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Mediale Resonanz zur Neuerscheinung bei Spector Books: Axel Doßmann / Susanne Regener Fabrikation eines Verbrechers Der Kriminalfall Bruno Lüdke als Mediengeschichte, Leipzig 2018. 332 Seiten, 386 Abb., davon 87 in Farbe, EUR 38,00 Fabrikation eines Verbrechers schöpft die Potentiale des wissenschaftlichen Buches neu aus. Es ist eine spannende Spurensuche, ein Fotobuch, eigentlich ein Kunstprojekt und nicht zuletzt ein Lehrbuch für historische Forschung. / Ulrike Schmitzer, ORF 1 Der Massenmörder, der keiner war: Wie hartnäckig sich Falschmeldungen halten können, zeigt der Fall Bruno Lüdke. In der NS- Zeit machte die Polizei den Berliner für über 50 Frauenmorde verantwortlich. Erst Jahrzehnte später wurde der Fall genau untersucht. / Winfried Sträter, Deutschlandfunk Kultur Ein Fall von Sozialrassismus. [...] Damit Leser sich selbst ein Bild machen können, enthält das Buch viele Quellen wie Tatortfotos, Verhörprotokolle, Geheimdokumente, Filmplakate sowie Zeitschriftenartikel der 1950er Jahre. / Franziska Schubert, Frankfurter Rundschau Eine Vielzahl von Dokumenten lädt zum Stöbern ein, Bilder machen plastisch, wie ein Monster fabriziert wird, der gesamte Aufbau motiviert gerade jüngere dazu, Quellen kritisch zu betrachten. / Harald Ries, Westfalenpost In angenehm knappen, gut lesbaren Studien untersuchen sie Bilder und Dokumente [...], in denen das Faszinosum des angeblichen Serienkillers bis in die Gegenwart mit rassistischen Subtexten weiterwirkt. [...] Die Akte Bruno Lüdke ist längst ein Paradigma, an dem sich 80 Jahre deutscher Kultur- und Mediengeschichte aus unterschiedlichsten Perspektiven aufblättern lässt. / Claudia Lenssen, die tageszeitung Ihre Kommentare verstehen die beiden Wissenschaftler ausdrücklich als Einladung zum Weiterdenken – und zum Widerspruch. / Mirko Krüger, Thüringer Allgemeine Man kann diesen akribischen Band als Beitrag zur Archäologie des Postfaktischen lesen und die Parallelen zu gegenwärtigen Fake-News- Karrieren kaum übersehen. / Ronald Düker, DIE ZEIT Spannend wie ein Krimi, und nach der Lektüre dieses Buches werden wir alle neuen Krimis mit ganz anderen Augen lesen. / Gabriele Haefs, www.kriminetz.de

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Mediale Resonanz zur Neuerscheinung bei Spector Books:

Axel Doßmann / Susanne Regener Fabrikation eines Verbrechers Der Kriminalfall Bruno Lüdke als Mediengeschichte, Leipzig 2018. 332 Seiten, 386 Abb., davon 87 in Farbe, EUR 38,00

Fabrikation eines Verbrechers schöpft die Potentiale des wissenschaftlichen Buches neu aus. Es ist eine spannende Spurensuche, ein Fotobuch, eigentlich ein Kunstprojekt und nicht zuletzt ein Lehrbuch für historische Forschung. / Ulrike Schmitzer, ORF 1

Der Massenmörder, der keiner war: Wie hartnäckig sich Falschmeldungen halten können, zeigt der Fall Bruno Lüdke. In der NS-Zeit machte die Polizei den Berliner für über 50 Frauenmorde verantwortlich. Erst Jahrzehnte später wurde der Fall genau untersucht. / Winfried Sträter, Deutschlandfunk Kultur

Ein Fall von Sozialrassismus. [...] Damit Leser sich selbst ein Bild machen können, enthält das Buch viele Quellen wie Tatortfotos, Verhörprotokolle, Geheimdokumente, Filmplakate sowie Zeitschriftenartikel der 1950er Jahre. / Franziska Schubert, Frankfurter Rundschau Eine Vielzahl von Dokumenten lädt zum Stöbern ein, Bilder machen plastisch, wie ein Monster fabriziert wird, der gesamte Aufbau motiviert gerade jüngere dazu, Quellen kritisch zu betrachten. / Harald Ries, Westfalenpost In angenehm knappen, gut lesbaren Studien untersuchen sie Bilder und Dokumente [...], in denen das Faszinosum des angeblichen Serienkillers bis in die Gegenwart mit rassistischen Subtexten weiterwirkt. [...] Die Akte Bruno Lüdke ist längst ein Paradigma, an dem sich 80 Jahre deutscher Kultur- und Mediengeschichte aus unterschiedlichsten Perspektiven aufblättern lässt. / Claudia Lenssen, die tageszeitung Ihre Kommentare verstehen die beiden Wissenschaftler ausdrücklich als Einladung zum Weiterdenken – und zum Widerspruch. / Mirko Krüger, Thüringer Allgemeine Man kann diesen akribischen Band als Beitrag zur Archäologie des Postfaktischen lesen und die Parallelen zu gegenwärtigen Fake-News-Karrieren kaum übersehen. / Ronald Düker, DIE ZEIT Spannend wie ein Krimi, und nach der Lektüre dieses Buches werden wir alle neuen Krimis mit ganz anderen Augen lesen. / Gabriele Haefs, www.kriminetz.de

16 kultur donnerstag, 26. juli 2018 taz 🐾

Schwarzhumorige Zukunft: „Hotel Artemis“ lässt Jodie Foster als Leiterin einer Klinik für besondere Bedürfnisse gekonnt alt aussehen

Wo Gangster ihre Wunden lecken

Von Tim Caspar Boehme

Die Horror- und Science-Fiction-Filme dieser Tage können sich vor allem auf den Zerfall von Gesell-schaft und Zivilisationserrunge-schaften einigen. Fast schon obses-siv werden „letzte Menschen“ als Protagonisten durch die Ruinen der Wohlstandsgesellschaft geschickt, wo sie sich gegen ihre Artgenossen oder Bedrohungen anderer Art zur Wehr setzen müssen. Fast immer suchen sie Zuflucht. Kein Wunder bei der Weltlage.

Zuflucht suchen auch die Figu-ren in „Hotel Artemis“. Der spielt zehn Jahre in der Zukunft, kann daher als Science-Fiction durch-gehen, ist aber in erster Linie eine sehr schwarzhumorige Gangster-komödie um die titelgebende Ins-titution. Gleich zu Beginn wird an-gedeutet, dass es um den sozialen Zusammenhalt im Los Angeles von

2028 nicht gut bestellt ist. Entwick-lungen wie die Privatisierung von Trinkwasser sorgen auf den Stra-ßen für Unruhen. Währenddessen suchen im Hotel Artemis verletzte Verbrecher Unterschlupf, um sich die dringend benötigte ambulante Behandlung zukommen zu lassen. Unter der professionellen Leitung der „Schwester“ (Jodie Foster) kön-nen sich die Gäste eines diskreten Service erfreuen.

