abgetan wird.

    Vor allem macht der Deutsche einen Fehler: er verwechselt das Dargestellte mit dem

    Darstellenden. Wenn ich die Folgen der Trunksucht aufzeigen will, also dieses Laster 18

    bekämpfe, so kann ich das nicht mit frommen Bibelsprüchen, sondern ich werde es am

    wirksamsten durch die packende Darstellung eines Mannes tun, der hoffnungslos betrunken

    ist. Ich hebe den Vorhang auf, der schonend über die Fäulnis gebreitet war, und sage: 21

    „Seht!“ – In Deutschland nennt man dergleichen ‚Kraßheit‘. Aber Trunksucht ist ein böses

    Ding, sie schädigt das Volk, und nur schonungslose Wahrheit kann da helfen. [...]

    Übertreibt die Satire? Die Satire muß übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach 24

    ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird, und sie kann gar nicht

    anders arbeiten als nach dem Bibelwort: Es leiden die Gerechten mit den Ungerechten. [...]

    Wir sollten nicht so kleinlich sein. Wir alle – Volksschullehrer und Kaufleute und Professoren 27

    und Redakteure und Musiker und Ärzte und Beamte und Frauen und Volksbeauftragte4 – wir

    alle haben Fehler und komische Seiten und kleine und große Schwächen. Und wir müssen

    nun nicht immer gleich aufbegehren (‚Schlächtermeister, wahret eure heiligsten Güter!‘), 30

    wenn einer wirklich einmal einen guten Witz über uns reißt. Boshaft kann er sein, aber

    ehrlich soll er sein. Das ist kein rechter Mann und kein rechter Stand, der nicht einen

    ordentlichen Puff vertragen kann. Er mag sich mit denselben Mitteln dagegen wehren, er 33

    mag widerschlagen – aber er wende nicht verletzt, empört, gekränkt das Haupt. Es wehte bei

    uns im öffentlichen Leben ein reinerer Wind, wenn nicht alle übel nähmen.

    So aber schwillt ständischer Dünkel zum Größenwahn an. Der deutsche Satiriker tanzt 36

    zwischen Berufsständen, Klassen, Konfessionen und Lokaleinrichtungen einen ständigen

    Eiertanz. Das ist gewiß recht graziös, aber auf die Dauer etwas ermüdend. Die echte Satire

    ist blutreinigend: und wer gesundes Blut hat, der hat auch einen reinen Teint. 39

    Was darf die Satire?

    Alles.

    4 Volksbeauftragte: Volksvertreter, die an Aufträge ihrer Wähler direkt gebunden sind und daher jederzeit abberufen werden

    können.

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    Material 2: Satire (Definition)

    Satire [lat. satira, älter satura, eigtl. „mit versch. Früchten gefüllte Schale“] die, -/-n,

    Literaturgattung, die durch Spott, Ironie, Übertreibung bestimmte Personen, Anschauungen,

    Ereignisse oder Zustände kritisieren oder verächtlich machen will. Sie kann sich mit allen

    literar. Formen verbinden. [...] Wort- und Bild-S. (→ Karikatur) verbinden sich in den im 19.

    Jh. aufkommenden satirischen Zeitschriften.

    Material 3: Stefan Neuhaus. Was darf die Satire? Kurt Tucholsky, Jan

    Böhmermann1 und die Folgen (2016)

    Stefan Neuhaus (*1965) ist Professor für deutsche Literaturwissenschaft.

    […]

    Wenn sich Texte, wie es bei Satiren der Fall ist, auf zeitgeschichtliche Realitäten beziehen,

    dann handelt es sich nach Meinung der Kritiker um zweckgerichtete Texte, also um

    Gebrauchstexte, die in ihrer Zeit verhaftet sind, und demnach nicht um Kunst. Das ist ein 3

    populärer Irrtum, denn Satiren gehören zur Literatur und für Literatur gelten eigene Gesetze.

    Bereits Friedrich Schiller hat erklärt: „In der Satire wird die Wirklichkeit als Mangel dem Ideal

    als der höchsten Realität gegenübergestellt.“2 Die beobachtbare Realität wird an einem Ideal 6

    gemessen und dieses Ideal drückt sich in der Negation, in der ironischen Überzeichnung des

    Gegenteils aus.

    [...]

    Zum Übertreibungsgestus der Satire gehört bereits seit Kurt Tucholsky, dass sie, mit einem 9

    juristischen Begriff gesagt, Personen der Zeitgeschichte der Lächerlichkeit preisgibt, lustvoll

    und ohne Rücksicht auf Tabus. Wichtig ist festzuhalten: Die Herabsetzung bezieht sich nicht

    auf die Person, sondern auf das, wofür sie steht. Die reale Person wird zur literarischen 12

    Figur, zur Repräsentantin des ‚Schlechten‘. Zugleich wird die Herabsetzung mindestens

    doppelt als Literatur, also als Kunst markiert, denn die Satire wird sichtbar durch den

    Tabubruch einerseits und die Komik, mit der dieser Tabubruch geschieht, andererseits. 15

    Allerdings kann man Satire nur dann verstehen, wenn man in der Lage ist, die Rahmungen,

    die die Satire als Satire markieren, zu erkennen und die Komik des Tabubruchs

    wahrzunehmen. 18

    Wer diese beiden basalen Zuordnungsvoraussetzungen nicht kennt, kann Satire nicht ‚lesen‘

    und wird gegen sie opponieren – dies ist allerdings eine gewollte Provokation. Denn die

    1 Jan Böhmermann ist ein deutscher Satiriker, Moderator und Buchautor. Gegen ihn wurde aufgrund eines als Satire gekenn-

    zeichneten Gedichts über den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan von der Regierung der Türkei und

    Erdoğan selbst Strafanzeige erstattet, woraufhin in Deutschland ein Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft eingeleitet wurde. Das Ermittlungsverfahren ist mit der Begründung, dass sich keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine

    strafbare Handlung ergeben hätten, wieder eingestellt worden. Der „Fall Böhmermann“ löste eine heftige Diskussion über Meinungs- und Kunstfreiheit aus. 2 Schiller, Friedrich: Erzählungen. In: Sämtliche Werke. Bd. 5: Theoretische Schriften. Hg. von Gerhard Fricke und Herbert G.

