Medienphilosophie Hartmann

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Frank Hartmann Medienphilosophie wuv

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Frank Hartmann

Medienphilosophie

wuv

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Frank Hartmann, Dr. phil., geb. 1 959 in Bregenz, ist Lehrbeauftragter an der Uni­versität Wien (Publizistik) und an der Donau-Universität Krems ( Electronic Publishing) sowie im Forschungsmanagement und in der Unternehmensberatung tätig.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Hartmann, Frank: Medienphilosophie I Frank Hartmann. - Wien : WUV, 2000

ISBN 3-8252-2I 1 2- 1 (UTB)

ISBN 3-85 1 14-468-6 (WUV)

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb

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cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright© 2000 WUV-Universitätsverlag, Wien

WUV-Universitätsverlag, Berggasse 5, A - 1 090 Wien

Herstellung: WUV-Universitätsverlag, Wien

Einbandgestaltung: Allred Krugmann, Freiberg am Neckar

Printed in Austria

Gedruckt mit Unterstützung durch das Bundesministerium für Wissenschaft und Verkehr

ISBN 3-8252-2 1 1 2-l (UTB-Bestellnummer)

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Für Melissa und die Mediengeneration (n+ 1)

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Inhalt

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

1. Kapitel - Mediale Existenz.

Ausgangspunkte

1.1. Reale Virtualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.2. Vom Text zu Textualitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.3. Netzzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1.4. Technoimagination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.5. Medienverbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

2. Kapitel -Imaginäre Räume.

Rene Descartes, oder der Auftritt des modernen Autors

2.1. Programm der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.2. Die Methode als Lösung des Vermittlungsproblems . . . . . . . . . . . . . . . 3 3 2.3. Methodische Buchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.4. Auf der Suche nach neuer Gewißheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.5. Kulturtechnische Neuerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.6. Buchkultur als Medium modernener Intellektualität . . . . . . . . . . . . . . 43 2.7. Die neue Rolle der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

3. Kapitel-Aufklärung und Publizität.

Von den Bedingungen der Vernunftwahrheit bei Kant

3 .l. Von dem, was, zu den Erscheinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 3.2. Gibt es eine Sprache der Engel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3.3. Ernüchterung. Kritik des Imaginären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3.4. · Das reflexive Subjekt als Vermittler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3.5. Die Forderung nach Publizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

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4. Kapitel- Die Schrift, die Sprache, das Denken.

Zur Konjunktur des sprachphilosophischen Ansatzes

4. 1 . Säkularisationsprozeß und die Erziehung zum Text . . . . . . . . . . . . . . . 72 4.2 . Die Enzyklopädie als absoluter Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 5 4 .3 . Instrumentalisierung von Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 4.4. Sprache als Vernunftorgan bei Hamann und Herder . . . . . . . . . . . . . . 78 4.5 . Die Sprachauszeichnung des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 1 4.6. Zur Funktion von Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 4.7. Sprache als Medium bei Humboldt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 4.8. Die doppelte Natur der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1

5. Kapitel - Das Jenseits von Sprache.

Fritz Mauthners Radikalisierung der Sprachphilosophie

5 . 1 . Von der Philosophie zur Sprachkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 5 .2 . Dekonstruktion der ,Logokratie' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 5 . 3 . D ie sprachliche Konstruktion von Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 0 1 5 .4. Exstase des Schweigens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 5 . 5 . Die Grenzen der Sprachkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

Exkurs 1

Kritik der Sprachabhängigkeitsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1 1

6. Kapitel - Dekonstruktion des sprachlichen Zeichens.

Peirce's Neubegründung einer Logik der Kommunikation (Semiotik)

6. 1 . Was ist ein Zeichen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1 7 6.2. Zeichen als Weise des Weltbezugs (Semiosis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 20 6 .3 . Kultur a l s Zeichenprozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 3 6 .4. Kritik des Dualismus von Sprache und Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 6

7. Kapitel- Die befreite Symbolik.

Frege und die Problematik logischen Ausdrucks

7 . 1 . Die Unvollkommenheit der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1 7 .2. Eine neue Begriffsschrift für logische Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . 1 35 7 .3 . Das neue logische Zeichensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 40 7 .4. Zweifelhafte Reinheit einer Formelsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 42

8. Kapitel - Sprechende Zeichen.

Otto Neuraths internationale Bildsprache

8 . 1 . Beschreibung statt Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 4 7 8.2 . Der Einsatz optischer Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 50

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8 .3 . D ie Transferleistung wissenschaftlicher Darstellung . . . . . . . . . . . . . . 1 53 8.4. D ie ,Wiener Methode' der Bildstatistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 57 8 .5 . Bilderschrift a l s Volksaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 60 8.6. Funktioniert der Universalcode? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 6 3

9. Kapitel - Die wirkliche Wirklichkeit.

Technik und Lebenswelt

9 .l. Diskurserweiterung im Massenmedium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 68 9 .2 . Die Entdeckung der Lebenswelt. Husserl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 7 1 9 . 3 . Arbeit an den Phänomenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 74 9.4. Heideggers Versuch, die Frage neu zu stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 76 9 . 5 . Kritik der sekundären Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 79 9 .6 . Zwischen Sein und Dasein: die Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 8 1 9 .7 . Sprachmaschinen. Zerstörung der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 84 9.8. Mediale Ersatzwirklichkeiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 88 9 .9 . Kritik der Kulturindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 90

10. Kapitel- Das Technische als Kultur.

Der neue Blick bei Walter Benjamin

1 0. 1 . Affirmativer Charakter aller Kultur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 96 1 0.2 . Das produktive Moment der Reproduzierbarkeil . . . . . . . . . . . . . . . . 1 99 1 0. 3 . Die Begegnung von Mensch und Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 0 1 1 0.4. Zur Recodierung der Codes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 1 0. 5 . Veränderungen i n der Diskursproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 1 0.6. Das Ende der typographischen Kodifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

11. Kapitel - Von der Reproduktion zur Simulation.

Günther Anders Kulturapokalypse

1 1 . 1 . Menschen und Apparate, ein ungleiches Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . 2 1 3 1 1 .2 . Negative Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1 5 1 1 . 3 . Die Scham des modernen Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 1 7 1 1 .4. Postliterarisches Analphabetentum in einer Welt voller B ilder . . . . . 2 1 9 1 1 . 5 . Medialität als Existenzform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1 11.6. Vom Verschwinden des Ausdrucks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

Exkurs 2

Zur Krise des bürgerlichen Kulturbegriffs. Alles Spektakel? . . . . . . . . . . . . . 2 3 3

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12. Kapitel- Vom Auge zum Ohr.

lnnis, Mcluhan und die technischen Dispositive der Kommunikation

1 2 . 1 . Krise des Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 1 2 .2 . Eine Medientheorie der Zivilisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 241 1 2 . 3 . Die technischen Dispositive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 1 2 .4. Ein neuer Kommunikationsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 1 2 . 5 . Zur Logik des Mediums: zwei Theoreme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 1 2 .6 . Kulturzerfall, Literatur und Popularkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 1 2 . 7. Industrielle Volkskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 5 2 1 2 .8. Narziß als Kybernetiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 1 2 .9. Technologischer Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 5 7 1 2 . 1 0. Die Zukunft der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 6 1 1 2 . 1 1 . A m Ende des cartesianischen Projekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 1 2 . 1 1 . Kybernation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

Exkurs 3

Herrschaft der Mechanisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 70

13. Kapitel- Pendeln von Punkt zu Punkt.

Flussers diskursive Epistemologie

13.1. Ende der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . ...... . . . .. . . . 279 1 3 .2. Telematische Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 8 1 1 3 . 3 . Sprachphänomenologische Provokation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 1 3 .4. Hand/Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 1 3 . 5 . Einbilden - Erzählen - Informieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 1 3 .6 . Krise der Linearität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 1 3 . 7. Vom Subjekt zum Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

Exkurs 4

Wunschmaschinen, Rhizomanie und die MEMEX . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

14. Kapitel- Netzkultur.

Leben im Datenstrom

1 4. 1 . Technokulturelle Kommunikationsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 1 4.2. Netzkultur. Virtuelle Vergemeinschaftung . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . 3 1 0 1 4 . 3 . Unbekanntes Theorie-Objekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1 2 1 4.4. Theorie der virtuellen Klasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1 3 14 . 5 . Zur Topographie des elektronischen Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1 6 1 4.6 . Netzkritik: ein europäischer Zugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1 8

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1 4.7. Soziales Interface: interactive debugging . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1 1 4.8. Eine neue Aufklärung? . . . . . . . · . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2 5

15. Kapitel- Ausklang: lt's all Jazz.

DJ-Culture und Diskursvermischung

1 5 . l . Intertwinedness . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

Anhang

Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 3 5 Internet Links . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 3 7 Namensindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343

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Vorbemerkung

Nach einem Wort des Medienphilosophen Viiern Flusser kommt der Kommuni­kologie ....: der Theorie der Kommunikation, die einen Brennpunkt hinsichtlich unserer von medialen Übergängen geprägten kulturellen Lage darstellt - jene Rolle zu, .,die früher die Philosophie spielte". In der Informationsgesellschaft geht es nicht länger um die Auslegung von Texten, sondern um Eingrzffe in den ge­samten symbolischen Reproduktionsprozeß von Gesellschaft: das sind wissens­generierende Operationen, die keineswegs allein über Texte vollzogen werden. In einer Abkehr von der Dominanz typographischer Medien synthetisieren sich neue Interfaces mit zunächst desorientierenden Auswirkungen. Weder haben wir uns an diesen Kulturwandel mit seinen Diskursvermischungen gewöhnt, noch entsprechende interpretative Fähigkeiten entwickelt - was wiederum zu einer Konjunktur von Kommunikationswissenschaften und vor allem der Medien­theorie geführt hat.

Philosophie, die sich gern für Sinn und Bedeutung zuständig sieht, ist ange­sichts der Informationsgesellschaft jedoch merkwürdig still geblieben . .. Medien­philosophie" verbindet zwei Sphären, die vielleicht gar nicht zu verbinden sind; allein die Phase des Übergangs rechtfertigt den Titel. Dieses Buch ist der Versuch einer Kontextualisierung. Verschiedene Aspekte der philosophischen Moderne werden im Hinblick auf ihr Reflexionspotential der gesellschaftlichen Funktion von Sprache, von Texten und von Medien in einem nicht technischen Sinne re­konstruiert. Damit wird erweiterte Definition dessen vorbereitet, was seit dem öf­fentlichen Diskurs der Aufklärung als Forderung nach Publizität besteht.

Der philosophische Ansatz der hier aufgearbeiteten ,Positionen' soll der Tatsa­che Rechnung tragen, daß es einen legitimen Orientierungsbedarf gibt. der einer wachsenden Bedeutung von Medien- und Kommunikationstheorie entspricht und dem der herkömmliche publizistikwissenschaftliche Zugang nicht mehr genügt. Was alltäglich im Bereich der Medien als meist blinde Praxis funktioniert, gibt der wissenschaftlichen Systematisierung oft genug Rätsel auf. In der Philoso-

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14 Vorbemerkung

phie werden nicht unbedingt solche Rätsel gelöst, sondern Ansätze entwickelt, auf denen Lösungsstrategien aufzubauen wären, die mit den Problemen einer Revolutionierung der kulturellen Codes in der Informations- oder Wissensgesell­schaft zu tun haben. Die Rekonstruktion zeigt, daß viele der aktuellen Probleme eine längere Geschichte haben.