Viel mehr braucht man eigent-lich von der Handlung kaum zu wissen: Ein Bruderpaar kommt nach einem misslungenen Über-fall ins Hotel, der eine schwebt in Lebensgefahr, der andere, Waikiki (cool: Sterling K. Brown), ist mit dem Schrecken davongekommen. In der Lobby trifft Waikiki auf seine alte Bekannte Nice (cooler: Sofia Bou-tella), die bloß eine leichte Schuss-wunde im Arm aufweist und bald durchblicken lässt, dass sie in der

Klinik einen Auftrag zu erfüllen hat. Nach und nach füllt sich der Laden, besonders die Ankündigung, der „Wolf King“ (Jeff Goldblum) sei auf dem Weg ins Hotel, sorgt für Auf-regung.

Der britische Drehbuchautor und Produzent Drew Pearce legt mit „Hotel Artemis“, für das er die Geschichte selbst geschrieben hat, sein Regiedebüt vor. Wovon er alle-mal etwas versteht, ist die Inszenie-rung des Orts der Handlung – tat-sächlich spielen fast alle Szenen in-nerhalb des Hotels. Und das kann mit hübsch heruntergewirtschafte-tem Art-déco-Design überzeugen, in dem kleine Gadgets wie futuris-tisch gestaltete interaktive Kom-munikationsboxen und auf Zuruf sich zuschaltende Screens in den Räumen die nötigen technischen Details liefern, um die Zukunft als solche kenntlich zu machen. Was Pearce ebenfalls gut gelingt, sind

die Dialoge. Zwischen fast allen Beteiligten, zu nennen wäre etwa noch der Assistent der Schwester, der muskel- und tattoobewehrte Everest (schlagfertig: Dave Bautista) oder der dauernörgelnde, rassisti-

sche Gast Acapulco (Charlie Day), gibt es Sticheleien, Kräftemessen und Drohungen, stets mit gut plat-zierter Situationskomik und Sinn fürs Makabre.

Vor allem aber lässt Pearce seine Hauptdarstellerin Jodie Foster ein-

fach sehr gut alt aussehen. Diese pragmatisch-abgebrühte Schwester kann scheinbar nichts umhauen, dass sie ihre tiefen Ringe unter den Augen aber einigen ernsten Sorgen und Verletzungen verdankt, macht Foster mit zunehmend nervösem Spiel mehr und mehr deutlich.

Foster hält die leicht selbstver-liebte Angelegenheit denn auch maßgeblich zusammen. Das durch den Einsatz von Handfeuer- und an-deren Waffen geprägte Finale, auf das der Film mit geringfügigen Um-leitungen hinsteuert, wirkt letzt-lich ebenso unmotiviert wie das persönliche Drama der Schwester, das Pearce nach und nach in Rück-blenden andeutet. Am Ende wird es ein mit Tempo dargebotener derber Spaß gewesen sein.

„Hotel Artemis“. Regie: Drew Pearce. Mit Jodie Foster, Sterling K. Brown u. a. USA 2018, 94 Min.

Von Claudia Lenssen

„Kommen Sie mal mit zum Poli-zeipräsidium.“ Kommissar Franz will Bruno Lüdke verhaften, den er für einen gesuchten Frauen-mörder und bald den schlimms-ten Serienkiller des deutschen Reiches hält. Lüdke wird in Ro-bert Siodmaks Film noir „Nachts wenn der Teufel kam“ von Mario Adorf verkörpert. Der Typ mit kräftiger Statur, Schiebermütze und Berliner Zungenschlag ist ein Gelegenheitsdieb, aber kein Verbrecher. In der Szene weiß er sich zur Wehr zu setzen, bis ihn der Kommissar niederboxt und einsperrt.

Lüdke gerät in Siodmaks Film noir zwischen die Räder der NS-Diktatur. „Nachts wenn der Teu-fel kam“ setzte sich 1957 nach ei-nem authentischen Fall aus den Kriegsjahren mit der rassisti-schen Biopolitik der Nazis ausei-nander. Der Kommissar erklärt seine suggestiven Verhörfra-gen fleißig zu Wahrheitsbewei-sen und verteidigt sein Konst-rukt, mit Brunos konfusen Ge-ständnissen 84 Mordfälle im deutschen Reich ermittelt zu haben. Die SS in Gestalt eines zynischen Gruppenführers will mit dem „geistig minder-bemittelten“ Täter ihre Politik des Massenmords an all jenen

Das Buch „Fabrikation eines Verbrechers – Der Kriminalfall Bruno Lüdke als Mediengeschichte“ zeigt auf, wie während der NS-Zeit aus einem Gelegenheitsdieb ein minderwertiger Serienkiller gemacht wurde – und wie der Fall später ein Stück Mediengeschichte abbildet

Die Akte Bruno Lüdke

Jeff Goldblum und Jodie Foster in „Hotel Artemis“ Foto: Concorde

Wovon Drehbuchautor und Erstlingsregisseur Drew Pearce allemal etwas versteht, ist die Inszenierung des Orts der Handlung

Mario Adorf in der Rolle des Bruno LüdkeFoto: Akademie der Künste Berlin

der wohliges Gruseln bei. In der Münchener Illustrierten er-schien die schaurig aufgepeppte Geschichte Lüdkes, deren vielsa-genden Titel „Nachts wenn der Teufel kam“ Robert Siodmaks Produzentin für den Film ent-lieh.

Schon 1950 griff Rudolf Aug-stein die spektakuläre Story im Spiegel auf und stützte sich da-für auf Material ehemaliger Kri-minalisten. Diese Lobby hatte ein Interesse daran, die Behörde hinter Kommissar Franz als po-litisch neutrales Spitzenperso-nal darzustellen, das unabhän-gig von nazistischer Biopolitik und Euthanasie ermittelte, ent-lastet genug, in den Beamten-status der Kriminalpolizei über-nommen zu werden.

Dass Bruno Lüdke nie der Pro-zess gemacht worden war und er 1944 in Wien in einem Son-dergefängnis der obersten Nazi-Kriminalbehörde bei medizini-schen Experimenten auf ewig verschwand, machte nieman-den stutzig.