    Göpfert. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 91993, S. 722.

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    Satire wird, insbesondere als politische Satire, immer auch getragen von der aufklärerischen 21

    und postaufklärerischen Absicht, zur Freiheit erziehen zu wollen.

    […]

    Material 4: Erich Mühsam. Wiegenlied (1915)

    Erich Mühsam (1878‒1934, ermordet im Konzentrationslager Oranienburg) war ein

    deutscher Schriftsteller, Anarchist, Pazifist und politischer Aktivist.

    Still, mein armes Söhnchen, sei still.

    Weine mich nicht um mein bißchen Verstand.

    Weißt ja noch nichts vom Vaterland, 3

    daß es dein Leben einst haben will.

    Sollst fürs Vaterland stechen und schießen,

    sollst dein Blut in den Acker gießen, 6

    wenn es der Kaiser befiehlt und will. –

    Still, mein Söhnchen, sei still!

    Trink, mein Söhnchen, von meiner Brust. 9

    Trink, dann wirst du ein starker Held,

    ziehst mit den andern hinaus ins Feld.

    Vater hat auch hinaus gemußt. 12

    Vater ward wider Willen und Hoffen

    von einer Kugel ins Herz getroffen.

    Aus ist nun seine und meine Lust. – 15

    Trink von der Mutter Brust!

    Freu dich, goldiges Söhnchen, und lach.

    Bist du ein Mann einst, kräftig und groß, 18

    wirst du das Lachen von selber los.

    Fröhlich bleibt nur, wer krank ist und schwach.

    Vater war lustig. Ich hab ihn verloren, 21

    hab dann dich unter Schmerzen geboren, –

    hörst drum ewig mein bitteres Ach!

    Freu dich, Söhnchen, und lach! 24

    Schlaf, mein süßes Söhnchen, o schlaf.

    Weißt ja noch nichts von Unheil und Not,

    weißt nichts von Vaters Heldentod, 27

    als ihn die bleierne Kugel traf.

    Früh genug wird der Krieg und der Schrecken

    dich zum ewigen Schlummer erwecken ... 30

    Friede, behüt meines Kindes Schlaf! –

    Schlaf, mein Söhnchen, o schlaf …

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    Material 5: Stefan Sichermann. Neue Satzzeichen sollen Inflation von Frage-

    und Ausrufezeichen im Internet eindämmen!!! (2010)

    Stefan Sichermann (*1980) ist Chefredakteur der Satirezeitschrift Der Postillon, die seit 1845

    existiert.

    Mannheim (dpo) - Jeder weiß, dass in Internet-Chats

    und Blog-Kommentaren derjenige Recht hat, der

    seine Ausführungen durch die meisten Ausrufe- und 3

    Fragezeichen unterstreicht. Um diesem Trend

    entgegenzuwirken und Platz sparen zu helfen, hat der

    in Mannheim ansässige Dudenverlag die deutsche 6

    Sprache nun um zwei neue, stärkere Satzzeichen

    erweitert, die künftig gleich für ganze Gruppen dieser

    Argumentationshilfen stehen sollen: ヤ und ‽. 9

    Das sogenannte „Brüllzeichen“ ヤ soll denselben Wert besitzen wie zehn Ausrufezeichen

    (!!!!!!!!!!) bzw. Einsen (!!!1!!11!!), während das „Interrobang“ ‽ für drei Fragezeichen, zwei

    Ausrufezeichen und noch ein Fragezeichen stehen wird (???!!?). 12

    […]

    „In Zeiten des ,World Wide Web‘ muss sich die Schriftsprache an die geschaffenen

    Realitäten anpassen“, erklärte ein Sprecher des Dudenverlags gegenüber dem Postillon.

    „Außerdem verschwenden Sätze auf Bild.de, in Foren oder auf Twitter wie ,Sarrazin hat 15

    rehct !!!!!!!!!!!!!!!!!!‘, ,Armes Deutschlant!!1!!!!!11!‘ oder ,Was willst du den eigentlich???!!?‘

    wertvollen Webspace. Die neuen Satzzeichen verhindern quasi, dass das Internet

    irgendwann voll ist.“ 18

    Erste Internetreaktionen auf die geplanten Neuerungen reichen von ,Superヤ Endlich, tut sich

    wasヤヤ‘ bis hin zu „Wer glauben die, dass die sind‽‽‽‽‽‽‽‽‽‽‽

    Ich lass mir doch nicht vorschreiben wie ich zu schreiben habeヤヤヤヤヤヤヤヤ“. 21

    Material 6: Satire und Karikatur (Auszug aus einer Rechtsberatung durch eine

    Anwaltskanzlei, 2017)

    […]

    Im Rahmen einer Satire oder einer Karikatur wird bewusst ein Zerrbild der Wirklichkeit

    vermittelt. Es liegt im Wesen einer Satire, dass sie übertreibt. Dem Gedanken, den sie

    ausdrücken will, gibt sie einen scheinbaren Inhalt, der über das wirklich Gemeinte 3

    hinausgeht. Der Leser oder Zuschauer wird in aller Regel jedoch erkennen, welche

    tatsächliche Aussage hinter der Satire steht.