Der Titel "Medienphilosophie" wurde unter Berücksichtung dessen gewählt, daß im folgenden weder einer technikorientierten, archäologisch anseztenden ,Medientheorie', noch einer kulturanthropologischen, subjektzentrierten ,Kom­munikationstheorie' entsprochen wird. Es geht auch nicht um Ethik oder um die Frage, wo bei all der neuen Technik denn der Mensch bleibe, wie man es von schlecht begriffener Philosophie erwarten könnte. Eher wird eine integrative Sicht der Medienevolution, oder besser: der Ko-Evolution von Medien und Ge­sellschaft in der Technokultur vorbereitet. Die folgenden Erörtungen nehmen ideengeschichtliche Motive von Erkenntnistheorie und Erkenntniskritik auf, um über Sprachphilosophie und Sprachkritik zu den ,Prolegomena' einer medien­philosophischen Theorie zu führen. Ihr Anspruch ist es, die Wurzeln von ,kom­munikologischen' Fragestellungen auch mit der Absicht einer gewissen Entzau­berung von großen Gedanken aufzuzeigen. Eine theoretische Synthese war nicht beabsichtigt, auch nicht die Zuspitzung der Problematik auf den Lösungsvor­schlag einer Schule oder eines einzelnen Theoretikers. Doch soviel Enttäuschung verträgt philosophische Reflexion im medialen Zeitalter allemal.

Wien, im August 1 999 Frank Hartmann [email protected]

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Abbildung 1 Max Ernst: , Young Man lntrigued by the Flight of a Non-Euceldian Fly' ( 1942/47)

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1. Kapitel - Mediale Existenz.

Ausgangspunkte

.,Das heutige Dasein des Menschen ist zumeist weder nur

,Treiben' noch nur ,Getriebenwerden'; weder nur

Agieren noch nur Agiertwerden; vielmehr ,aktiv-passiv-neutral'.

1 . 1 . Reale Virtualität

Nennen wir diesen Stil unseres Daseins ,medial'."

Günther Anders

.. Unser ,Stil' ist kosmisch."

VHem Fl usser

Die Zahl wissenschaftlicher Journale verzehntausendfachte sich zwischen dem Beginn des 1 9. und dem des 20. Jahrhunderts, um derzeit bei ca. einer Million Titel angelangt zu sein. Inzwischen wird eine Verdoppelung der Zahl wissen­schaftlicher Publikationen auf etwa alle 1 6 Jahre geschätzt. ' Was immer diese Zahlen im einzelnen bedeuten mögen, sicher ist, daß jährlich hundertlausende neue Bücher publiziert werden, die zusammen mit Zeitungen und Periodika ei­nen gewichtigen Macht- und einen bedeutenden Marktfaktor bilden. Die akade­mische Publizität ist ein unüberschaubares Feld geworden, vor allem wenn zu den quantitativen Faktoren noch die qualitativen hinzugezählt werden, also die Querverweise und zahllosen Verknüpfungen und Verflechtungen, die dank neu­er, nichtmechanischer Technologien geschaffene Möglichkeit des Zugriffs auf un­ermeßliche Datenmengen und gleichzeitig die Produktion von vernetzten Infor­mationen. Mit der Explosion des Archivs gesellschaftlichen Wissens ändert sich auch dessen Stellung im Bereich der gesellschaftlichen Reproduktion. Seit den

Andrew Cummings et al.: University Libra­

ries and Scholarly Communication - A Stu­dy prepared for the Andrew W. Mellon

Foundation, 1 992 - http://gopher.lib.virginia. edu!me/lon/me/lon.html

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Ausgangspunkte 17

siebziger Jahren sprechen Soziologen von einer neuen Informationsökonomie und der sich formierenden postindustriellen, wissensbasierten Gesellschaft.'

Es begann mit den Enzyklopädisten des achtzehnten Jahrhunderts, und mit der aufklärerischen Forderung nach uneingeschränkter Publizität manifestierte sich ein mehrschichtiger Strukturwandel der bürgerlichen Öffentlichkeit, der bis heute -vor allem unterm Eindruck einer ,digitalen Revolution' - noch nicht als abgeschlossen anzusehen ist. Gegenwärtig symbolisiert sich dies am treffendsten wohl darin, daß man sich geradezu vor einer Informationsflut fürchtet: die po­tentiell zur Verfügung stehenden Informationen überschreiten bei weitem die einzeln realisierbaren Rezeptionsmöglichkeiten. Dazu kommt. daß die Schriftfi­xiertheil unserer Kultur dazu geführt hat. gegenüber neuen oder anderen For­men medialer Rezeption eine herablassende bis abwehrende Haltung einzuneh­men.

Wissenschaftliche und technische Innovationen erneuern in immer rascheren Zyklen die Basis dessen, was wir gewohnt sind Fortschritt zu nennen. Zwischen den reproduktiven Technologien der Wissenserzeugung und den kulturtechni­schen Werkzeugen der Selektion und Rezeption entstand eine Kluft, die erst mit­tels der j ungen elektronischen Technologien wieder überbrückt werden kann. Aber diese Medientechnologien haben noch andere Effekte, und am fundamen­talsten ist wohl der, daß sie unsere Wahrnehmung und Auffassung von Wirk­lichkeit verändern. Audiovisuelle und elektronische Medien gehören längst zum Alltag. Dennoch haben sich die Menschen noch nicht daran gewöhnt, sich in zu­nehmend flüchtigen Umwehen zurechtzufinden. E ine Selbstwahrnehmung un­ter Bedingungen medialer Existenz bedeutet. sich auch mit der neuen Dimensi­on technisch generierter Realitäten auseinanderzusetzen. Dabei geht es nicht um die Phantasien einer Virtual Reality, oder um Vermeidungsstrategien im Lichte ei­ner vermeintlichen Authentizität der Wirklichkeitserfahrung, sondern darum, daß Interaktionen unter Bedingungen der neuen Medienwirklichkeit zuneh­mend künstlich werden - es wäre wohl besser, angesichts der Telefonstimmen, der Fernsehbilder, der akustischen Umwelt und der graphischen Benutzerober­flächen, mit denen wir alltäglich interagieren, wenn wir angesichts dieser tele­matischen Präsenz von anderen also von einer zunehmend realen Virtualität spre­chen würden.

Im Informationszeitalter werden Medien in einem technischen Rahmen neu definiert, und das bedeutet frei nach McLuhan: nicht als Vermittler von Inhalten. Das erlaubt einen anderen Blick auf soziale Kommunikation in ihrer Funktion

2 Nach Marshall McLuhan und Alvin Toffler

etablierte sich die Diskussion um die Infor· mationsgesel/schaft mit Daniel Bell: The Co-

ming of Post-lndustrial Society. A Venture in

Social Forecasting, New York 1 97 3

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18 Mediale Existenz

für die gesellschaftliche Reproduktion, wobei Medien als Produktivkraft in einem emphatischen S inn zu begreifen sind. Es liegt nahe, die neuen Medientechnola­gien grundsätzlich als eine Reaktion auf diese gesteigerte Komplexität anzusehen - und nicht als die Ursache für eine verwirrende Medienwirklichkeit. Die irritie­rende Tatsache ist, daß die Unterscheidung zwischen der Realität und ihrer sym­bolischen Repräsentation für immer mehr Bereiche hinfällig wird. Hieraus be­gründet sich das derzeit enorm gesteigerte Interesse an Medien und Medien­theorie. Nach dem Zeitalter der Mechanisierung und Industrialisierung mit ihrer seriellen Produktionsform zwingt die Automatisierung in den Prozessen der Da­ten- und Informationsverarbeitung zu einem reflexiven Neuansatz. Die Geistes­und Kulturwissenschaften sind davon nicht ausgenommen, sie werden sich ver­stärkt mit kommunikationstheoretischen Fragen auseinandersetzen müssen. Während die kulturelle Irritation bereits Jahrzehnte währt, bieten die akademi­schen Disziplinen aber immer noch keine adäquaten Ausbildungs- und For­schungskapazitäten an, wie man sie unter dem Titel Media Studies erwarten wür­de. Mit den technischen Rahmenbedingungen ändert sich die Art und Weise, wie das menschliche Wahrnehmen, Erkennen und Handeln ( und damit die Reflexi­onsfelder von Ästhetik, Theorie, und Praxis) funktioniert. Synthetisierende Theorien mit umfassendem Erklärungsanspruch, die zwischen zwei Buchdeckeln präsentiert werden, verlieren zunehmend an Glaubwürdigkeit. Gefragt sind nicht Sinngebungen, sondern Möglichkeiten, einen Meta-Diskurs zur neuen Me­diensituation und zu den Bedingungen der Möglichkeit einer Informations- oder Wissensgesellschaft zu führen. Der integrative Ausdruck ,Medienphilosophie' findet mittlerweile für die Ansätze zur Reflexion einer medienbestimmten Kul­tur und Lebenswelt Anwendung.'

Der gegenwärtige Medial Turn auf Ebene der Theoriebildung weist in die Rich­tung einer Analyse der Kultur der realen Virtualität.' Für die Informationsgesell­schaft zeichnet sich die elektronische Konvergenz aller Kommunikationsformen ab, womit eine immersive Medienwirklichkeit erzeugt wird, in der Erscheinun­gen nicht länger die Reflexion von Erfahrungen auf symbolischer Ebene sind, sondern selbst zu Erfahrungen werden. Dies ist das spezifisch Neue am Zeitalter der neuen Medien, obwohl die erfahrbare und erfahrene Wirklichkeit im stren-

"Hege! hat die Aufgabe der Philosophie da­

hingehend bestimmt, das, was an der Zeit ist, in Gedanken zu erfassen. Auch heute

kann sich Philosophie nur dadurch legiti- 4 mieren, daß sie auf dasjenige reflektiert, was in der ,Tiefenstruktur' der Gegenwart ge­

schieht." - Reinhard Margreiter: Realität und Medialität. Zur Philosophie des ,Medial

Turn', in: MedienjournaL Zeitschrift für

Kommunikationskultur, 23.Jg. Nr. l , 1 999, hg. von Stefan Weber, S.l 0

Zur .culture of real virtuality" vgl. Manuel

Castells: The Rise of the Network Society.

The Information Age - Economy, Society and Culture, Vol. l , Oxford: Blackwell 1 996, 5.2721

Page 19: Medienphilosophie Hartmann

Ausgangspunkte 19

gen Sinn immer eine virtuelle ist, da Menschen sie symbolisch bedingt wahr­nehmen. Wenn Kritiker der elektronischen Medien nun klagen, schreibt Manu­el Castells, die neuen symbolischen Welten würden nicht die Wirklichkeit reprä­sentieren, dann beziehen sie sich implizit auf ein absurd primitives Konzept einer ,wirklichen Wirklichkeit', in der eine uncodierte Wirklichkeitserfahrung möglich sein soll, die als solche aber niemals existiert hat. Alle Wirklichkeit ist symbolisch vermittelt, und wird somit ,virtuell' wahrgenommen. Die verbale (und im weite­ren textuelle) Vermittlung ist dabei nur ein Spezialfall allgemein zeichenvermit­telter Realität. In diesem Sinn wirken alle Medien bedeutungsgenerierend.