Axel Doßmann, Susanne Regener: „Fabrikation eines Verbrechers – Der Kriminalfall Bruno Lüdke als Medienge-schichte“. Spector Books, Leipzig 2018, 332 Seiten, 38 Euro

legitimieren, die ihrer wahnhaf-ten Idee der Züchtung einer eli-tären Herrenrasse im Weg ste-hen. Am Ende wird der wahre Mörder liquidiert und Lüdke zum Verschwinden gebracht: Die öffentliche Verhandlung der Morde wäre ein propagandisti-sches Debakel geworden, denn im faschistischen Ordnungs-staat hätten solche Verbrechen nicht geschehen dürfen – Siod-maks böse, makabre Anspielung auf die ungeheuerliche Dimen-sion der tatsächlichen Massen-morde, die das deutsche Kino-publikum gern verdrängte.

Rassistischer WortschatzLüdkes Geschichte traf auf per-verse Weise den Nerv der Zeit. Das Drehbuch zu Siodmaks Film griff auf Klischees zurück, in denen rassistische Muster wiederauflebten. „Nachts wenn der Teufel kam“ fußte auf po-pulären Kolportagen, die den Fall in den 1950er Jahren pro-minent bekannt machten. Ei-nerseits ging es da um ein un-schuldiges Opfer der Nazis, als das sich die Deutschen nur zu gern selbst sahen, andererseits wurde der Verdächtigte in den mit tendenziösen Polizeifotos gespickten Schauergeschichten in einer Schreibe dargestellt, die an den rassistischen Wortschatz

der Nazis anschloss, wann im-mer Lüdkes Monstrosität als Go-rilla, dumpfer Unhold und Tier-mensch in Szene gesetzt wurde.

Mit ihrem stattlichen Kom-pendium „Fabrikation eines Ver-brechers“ untersuchen Susanne Regener und Axel Doßmann die Darstellungen des Falls Bruno Lüdke und damit die Geschichte rassistischer Bildproduktion. Die beiden Kulturwissenschaft-ler gehen in diesem Buch voller Fundstücke der Frage nach, wie die Rassenpolitik der Nazis sei-

nerzeit die Kriminalistik durch-drang und die Alltagsstrategien aller bestimmte, die in Bruno Lüdkes Fall involviert waren.

In den angenehm knappen, gut lesbaren Studien untersu-chen sie Bilder und Dokumente zu dem authentischen Justizver-brechen an Bruno Lüdke und schließen auf dieser Basis eine detailreiche Materialsammlung zu Boulevard- und Magazinbe-richten, Büchern, Plakaten und Filmen an, in denen das Faszi-nosum des angeblichen Serien-killers bis in die Gegenwart mit rassistischen Subtexten weiter-wirkt.

Lüdke, 1908 in Berlin-Köpe-nick geboren, war ein ehema-liger Sonderschüler, Analpha-bet und Tagelöhner, der bei der Mutter und zwei Schwestern lebte und wegen kleiner Dieb-stähle polizeibekannt war. Das reichte, um ihn als „minderwer-tig“ in die Fänge des rassenpo-litisch gelenkten Gesundheits-amts zu treiben. Lüdke wurde für unmündig erklärt und 1940 zwangssterilisiert. So bereits stigmatisiert, nahm ihn die Po-lizei ins Visier, als man 1943 eine ermordete Frau im Köpenicker Wald fand.

Kriminalkommissar Franz, ein SS-Mitglied, machte sich mitten im Krieg und auf dem

Höhepunkt der Massendeporta-tionen verbissen daran, seinen Häftling als monströsen Einzel-täter darzustellen. Eingeschüch-tert, gutwillig und desorientiert gestand er alles, was man ihm vorlegte, nach aufwändigen Reisen zu Tatorten schließlich eine komplette Mordserie, die zwischen 1925 und 1943 unauf-geklärt geblieben war. Unmög-lich, dass der geistig behinderte Mann, dessen Familie solide Ali-bis vorlegte, als Mörder unter-wegs gewesen sein sollte.

Wohliges GruselnDie Akte Bruno Lüdke ist längst ein Paradigma, an dem sich 80 Jahre deutscher Kultur- und Mediengeschichte aus unter-schiedlichsten Perspektiven aufblättern lässt. Das Buch legt faksimilierte Verhörprotokolle, amtsärztliche Bescheide, in-terne Polizeiberichte und Ab-bildungen von Fundstücken aus der polizeihistorischen Samm-lung Berlins vor, darunter Lüd-kes Büste, die als Anschauungs-material für das Aussehen eines „Minderwertigen“ dienen sollte.

Kaum waren Nazizeit, rassis-tischer Massenmord und Krieg aus dem Gedächtnis der Deut-schen ausgesperrt, brachte die Presse ihren Lesern mit re-tuschierten Tatsachen wie-

Seite Thüringen TCTH Mittwoch, . Mai

Wie der doofe Bruno zum Teufel gemacht wurdeWar Bruno Lüdke ein 53-facher Serienmörder? Nein, sagt ein Historiker der Universität Jena. Das vermeintliche Monster sei vielmehr ein Opfer der Nazis gewesen

VonMirko Krüger

Jena. Am 12. Mai 1925 knalltDeutschlanddieHackenzusam-men. In Berlin wird Paul vonHindenburg als Reichspräsidentvereidigt. Schon Tage zuvor hat-ten auch Thüringer Zeitungenaufgefordert, „flaggt schwarz-weiß-rot“. In Berlin säumenTausendedieStraßen. Sie jubelndem 77-Jährigen auf der Fahrtzum Reichstag zu. Überall imReich läutenKirchenglocken.Nur in Friedrichroda, da

herrscht Totenstille.Am Morgen des 12. Mai wird

hier die Küchenfrau BerthaHoldschuh gefesselt in ihremBett aufgefunden. Ein Taschen-tuch steckt ihr als Knebel imMund. Sie ist daran erstickt.NurStunden später folgt die nächsteSchreckensnachricht aus Fried-richroda. Im Park von Rein-hardsbrunn irrt eine 18-Jährigeumher. Sie hat eine Schnittwun-de amHals. Das Mädchen über-lebt und gibt zu Protokoll: ZweiMänner hätten sie überfallen.Einen Tag später stellt sich he-

raus: Die 18-Jährige hat gelogen.Sie war ihres Lebens müde, siehatte sich die Verletzung selbstbeigebracht.Der Fall der Bertha Hold-

schuh indes bleibt unaufgeklärt.Zwar wurden zwischenzeitlichzwei Gäste des Kaufmannserho-lungsheimes verdächtigt, in demdie Küchenfrau gearbeitet hatte.Sogar ein Haftbefehl erging.Doch das damalige Landeskri-minalamt vermochte nicht,einen Täter zu überführen. Erst1943 gestand Bruno Lüdke, einangeblicher Serienmörder ausBerlin, an Hindenburgs großemTag im fernen Friedrichroda zu-geschlagen zu haben.Doch kann das überhaupt