  • Abitur 2019 Deutsch Erhöhtes Anforderungsniveau Seite 11 von 25

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    Darstellungen im Rahmen einer Satire oder einer Karikatur dürfen aus diesem Grund 6

    rechtlich nicht nur vordergründig aufgefasst werden. Es muss zwischen dem Aussagekern

    und seiner humoristisch satirischen Ausgestaltung unterschieden werden. Der Aussagekern

    und die konkrete satirische Ausgestaltung sind jeweils getrennt voneinander rechtlich zu 9

    prüfen. Der Aussagekern ist rechtlich zu bewerten wie andere Äußerungen ebenfalls.

    Die satirische Ausgestaltung genießt hingegen presserechtlich größere Freiheiten.

    Übertreibungen und Verzerrungen […] sind Teil des satirischen Konzeptes. In einer Satire 12

    eine missverständliche Formulierung zu verwenden, ist daher nicht prinzipiell unzulässig.

    Dies gilt besonders für Personen der Zeitgeschichte (Prominente) und Politiker.

    Insbesondere dann, wenn die karikierte Person durch ihr Verhalten selbst Anlass zur Kritik 15

    gegeben hat. Satire und Karikatur in ihrer konkreten Ausgestaltung sind von dem Grundrecht

    der Meinungsäußerungsfreiheit geschützt, gegebenenfalls können sie sogar eine Kunstform

    sein, die durch die Kunstfreiheit grundrechtlich geschützt ist. 18

    Andererseits ist auch das Persönlichkeitsrecht der karikierten Person durch das Grundgesetz

    geschützt. Es ergibt sich also ein rechtliches Spannungsfeld zwischen dem Schutz der

    konkreten Satire und dem Schutz der Persönlichkeit des Betroffenen. Eine rechtlich 21

    zulässige Satire oder Karikatur muss sich also innerhalb dieses Spannungsfeldes bewegen.

    Wenn eine Satire oder eine Karikatur nicht etwas Vorhandenes übertreibt oder überpointiert,

    sondern ohne reale Grundlage in eine vollkommen absurde Richtung zielt, wird in vielen 24

    Fällen das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen schwerer wiegen. Die Satire ist dann

    unzulässig.

    Satire und Karikatur sind auch dann unzulässig, wenn sie die Grenzen des für den 27

    Betroffenen Erträglichen überschreiten. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn sie

    beleidigend sind. Der Betroffene muss es auch nicht dulden, dass er besonders obszön

    karikiert wird oder durch sexuelle Darstellungen gedemütigt wird. Entscheidend ist, ob die 30

    Darstellung auf die persönliche Ehre des Betroffenen abzielt oder auf äußere Umstände wie

    politische Verhältnisse.

    […]

    Material 7: Swen. Satire (2014)

    Silvan Wegmann (*1969) ist ein bekannter Schweizer Karikaturist; er publiziert unter dem

    Kürzel Swen.

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    Material 8: Jesko Friedrich. Was darf Satire? (2009)

    Jesko Friedrich (*1974) ist Autor und Regisseur der Satire-Sendung extra 3 des

    Norddeutschen Rundfunks und tritt dort auch als Darsteller auf.

    […] Satire ist in erster Linie gegen etwas gerichtet, und zwar gegen eine als fehlerhaft und

    schlecht empfundene Wirklichkeit in Form von Personen, Institutionen und Geisteshaltungen.

    Diese werden kritisch mit einem Ideal verglichen, dem sie nicht entsprechen. Der ironische 3

    Humor, mit dem dies oft geschieht, ist dabei nur ein Vehikel, das ohne den kritischen

    Anspruch der Satire zu reiner Komik bzw. Comedy wird.

    Dementsprechend sollte die zentrale Frage an jeden satirischen Beitrag, egal in welchem 6

    Medium, sein: „Wer ist der Feind?“ Oder, wem das zu martialisch klingt: „Wer ist

    verantwortlich für einen (veränderbaren) schlechten Zustand?“ Eine kurze Bemerkung zum

    Ideal, dem die Satire verpflichtet ist: Dieses Ideal kann sich natürlich überall im 9

    demokratischen Spektrum befinden, und so ungerne man gut gemachte Satire des

    politischen Gegners sieht, so wenig dürfte man von vornherein sagen: „Das darf Satire

    nicht“. Was Satire nicht darf, ist, kein Ideal haben. 12

    […]

    Grundsätzlich gilt: Jeder hat das Recht auf satirische Kritik. Christen, Juden, Moslems,

    Behinderte und Behindernde, Frauen, Männer, Intersexuelle – sie alle taugen zum Feind,

    wenn sie ein entsprechendes Fehlverhalten an den Tag legen. Feind-Probleme, die in 15

    meinem Alltag bei extra 3 immer wieder auftreten, sind zum Beispiel:

    a) angeblicher Feind hat bei genauerem Hinsehen Recht

    b) es gibt mehrere Feinde 18

    c) der Feind hat einen zu niedrigen Status

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    Punkt a) führt in der Praxis dazu, dass der Film nicht gemacht wird. An einem gewählten