Hieraus begründet sich die Rede von der neuen Medienwirklichkeit, die als solche nicht von der Wirklichkeit zu subtrahieren ist. Nach einem fortgesetzten Strukturwandel der Öffentlichkeit aufgrund veränderter Produktionsverhältnis­se (wie die Druck- und Paperindustrie des ausgehenden neunzehnten Jahrhun­derts, so jetzt die Elektronikindustrie und das Internet) ließe sich die gegenwär­tige Transformation von Publizität, bzw. der Paradigmenwechsel der gesellschaftli­chen Kommunikationsverhältnisse insgesamt, nur adäquat beschreiben unter Hinzuziehung aller technik-, Wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Faktoren, die diese veränderte Informationsökonomie beeinflussen. Aber das soll nicht die Ab­sicht der folgenden Erörterungen sein. Ihr Ausgangspunkt ist die gewiß längst nicht mehr neue, meist aber nicht ganz ernsthaft akzeptierte These, daß die Be­dingungen der Möglichkeit von ,Öffentlichkeit' nicht mehr durch typographische Leitmedien allein zu bestimmen sind . In der gegenwärtigen Alltagskultur wird der alphanumerische Code durch ausgedehnte Visualisierungen, die auch schon von einem Pictorial Turn sprechen ließen, und die Allgegenwart von graphischen Benutzeroberflächen der telemarisehen Interfaces, vielfach distanziert.'

1 .2 . Vom Text zu Textual itäten

Es geht also längst nicht mehr allein um Texte. Im Möglichkeitsfeld der neuen Medien wird Bedeutung nicht ausschließlich über klar dechiffrierbare Inhalte ge­neriert, sondern auch über den diffusen Kontext. Die D igitalisierung der Korn­munikationsmedien hat zur Folge, daß Texte zugunsren von ,Textualitäten' zurücktreten, wobei die oft mühsam genug errichteten Grenzen zwischen dem Text und seinem Kontext zunehmend verwischt werden. Was den Text und sei­

nen Autor erst ausmacht, läßt sich auf historisch kontingente Formen der Codie-

Zur Distanzierung des alphanumerischen Codes vgl. Vilem Flusser: .Abbild-Vorbild"".

in: ders.: Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien, Schriften

Band 1, Mannheim: Rollmann 1 993,

S .293ff. Der Ausdruck ,Pictoria1 Turn' geht

zurück auf William J.Mitchell: Picture Theo· ry, Chicago: Univ. of Chicago Press 1 994.

Page 20: Medienphilosophie Hartmann

20 Mediale Existenz

rung zurückführen. Es ist ebenso die Technik, die Kultur etwa als eine Buchkul­

tur spezifiziert, wie es die gesellschaftliche Struktur ist, die über die Entwicklung und die Nutzung und damit über die Akzeptanz von Technologien letztlich ent­scheidet. Daß Technik, die nicht ursächlich auf die Gesellschaft wirkt, jetzt mehr in den Vordergrund tritt, bedeutet nicht primär einen beklagenswerten kulturel­len Zerfall, sondern zeigt jenen Wechsel im Code der Reproduktion gesellschaft­lichen Wissens an, in der es immer weniger um Textverarbeitung geht als um ent­sprechendes Daten- und Informationsmanagement.

Nicht allein Gewohnheiten, sondern die grundlegenden Bedingungen der kul­turellen Produktion lösen sich mit den neuen Möglichkeiten auf. Elektronische Datenverarbeitung, von der Textverarbeitung bis zum komplexen Wissens-Ma­nagement, stellt den erweiterten Rahmen bereit, in dem Kultur ihre Aussagen multimedial formatiert. Information ist nicht gleich Information: herkömmliche relationale Modelle der Datenrepräsentation konkurrieren mit neuen strukturel­len Repräsentationen, oder objektorientierter Datenmodulierung. Auf diese neu­en Bedingungen reagieren neue Mittel und Wege der Informationsverarbeitung: Datenbanken und elektronische Informationsangebote bzw. digitale Informati­onsressourcen übernehmen faktisch die Rolle von traditionellen Archiven und Bibliotheken. Mit dem Einzug der neuen Informationstechnologien in die Berei­che der wissenschaftlichen Produktion hat die umfassende Rationalisierung gei­stiger Arbeit durch automatisierte Datenverarbeitung bereits die letzten Residu­en des ,Geistes' erobert. Gleichzeitig gewinnt die Meta-Ebene von Information über Information an Bedeutung.• Was im weiteren heute zählt, ist nicht mehr nur der Erwerb, die Speicherung und die Überlieferung von Wissen, sondern die ln­formationsvernetzung. Die Vernetzung wiederum verlangt nach neuen Formen der Informationsaneignung, für das Wissen der Zukunft werden neue, nichtli­neare Navigationsstrukturen erforderlich sein.'

Die Generierung von Wissen erfolgt im postmodernen Zeitalter auf der Basis einer Kombination von Technologie und Kulturtechnik, von der das Zeitalter der Aufklärung nur zu träumen gewagt hätte. Die Geschichte der Zivilisation kennt unzählige Versuche, bestimmte kognitive Prozesse zu mechanisieren, und damit Rechen- oder gar Denkmaschinen zu bauen. So manchem ,Philosophen', von Jo­hannes Kepler bis Charles Babbage, machte dabei die ungenügende Feinmecha­nik einen gewaltigen Strich durch die Rechnung.• Erst in den dreißiger Jahren

6 Dazu gehört eine Redefinition kritisch tech­nischer Praxis, vgl. Philip E. Agre: Computa­

tion and Human Experience, Cambridge Univ. Press 1 997 8

7 Vgl. Art ur P. Schmidt: Endo-Management.

Nichtlineare Lenkung komplexer Systeme

und Interfaces, Bern: Haupt 1 998; ders.: Der Wissensnavigator, Stuttgart: OVA 1 999 -

http://www.dva.de/wissensnavigator Dies gilt vor allem für den analogen Compu­

ter, den Babbage im neunzehnten Jahrhun­

dert als ultimative Rechenmaschine ent-

Page 21: Medienphilosophie Hartmann

Ausgangspunkte 21

des zwanzigstens Jahrhunderts löste der deutsche Bauingenieur Konrad Zuse das Problem der Rechenautomatentechnik, als er, damals noch ganz ohne Elektro­nik, einen Computer (die erste programmgesteuerte mechanische Rechenma­schine) bastelte; die Lösung bestand in der Verwendung des B inärsystems im An­schluß an Leibniz! An die Stelle des Dezimalrechners trat der B inärrechner, der nur noch die Zustände 0 oder l kennt. D iese Umstellung erst - ergänzt durch die Boolsche Logik und die Herstellung von Mikrochips auf der Basis von Transisto­ren statt Röhren - macht den Traum von der universalen Maschine wahr und stellt uns dann tatsächlich jene "Rechenapparate zum Finden von Gedanken" be­reit, die sich vor dreihundert Jahren Gottfried Wilhelm Leibniz als Voraussetzung einer neuen "schöpferischen Logik" gedacht hatte.

Die Philosophen, meinte Leibniz, würden irgendwann nicht mehr diskursiv streiten, sondern sich an einen Tisch setzen, zur Feder greifen und auffordern: "Rechnen wir ! " Das kulturelle Interface einer Schriftgesellschaft - Schreibwerk­zeug, Papier als Datenträger - hat ausgedient, das ,Komputieren' als neue Kul­turtechnik war richtig erahnt. Mit der digitalen Codierung verfügt unser Zeital­ter über eine Art Idealsprache, womöglich eben jenes "Alphabet der Gedanken", die geheime Grammatik, aus welcher der Philosoph sich noch allerhand kom­mende "wunderbare Entdeckungen" erwartet hatte: auf Grundlage einer polydi­mensionalen Enzyklopädie, einem Hypertext universalen Wissens . ' " Gleichzeitig realisiert sich damit freilich eine ideale Ordnung, in der alles mit allem verknüpft erscheint, und für die es gewissermaßen überflüssig geworden ist, nach dem Me­

dium als solchem zu fragen. Im Zeitalter vernetzter Rechner steht der Begriff Me­dium als Metapher für ein Ordnungsprinzip, mit dem wir Publizität herstellen und öffentlichen Raum gestalten, und nicht länger als Werkzeug im Sinne einer prothesenhaften Erweiterung des Menschen. ' '

wickelt, aber nicht funktionsfertig gebaut

hatte, vgl. Charles Babbage: Passages from

the life of a philosopher ( 1 864) , deutsch:

Passagen aus einem Philosophenleben, Ber·

lin: Kadmos 1 997 9 Vgl. zur Archäologie des Computerzeitalters

Werner Künzel I Peter Bexte: Allwissen und Absturz. Der Ursprung des Computers,

Frankfurt: Insel 1 993, sowie dies.: Maschi·

nendenken I Denkmaschinen. An den Schnittstellen zweier Kulturen, Frankfurt: Insel 1 996; hier zu Zuse S . l 73ff

10 Gottfried W. Leibniz: Anfangsgründe einer allgemeinen Charakteristik ( 1 677), in: Leib·

niz. Ausgewählt und dargestellt von Thomas

Lein kauf. München 1 996, S.88. Zur Veror·

tung der Leibnizschen Auffassung vgl. Um·

berto Eco: .,Von Leibniz zur Enzyklopädie",

in ders.: Die Suche nach der vollkommenen Sprache, München 1 994, S.276-298

1 1 Martin Burckhardt: Metamorphosen von

Raum und Zeit. Eine Geschichte der Wahr­

nehmung, Frankfurt: Campus 1 994. Weiters

Christoph Tholen I Norbert Bolz I Friedrich Kittler (Hg. ) : Computer als Medium. Mün·

chen: Fink 1 994

Page 22: Medienphilosophie Hartmann

22 Mediale Existenz

1 .3. Netzzeit

Im Übergang von der Broadcasting- oder Massenmediengesellschaft zur Networ­

king- oder Informationsgesellschaft ist auch die Beziehung zur Öffentlichkeit ei­ne andere geworden, und damit der sogenannte Wissenstransfer zwischen Eliten und der Gesellschaft. Über Telekommunikationsnetzwerke werden neue, direk­te Verbindungen und Zugänge zu Informationsressourcen geschaffen, die vor­mals nur über eine langwierige Bildungssozialisation, oder mittels einer Fach­spezialisierung zu erschließen waren. Die durchgängige Digitalisierung von In­formationen erzeugt ein weiteres, wesentliches Merkmal einer Transformation der gesellschaftlichen Wissensbasis: die sukzessive Lösung vom materialen Da­tenträger Papier, durch die eine gesteigerte Distribution und Reproduktion von Information in nahezu uneingeschränkter Form möglich ist.

Sie setzt einen kulturellen Trend fort: die Entwicklung der Bild- und Tonauf­zeichnung im neunzehnten Jahrhundert konkurrenziert bereits das typographi­sche Leitmedium in seiner Funktion, die Limitationen von Raum und Zeit in der menschlichen Kommunikation durch Schrift und Druck zu überwinden. Die technische Reproduzierbarkeil von Sprache sorgt für neue Konstellationen in den Kommunikationsverhältnissen, ist aber bereits Ausdruck des gesellschaftli­chen Bedarfs an neuen Übertragungs- und Speichermedien seit jener Zeit der entscheidenden technischen ,Erfindungen' . 1' Ähnlich ist der Übergang von der Elektromechanik zur Elektronik als ein technischer Paradigmenwechsel anzuse­hen, der auf einen Funktionswandel der gesellschaftlichen Kommunikation rea­giert.