stimmen? Axel Doßmann haterhebliche Zweifel daran. Doß-mann ist Historiker an der Uni-versität Jena. Er sagt: „BrunoLüdke war zweifellos ein NS-Opfer undkeinMassenmörder.“Für ihn ist klar, dass das Reichs-sicherheitshauptamt den Falldes geisteskranken Lüdke nut-zenwollte, umdas geplante „Ge-setz über die Behandlung Ge-meinschaftsfremder“ durchzu-setzen. Dieses Gesetz sollte diePolizei mit weitreichendenVoll-machten ausstatten – bis hin zureigenmächtig angeordneten Ste-rilisation von Verbrechern, Ar-beitsscheuen und anderer soge-nannter Tunichtgute. Der ge-ständige Lüdke hatte für die Na-zis großes rechtspolitischesPotenzial, sagtDoßmann.Gemeinsam mit der Kultur-

wissenschaftlerin Susanne Re-gener (Universität Siegen) hatder Jenaer die Fallakte Lüdkeunter historischer und medien-wissenschaftlicher Fragestel-lung aufgearbeitet. Jetzt habenbeide ihre jahrelange For-schungsarbeit unter dem Titel„FabrikationeinesVerbrechers“auch öffentlich gemacht.Als 1943 im Stadtwald von

Berlin-Köpenick eine Frau er-drosselt aufgefunden wurde, ge-riet Bruno Lüdke unter Ver-dacht. Er hatte sich in der Ge-gend als Spanner herumgetrie-ben. Schon bald gestand erdiesenund inden folgendenMo-

naten 52 weitere Morde. DasMuster der Geständnisse ist im-mer gleich. Der ihn vernehmen-de SS-Obersturmführer Hein-rich Franz hält Lüdke einen un-geklärten Mordfall nach demanderen vor; der Beschuldigtegesteht und gesteht.Axel Doßmann hat die mehr

als 800 Seiten umfassendenVer-nehmungsprotokolle ausgewer-tet. „In den Protokollen kannman Lüdke als Personwahrneh-men, die auf Befragen wirr undhilflos davon zu erzählen be-ginnt, Menschen getötet zu ha-ben.“ Doßmann fragt sich: „Be-griff Lüdke überhaupt, wovon ersprach? Trieb ihn Geltungs-drang zu verhängnisvollen Re-aktionen auf suggestive Fra-

gen?“ Für den Historiker wiegtbesonders schwer, dass der Er-mittler die Aussagen Lüdkes kri-minalistisch nicht angemessenüberprüft hat.Bereits 1958 hatte ein DDR-

Autor von einem Geständnisbe-trug gesprochen. Wie berechtigtdie Zweifel an der TäterschaftLüdkes sind, zeigte sich erst inden 1990er-Jahren. Damals gingein Kriminalist aus den Nieder-landen die Fallakten durch. ErkamzudemSchluss, dassLüdkekeinen einzigen der 53 Mordebegangen haben kann. Ohnehinwirft bereits dessen Allgemein-zustand erheblicheZweifel auf.Lüdke litt seit seiner Geburt

an Schwachsinn. In seinemKieznannte man ihn einfach nur den

doofen Bruno. Er galt als naivund gutgläubig. Er besaß offen-bar nicht mal das Talent, selbstkleine Vergehen so zu planen,dass er nicht ertappt wird. Tat-sächlich war der Berliner wegenkleinerer Diebstähle aufgefal-len, etwa eines Hasen oder vonHolz. Andererseits unterstellteihm 1943 die Kripo, er habe bin-nen 19 Jahren in ganz Deutsch-land 53 Morde unerkannt be-gangen, davon 6 in Thüringen.Im Fokus der Untersuchung

von Axel Doßmann und Susan-ne Regener stehen nicht dieMordfälle an sich, sondern dieUmstände, Absichten und Fol-gen der polizeilichen Untersu-chung. In ihrer Studie heißt es,dass auf der Basis von Verhör-

protokollen, erkennungsdienst-lichen Fotografien und anthro-pologischen Untersuchungen„studierte Kriminalisten undHumanwissenschaftler das böseGesicht entwarfen. Mir zahlrei-chen rassistischen Visualisie-rungenwurde ein Typus vom ge-borenenVerbrecher kreiert.“Ein aufwendiges „Lichtbildal-

bum zum Fall des Massenmör-ders“ entstand, zudem wurdeein Gipsabguss der vermeintli-chenMörderhand angefertigt.Lüdke wurde nie der Prozess

gemacht. Schon bald überstell-ten ihn die Nazis an das Krimi-nalmedizinische ZentralinstitutinWien. Hier fertigte man einenAbguss seines Schädels an – alsTrophäe sowie als Studienob-jekt. Die Büste hat die Zeitläufeüberdauert. Sie gehört zur ge-richtsmedizinischen SammlungderWienerUniversität.Im April 1944 kam Bruno

Lüdke bei einem Menschenver-such des Wiener Instituts um.Die Umstände seines Todes sindmysteriös. Axel Doßmann hältes für wahrscheinlich, dass anihm die Wirkung vergifteter Pis-tolen-Munition getestet wurde.Der Mythos vom Serienmör-

der Lüdke erreichte erst nachdemKrieg einebreiteÖffentlich-

keit. Gut möglich, dass dies aus-gerechnet daran lag, dass dasReichssicherheitshauptamt denFall alsbald als geheim dekla-riert hatte. Nicht mal die Staats-anwaltschaft wurde über die Er-mittlungen informiert. Also gabes später im befreiten Deutsch-land etwas aufzudecken…SoüberschriebdieNeueBerli-

ner Illustrierte (NBI) ihren Be-richt 1947mit „DerUnhold, denman totschwieg“. In westdeut-schenMedienerschienenSerienüber den angeblichen Massen-mörder. Der „Spiegel“ stellteLüdke als Tiermenschen dar.1957 folgte der Film „Nachts,wennder Teufel kam“mitMarioAdorf als BrunoLüdke.Immerhin versuchten Lüdkes

Schwestern, den Film verbietenzu lassen. Sie waren von der Un-schuld ihres Bruders fest über-zeugt; dashatten sie bereits 1943zu Protokoll gegeben. Doch dasOberlandesgericht Hamburgwies ihre Klage 1958 in zweiterInstanz ab – ohne die originalenAkten geprüft zu haben. Damit,so ist Axel Doßmann überzeugt,„wurde das öffentliche Bild vonBrunoLüdke alsMassenmörderjuristisch sanktioniert.“.