    Feind festzuhalten, obwohl die Fakten ihn vollständig entlasten, wäre nicht Satire, sondern 21

    Propaganda. In diesem Zusammenhang muss auch gesagt werden, dass Satire eines mit

    Sicherheit nicht darf, und das ist: Fakten verfälschen. Ein zuspitzendes Fokussieren auf die

    Fehler des Feindes darf, ja muss sogar vorgenommen werden. Satire muss wehtun, sonst 24

    bleibt sie wirkungslos. […] Hingegen wäre es aber unredlich, zum Beispiel eine statistische

    Zahlenangabe (Atommüllfässer in der Asse1, getötete Zivilisten im Irak oder Ähnliches)

    kurzerhand zu verdoppeln, um etwa das Fehlverhalten der Verantwortlichen noch deutlicher 27

    herauszustellen. Letztendlich wäre so ein Vorgehen auch kontraproduktiv, da der Satiriker

    selbst angreifbar würde. Hier ist auch ironische Verfremdung, mit der Satire gerne arbeitet,

    keine Entschuldigung: Die Fakten, die ironisch oder in anderer verfremdeter Form präsentiert 30

    werden, müssen trotzdem wahr sein.

    Ein gutes Beispiel für Punkt b) ist der Nahostkonflikt: Das Leiden der palästinensischen

    Zivilbevölkerung und der Terror gegen Israel sind so untrennbar miteinander verbunden, 33

    dass die Fokussierung auf eine der beiden Parteien als satirisch verstandenen „Feind“ oft als

    überzogen parteiisch erscheint. Beide Konfliktparteien als Feinde in einem Beitrag

    funktionieren nicht gut, da das Fehlverhalten der einen Partei dasjenige der anderen 36

    relativiert und begründet, ja sogar teilweise entschuldigt. Sagen wir so: Zwei Feinde sind

    theoretisch möglich und erlaubt, aber lass es lieber.

    Punkt c) konstituiert für mich ein satirisches Tabu. Satire tritt nicht nach unten. Das arme 39

    Würstchen ist nicht der Feind. […]

    [Besonders ärgerlich] ist in diesem Zusammenhang die zum ausschließlichen Zwecke der

    Belustigung veranstaltete, forcierte Verhöhnung Schwächerer, die sich als Satire ausgibt. 42

    Beispiel: Im Jahr 2004 kommentierte Stefan Raab2 das Foto einer jungen türkischen Mutter,

    die die Schultüte für ihr Kind trug, mit dem Satz: „Die Dealer tarnen sich immer besser.“ Vor

    Gericht wollte Raab dies als „zulässige Satire“ verstanden wissen. Gegen diese 45

    Inanspruchnahme muss sich die Satire verwahren. Diese Äußerung ist keine Satire, schon

    gar keine zulässige. Die Frage lautet wie immer: Wer ist der Feind? Junge Mütter? Junge

    Türkinnen? Warum? […] 48

    1 Asse: ehemaliges Salzbergwerk bei Wolfenbüttel, als Atommülllager genutzt

    2 Stefan Raab: deutscher Fernsehmoderator, Entertainer, Unternehmer, Singer-Songwriter, Komponist sowie Fernseh- und

    Musikproduzent; beendete 2015 seine Fernsehkarriere

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    Quellenangaben:

    Material 1: Tucholsky, Kurt: Was darf die Satire? In: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Bd. 2. Hg. von Mary

    Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1975, S. 42-44.

    Material 2: Brockhaus-Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden. Bd. 19. Mannheim: Brockhaus 19

    1992, S. 210.

    Material 3: Neuhaus, Stefan (04.06.2016): Was darf die Satire? Kurt Tucholsky, Jan Böhmermann und die

    Folgen. Zugriff am 24.11.2017 auf http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=2214

    Material 4: Mühsam, Erich: Wiegenlied. In: Gesamtausgabe. Gedichte. Bd. 1. Hg. von Günther Emig. Berlin 1983,

    S. 297 f.

    Material 5: Sichermann, Stefan (04.10.2010): Neue Satzzeichen sollen Inflation von Frage- und Ausrufezeichen

    im Internet eindämmen!!! In: Der Postillon 10 (2010). Zugriff am 24.11.2017 auf http://www.der-

    postillon.com/2010/10/neue-satzzeichen-sollen-internet.html

    Material 6: Kanzlei Schröder: Satire und Karikatur (ohne Jahr). Zugriff am 24.11.2017 auf

    http://www.kanzleischroeder-kiel.de/artikel/oeffentliche-behauptungen/satire-und-karikatur.html

    Material 7: Wegmann, Silvan (2014): Satire. Zugriff am 24.11.2017 auf http://www.swen.ch/?month=201401

    Material 8: Friedrich, Jesko (2009): Was darf Satire? In: ARD Jahrbuch 2009. Zugriff am 24.11.2017 auf

    www.ndr.de/fernsehen/sendungen/extra_3/wir_ueber_uns/wasdarfsatire100.html

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    Block III

    A Walter Hasenclever: Der Sohn (Textauszug)

    B Franz Kafka: Brief an Julie und Hermann Kafka

    1. Interpretieren Sie den Textauszug aus Walter Hasenclevers Drama „Der Sohn“.

    2. Vergleichen Sie beide Textauszüge unter ausgewählten Aspekten.

    Der Schwerpunkt liegt auf der ersten Aufgabe.