Seltsamerweise hat diese Transformation noch relativ wenig Niederschlag im Reflexionspotential der Humanwissenschaften selbst gefunden. Im gegenwärti-

1 2 S i e erfolgte nicht durch einzelne Erfindun­

gen. sondern durch Weiterentwicklung be­

kannter Techniken, etwa der Lithographie:

1 839 wird in Frankreich nicht nur die Da· guerreotypie vorgestellt, sondern auch die Ka­/otypie des Engländers William Fox Talbot; im selben Jahr führte der britische Physiker

Charles Wheatstone, ,Erfinder' des Telegra­

phen, den Begriff Photographie ein. Ähnlich

auf dem Gebiet der Sprachaufzeichnung: Thomas Edison nannte sein 1 877 vorgestell­tes Gerät den Phonographen, während Alex­

ander Graham Bell gleichzeitig ein Grapho· phon entwickelte, sein Mitarbeiter Emile Berliner dann ein Grammophon. einer Wei­terentwicklung des Phonautographen von

Edouard Scott de Martinville (dessen Kon­

struktion auch von Edison ausgebeutet wur­

de). Während Edison auch für diese .Erfin­

dung" berühmt wurde, konnte der Franzose

Charles Cros aufgrund mangelnder For­schungsmittel nicht einmal einen Prototy­pen seines gleichzeitig .,erfundenen" Paläo· phons bauen. Bei diesen sogenannten

Erfindungen spielen unterschiedliche Tech­niksysteme und Nutzungsweisen ebenso in­einander, wie die Entwicklung eines Mark­tes, also von Anwendungsfeldern für

bestimmte neue Technologien. Vgl. dazu Pa­trice Flichy: Tele. Geschichte der modernen Kommunikation, Frankfurt/Main, New York: Campus 1 994

Page 23: Medienphilosophie Hartmann

Ausgangspunkte 23

gen Kontext neuer Medienanwendungen steht eine angemessene Reaktion der geistes- und sozialwissenschaftliehen Expertenkultur auf die neuen Bedingun­gen des gesellschaftlichen Wissenstransfers großteils noch aus. Ihrer zunftmäßi­gen akademischen Organisation, zu deren Charakteristikum ein eingeschränkter Wissenstransfer gehört (als Basis des Bestehens einer Expertenkultur) , steht be­reits mit den derzeitigen Formen vernetzter Information (Internet) ein allgemei­ner Industrialisierungsschub entgegen . 1 ' Durch eine Erhöhung der Zirkulations­geschwindigkeit von Texten einerseits, die Entwertung herkömmlicher Mediato­ren bzw. ihrer Bewertungskriterien (Redaktionen, Verlage) andererseits kommt es zu einer Rationalisierung der wissenschaftlichen Arbeitsform, die wiederum die gesellschaftliche Wissensbasis selbst verändert. Wissen ist nicht mehr kon­templativ, und auch nicht mehr enzyklopädisch angelegt. sondern folgt dem Pa­radigma des Kybernetischen und den wechselnden Anforderungen jeweiliger Datenbestände. Mit dem Ende des zwanzigsten Jahrhunderts bahnt sich eine neue Wissenskultur an, denn mit der Weiterentwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien haben sich die disziplinären Bedingungen der Möglichkeit von Wissen selbst entscheidend verändert: .. Zum ersten Mal seit dreihundert Jahren arbeiten die Naturwissenschaften, die aber eher Technikwis­senschaften heißen sollten, und die Geisteswissenschaften, die sich aber eher Kulturwissenschaften nennen, am selben Equipment. " 14

Die zunehmende Komplexität der Wissensorganisation in der modernen Ge­sellschaft führt zu einer Rationalisierung bestimmter geistiger Arbeitsprozesse: die Mechanisierung der Datenverarbeitung und eine gewisse Automatisierung der Prozesse, die mit dem Speichern von Informationen zu tun haben, zwingen auch die Geisteswissenschaften zu einem kulturwissenschaftlichen Neuansatz. Dieser Neuansatz hat vor etwa zwei Jahrzehnten das Etikett ,Postmoderne' er­halten und bedeutet. daß unsere Gesellschaft nach der Moderne, einer Phase der Industrialisierung mit ihrer Idee eines Wachstums ohne Grenzen, zu neuen For­men der gesellschaftlichen Reproduktion, der sozialen Organisation und der Re­flexion entwickelt hat.1' Es geht dabei um mehr als einen bloßen Zeitgeist, von dem man sich beliebig distanzieren könnte. Vielmehr gilt es das Ineinandergrei-

13 Martin Rost: Wissenschaft und Internet­Zunft trifft auf High-Tech, in ders. (Hg. ) : Die Netzrevolution. Auf dem Weg in die Weltge­sellschaft. Frankfurt: Eichborn 1 996, S. l 65ff

14 Friedrich Kittler: Universitäten im Informa­tionszeitalter, in: Gianni Vattimo, Wolfgang Welsch (Hg. ) : Medien-Welten Wirklichkei­ten, München: Fink 1 998, S . l 4 1 - Zum Ver­such, diesem Equipment eine universalisri-

sehe Theorie beiwsteuern, vgl. Wolfgang Coy I Georg Christoph Tholen I Martin Warnke (Hg.): HyperKult. Geschichte, Theo­rie und Kontext digitaler Medien, Basel: Stroemfeld 1 997

15 Jean-Fran�ois Lyotard: La Condition post­moderne. Rapport sur le savoir, Paris 1 979, Wien: Passagen 1 999

Page 24: Medienphilosophie Hartmann

24 Mediale Existenz

fen von technischer, sozialer und kultureller Innovation zu erfassen. Die radika­len Veränderungen im Bereich der Medien sind dabei wie gesagt nicht Ursache, sondern selbst immer schon Ausdruck eines geänderten gesellschaftlichen Be­darfs. Ohne diesen Bedarf könnten neue Technologien sich nicht umfassend durchsetzen.

1 .4. Technoimagination

Die Situation einer sich auflösenden Moderne konfrontiert uns mit einigen wich­tigen Fragen: Wohin führen die neuen Kulturtechniken, was bedeuten sie für die Gestaltung der menschlichen Wirklichkeit? Sind wir nur Zeugen einer Logik des Zerfalls, oder einer Entstehung des Neuen? Was heißt Öffentlichkeit, was bedeu­tet Publizität angesichts der neuen Mediensituation? Es gibt manche kulturkriti­sche These zur gegenwärtigen Situation. Nehmen wir als Ausgangspunkt ein Zi­tat des Medienphilosophen Viiern Flusser, in dem die menschliche Kulturent­wicklung makroperspektivisch wiedergegeben ist: "Zuerst trat man von der Lebenswelt zurück, um sie sich einzubilden. Dann trat man von der E inbildung zurück, um sie zu beschreiben. Dann trat man von der linearen Schriftkritik zurück, um sie zu analysieren. Und schließlich projiziert man aus der Analyse dank einer neuen Einbildungskraft synthetische Bilder.'''•

Hiermit sind die großen Kulturbrüche der Menschheitsentwicklung angedeu­tet, die als Zivilisationsschübe interpretiert werden. Dem magischen Abbilden der geschichtlichen Frühzeit folgt die lineare Schrift, welche eine alphanumerische bestimmte Gesellschaft entstehen läßt, die als dominante Kulturtechnik jetzt durch den digitale Code ersetzt wird - die Kultur tendiert zurück zum Universum der Bilder. Diese Brüche beinhalten die Einführung des Drucks mit beweglichen Lettern im westlichen Europa des fünfzehnten Jahrhunderts, die Durchsetzung analoger Speichermedien wie Fotografie und Film seit dem neunzehnten Jahr­hundert, und schließlich die Phase einer Recodierung des alphanumerischen Co­des durch den kalkulatorischen Code des digitalen Zeitalters. These dabei ist, daß die verschiedene mediale Praxis von Kultur jeweils auch einer veränderten ge­sellschaftlichen Bedarfslage entspricht. Die Medien sind nicht mit einer Wertung versehen, sondern bleiben in ihrer ambivalenten kulturtechnischen Funktion für die gesellschaftliche Reproduktion zu verstehen. Damit verändert sich unsere Auffassung von Kommunikation grundlegend, die nicht mehr als Interaktions­beziehung, als soziale Handlung oder Ausdruck psychischer Intentionen zu ver­stehen bleibt, sondern eher informationstheoretisch und damit mehr im Sinne

16 Viiern Flusser: .Eine neue Einbildungskraft·. in: Der Flusser-Reader zu Kommunikation.

Medien und Design, Mannheim 1 995, 5 . 1 49

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Ausgangspunkte 25

von Kommunikation als sozialer Informationsverarbeitung: "In dem Maße nämlich, in dem sich unsere Kultur als Informationsgesellschaft versteht, müssen wir auch unsere Begriffe und Erkenntnisweisen umstellen: Wenn sich früher Gesellschaf­ten über Werkzeuge und Handlungen (Eisenzeit, Industriegesellschaften) oder über Interaktionsbeziehungen (Sklavenhalter, Feudalismus, D iktatur) definiert haben, dann sind heute Kommunikationsmedien und informationsverarbeiten­de Prozesse zu identitätsstiftenden Symbolen geworden. " "

Aktuell scheint e s eindeutig s o zu sein, daß Gedrucktes aus dem Zentrum der kulturellen Diskursorganisation rückt. Der mythologisierende Ausdruck einer "neuen Einbildungskraft" steht vor dem Hintergrund der Annahme, daß der alp­hanumerische Code von anders strukturierten Codes konkurrenziert und womöglich verdrängt wird. Mit anderen Worten, die phonetische Schrift hat im ,Abendland' eine falsche Selbstverständlichkeit gewonnen, welche "die Einsicht in den Zusammenhang von Alphabet. Rationalität und bürgerlicher Geschichte verstellt" .18 Die neuen Medien relativieren diese Selbstverständlichkeit. diesen zentralen Mythos der Buchkultur von der Eindimensionalität unserer Kultur -ein Mythos, dessen Funktion die Selbsterhaltung einer Bildungselite und die Sta­bilisierung ihrer Institutionen ist. Unter dem Titel "Ende der Gutenberg-Galaxis" ist diese These in den letzten Jahrzehnten ziemlich breitgetreten worden. Die Auf­regung darüber zeigt, daß sich die philosophisch/kulturtheoretische Reflexion ih­re eigenen medialen Bedingungen, nämlich der okzidentalen Schriftkultur, bis­lang zuwenig bewußt gemacht und damit die historische Kontingenz von Kultur­techniken verschleiert hat. Der Buchdruck, die neuzeitliche Rationalität, die Aufklärung und das wahrnehmungstheoretische Konzept moderner Wissenschaft hängen eng zusammen.'• Die Wissenschaft. "selbst ein Kind der typographischen Informationsgewinnung und -verarbeitung" (Michael Giesecke) , tendiert zur Le­gitimation ihres eigenen Apparates. Die Philosophie als ein Spezialfall der moder­nen Wissenschaft kommentiert, interpretiert und verwaltet Texte, sie bedeutet Arbeit am interaktionsfreien Reflexionsraum und thematisiert deshalb ihre Medi­en so gut wie nie, noch ist Kommunikation für sie ein wirkliches Thema.'0

17 Michael Giesecke: Geschichte, Gegenwart

und Zukunft sozialer lnformationsverarbei­tung, in: Manfred Faßler (Hg. ) : Alle mögli­chen Welten, München: Fink 1 999, S. l 86

18 So Norbert Bolz, Jacques Derrida referie­

rend, vgl.: Am Ende der Gutenberg-Galaxis.

Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München: Fink 1 993, S . l 87

19 Vgl. Elisabeth L. Eisenstein: Die Drucker­

presse. Kulturrevolutionen im frühen mo­

dernen Europa, Wien: Springer 1 997

20 Diese Auffassung bricht erst jetzt langsam

auf. Zu einer der wenigen Thematisierungen

vgl. Hans-Dieter Bahr: Medien und Philoso­phie. Eine Problemskizze in 1 4 Thesen, in : Sigrid Schade I Georg Christoph Tholen: Konfigurationen. Zwischen Kunst und Me­

dien, München: Fink 1 999, S . 50-68. Vgl. auch die Metaphysik der Telekommunikation in

Peter Sloterdijk: Globen. Sphären Band 2.