WelcheMechanismen steckenhinter dieser unkritischen Refle-

xion, fragen Doßmann und Re-gener. Wie kam es, dass sich einFake aus der Nazizeit bis in diejüngere Vergangenheit alsWahrheit etablieren konnte?Wieso haben Juristen und Jour-nalisten die rassistische Argumen-tation nicht infrage gestellt?Mit ihrem Buch, das inklusive

KarteikartengestaltetwurdewieeineKriminalakte, geben sie kei-ne verkürzten Antworten. Siedokumentieren vielmehr, siebleiben immer dicht am authen-tischenMaterial, sie zeigen Hin-tergründeauf. IhreKommentareverstehen die beiden Wissen-schaftler ausdrücklich als Einla-dung zum Weiterdenken – undzumWiderspruch.So viel Transparenz also, und

doch auch so viel Schatten. Werhat Bertha Holdschuh in Fried-richroda ermordet, wer die an-deren 52Opfer?Seit 1944 wird in keinem die-

ser Fällemehr ermittelt.

a Axel Doßmannund SusanneRegener: „Fabrikation einesVerbrechers. Der KriminalfallBruno Lüdke alsMedien-geschichte“Spector Books, Seiten, Euro

Sechs ungeklärte Morde in ThüringenD Verdächtige gab es zwischen 1925 und 1941 zuhauf, doch keinem konnte die Tat bewiesen werden

VonMirko Krüger

Erfurt. Im Jahre 1926 entstandauf Initiative der Berliner Mord-kommission eine „Zentralkarteifür Mordsachen“. Zum einensollte sie einen ganzheitlichenBlick auf Fälle ermöglichen undsomit helfen, reichsweit aktiveSerienstraftäter zu überführen.Zum anderen war die Kartei alsLehrsammlung zur AusbildungvonKriminalisten gedacht.Zu dieser Zentralkartei gehö-

ren 2442 Akteneinheiten ausganz Deutschland. Darunter be-finden sichAkten zu jenen sechsMorden, die Bruno Lüdke an-geblich im Gebiet des heutigenThüringen begangen hat.Diese Akten spiegeln jeweils

den Ermittlungsstand vor denLüdke-Geständnissenwieder.

OpferNr. 1Friedrichroda, am 12.Mai 1925.Die Küchenfrau Bertha Hold-schuhwird erstickt in ihremBettaufgefunden. Das ThüringerLandeskriminalamt hat schonbald zwei Verdächtige, kannaber letztlich keinen Täter über-führen. Deshalb wird die Fahn-dung nach möglichen Täterndeutschlandweit ausgeweitet,aber auch dies ohneErfolg.DieAkte enthält 10Fotos vom

Tatort und vom Opfer. Dazukommen Finger- und Handab-drücke der Verdächtigen undauch desOpfers.

OpferNr. 2Die Chaussee von Blechham-mer nach Judenbach (bei Sonne-

berg), am1. oder 2. Juni 1925.Al-ma Söllner ist Porzellanarbei-terin, sie wird ermordet an derStraße aufgefunden. Die Staats-anwaltschaft SonnebergunddasThüringer Landeskriminalamthaben drei Verdächtige. Haftbe-fehle ergehen. Die Ermittlungenlaufen ins Leere.Die Akte enthält 5 Fotos vom

Opfer sowie 2 AnsichtskartenseinesGeburtsortes Steinach.

OpferNr. 3 und 4Saalburg an der Saale, am5. Juni1928. Paul Grimm ist pensio-nierter Forstmeister, er lebt mitseiner Frau Elisabeth Grimm imForsthaus. Hier wird er erschla-gen im Bett aufgefunden, dieFrau liegt erwürgt davor. DasHaus wurde durchwühlt, es feh-

len Wertgegenstände sowie 800Mark.DasHauswurde inBrandgesteckt. Das Landeskriminal-amt und die Staatsanwaltschaftvermuten die Täter unter Wilde-rern, welche Grimm angezeigthatte. Es gibt etliche Verdächti-ge, einige kommen inHaft – undwieder frei.Die Mordakte enthält Fotos

vom Tatort und von beiden Op-fern, dazu die Obduktionsbe-richte. Die Aussagen von Zeu-gen und die Vernehmungen vonBeschuldigten wurden ebenfallsarchiviert. Dazu kommen sechsFotos von Verdächtigen sowiederen Fingerabdrücke.

OpferNr. 5Gotha, am 25. September 1929.In ihrer Wohnung in der Hüt-

zelsgasse wird die Witwe IdaCurth ermordet. Sie wurde 73Jahre alt. Die Polizei identifi-ziert vier Verdächtige, allekommen frei.Zu den Beweismitteln

in der Akte gehörenSchriftproben vonSchreibmaschinen, dadas Opfer einen ominö-sen Brief erhalten hatte.Auch Zeugenaussagen,Personalbögen der Ver-dächtigen und die übli-chen Fotos und Fingerab-drücke von Opfer und Ver-dächtigenwurden archiviert.

OpferNr. 6Erfurt, am 18. Februar 1940. DieArbeiterin Ingeborg Barthelwird am Tag vor ihrem 21. Ge-

burtstag tot nahe dem Hochhei-mer Kurhaus aufgefunden. DieTat liegt vermutlich drei Tagezurück. Sie wurde miss-braucht. Ihre geplünderteHandtasche lag inderNä-he. Die Ermittlungenunter Leitung der Erfur-ter Staatsanwaltschaftführen zu keinemTäter.Die Mordakte enthält

Fotos vom Opfer amFundort, den Obduk-tionsbericht sowie detail-

lierte Aufnahmen aus derGerichtsmedizin.

Bruno Lüdke nahm 1943 inall diesen Fällen die Schuld aufsich. Seine Geständnisse gelteninzwischen als erfunden. Damitsind diese sechs Mordfälle ausThüringen bis heute ungeklärt.

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„VieleMenschen fasziniert das Böse. Unsauch.Wirmöchten die Entstehung populä-rer Vorstellungen vomBösen beispielhaftvorAugen führen, konkret und visuell nach-vollziehbar. Die Ideen, wie das Böse aus-sieht, haben eine hochpolitischeGeschich-te, die Ende des 18. Jahrhunderts beginnt.“

SusanneRegener, Universität SiegenAxxxA elDoßmann,Universität Jena

So berichteten ThüringerZeitungen am.Mai über den Fall der ermorde-ten BerthaHoldschuh.