    Walter Hasenclever (1890 – 1940): Der Sohn (Textauszug)

    Erster Akt

    Erste Szene

    Das Zimmer des Sohnes im elterlichen Hause. In der Mittelwand ein großes Fenster mit

    Ausblick in den Park; fern die Silhouette der Stadt: Häuser, ein Fabrikschornstein.

    Im Zimmer die mäßige Eleganz eines angesehenen Bürgerhauses. Möbel in Eichenholz: die 3

    Ausstattung eines Studierzimmers; Bücherschränke, Arbeitstisch, Stühle, Landkarte. Türe

    rechts und links. Die Stunde vor der Dämmerung.

    Der Sohn. Der Hauslehrer. 6

    DER SOHN Ich bin 20 Jahre alt und könnte am Theater sein oder in Johannisburg

    Viadukte bauen. Weshalb muß es an der Formel für den abgestumpften Kegel scheitern!

    Alle Professoren waren mir gewogen, sogar der Direktor sagte mir vor. Ich hätte die 9

    Aufgabe glänzend gelöst – wäre ich nicht im letzten Augenblick geflohn. Ich glaube, es gibt

    etwas, das zwingt uns zum Schmerz. Ich hätte die Freiheit nicht ertragen. Vielleicht werde

    ich niemals ein Held. 12

    DER HAUSLEHRER Sie haben also die Matura nicht bestanden. Wie oft habe ich mit

    Ihnen hier an diesem Tische gesessen und mit Ihnen die Formeln gepaukt. Habe ich Ihnen

    denn nicht erklärt, daß man den kleinen vom großen Kegel subtrahiert! Antworten Sie! 15

    DER SOHN Ja, Herr Doktor. Sie haben es mir erklärt. Ich verstehe Ihren Schmerz. Sie

    sind traurig, weil dieser Kegel in der Welt ist. Glauben Sie mir, ich bin es nicht mehr! Mir

    fehlt sogar die vergängliche Pose, die sich noch unter Tränen verhöhnt. Sie werden sagen, 18

    ich sei ein Schwächling oder ein Schurke. […]

    DER HAUSLEHRER Wir hätten in den letzten Tagen nicht so viel arbeiten sollen. Ihr

    Zustand ist begreiflich. Sie stehn unter einer seelischen Depression. 21

    DER SOHN Ich glaube, die Seele der Menschen ist nicht so einfach. Dieser Tag ist ein

    Erlebnis. Meine Sehnsucht, frei zu werden, war zu groß. Sie war stärker als ich, deshalb

    konnte ich sie nicht erfüllen. Ich habe zu viel empfunden, um noch Mut zu haben. Ich bin an 24

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    mir selber verblutet. Ich werde wohl niemals die Kraft haben, das zu tun, wofür ich da bin.

    Jetzt sehen Sie ein, daß ich die Matura nicht bestehen konnte: ich wäre an irgend etwas

    zugrunde gegangen. 27

    DER HAUSLEHRER Beruhigen Sie sich. Es ist nicht so schlimm.

    DER SOHN Ich danke Ihnen. Sie sind gut zu mir. Man wird Sie davonjagen, weil ich ein

    Idiot bin. 30

    DER HAUSLEHRER Ich wollte, ich könnte Ihnen helfen.

    DER SOHN Mein Vater wird dafür sorgen, daß es nicht geschieht.

    DER HAUSLEHRER Wie werden Sie es ihm sagen? 33

    DER SOHN Bitte telegraphieren Sie ihm, Sie wissen seine Adresse. Es ist mir

    unmöglich, das selber zu tun. Ich fürchte seinen Zorn nicht, doch ich leide an jedem

    Menschen und an jeder Straße. Ich bin gedemütigt durch jede Existenz, die meine 36

    Sehnsucht nach ihr verringert. […]

    DER HAUSLEHRER Ich möchte Ihnen etwas sagen. – Seien Sie nicht bekümmert

    meinetwegen, wenn Ihr Vater mich nach Ihrem Durchfall entläßt … 39

    DER SOHN schnell Sie haben Familie und müssen sorgen. Ich bin schuld, wenn Sie

    unser Haus verlassen. Das tut mir leid.

    DER HAUSLEHRER Das soll Ihnen nicht leid tun! Denken Sie an sich. Wenn ich auch nur 42

    Ihr Hauslehrer bin – glauben Sie mir – ich liebe Sie trotzdem!

    DER SOHN ergreift seine Hände Mein alter Freund, ich wußte es, daß Sie mich

    lieben. Eines Tages, wenn ich geerbt habe, will ich Sie einladen auf eine Reise nach Paris 45

    oder Hindostan. Dann werden wir in den Louvre gehn und mit arabischen Mädchen

    soupieren. Die Erde, die uns trennt, ist nicht so groß! Auch für Sie leben die Götter Homers

    und Schillers Lied an die Freude. 48

    DER HAUSLEHRER Was werden Sie jetzt tun?

    DER SOHN Vielleicht einen Monolog halten. Ich muß mich aussprechen mit mir. Sie

    wissen, daß man sonst diese Mode verachtet. Ich habe es niemals als schimpflich 51

    empfunden, vor meinem eignen Pathos zu knien, denn ich weiß, wie bitterernst meine

    Freude und mein Schmerz ist. Seit meiner frühesten Kindheit hab ich gelernt, die

    Einsamkeit um mich her zu begeistern, bis sie in Tönen zu mir sprach. Noch heute kann ich 54

    in den Garten gehn und vor etwaigen Bäumen eine Symphonie dirigieren und mein eigner

    Tenor sein … Kennen Sie das Gefühl nicht?