Makrosphärologie. Frankfurt: Suhrkamp

1 999, S.667ff

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26 Mediale Existenz

Aus all diesen Gründen kommt es zu dieser neue Medien abwehrenden Per­spektive, und im weiteren zu den Klischeevorstellungen von der Informations­flut, der Bilderflut, der Gesellschaft des Spektakels, etc. Wenn der neuen Me­dienpraxis nun jenseits der Naturalisierung bestimmter philosophischer Ansätze eine reflektierte theoretische Ebene entsprechen soll, dann ist dazu aber nicht nur eine Archäologie der technischen Medien nötig, sondern auch eine ideenge­schichtliche Folie der Interpretation von den verschiedenen Ebenen des kultu­rellen Ausdrucks. Das Problem ist nur, daß bislang fast nichts von dem, was nicht auf dem Datenspeicher Papier als Dokument in die Geschichte unserer Zivilisation eingegangen ist, in diesem historischen Bewußtsein existiert. Mit den neuen Me­dien wird die Geschichte vermutlich anders, und ziemlich sicher nicht mehr nur geschrieben sein.

1 .5. Medienverbund

Die Geschichte lehrt, daß wir uns in einem relativen Raum bewegen. Zusam­mensetzung und Daseinsweise des menschlichen Kollektivs verändern sich in­nerhalb größerer geschichtlicher Zeiträume, und damit auch die Art und Weise der Sinneswahrnehmung. Auch Kulturtechniken wie Sprache und Schrift sind nicht natürlich und unveränderlich vorgegeben, sondern abstrakte und bis zu ei­nem gewissen Grad arbiträre Konstrukte, die hauptsächlich der gesellschaftli­chen Konvention entstammen. Neue Formen der sozialen Informationsverarbei­tung und vor allem der Übergang von einer monomedialen zu einer multime­dialen Kultur verändern derzeit die Conditio Humana.

Die Vermittlungsform öffentlicher Kommunikation folgt von der Reformation bis zum Aufklärungszeitalter immer stärker den Imperativen der Buchkultur und unterliegt damit den Bedingungen typographischer Informationsverarbeitung. Das gilt sogar für die Auffassung von Vernunft. Das philosophische Bewußtsein ist auch ein sprachliches. Aber erst mit der romantischen Kritik an der Vernunft­kritik und mit ihrer Auflehnung gegen rigide Aufklärung treten Sprache und Denken in ein bewußtes Verhältnis. Es ist wohl kein Zufall, daß mit der B ibelkri­tik - mit dem Verlust des einen homogenen, für die Kultur verbindlichen Textes - dieses Verhältnis neu reflektiert und in der Sprachphilosophie aufgewertet wor­den ist. Die Vergewisserung der symbolischen Form der Verbalsprache dient der Verarbeitung des erkenntniskritischen Schocks, der darin besteht, daß die Welt überhaupt nicht so ist, wie es uns scheint. Die Welt für uns ist eine mediatisierte,

das heißt an sich keineswegs so, wie Menschen mit ihren Sinnen sie wahrneh­men. In der neueren Philosophie dreht sich die erkenntnistheoretische Fra­gestellung um diese aus der Relativierung der Stellung des Menschen stammen­de narzißtische Kränkung des menschlichen Subjekts, welches ein Bedürfnis

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Ausgangspunkte 27

nach neuer Gewißheit erstrebt. Die Grundfrage ist immer wieder die, ob es mög­lich ist, den ,Schein' zu durchschauen.

Aber es geht noch weiter, denn dieser Entfremdung vom Sein der Welt an sich fügt sich noch die Komplexität hinzu, daß wir diese vermittelte Welt nur durch Medien (zunächst die Sprache, die Wahrnehmungsorgane und deren technische Prothesen) kennen und unsere Erkenntnisse über sie nur durch Medien mittei­len können. Damit verflüssigt sich das Weltverständnis, und dieses grundlegend Transitorische wird, trotz aller temporären Festschreibungsversuche beispiels­weise in Kategorientafeln, zur uneingestandenen Bedingung der psychosozialen Befindlichkeit in der Moderne. Die vom Menschen selbst entwickelte Technolo­gie hat wesentlich zu dieser Depotenzierung seiner Subjektrolle beigetragen, um inzwischen bei einem "Medienverbund" angelangt zu sein, der gänzlich neue Fragen an das Verhältnis zwischen Welt und den Weisen, wie wir uns Welt mit­teilen, stellt."

Der gesellschaftliche Fortschritt verdankt sich nicht allein technischen, son­dern vor allem sozialen und kulturellen Innovationen. Nach einem Wort von Viiern Flusser braucht die in den letzten Jahrhunderten entwickelte Technologie ihre notwendige Ergänzung durch eine Kommunikologie. Wie die alle Lebensbe­reiche tangierende Industriegesellschaft die Soziologie, also die Entwicklung ge­sellschaftswissenschaftlicher Disziplinen im ausgehenden neunzehnten Jahr­hundert zur Folge hatte, wird die postindustrielle Informationsgesellschaft neue medienwissenschaftliche Ansätze evozieren. Auch wenn sie sich noch nicht zu einer Disziplin verdichtet haben, sind diese kommunikologischen Ansätze inner­halb verschiedenster Disziplinen schon längere Zeit bemerkbar. Es geht dabei um eine Rekontextualisierung der philosophischen Fragestellungen im Rahmen der geänderten Bedeutung von Kommunikation auf neuen technischen Grundlagen.

Solche Rekontextualsierung funktioniert nur im Medienverbund und bedeu­tet eine neue Art von Diskursverflechtung jenseits des Monographien produzie­renden wissenschaftlichen Autors. Ende des achtzehnten Jahrhunderts, als die Aufklärer die Vermittlungsformen der Öffentlichkeit zu reflektieren begannen, und während erfolgreiche Autoren wie Goethe als literarische Genies gefeiert wurden, keimten Zweifel an der Tragfähigkeit der als Effekt einer spezifischen Buchkultur durchschaubaren Autorenrolle auf. "Journale sind eigentlich schon gemeinschaftliche Bücher", heißt es in einem Text des Novalis von 1798, und weiter: "Das Schreiben in Gesellschaft ist ein interessantes Symptom - das noch

21 Manfred Faßler, Wulf Halbach (Hg. ) : Ge· schichte der Medien, München: Fink (UTB) 1 998, Einleitung, 5.22 - Faßler spricht in der Folge von einer .. Bedeutungskarriere des

Medialen als einem sozialen Verständigu ngs­raum", vgl. ders.: Was ist Kommunikation?, München: Fink (UTB) 1 997, 5 . 1 1 8

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eine große Ausbildung der Schriftstellerey ahnden läßt. Man wird vielleicht ein­mal in Masse schreiben, denken und handeln - Ganze Gemeinden, selbst Natio­nen werden ein Werck unternehmen. "22 Was hiermit sich anbahnt, ist die Frage nach der einer Autorschaft vorgängigen und sie mehr oder weniger bedingenden Kommunikation, etwa im Sinn einer Verständigung über die möglichen Aussa­gen eines Fachgebietes unter Fachgelehrten. Der Autor wird weniger als Moment in der kreativen Produktion eines Werkes gesehen, der das Rohmaterial seiner Gedanken auf unbeschriebenen Blättern zum Ausdruck bringt, sondern als Vek­tor einer Kommunikationssituation, welche die Form vorgängig bestimmt, in der die Äußerung letztlich vonstatten geht. Es dauerte aber noch gut eineinhalb Jahrhunderte, bis man sich daran machte, konkrete Vorschläge für eine nicht­mechanische Organisation vernetzter Kommunikation zu entwickeln.n

Im Zeitalter ihrer elektronischen Vernetzung sind Schreibakte, deren Derivate (verinnerlichte Lektüre, kontemplative Betrachtung . . . ) und die dazu eingesetz­ten Medien nicht mehr das, wofür sie bis vor kurzem noch gehalten wurden. Daß dies irrationale Ängste bis hin zur Technophobie auslöst - die von der konserva­tiven Kulturkritik dankbar ausgeschlachtet werden - wird verständlich, wenn man sich vor Augen führt, daß die aufklärerischen Alphabetisierungskampagnen ein spezifisches Ideal der Verbindung von Text und Selbst proklamieren, durch­aus auch im nivellierenden und disziplinierenden Sinne der über die neu einge­führte allgemeine Schulpflicht implementierten Kulturtechnik. Als bestimmte Wahrnehmungs- und Denkform der ,Gutenberg-Galaxis', mit der man sich theo­retisch erst aus einer gewissen Distanz, nämlich nach der massenwirksamen Ein­führung des Fernsehens ernsthaft zu beschäftigen begann24, erscheint die Verbin­dung von Text und Selbst mittlerweile als ein historisches Gebilde. Die in jeder Grundschule vermittelten elementaren Kulturtechniken Schreiben, Lesen und Rechnen werden nicht obsolet, verlieren aber möglicherweise ihre dominieren­de Rolle innerhalb der Bildungssozialisation. "Es ist keineswegs abwegig zu sa ­gen, daß unter den heutigen medialen Bedingungen eine Mixtur von Text, Ton, Bild, körperlicher Bewegung und Verhaltensereignissen ,Selbst' und ,Ich' her­ausbildet. "25

Über die Zukunft der schulischen Wissensvermittlung läßt sich also gut spe­kulieren, aber auch' über ein neues Verhältnis von Wissenschaft und Medien. Wurde in der philosophischen Reflexion, die von der Erkenntnistheorie weg-

22 Novalis, Schriften, Hg. R.Samuel, ll, S.645,

zit. nach: Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit

der Welt, Frankfurt: Suhrkamp 1 989, S.30 I

23 Vannevar Bush: As We May Think, in: The

Atlantic Monthly, July 1 945 (vgl. dazu un­ten, Exkurs 4)

24 Marshall McLuhan: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographie Man, Toronto

1 962; ders.: Understanding Media. The Ex­

tensions of Man, New York 1 964 25 Faßler: Was ist Kommunikation? op.cit.,

S .63

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Ausgangspunkte 29

führt und über sprachphilosophische und sprachkritische Positionen doch immer wieder konstruktivistische Aspekte einbringt, anstelle der Denkregeln die Auf­merksamkeit auf die Sprachregeln gelenkt, die unser Weltverständnis bestim­men, so mußte sie sich eingestehen, daß sie den gesellschaftlichen bzw. kulturel­len Zusammenhang, in dem sie grundsätzlich stattfindet, nicht einfach transzen­diere kann.'• Genau die gegenteilige Annahme bildete aber den philosophischen Ausgangspunkt neuzeitlicher Philosophie ab Descartes, mit dessen Öffnung eines neuen, Gewißheit verbürgenden imaginären Denkraumes mit Hilfe bewußt ein­gesetzter publizistischer Mittel wir uns in der Folge zunächst beschäftigen wer­den. Das Schlagwort unserer Zeit ist Vernetzung, die philosophische Moderne je­doch hatte mit der gegenläufigen, aber in sich gebrochenen Bewegung begon­nen, um das uns vertraute Bild des wissenschaftlichen ,Autors' zu schaffen.