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KOMPAKTNachrichten aus der Region

Polizei-Razzia imEssener Clan-MilieuEssen. Die Polizei ist in Essen er-neut zu einer Razzia ausgerückt,um gegen kriminelle Machen-schaften von Familienclans libane-sisch-arabischen Ursprungs vorzu-gehen. Am Freitagnachmittagdurchsuchte sie, verstärkt von Zoll,Stadtangestellten und Finanzamt,rund 20 einschlägige Bars und Ge-schäfte in der nördlichen Innen-stadt und im Stadtteil Altendorfsowie zahlreiche Fahrzeuge. Siekontrollierte 140 Personen undvollstreckte drei Haftbefehle. Poli-zisten erhoben mehr als 500 Ver-warngelder, zeigten 37 Ordnungs-widrigkeiten an und fertigten 10Strafanzeigen. Zudem stellten dieBeamten 42 Kilo unversteuertenWasserpfeifentabak, Drogen undBargeld sicher. rd

Zwei Tote bei Unfällenmit StraßenbahnenKöln. Bei Unfällen mit Straßenbah-nen in der Kölner Innenstadt sindam frühen Samstagmorgen zweiFußgänger tödlich verletzt worden.Beide Straßenbahnfahrer sowiemehrere Begleiter eines der Unfall-opfer erlitten laut Polizei einenSchock. Beim ersten Unfall war ein55 Jahre alter Kölner gegen 2 Uhrvom Bahnsteig zwischen zweiWaggons ins Gleisbett gestürzt.Dabei sei er unter die anfahrendeStraßenbahn gezogen worden. Derzweite Unfall geschah etwa zweiStunden später. Ein 25-jährigerMann aus Süddeutschland habeversucht, zwischen zwei Waggonsüber die Kupplung zu steigen, umauf die andere Straßenseite zu ge-langen. Er sei dabei ebenfalls, sodie Polizei, unter die anfahrendeBahn geraten. dpa

Kuh greift Mutter undihre Kinder anVoerde-Löhnen. Eine Kuh hat aufeiner Weide im Kreis Wesel eineMutter und ihre Kinder angegriffenund verletzt. Die 29-jährige Frauerlitt schwere, ihre Kinder leichteVerletzungen. Sie wurden in einemKrankenhaus behandelt. lnw

Fritteusenbrand stopptProduktion bei AmazonDortmund.Im Dortmunder Logistik-zentrum des Onlinehändlers Ama-zon hat eine Fritteuse gebrannt. Al-le Mitarbeiter mussten am Sams-tag der Feuerwehr zufolge denSchichtbetrieb für eine Stundeunterbrechen. Die Fritteuse war inder Betriebsküche in Brand gera-ten. Ein Mitarbeiter habe sich eineRauchgasvergiftung zugezogenund sei von den Rettungskräften inein Krankenhaus gebracht worden.Am Dortmunder Amazon-Standortsind insgesamt 1600 Personen be-schäftigt. lnw

Betrunkene Zwillingebeschäftigen PolizeiLippe. Betrunkene Zwillinge imStraßenverkehr haben die Polizeiin der Nähe von Detmold beschäf-tigt. Zunächst hatte einer der 22-jährigen Brüder am Samstagmor-gen unter Alkohol einen Unfall indem Ort Lage gebaut. Daraufhinrief er seinen Bruder zur Hilfe. Derwar aber ebenfalls betrunken, alser mit dem Auto von daheim her-beieilte. Als die von Zeugen geru-fene Polizei eintraf, versuchten dieZwillinge gerade, den Wagen auseinem Graben zu ziehen. Da beideMänner erheblich alkoholisiert ge-wesen seien, seien Blutproben an-geordnet worden. lnw

Asylpolitik. Liebe Frau Merkel, ent-lassen Sie die CSU-Minister aus derRegierung. Mit Seehofer und Co.gibt es keine seriöse Politik fürDeutschland, sondern nur Wahl-kampf für die CSU. CDU und SPDkönnen mit mehr als 53 Prozent derStimmen im Bundestag endlich eineeuropäisch orientierte Politik betrei-ben.Willi Creutzenberg, Herdecke

Entlassen

Angela Merkel. Im Bericht über dieBefragung der Bundeskanzlerin istallein schon die Überschrift „Die Ru-he selbst“ eine Hinterfragung wert.Sie, die Kanzlerin, ist die Ruheselbst. Sie ist ruhig trotz ihrer unterSicherheitsaspekten grob fahrlässi-gen Politik, die zu großen gesell-schaftlichen Verwerfungen geführthat und weiter führen wird. Siebleibt ruhig angesichts der von ihrrigoros verursachten Spaltung desdeutschen Volkes. Sie behält dieRuhe, auch wenn sie – sich selbstüber die anderen europäischenStaatenlenker erhebend – überDeutschland hinaus auch Europagespalten und sogar an den Randdes Zerfalls geführt hat. Sie ist dieRuhe in Person, obwohl ihr bekanntsein müsste, dass man mangelsIdentitätskontrolle nicht weiß, wieviele der monatlich zu uns kommen-den über 10000 Migranten eine kri-minelle Vergangenheit haben. Hierkönnten noch mehr „weiche Kissen“genannt werden, auf denen es sichwahrlich sanft ruhen und regierenlässt. Die Kanzlerin ruht quasi insich selbst. Und das wird ihr dannauch im dazugehörenden Leitartikelals positiv attestiert.Hans-Georg Hengsbach, Olsberg

Ruhig trotzfahrlässiger Politik

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USA/Nordkorea. „Die unmittelbareKriegsgefahr scheint gebannt...“steht in Ihrem Untertitel auf Seite 3(Ausgabe vom 13. Juni/d. Red.). Esgab nie zwischen USA und Nordko-rea eine unmittelbare Kriegsgefahr -das alles ist Polit-Show - und daswissen Sie genau! (...) Der einzige,der von Ihnen allen erkannt hat, wasfür eine Show dahinter steckt, ist IhrKarikaturist Tomicek. GratulationHerr Tomicek!Harald Gerhard, Sundern

Nur Polit-Show

Essay. Nachdem sich in den letztenWochen zum Treffen der beidendeutschen Fußball-NationalspielerÖzil und Gündogan mit Erdogan(türkischer Präsident/d. Red.) dieKommentatoren fast unerträglichpopulistisch hochgeschaukelt ha-ben, war das Essay von Monika Wil-ler ein geistreicher Gegenpol zuraufgeheizten Stimmung. VielenDank dafür.Klaus Alfes, Olpe

Geistreich

LESERBRIEFEDie Konstruktion eines Serienkillers„Nachts, wenn der Teufel kam“: Siegener Kulturwissenschaftlerin erklärt, wieNazis und Nachkriegsmedien einen Unschuldigen zum Sündenbock machten

Von Harald Ries

Siegen. Bruno Lüdke – klingelt dawas? Vielleicht bei „Nachts, wennder Teufel kam“? In Robert Siod-maks Film von 1957 spielt MarioAdorf den geistig behindertenMann, der damals als größterMas-senmörder der deutschen Krimi-nalgeschichte galt. Für den Schau-spieler war es der internationaleDurchbruch. Jetzt plädiert er füreine Neuverfilmung. Weil Lüdke,1908 geboren und 1944 bei Men-schenversuchen inWien ermordet,laut nationalsozialistischer Kripo53 Morde gestanden hatte, sie da-für aber nicht einen einzigen stich-haltigen Beweis vorlegen konnte.Das alles und noch viel mehr gehtaus dem Buch „Fabrikation einesVerbrechers“ hervor, das derHisto-rikerAxxxA elDoßmannunddieSiege-ner Kulturwissenschaftlerin Su-sanne Regener jetzt vorgelegt ha-ben.