    DER HAUSLEHRER bescheiden Wir wohnen auf einer Etage. 57

    DER SOHN Wenn sie Beifall rufen und man sich verbeugen muß mit einer Nelke im

    Knopfloch …

    DER HAUSLEHRER Wer ruft denn? 60

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    DER SOHN Die Leute, die nicht da sind! Begreifen Sie doch, Mensch: man lebt ja nur in

    der Ekstase; die Wirklichkeit würde einen verlegen machen. Wie schön ist es, immer wieder

    zu erleben, daß man das Wichtigste auf der Welt ist! 63

    DER HAUSLEHRER Was soll ich Ihrem Vater telegraphieren?

    DER SOHN Schonen Sie ihn nicht: er haßt mich! Ich weiß, er wird rasen. Ich bin feige,

    sonst würde ich lügen, man habe mich von der Schule gejagt, daß um eine Stunde seine 66

    Wut sich vergrößert. Telegraphieren Sie ihm alles, was Sie wollen – nur nicht, daß Sie mich

    lieben.

    DER HAUSLEHRER Ich verstehe Ihren Vater nicht. 69

    DER SOHN Wenn Sie selber einmal Vater sind, werden Sie genau so wie er. Der Vater –

    ist das Schicksal für den Sohn. Das Märchen vom Kampf des Lebens gilt nicht mehr: im

    Elternhaus beginnt die erste Liebe und der erste Haß. 72

    DER HAUSLEHRER Aber sind Sie nicht der Sohn?

    DER SOHN Ja, deshalb bin ich im Recht! Das kann keiner verstehn außer mir. Später

    verliert man die Balance mit sich in dieser Zeit. Lieber Doktor: vielleicht werden wir uns 75

    nicht wiedersehn. Hören Sie noch einen blutenden Rat aus meinem Herzen: wenn Sie

    jemals einen Sohn haben, setzen Sie ihn aus oder sterben Sie vor ihm. Denn der Tag

    kommt, wo Sie Feinde sind, Sie und Ihr Sohn. Dann gnade Gott dem, der unterliegt. 78

    DER HAUSLEHRER Lieber Freund, wir werden uns allesamt in dieser Welt verirren.

    Weshalb wollen Sie so grausam sein! Gehen Sie doch auf die Straße, und sehen Sie ein

    Tier an, das vor dem Donner erschrickt. Wissen Sie, wie hungrigen Mädchen zumute ist, 81

    und sind Sie einmal einem Krüppel begegnet, der morgens um 6 Uhr Brot holt? Dann

    werden Sie dankbar sein, einen Vater zu haben. Jedem von uns geschieht Unrecht, und

    jeder tut Unrecht. Wer wirft den ersten Stein! Ich war ein armer Hund, und mein Vater hat 84

    für mich gearbeitet. Ich habe gesehn, wie er gestorben ist. Und ich habe geweint. Wer das

    erlebt hat, der richtet nicht mehr.

    DER SOHN Wer hilft mir, wenn ich traurig bin? Glauben Sie, ich kann einschlafen jeden 87

    Abend, wenn ich schlafen muß? Glauben Sie, ich wüßte nicht, wie weh es tut, wenn man

    am Sonntag nicht aus dem Hause darf, wo doch jedes Dienstmädchen zum Tanze geht?

    Mein Vater wird niemals dulden, daß jemand auf der Welt mein Freund ist. Ich habe die 90

    Süßigkeit eines ärmsten Bewohners noch nie gekostet. Und weshalb redet er nicht mit mir

    über Gott? Weshalb spricht er nicht von Frauen? Weshalb muß ich heimlich Kant lesen, der

    mich nicht begeistert? Und weshalb dieser Hohn über alles, was doch weltlich ist und 93

    schön? Glauben Sie, es genügt, wenn er mir manchmal am Abend das Sternbild des

    großen Bären zeigt? Er sitzt mit seiner Zigarre unten auf der Terrasse, wenn längst kein

    Automobil mehr in die Stadt fährt. Aber ich stehe oben und kämpfe mit allen Göttern und 96

    sterbe vor einer Frau, die ich noch nicht kenne. Wie oft bin ich des Nachts im Hemd über

    die Stiegen gewandelt, sehnsüchtig wie ein Geist, der keine Ruhe findet.

    DER HAUSLEHRER Hätten Sie noch eine Mutter, Ihnen wäre wohl. 99

    DER SOHN Meine Mutter starb bei meiner Geburt. Ich weiß nichts von ihr. […]

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    (1916)

    Walter Hasenclever: Sämtliche Werke, Band 2. Stücke. 1. Bis 1924. Mainz 1992, S.235-239.