Publizität und menschliche Kreativität in der Kommunikation, deren Struk­turbedingungen über die sprachphilosophische Reflexion immer deutlicher her­vortreten, führen dann weiter zu Positionen, die über das bedeutungsschaffende Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit neue Klarheit zu erlangen suchen, auch und gerade indem sie mit Sprache über die Sprache hinaus denken. Neue Medi­en und die Rationalisierung geistiger Prozesse stellen schließlich neue Bedingun­gen für diese Reflexionen, deren medienphilosophische Rekonstruktion in der Einsicht mündet, daß das kommunikationswissenschaftliche Makromodell der vergangenen Jahrzehnte - das Texte rezipierende Selbst, oder das Subjekt als pas­siver Empfänger von Botschaften eines Senders - durch die neuere Medienent­wicklung nicht nur relativiert, sondern widerlegt wird zugunsten eines noch nicht präzis differenzierten Modells des kollektiv strukturierten Technoima­ginären.

26 Richard Rorty: Hoffnung statt Erkenntnis. Eine Einführung in die pragmatische Philo· sophie, Wien: Passagen 1 994

Page 30: Medienphilosophie Hartmann

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2. Kapitel - Imaginäre Räume. Descartes, oder der Auftritt des modernen Autors

.. an Autoren ist großer Mangel. "

Michel de Montaigne

2 . 1 . Programm der Moderne

Aus dem Zweifel an überkommenen Verbindlichkeiten geboren, findet der Mensch der frühen Moderne sich weder eins mit der Welt noch mit seinesglei­chen. Das ,Subjekt' erhebt sich über die Kollektivität der Tradition, befreit sich von deren Zwängen durch individuelle Reflexion, die es mittels Publikation wie­der kulturell objektiviert.

Als Sieg der Vernunft über Tradition und Aberglauben wird gehandelt, wenn die mündigen Subjekte sich nun daran machen, die Welt nach neuartigen Prinzi­pien zu gestalten und dabei eine Narrnativität zu entwerfen, welche die soziale Ordnung einerseits philosophisch begründet und andererseits mit einem Univer­salistischen Anspruch versieht. Der Grund: die Welt ist komplexer geworden, Tradition und Glauben sind geschwächt. Also wird nach neuen Konzepten ge­sucht. Der Eintritt in die Moderne verbindet sich bald mit einer erkenntnistheo­retischen Beweisführung, die dem Ungenügen über die Tatsache eines zuneh­mend säkularisierten Daseins entspringt. Denken als solches, geprägt von einer defizitär gewordenen Erfahrung des Glaubens wie des pragmatischen Wissens, sucht seine Neubegründung in den Formen einer Abstraktion, wobei es seine Existenz nichts anderem dankt als eben der Reflexivität selbst. Das moderne Sub­jekt hat spezifisch neue Probleme, auf die eine neuartige Rationalität reagiert.

Erst auf den zweiten Blick entpuppt sich hierin ein politisches Motiv. Wenn ab einem bestimmten historischen Zeitpunkt eine Form der Reflexion einsetzt, dann verschmäht sie das traditionelle Erbe einer ,Gewißheit' aus der katholischen Leh­re ebenso wie die protestantischen Häresien. ' Das Programm der Moderne ist ein Abstraktionsschritt, der einst die Erhebung aus der Depression des dreißigjähri­gen Krieges versprochen hat. Auch als vielversprechende Lösung vom renais-

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sancehumanistischen Ballast. Ein kognitiver Fortschritt schien nur unter der Be­dingung einer methodischen Distanzierung von Naturerscheinungen und Vital­kräften möglich, und diese methodische Abstraktionsleistung hat in Rene Des­cartes nicht nur einen prominenten Namen, sondern geradezu seine zentrale Metapher gefunden. Er begründet den modernen Individualismus und zeigt gleich schon das Problem der Vermittlung von Einem zu den Vielen, vom Autor zu seinem Publikum.

Nach den uns überlieferten Vorstellungen von Descartes bedeutet eine Kultur

der Vernunft zu entwerfen zuerst beherrschte Arbeit an sich selbst. Der Ausgangs­punkt aller Reflexion wird ins Subjekt verlagert, und das kollektive Moment der kulturellen Tradition mit ihren eingespielten Kommunikationen gründlich ver­worfen: "Descartes ist der prominenteste Praktiker und Prediger eines kognitiven possessiven Individualismus."' Sein bewußt artikuliertes ,Ich' zwängt sich als Ausdruck intellektueller Mündigkeit lässig-penetrant in den Text, dessen Mate­rialität als Produktionsbedingung für den Gedanken umso mehr vernachlässigt scheint, als die Reflexionsgrundlagen ausschließlich in ein substanziell gefaßtes Ego verlegt werden.' Dieses Ego muß neu ansetzen, und das heißt, es kann we­niger aus dem Vorhandenen schöpfen, sondern muß auch seine Adressaten neu erfinden. Wenn der strukturierte Zusammenhang fehlt, muß es ihn schaffen, und wird aus diesem Grund beispielsweise Verfasser von Traktaten und Büchern. In denen geht es dann nicht nur um Themen und Thesen, die publikationswürdig wären, sondern immer auch um eine Selbstthematisierung. Kaum ein Autor, der nicht explizit oder implizit über das Schreiben selbst schreiben würde.

Wenn es nahe liegt - und Autoren wie Stephen Toulmin behaupten dies mit guten Gründen - zum Verständnis von Descartes sich auch mit Montaigne aus-

Stephen Toulmin: Kosmopolis. Die uner­

kannten Aufgaben der Moderne, Frankfurt:

Suhrkamp 1 99 1 . S.99

2 Ernest Gellner: Descartes & Co. Von der Ver­

nunft und ihren Feinden, Hamburg: Junius 1 995, S . l 3 Rene Descartes: Discours de Ia methode pour bi­en conduire sa raison, et ehereher Ia verite dans /es sciences ( 1 637) , in ders.: Philosophische

Schriften in einem Band, Hamburg: Meiner 1 996 - vgl. Einige moralische Regeln (Drit­ter Teil. Abs.5 ) : .Endlich . . . verfiel ich dar­auf, eine Musterung der verschiedenen Be­

schäftigungen zu halten, denen die

Menschen in diesem Leben nachgehen, um die beste darunter auszuwählen, und glaub-

te (die Beschäftigung anderer will ich über­

gehen) . ich könnte nichts Besseres tun, als mit der fortfahren, der ich bereits nachging,

d.h. mein ganzes Leben darauf verwenden,

meinen Verstand zu kultivieren und, soweit ich könnte, nach der Methode, die ich mir vorgeschrieben, in der Erkenntnis fortzu­

schreiten." S.44 - Im vierten Teil, Funda­mente der Metaphysik, schreibt Descartes

von der Erkenntnis, .daß ich eine Substanz bin, deren ganzes Wesen oder deren Natur nur darin besteht, zu denken und die zum Sein keines Ortes bedarf, noch von irgendei­

nem materiellen Ding abhängt ( . . . )." ebd.,

S .55

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Desca rtes 33

einanderzusetzen, dann sei an dieser Stelle dessen Klage erwähnt, daß es in den Büchern mehr um Bücher als irgendeinen anderen Gegenstand gehe, mehr um die Auslegungen als um die Sache selbst, mehr um Anmerkungen und Zitate als um alles andere: .. Alles wimmelt von Kommentaren; an Autoren ist großer Man­gel. "• Descartes nämlich stellte genau diese Forderung, zuerst die Sache selbst zu verstehen, und nicht die Aussagen anderen Wissenschaftler, mithin Autor zu werden statt bloßer Kommentator zu sein. Zumindest präsentiert er so seine eige­nen Absichten - wie wir noch sehen werden in strategischer Negation der Kon­textualität. in der seine eigene Textproduktion steht.

D ie Innovation der cartesischen Methode, im Singular wohlgemerkt, distan­ziert das Herkömmliche auch in dem Sinn der Forderung, als eigenständiger Au­tor zu einer absoluten Mündigkeit der Aussage zu gelangen. Die Heteronomie oder auch Unvernunft liegt. wie später Kant im berühmten Aufklärungs-Essay sagen wird, in der weithin akzeptierten Bequemlichkeit, statt eigenen Gedanken eben einen Datenträger in Form gebundenen Papiers zu haben, jenes Buch, .. das für mich Verstand hat" (vermutlich aber nur, sofern ,ich' nicht den philosophi­schen Autor selbst bezeichnet ) . In diesem Zusammenhang taucht das Medium als Vehikel auf. das uns erlaubt. eigene Gedanken zu tragen - stellvertretend, denn die Kritik am Sekundären ist der Würdigung dieses ausgelagerten Speichermedi­ums ,Buch' von vornherein eingeschrieben. Einerseits speichert das Buch Wis­sen, was beileibe keine individuelle Angelegenheit ist. Das Programm der Mo­derne umfaßt andererseits die Inthronisation des Autors, dessen Text als autori­tative Aussage Sozialität und Kontextualität subsumiert.

2.2. Die Methode als Lösung des Vermittlungsproblems

Vorerst jedoch geht es darum, überhaupt an Terrain zu gewinnen oder einen Raum zu besetzen, und dies richtet sich zu Descartes' Zeiten gegen den Bereich des im buchstäblichen Sinn festgeschriebenen Glaubens ebenso wie gegen eine Erfahrungspraxis, die man sich im Sinne eines gelungenen Handwerks vorzu­stellen hat. Nichts anderes bedeuten jene cartesischen .,espaces imaginaires"', die unter Mißachtung der Materialität des Textes betreten werden. D iese imaginären Räume fordern uns im philosophischen Sinne heraus, Stellung zu nehmen zu dem, was ist, um die bloße Beschreibung wiederum zu durchbrechen mit der Be­gründung, daß ein ganz anderer Diskurs auch möglich wäre als der, welcher sich

4 Michel de Montaigne: Von der Erfahrung. zit. aus Matthias Greffrath: Montaigne. Ein

Panorama. Frankfurt: Eichborn 1 992, S.303

Descanes: Discours, Fünfter Teil, Abs.2.

op.cit.. S.70

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34 Imaginäre Räume

im Bereich des bloß empirisch Feststellbaren bewegt. Ein Problem, das die neue­re Philosophie kennzeichnet.

Erst dem nur noch mit sich selbst identischen, und darin reflektierten Subjekt stellt sich das krasse Problem der Vermittlung zwischen Ich und Welt, der Zwang zur Herstellung neuen Wissens als Versprechen, als ein erst Herzustellendes, nicht schon empirisch Vorgegebenes. Was nicht ist, drängt zur Artikulation, und der Philosoph schreibt auf. Die Welt wäre zu betrachten wie ein Text, der eben noch nicht geschrieben steht- und der, da er seinen Autor noch nicht gefunden hat, eine quasi moralische Verpflichtung zur Kontextualisierung darstellt, wie sie in den Publikationsritualen der Gelehrtenrepublik dann endlos durchexerziert wird. Es ist der moderne Buchdruck•, der jenen starren Referenzrahmen schafft, dessen vereinheitlichter Maßstab auf der Suche nach einem verbindlichen Aus­druck für die Einsichten der Vernunft vielversprechend zum Einsatz kommt: er­laubt er doch erst jene ,reine' philosophische Methode, die den Formalisierungs­leistungen von Mathematik und Geometrie gleichkäme. Vergessen ist der Zu­sammenhang von Kulturtechnik und Denken, die Irrtümer der Praxis werden aufgehoben in einem abstrakten Ansatz, der als Philosophie der Befreiung gleich­wohl selektive Zwänge kennt, indem rationale Verhaltensregeln gesetzt werden. Im Falle Descartes heißt dies methodisches "Abwägen, Klarheit, Aufteilung der Probleme, Gründlichkeit, Buchführung, Rechnungsprüfung" .7

Gemeinsamer Nenner ist nurmehr die Abstraktion, als methodischer Impera­tiv und als Ideal zugleich, um die neuen Ansprüche einer ,modernen', rationalen Haltung gegenüber der Welt zu legitrnieren.• Die philosophische Wahrheit oder gar die Ordnung des Kosmos wird dabei auf ein neues Prinzip der Methode abge­stellt, denn unabhängig von äußerer, vermittelnder Autorität soll das Subjekt in eigener Kraft nachvollziehbar sich aneignen, was dann allgemein Bedeutung und Geltung erlangt und damit zur Vermittlung von Welt taugt. In einer doppelten Negation, gegenüber dem physischen Selbst wie seiner Verortung im sozialen Körper, urgiert der moderne Geist seine Mündigkeit, indem er sich von der tra­dierten Kultur als eigentlicher Quelle von Irrtum und Aberglaubens nachhaltig distanziert. D ie Spur wird getilgt, nach der das moderne Wissen sich formt.