Pensionierter Kommissar enthülltbereits 1994 die WahrheitBereits 1994 hatte sich ein nieder-ländischer Kriminalkommissarnach seiner Pensionierung diemerkwürdigen Fälle vorgenom-men.DochseineThesevonderUn-schuld Lüdkes nahm die deutscheÖffentlichkeit erst viele Jahre spä-ter wahr. Noch 2005 hieß derschlimmste deutsche Serienkillerim „Spiegel“ und bei Wikipedia:Bruno Lüdke. Doßmann und Re-gener erörtern nun vor allem dieBedeutung des Fakes vor und nach1945.„Manhat Lüdkenach seinerVer-

haftung 1943 viele ungeklärteFrauenmorde seit 1924 ange-hängt“, sagt Susanne Regener.„Das Reichssicherheitshauptamtwollte einen ganz großen Fall he-rausbringen.“ Aus politischenGründen: Er sollte ein sozialrassis-tisches Gesetz gegen so genannteGemeinschaftsfremde stützen, dasfür1945geplantwar, umdieVerfol-gung und Ermordung von krankenoder unangepassten Deutschen ju-ristisch zu legitimieren. BrunoLüdke war vorgesehen als Modelldes „geborenen Verbrechers“, demdasBöse schonamGesichtanzuse-hen sei. Deshalbwurde von ihm imneu gegründeten Kriminalmedizi-nischen Institut in Wien eine Le-bendbüste angefertigt, ein kolorier-ter Kopfabdruck. Zahlreiche FotosvonLüdke an ehemaligen Tatortensollten als Beweis dienen. Die Bot-schaft: „So sieht ein Mörder aus.“

Wie das Eigene gegen das Fremdegegen einander gestellt werdenDiese Mechanismen sind es, dievon den Autoren herausgearbeitetwerden: Wie willkürlich ein Mas-senmörder konstruiert wird, wiedas Eigene und das Fremde gegeneinander gestellt unddamitGewaltund Ausgrenzung legitimiert wer-den. „Es ist uns wichtig, das in Zei-

ten zu beschrei-ben, in denenwieder gegenFremde gehetztwird“, betont dieProfessorin fürMediengeschich-te und VisuelleKultur. „Die heu-

tige Vorstellung vom Bösen (undFremden)hat eineGeschichte,undderFallLüdkemachtexemplarischdeutlich, wie verschiedeneMedienineinandergreifen und damit öf-fentlich wirksame Aussagen undFakes herstellen.“Die Nazis hielten den Fall ge-

heim.DasKriegsendekamderpro-pagandistischen Ausschlachtungzuvor. 1950 berichtete „Der Spie-gel“ in einer Serie über „Glanz undElend der deutschen Kriminalpoli-

zei“, und RudolfAugstein fordertedie Reintegrationder NS-Kripo indie bundesdeut-sche Polizei.1956 stieß derJournalist WillBerthold auf die

Akten und veröffentlichte eine Ar-tikelserie in der „Münchner Illust-rierten“, auf deren Grundlage derFilm entstand. Da ging es um dieLügen der Machthaber, doch Bru-no Lüdkes Täterschaft wurde nichthinterfragt. Weil das Böse faszi-niert, weil Emotionen, Spannungund Sensationen sich verkaufen.Was Susanne Regener interes-

sant findet: „Die Idee,dassmandasBöse angeblich schon in der Phy-siognomie erkennen könnte, hatte

auch in der Nachkriegszeit Be-stand.“ Deshalb habe es nicht wei-ter irritiert, dass da ein Mann 20Jahre lang mordend durchDeutschland gezogen sein sollte,ohne aufzufallen: „Dabei war ernicht einmal in der Lage, eineBahnfahrkarte zu kaufen.“

Mario Adorf war viele Jahre auf dieRolle des „Bösewichts“ festgelegtMario Adorf war davon ausgegan-gen, dass es sich um den wahrenFall eines Massenmörders handel-te. Ihm lag 1957 ein – inzwischenverschollenes – Tonband von denVerhören vor. „Vielleicht hätte eranders gespielt, wenn er die Wahr-heit gekannt hätte, hat er uns er-zählt“, berichtet Regener. Mitleidhabe er ohnehin mit seiner Figurgehabt und sie ambivalent ange-legt. Doch schon beim Casting ha-be Siodmakmit leicht sächsischemAkzent gesagt: „GuckenSemal be-ese.“ WäääW hrend der Dreharbeitenhabe er aber keine entsprechendenAnweisungenmehrgegeben.Adorfjedenfalls sei sehr engagiert undwürde gerne etwas tun, um BrunoLüdke zu rehabilitieren. Er selbstwar nach dem Film lange Zeit als„Bösewicht“ festgelegt.

Mario Adorf posiert mit einem Schattenriss-Porträt des vermeintlichen Massen-mörders. FOTO: AKADEMIE DER KÜNSTE, BERLIN

So sieht die Hand eines Mörders aus,sollte der Abdruck zeigen. FOTO: J. ZILIUS

„Die heutige Vor-stellung vom Bösen(und Fremden) hateine Geschichte.“Susanne Regener, Professorin fürMediengeschichte, Uni Siegen

K „Fabrikation eines Verbre-chers. Der Kriminalfall Bruno Lüd-ke als Mediengeschichte“ vonAxel Doßmann und Susanne Re-gener (Spector Books, 332 Sei-ten, 386 Abbildungen, 38 Euro)ist kein normales Sachbuch.

K Eine Vielzahl von Dokumentenlädt zum Stöbern ein, Bilder ma-chen plastisch, wie ein Monsterfabriziert wird, der gesamte Auf-bau motiviert gerade jüngere da-zu, Quellen kritisch zu betrach-ten. hari

Ein Kriminalfall als Mediengeschichte

Susanne Re-gener

AxxxA el DoßmannFOTOS (2): PRIVAT

Hagen. In Nordrhein-Westfalen wer-den seit Samstag Unterschriften fürmehr und bessere Radwege gesam-melt. Die Initiatoren der Volksinitia-tive „Aufbbbf ruch Fahrrad“ wollen er-reichen, dass sich der Landtag mitihren Forderungen befasst. Dazumüssen sich etwa 66000 inDeutsch-land Stimmberechtigte über 18 Jah-ren in den Unterschriftenlisten ein-

tragen. Gestartet wurde die Unter-schriftensammlung bei einem Fahr-radkongress in Köln.