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    Franz Kafka (1883 – 1924): Brief an Julie und Hermann Kafka

    Nr. 22: An Julie und Hermann Kafka

    [Marielyst1, Juli 1914]

    … Insoferne aber bin ich mit Berlin nicht fertig, als ich glaube, daß mich diese ganze Sache

    zu eurem und zu meinem Wohle (denn die sind ganz gewiß eines) hindert, so weiter zu

    leben wie bisher. Seht, ein wirklich schweres Leid habe ich euch vielleicht noch nicht 3

    gemacht, es müßte denn sein, daß diese Entlobung2 ein solches ist, von der Ferne kann ich

    es nicht so beurteilen. Aber eine wirkliche dauernde Freude habe ich euch noch viel weniger

    gemacht und das, glaubt mir, nur aus dem Grunde, weil ich selbst mir diese Freude nicht 6

    dauernd machen konnte. Warum das so ist, wirst gerade Du, Vater, obwohl Du das

    Eigentliche, was ich will, nicht anerkennen kannst, am leichtesten verstehn. Du erzählst

    manchmal, wie schlecht es Dir in Deinen ersten Anfängen gegangen ist. Glaubst Du nicht, 9

    daß das eine gute Erziehung zur Selbstachtung und Zufriedenheit war? Glaubst Du nicht,

    übrigens hast Du es auch schon geradezu gesagt, daß es mir zu gut gegangen ist? Ich bin

    bis jetzt durchaus in Unselbständigkeit und äußerlichem Wohlbehagen aufgewachsen. 12

    Glaubst Du nicht, daß das für meine Natur gar nicht gut gewesen ist, so gütig und lieb es

    auch von allen war, die dafür sorgten? Gewiß es gibt Menschen, die sich ihre Selbständigkeit

    überall zu sichern verstehn, ich gehöre aber nicht zu ihnen. Allerdings gibt es auch 15

    Menschen, die ihre Unselbständigkeit nirgends verlieren, aber nachzuprüfen, ob ich zu

    diesen doch nicht gehöre, scheint mir kein Versuch zu schade. Auch der Einwand, daß ich

    zu einem solchen Versuch zu alt bin, gilt nicht. Ich bin jünger, als es den Anschein hat. Es ist 18

    die einzig gute Wirkung der Unselbständigkeit, daß sie jung erhält. Allerdings nur dann, wenn

    sie ein Ende nimmt.

    Im Bureau werde ich aber diese Besserung niemals erreichen können. Überhaupt in Prag 21

    nicht. Hier ist alles darauf angelegt, mich, den im Grunde nach Unselbständigkeit

    verlangenden Menschen, darin zu erhalten. Es wird mir alles so nahe angeboten. Das

    Bureau ist mir sehr lästig und oft unerträglich, aber im Grunde doch leicht. Ich verdiene auf 24

    diese Weise mehr als ich brauche. Wozu? Für wen? Ich werde auf der Gehaltsleiter

    weitersteigen. Zu welchem Zweck? Mir ist diese Arbeit nicht entsprechend und bringt sie mir

    nicht einmal Selbständigkeit als Lohn, warum werfe ich sie nicht weg? Ich habe nichts zu 27

    riskieren und alles zu gewinnen, wenn ich kündige und von Prag fortgehe. Ich riskiere nichts,

    denn mein Leben in Prag führt zu nichts Gutem. Ihr vergleicht mich manchmal zum Spaß mit

    Onkel R. Aber gar zu weit führt mich mein Weg von ihm nicht ab, wenn ich in Prag bleibe. Ich 30

    werde voraussichtlich mehr Geld, mehr Interessen und weniger Glauben haben als er, ich

    werde dementsprechend unzufriedener sein, vielmehr Unterschiede wird es kaum geben. –

    Ich kann außerhalb Prags alles gewinnen, das heißt ich kann ein selbständiger ruhiger 33

    Mensch werden, der alle seine Fähigkeiten ausnützt und als Lohn guter und wahrhaftiger

    Arbeit das Gefühl wirklichen Lebendigseins und dauernder Zufriedenheit bekommt. Ein

    solcher Mensch wird sich – es wird nicht der kleinste Gewinn sein – auch zu euch besser 36

    stellen. Ihr werdet einen Sohn haben, dessen einzelne Handlungen ihr vielleicht nicht billigen

    1 Marielyst: dänisches Ostseebad

    2 Entlobung: Anspielung auf die Lösung des Verlöbnisses mit Felice Bauer am 12.07.1914

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    werdet, mit dem ihr aber im Ganzen zufrieden sein werdet, denn ihr werdet euch sagen

    müssen: ›Er tut, was er kann.‹ Dieses Gefühl habt ihr heute nicht, mit Recht. 39

    Die Ausführung meines Planes denke ich mir so: Ich habe fünftausend Kronen. Sie

    ermöglichen mir, irgendwo in Deutschland in Berlin oder München zwei Jahre, wenn es sein

    muß, ohne Geldverdienst zu leben. Diese zwei Jahre ermöglichen mir, literarisch zu arbeiten 42

    und das aus mir herauszubringen, was ich in Prag zwischen innerer Schlaffheit und äußerer

    Störung in dieser Deutlichkeit, Fülle und Einheitlichkeit nicht erreichen könnte. Diese

    literarische Arbeit wird es mir ermöglichen, nach diesen zwei Jahren von eigenem Verdienst 45

    zu leben und sei es auch noch so bescheiden. Sei es aber auch noch so bescheiden, es wird

    unvergleichlich sein zu dem Leben, das ich jetzt in Prag führe und das mich dort für

    späterhin erwartet. Ihr werdet einwenden, daß ich mich in meinen Fähigkeiten und in der 48

    durch diese Fähigkeiten zu bildenden Erwerbsmöglichkeit täusche. Gewiß, das ist nicht

    ausgeschlossen. Nur spricht dagegen, daß ich einunddreißig Jahre alt bin und derartige

    Täuschungen in einem solchen Alter nicht in Rechnung gezogen werden können, sonst wäre 51

    jedes Rechnen unmöglich, ferner spricht dagegen, daß ich schon einiges, wenn auch wenig,

    geschrieben habe, das halbwegs Anerkennung gefunden hat, endlich aber wird der Einwand

    dadurch aufgehoben, daß ich durchaus nicht faul und ziemlich bedürfnislos bin und daher, 54

    wenn auch eine Hoffnung mißlingen sollte, eine andere Erwerbsmöglichkeit finden und

    jedenfalls euch nicht in Anspruch nehmen werde, denn das wäre allerdings sowohl in der

    Wirkung auf mich als auf euch noch viel ärger als das gegenwärtige Leben in Prag, ja es 57

    wäre gänzlich unerträglich.