Für diese Abstraktionsleistung, die dem Geist der Moderne die methodische Grundlage liefern sollte, steht das Descartes'sche Programm schlechthin: "Für die methodischen Maßstäbe, die Descartes aufgestellt hatte und die er allein als gül­tig anerkennt, ist die Physik der Geometrie völlig ebenbürtig geworden. Das Ide-

Eisenstein: Die Druckerpresse, op.cit. Gellner: Descartes, op.cit., S. l 8 ,Moderne' wird hier i m bereits erwähnten Sinn weniger als Epoche verstanden, denn

als ein neuer Habitus der Begründung. Zur Schwierigkeit der Epochenabgrenzung vgl. To ulmin: Kosmopolis, op.cit., Kapitel I

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Descartes 35

al einer mathematischen Naturwissenschaft war in den allgemeinen Umrissen schon von Nikolaus Cusanus und von Leonardo da Vinci klar erfaßt worden, und in Keplers ,Astronomia nova' sowie in Galileis Grundlegung der Dynamik hatte es sich mit konkretem empirischem Gehalt erfüllt - aber erst Descartes war es, det diesem Ideal seine universelle Durchführung zu sichern vermochte, indem er ihm seine philosophische Legitimation, seine strenge methodische Begründung gab." •

Der methodische Zweifel an dem, was ist, "zerstört die Welt der Sinne und ne­giert die geschichtliche Tradition"; diesen autoritativen Akt hat bereits Ernst Cas­sirer als die "Entdeckung des Individuums" dechiffriert, eine Entdeckung, "wie sie die Renaissance in der Dichtung, in der bildenden Kunst, im religiösen und politischen Leben erstrebt" und wie sie in diesem neuen Stil des Philosophierens "ihren philosophischen Abschluß und ihre philosophische Rechtfertigung erhal­ten" habe. ' " Nicht thematisiert wird in seiner philosophiehistorischen Rekon­struktion die materiale Grundlage der Individualisierung: die Fassung des Des­cartes'schen Selbst als einem individualisierten, nichtakademischen Autor auf der Grundlage eines bereits eingespielt funktionierenden Druck- und Verlagsge­werbes.

Von einer Abstraktionsleistung ist hier die Rede, weil das moderne Subjekt als Autor neue Mittel und Wege sucht, zu einer Verständigung über die Welt zu ge­langen. Es handelt sich dabei um ein Vermittlungsproblem, für das eine neue Lö­sung gesucht wird. An einem bestimmten Punkt der europäischen Geistesge­schichte war es eben nicht mehr möglich, sich ungebrochen auf Tradition, Auto­rität, Erfahrung, oder auch nur die eigenen Gefühle zu verlassen - in einer Zeit der fundamentalen Glaubenskämpfe und großer Kriege, zu Anfang des sieb­zehnten Jahrhunderts, vermochte nur eine ,gründlich erdachte' Ordnung das Versprechen von Sinn aufrechtzuerhalten, und nur durch philosophische Refle­xion schien man im Verständnis der Welt noch einige Schritte weiterzukommen. Vor dem sozialpolitischen Hintergrund des desaströsen, sogenannten Dreißig­jährigen Krieges, der ganze europäische Landstriche entvölkert und Generatio­nen ihrer Lebens- und Glaubensgrundlagen beraubt hatte, stand die anspruchs­volle Frage im Raum, worauf man sich in dieser Welt denn noch mit Gewißheit verlassen könne. Die politische wie die religiöse Tradition hatte darin versagt, die­se Frage zu beantworten, da sie ihre Geltung im Kampf um die europäische Vor­herrschaft nurmehr mit Gewalt beanspruchen konnte.

9 Ernst Cassirer: .Descanes· Wahrheitsbegriff. 10 ebd .. S.LV Betrachtungen zur 300-Jahresfeier des , Dis-cours de Ia Methode'" ( 1 939) , in: Rene Des-canes: Philosophische Schriften, op.cit.. S.Lil

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Wenn Rene Descartes, dessen Name zum Symbol der modernen, rationalen Weltsicht geronnen ist, mit seinen Entwürfen und Texten zu einer neuen Art und Weise einladen wollte, über die belebten und unbelebten Phänomene dieser Welt nachzudenken, dann war das in jenen Zusammenhängen ein durchwegs politi­sches Statement: warum sind wir nicht imstande, unseren Verstand zu gebrau­chen, warum leben wir in einer derart unvernünftigen Welt, und warum ist der Beitrag der Wissenschaften zur Gestaltung dieser zentralen Fragen so unbefriedi­gend? Fast vier Jahrhunderte trennen uns schon vom Fragesteller, und doch las­sen sich jene Fragen im Grunde genommen nur wiederholen. Von seinem Ver­trauen in die Wissenschaften allerdings, hier .unerschütterliche und wahre Ur­teile" hervorzubringen, haben wir uns mittlerweile etwas distanziert. ' ' Aber nicht das Votum für Wissenschaft, was immer darunter zu verstehen sein mag, prägt die Leseerfahrung von Descartes Schriften heute, sondern das Vertrauen in die Methode als solche. Die Methode ist es schließlich, die Wissenschaft ausmacht, al­so mehr die Art, Fragen zu stellen, als die Weise des Antwortens. Sie scheint auf ein Rahmenwerk zu vertrauen, das Gegebenheiten schafft und diese nicht nur als solche empirisch verbürgt.

Die Zuwendung aufs Dasein der Welt, an die man Fragen zu richten hat, radi­kalisiert sich einerseits, erhofft aber andererseits keine Antwort aus dieser Welt selbst. Ihre Ausprägungen sind dem Intellekt längst nicht mehr selbstverständ­lich, sodaß der Zweifler bekanntlich lieber ganz und in aller Radikalität auf sich selbst vertraut als auf eine fragwürdig gewordene Empirie: die eigentlich unge­heure Frage, ob materielle Dinge denn überhaupt existieren, setzt Descartes al­lerdings ganz an den Schluß seiner Mediatationes. Die Spekulation über die Welt erscheint dem Philosophen ungereimt, solange zunächst nicht danach gefragt wird, was die menschliche Vernunft überhaupt zu erkennen imstande sei. Die Grenzen der Erkenntniskraft zu bestimmen ist eine Sache; die andere ist die, uns selbst als Erkennende von den Sachen, die erkannt werden können, zu trennen. 12

Das Problem kristallisiert sich letztlich darin, die Strukturen der menschlichen Beziehungen zur Welt und damit die Ordnung der Dinge" völlig neu festzulegen: Descartes bemüht dazu keine höhere Instanz als jene Urteilskraft, die eine gründ-

1 1 Rene Descartes: Regulae a d directionem ingenii (ca. 1 628) - vgl. die Regel ! : .Es muß das Ziel der wissenschaftlichen Studien sein, die

Erkenntniskraft darauf auszurichten, daß sie

über alles, was vorkommt, unerschütterliche

und wahre Urteile herausbringt." in ders.: Philosophische Schriften, op.cir., S .3

12 Descartes: Regulae, Regel 8: das Unterneh­

men bestehr darin, zuerst .ingenii limites

definire", und dann uns selbst als unter­schieden zu sehen von dem, was erkannt

werden soll: .nos, qui cogniriones sumus ca­

pacer• gegenüber den .res ipsas, quae co­

gnosci possunt", ebd., S.52f

13 • . . . ordinis, vel in ipsa re existentis, vel sub­riliter excogitati . . . • - vgl. Descarres, Regulae, Regel 8, op.cit. S.64

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Descartes 37

liehe und vollständige Lektüre seiner Darlegungen nur bestätigen könne. Er will vor allem als Autor ernstgenommen werden. Descartes legt souveräne Regeln fest, nach denen der Verstand geleitet werden solle. Dabei wird angeblich kein Anspruch erhoben, dies für andere zu leisten; also eine Lehre des Verstandesge­brauchs zu erstellen, sondern nur darüber zu berichten, wie er, der Autor selbst, seinen Verstand zu leiten entdeckt habe.'• Er stellt seine Schrift als Rekonstrukti­on dessen vor, was er selbst aus der strengen Reflexion gelernt hat. Die Frage ist nun nicht, warum er dies aufschreibt, sondern vielmehr warum er dies denn pu­bliziert. Im Vorwort zu den Meditationes gibt Descartes bekannt, daß er dies nur für solche tue, die mit ihm nachzudenken gewillt sind. Anscheinend geht es also doch um eine Gemeinschaftsbildung. In bewußter Kumpanei mit seinen zunächst spärlichen Lesern setzt der einsame Autor Descartes seinen Text gegen nichts weniger als den Rest der Welt.

2.3. Methodische Buchführung

Bestimmend für das cartesianische Weltbild ist ein Reinigungsprozeß, nach wel­chem der rationale Geist, abgelöst von aller Materie, sich wieder auf diese be­zieht. Dabei entsteht das Problem, eine verläßliche Verbindung nachträglich ent­weder herzustellen oder wenigstens plausibel zu identifizieren. Hier genügt die Tradition nicht mehr, weder als die Gewöhnung aus der alltäglichen Praxis noch als die Macht der Autoritäten, und - wie wir gleich noch sehen werden - auch nicht der Kontext gelehrter Äußerungen; bei Descartes wird ja erstmals die Be­freiung von der kulturellen Überlieferung zur Grundlage wissenschaftlicher Theorienbildung. Was zählt, ist letztlich immer nur die Evidenz der Vernunft. Solche Evidenz beruht vornehmlich auf der Geltung allgemeiner und sicherer methodischer Prinzipien, deren Akzeptanz nicht von Äußerlichkeiten und Zwang abhängen darf, die ihre eigene Kontextualität aber doch weitgehend auf­gelöst haben.

Während der cartesianische Rationalismus retrospektiv gern als eine zwang­hafte Vorstellung wahrgenommen wird, als ein methodisches Korsett, in welches das Denken der Moderne gezwängt worden ist, so wäre einer Binnenperspektive unbedingt mehr Raum zu gewähren. Denn zu bestimmten Zeiten konnte die Be­freiung von jenen Irrtümern, die trotz aller gesellschaftlichen Mißstände ,Kultur' genannt wurden und immer noch werden, durchaus aufklärerisch sein. Zum ei­nen wurde das durch scholastische Diskurse charakterisierte mittelalterliche Uni-

14 .Ainsi mon dessein n'est pas d'enseigner ici

Ia methode que chacun doit suivre pour bien conduire sa raison, mais seulement de

faire voir en quelle sone j'ai tilche de con­

duire Ia mienne. · - vgl. Descartes: Discours, Erster Teil, Abs.5, op.cit . . 5.6

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38 Imaginäre Räume

versitätssystem mit seinen Kanonisierungszwängen für den wissenschaftlichen Fortschritt als hinderlich empfunden. Zum anderen sollte, als Entwurf eines neu­en wissenschaftlichen Systems der Welt, durch die Scheidung der physikalischen von einer moralischen Sphäre eine definitive Befreiung der Wissenschaft von der Religion durchgesetzt werden. Wissenschaft könnte dann autonom funktionie­ren, und dieser Autonomiewunsch reproduziert sich im getrennten Verhältnis zwischen Materie und Geist, zwischen Körper und Seele. Soll der Mensch über die Natur auf Erden herrschen, dann muß eben eine praktische Wissenschaft die spekulative Philosophie ersetzen, welcher lediglich der Intellekt immanente Grenzen setzt, da dieser allein des Wissens im systematischen Sinne fähig ist ."