ADFC hilft bei UnterschriftenaktionNach Ansicht der Initiatoren mussder Anteil des Radverkehrs am ge-samten Verkehrsaufkkkf ommen imLand bis zum Jahr 2025 auf 25 Pro-zent steigen. Derzeit sind es ver-

schiedenen Schätzungen zufolgezwischen acht und zwölf Prozent.Um dieses Ziel zu erreichen zu

können, soll das Land per Gesetzunter anderem dazu verpflllf ichtetwerden, jedes Jahr mindestens 300Kilometer Radwege an Bundes- undLandstraßen zu bauenoder in Standzu setzen. Bis zum Jahr 2025 soll esinNRWmindestens 1000Kilometer

Radschnellwege geben.Die gesamte Verkehrsplanung in

NRWmüsse an dem Ziel ausgerich-tet werden, Unfälle zu verhindern.„Radfahrer müssen sich sicher

fühlen“, sagte NRW-Geschäftsfüh-rer des Allgemeinen DeutschenFahrradclubs (ADFC), der dieUnterschriftensammlung mit orga-nisiert. rd

Initiative fordert ein Fahrradgesetz für NRWLand soll pro Jahr zusätzlich mindestens 300 Kilometer Wege an Bundes- und Landesstraßen bauen

PRG2MONTAG | 18. JUNI 2018

BZEITGESCHEHEN

Rubrik44

Evil has had a morbid hold over the public since time immemorial. Whether it be fictional serial killers like Hannibal Lecter in the box-office hit »Silence of the Lambs« or reports about real per-petrators like Jeffrey Dahmer or Andrei Tschikatilo: »sex and crime« are a great way to sell tickets.During the early years of the Federal Republic, readers and cinema-goers were captivated by the demonic figure of serial killer Bruno Lüdke. Founder of »Spiegel«, Rudolf Augstein, wrote about Lüdke in a series of articles about

the head of Germany’s Criminal Police Arthur Nebe; meanwhile, journalist and bestselling author Will Berthold laid a trail for the general public with 15 »fac-tual reports« about Lüdke. And a young actor by the name of Mario Adorf shone as Lüdke in 1957 in the award-winning film »Nachts, wenn der Teufel kam« by Robert Siodmak.The real Bruno Lüdke has been relegated to the background in all the frenzy. The coachman and labourer Bruno Lüdke was born near Berlin in 1908. In 1940, he was forcibly sterilised following the

The fascination with evilBerlin coachman Bruno Lüdke was known as the »worst serial killer in criminal history« until the 1990s. Journalists created true crime stories based on artefacts from the National Socialist CID; the feature film »Nachts, wenn der Teufel kam« brought international attention to the case. A historian, a cultural scientist and a graphic designer have now reinvestigated the topic for a case study. The result is a multi­faceted visual his­tory about racist conceptions of man and violence. How and why did the »fake news« about the alleged serial killer arise in the Third Reich and continue in the media democracy? The interdisciplinary study on construct­ing the abnormal pleads for greater visuality in scientific depictions.

B Y S T E P H A N L A U D I E N

H I S T O R Y

ruling of a Hereditary Health Court; the diagnosis stated »hereditary mental retardation«. Lüdke was arrested three years later as part of a murder inves-tigation. During suggestive interroga-tions, he took the blame for 53 murders, mainly of women, which had been committed across the Reich since 1924. Bruno Lüdke was secretly murdered in the Viennese Institute of Criminological Medicine in mid-April, 1944.How did Bruno Lüdke become »the devil in human form«? What interests were the police and judicial system in

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Rubrik 45

04 | LICHTGEDANKEN

the Third Reich following? And why did the horror story of the »monster« Lüdke hit a nerve with the public in the Federal Republic?Dr Axel Doßmann and Prof. Dr Susanne Regener have been following up on these and related questions. »Fabrika-tion eines Verbrechers. Der Fall Bruno Lüdke als Mediengeschichte« (Fabri-cation of a criminal. The case of Bruno Lüdke as a media history) is the title of their recently published book. In the book, the historian from the University of Jena and cultural scientist from the University of Siegen discuss criminal-ity, violence and racist conceptions of man in the 20th century and do so in a way that is as thrilling as a detective story. The findings of their research are given a further level of reflection thanks to the special book design by Markus Dreßen: the readers are directly shown several evocative sources: crime scene photos, interrogation records, a bust of Lüdke from 1944, secret documents, film posters and magazine articles from the 1950s.

Bruno Lüdke was a victim of the Nazis, not a serial killer

Susanne Regener first came across Bruno Lüdke in the 1990s. She visited the Police Historical Collection in Berlin as part of her post-doctoral thesis and examined the social and cultural significance of »mug shots« and exhibited artefacts like a hand cast of Bruno Lüdke. The criminal case of Bruno Lüdke clearly shows the fabrication of conceptions of man and presentations of evil. Evidence suggests that high-ranking Nazis from

the Reich Security Main Office (Reichs-sicherheitshauptamt) wanted to use the Lüdke case as a pretext for intro ducing a new social-racist law against so-called Gemeinschaftsfremde (socially undesirables). »This law would have made it legal to prosecute and murder all maladjusted Germans«, says Axel Doßmann. As a mentally ill serial killer, Bruno Lüdke would have provided the required foil for this law.Regener and Doßmann also show their doubt concerning previous theses about the murder of Lüdke. It is highly prob-able that Bruno Lüdke died as a result of an experiment with poisoned munition. The aim of this »Secret Reich matter« was to test assassination attempts for high-ranking politicians. »It is beyond doubt that Bruno Lüdke was a victim of the Nazis and not a serial killer«, confirms Axel Doßmann. »But it is not just the Nazis, but also the German Federal press and judicial system that share responsibility for the myth sur-rounding the serial killer: sixty years ago, on 17 April 1958, Hamburg Higher Regional Court legally sanctioned the fake news of the serial killer.« In the mid-1990s, Dutch criminologist Jan A. Blaauw proved in his meticulously de-tailed work that it is highly unlikely that Lüdke could have committed a single one of the crimes attributed to him. The book by Doßmann and Regener now elucidates this criminal case within the historical and media context and, in doing so, allows parallels to be drawn with the present day. For it is all too easy for the mentally ill and other outsiders to find themselves caught in the wheels of criminal proceedings and the justice system.

Contact

Dr Axel Doßmann

Institute of History

Fürstengraben 13, D­07743 Jena, Germany

Phone: +49 36 41 9­44 483

Email: axel.dossmann@uni­jena.de

www.histinst.uni­jena.de

Bibliography

Fabrikation eines Verbrechers. Der Krimi-

nalfall Bruno Lüdke als Mediengeschichte,

Spector Books, Leipzig 2018,

ISBN 987-3-95905-034-0

»Fake news« from the post-war period: Jena historian Dr Axel Doßmann and Siegen cultural scientist Prof. Dr Susanne Regener have reassessed the criminal case of Bruno Lüdke and the subsequent mediatiza-tion of evil: the alleged serial killer was a victim of the Nazi criminal investigation department and the media democracy of the 1950s. Here you can see the cover of their joint publication.

Image left: The Police Museum in Berlin contained nu-merous artefacts relating to the case of the supposed serial killer Bruno Lüdke.