    Meine Lage scheint mir danach klar genug zu sein, und ich bin begierig, was ihr dazu sagen

    werdet. Denn wenn ich auch die Überzeugung habe, daß es das einzig Richtige ist und daß 60

    ich, wenn ich die Ausführung dieses Planes versäume, etwas Entscheidendes versäume, –

    so ist es mir doch natürlich sehr wichtig zu wissen, was ihr dazu sagt.

    Mit den herzlichsten Grüßen Euer Franz 63

    (1914)

    Franz Kafka: Briefe an Ottla und die Familie. Fischer Taschenbuchverlag. Frankfurt am Main 2011, S. 22-24.

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    Block IV

    A Ludwig Tieck: Wonne der Einsamkeit

    B Erich Kästner: Kleines Solo

    1. Interpretieren Sie das Gedicht „Wonne der Einsamkeit“ von Ludwig Tieck.

    2. Vergleichen Sie die Gestaltung des Themas Einsamkeit in den Gedichten „Wonne

    der Einsamkeit“ von Ludwig Tieck und „Kleines Solo“ von Erich Kästner.

    Berücksichtigen Sie dabei sowohl inhaltliche als auch formal-sprachliche Aspekte.

    Der Schwerpunkt liegt auf der ersten Aufgabe.

    Ludwig Tieck (1773 – 1853): Wonne der Einsamkeit

    O holde Einsamkeit,

    O süßer Waldschatten,

    Ihr grüne Wiesen, stille Matten1 , 3

    Bei euch nur wohnt die Herzensfreudigkeit.

    Ihr kleinen Vögelein

    Sollt immer meine Gespielen sein, 6

    Ziehende Schmetterlinge,

    Sind meiner Freundschaft nicht zu geringe.

    Unbefangen 9

    Zieht ihr des Himmels blaue Luft,

    Der Blumen Duft

    In euch mit sehnendem Verlangen. 12

    Ihr baut euch euer kleines Haus,

    Haucht in den Zweigen Gesänge aus

    Von Himmels-Ruhe rings umfangen. 15

    Weit! weit!

    Liegst du Welt hinab,

    Ein fernes Grab. 18

    O holde Einsamkeit!

    1 Matten: Bergwiesen

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    O süße Herzensfreudigkeit!

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    Kommt ihr Beengten 21

    Herzbedrängten,

    Entfliehet, entreißt euch der Quaal,

    Es beut2 die gute Natur, 24

    Der freundliche Himmel,

    Den hohen gewölbten Saal,

    Mit Wolken gedeckt, die grüne Flur: 27

    Entflieht dem Getümmel!

    O holde Einsamkeit!

    O süße Freudigkeit! 30

    (1802)

    Tieck, Ludwig: Wonnen der Einsamkeit. In: Ludwig Tieck. Schriften in zwölf Bänden. Hg. von Manfred Frank,

    Achim Hölter u. a., Bd. 7: Gedichte. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1995, S. 471.

    Die Rechtschreibung und die Einzüge am Strophenanfang entsprechen der Textquelle.

    2 beut: bietet

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    Erich Kästner (1899 – 1974): Kleines Solo

    Einsam bist du sehr alleine.

    Aus der Wanduhr tropft die Zeit.

    Stehst am Fenster. Starrst auf Steine. 3

    Träumst von Liebe. Glaubst an keine.

    Kennst das Leben. Weißt Bescheid.

    Einsam bist du sehr alleine – 6

    und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.

    Wünsche gehen auf die Freite1.

    Glück ist ein verhexter Ort. 9

    Kommt dir nahe. Weicht zur Seite.

    Sucht vor Suchenden das Weite.

    Ist nie hier. Ist immer dort. 12

    Stehst am Fenster. Starrst auf Steine.

    Sehnsucht krallt sich in dein Kleid.

    Einsam bist du sehr alleine – 15

    und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.

    Schenkst dich hin. Mit Haut und Haaren.

    Magst nicht bleiben, wer du bist. 18

    Liebe treibt die Welt zu Paaren.

    Wirst getrieben. Mußt erfahren,

    daß es nicht die Liebe ist ... 21

    Bist sogar im Kuß alleine.

    Aus der Wanduhr tropft die Zeit.

    Gehst ans Fenster. Starrst auf Steine. 24

    Brauchtest Liebe. Findest keine.

    Träumst vom Glück. Und lebst im Leid.

    Einsam bist du sehr alleine – 27

    und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.

    (1947)

    1 auf Freite gehen: auf Brautschau gehen, sich eine Frau suchen; allgemeiner: um jemanden werben

  • Abitur 2019 Deutsch Erhöhtes Anforderungsniveau Seite 25 von 25

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    Kästner, Erich: Kleines Solo. In: Erich Kästner. Werke. Hg. von Franz Josef Görtz. Bd. II: Wir sind so frei.

    Chanson, Kabarett, Kleine Prosa. München, Wien: Carl Hanser Verlag 1998, S. 152.

    Die Rechtschreibung und die Einzüge in der 1., 3. und 4. Strophe entsprechen der Textquelle.