Anders, und mit retrospektiver Billigkeit gesagt: erst in einer Welt, die zuneh­mend technisch wird, und die diese Technizität in der Aufwertung experimentel­ler Methoden als einer neuen Wissenschaftspraxis auch lebt, wird der Körper dis­ponibel - unter der Herrschaft der Vernunft als dem menschlichen "Universalin­strument", und doch noch in deutlicher Unterscheidung zu jeder Form von technischen Maschinen oder gar Automaten. ' • Was übrigens den Körper als "Giiedermaschine" angeht, wie ihn Descartes in den Meditationes einmal bezeich­net, so hat er ihn durchaus als ganzheitlichen Organismus betrachtet, im Sinne eines Systems von Gleichgewichten, wie es dem Bild der traditionellen Medizin entspricht. Der Körper wird in dieser Philosophie keineswegs negiert, wie es der Mythos haben will, nur sein Eigensinn, den er mit alle anderen in der Natur vor­kommenden Dinge teilt und der den Geist erheblich zu täuschen vermag. Etwas zugespitzt formuliert könnte man behaupten, daß Descartes das Verhältnis von Körper und Geist als ein Problem der Datenübertragung gesehen hat, in der das Gehirn oder ein Teil desselben die Rolle des Mediums spielt: körperliche Wahr­nehmungen sind mediatisierte Eindrücke, geistige Fähigkeiten und Gefühle (Wollen, Empfinden, Erkennen etc.) sind hingegen immanent und damit unmit­telbar gegeben.'7 Nur die Authentizität rationalen Denkens verbürgt klare und

1 5 Descanes: Regulae, Regel 8 , Abs.6: • . . . so­

lum intelleeturn scientiae esse capacem . . . •

op.cit.. S.52 1 6 Descartes: Discours, Fünfter Teil, Abs.9· 1 0,

op.cit., S.9 l f

17 vgl. Descanes: Meditationes, op.cit., Sechste

Meditation, Abs. 1 9 und 20. Besonders gern

spielt das Genre des Science-Fiction Films

mit dieser Unterscheidung von mediati­sien/nichtmediatisiert, wenn die Frage nach dem Wesen des Menschen gestellt wird, in­

dem Leben und künstliches Leben bzw. künstliche Intelligenz konfrontiert werden.

Vgl. dazu die SciFi-Persiflage .Dark Star·

(Regie: John Carpenter, Buch: Dan O'Ban­

non, 1 974). Dialog des Astronauten mit der Bombe (http:/1/28. / 74.194.59/cybercinema/ bomb20.htm). Vgl. weiters den SciFi-Kult!ilm .Biaderunner" (Regie: Ridley Scott, Buch: Philip !<.Dick, 1 982), der sich u m die Unter­

scheidung von Menschen und Androiden

( ,Replikamen') dreht (http://www.minet.uni· jena.de/ -vicay/BR·FAQ.html) oder jetzt aktu­ell: • The Matrix" (Regie: Larry + Andy Wa­chowksi, 1 999), wo Menschen nur als

Illusion in einer von Maschinen für sie pro­

grammierten Umwelt vorkommen (http://www.whatisthematrix.com)

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deutliche Ideen und begründet damit jene Anziehungskraft, die vom Prinzip des Ich denke ausgeht; Ernest Gellner hat gezeigt, daß die rationale Transparenz hier Selbstzweck ist, die Anschlußfähigkeit im Sinn der Überprüfbarkeil einer metho­dischen Buchführung garantieren soll. In der Identifikation der Rezipienten mit dem Ich, das hier angeblich denkt, wird das Phantasma konstruiert, es gebe eine nichtmediatisierte Realität der kognitiven Gewißheit, jenen reinen Geist eben, der die Philosophie bewegt, und damit eine Sphäre, zu der wahre Denker privilegier­ten Zutritt haben.

Es fällt nun aber offensichtlich wirklich leichter, in der Rekonstruktion festzu­stellen, was sich hinsichtlich der wissenschaftlichen Grundeinstellung in einer bestimmten Zeit geändert hat, als zu verstehen, warum dem so ist. Welches In­teresse verfolgte jenes philosophische Erkenntnisideal der Klarheit und Deutlich­keit? Wissenschaftlicher Fortschritt als solcher ist für einen einzelnen Gelehrten eine zu abstrakte Kategorie, als daß daraus ein Erklärungsmuster abzuleiten wä­re, das ein neues methodisches Paradigma und damit den Eintritt in die Moderne wirklich plausibel machen würde. Die Wissenschaftler selbst favorisieren ein ob­jektives Ideal vielleicht auch aus dem Grunde, da sie sich der Abhängigkeit von Mäzenen und ihren an die Forschung herangetragenen Wünschen entziehen wollen. Im weiteren Sinn aber ist die systematische Ausdifferenzierung des Wis­sens auf der neuen methodischen Grundlage ein Echo auf den zeitgeschichtli­chen Kontext, der Verbindlichkeiten anderer Art einfordert, als sie im Rahmen lokaler Bezüge erbracht werden können.

2.4. Auf der Suche nach neuer Gewißheit

Es ist die Tatsache einer vermittelten, und in diesem Sinn abstrakt gewordenen Welt, die die moderne Suche nach Gewißheit provoziert. Besonders wenn man der Deutung von Tauimin folgt, dann wird verständlich, wie sehr diese cartesia­nische Denkart sich außerdem den historischen Umständen des Dreißigjährigen Krieges und seinen sozialpolitischen Implikationen verdankt: "Wenn Unge­wißheit, Vieldeutigkeit und Pluralismus in der Praxis nur zu einer Verschärfung des Religionskrieges führten, dann war jetzt die Zeit gekommen, um endlich ei­ne rationale Methode ausfindig zu machen, mit der man die so lebenswichtige Richtigkeit oder Unrichtigkeit philosophischer, wissenschaftlicher und theologi­scher Lehren beweisen konnte . " 18 Die Frage wäre folglich nicht nur die, warum Descartes gerade solche Probleme beschäftigten, sondern auch, ob zu jener Zeit diese Erörterungen überhaupt Anklang finden konnten. Warum wohl war es at­traktiv zu behaupten, die wirklichen Dinge wären in Absehung von der der ge-

18 Toulmin: Kosmopolis. op.cit.. S.98

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seilschaftliehen und der historischen Situation zu begreifen, die besonders in den auf Descartes' Tod folgenden Jahrzehnten im Licht des gesellschaftlichen Wie­deraufbaus in Europa stand?

Die gesicherte (klare, deutliche, nichtmediatisierte) Grundlage menschlicher Erkenntnis, die Descartes vorschlägt, ist nicht viel mehr als eine Programmatik, deren eigentliche Ausführung in Form einer neuen Physik noch weitgehend fehlt. Descartes proklamiert die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und führt die Wissenschaft in seinen Publikationen als probeweises Stückwerk aus: in der Dioptrik, der Geometrie und der Erörterung über Meteore, die als Arbeitsproben dem Discours beigefügt sind. Die Suche nach Gewißheit wird nur fündig, weil als Prinzip das von Kant später philosophisch systematisierte erkenntnistheoretische Apriori beansprucht wird: es gibt ein gesichertes Wissen, das nicht aus der Erfah­rung stammt und das den Rahmen des Empirischen dennoch nicht übersteigt. Geometrische Formen und mathematische Sätze beispielsweise sind nicht in der Natur zu finden, ebensowenig die sogenannten Naturgesetze, deren Entdeckung so zufällig mit der Auffassungsgabe des menschlichen Geistes korrespondiert. Das, was ist, liegt von nun an innerhalb sicherer Grenzen, die rein theoretisch be­gründet werden. Die Eroberung des Kontinents der Rationalität hat begonnen.

Descartes thematisiert im Discours auffällig prominent nicht nur die bereits in der Vorbemerkung angekündigten Gründe, die ihn zum Schreiben bewogen hät­ten, sondern bezeichnet auch seine eigene Schrift im bemerkenswerten Under­statement als "une histoire" oder als eine Fabel, die darüber berichte, wie er selbst darauf verfallen sei, seinen Verstand zu kultivieren. Ernst Cassirer bemerkt dazu - hierin ganz dem Pathos einer vergangenen Zeit verhaftet - daß diese Selbstbe­sinnung, unter bewußter Aufhebung der Geltung von Natur wie von Kultur aus Kraft konzentrierender Vereinsamung geübt, den Autor "zur Wahrheit durch­dringen" ließ. '• Cassirer identifiziert den inneren Kampf als Grund für den neuen philosophischen Stil, in dem Descartes den Discours vorgelegt hat. 20 Es ist frappie­rend, wie diese äußere Form zwar Erwähnung findet, sogleich aber als Resultat einer inneren Gedankenbewegung wegerklärt wird.

Es soll da noch eine andere Erklärung geben als die des einsamen Kämpfers an den Fronten der Wahrheit, zu dem Descartes sich selbst stilisiert hat und in der ihm Biographen und Interpreten bereitwillig gefolgt sind. Das Reinigungsbad der Theorie wurde zu einem Zeitpunkt empfohlen, da Europa in der Krise der Glau­benskriege mit den entsprechenden wirtschaftlichen Folgeproblemen steckte

19 Cassirer: Descartes' Wahrheitsbegriff. op.cit., S.LVI

20 Descartes: Discours, Abs.4: "Denn in der Tat heißt es Schlachten liefern, wenn man ver-

sucht, all die Schwierigkeiten und Irrtümer zu besiegen, die uns daran hindern, zur Er­kenntnis der Wahrheit vorzustoßen . op.cit., S . l 09

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und die Welt insofern aus den Fugen war, wie sich auch die bislang geltende kos­mopolitische Ordnung nach der kopernikanischen Revolution nicht länger mühelos aufrechterhalten ließ. Die Philosophie reagiert hier nicht allein auf die Bewegungen des Geistes, sondern uneingestandenermaßen auf die historischen Ereignisse ihrer Zeit. Die Unsicherheiten des Kontextes erst erzeugen eine Hal­tung, die Stephen Tauimin folglich nicht eine Philosophie, sondern die Politik der Gewißheit nennt:

"Den Zeitumständen gemäß waren . . . Fragen der Gewißheit, rationalen Über­einkunft und Notwendigkeit, die die Skeptiker des 1 6. Jahrhunderts als Heraus­forderung an die Philosophie hinterlassen hatten, weit mehr als theoretische Ge­schmacks- oder Einstellungsfragen. ( . . . ) Die Schwerpunktverschiebung in der Philosophie vom Praktischen zum ausschließlich Theoretischen - wonach statt lokaler, besonderer, zeitgebundener und mündlicher Fragen globale, allgemein­gültige, zeitlose und schriftliche in den Mittelpunkt rückten - war keine Marotte von Descartes. Alle Vertreter der modernen Philosophie förderten die Theorie, werteten die Praxis ab und betonten sämtlich das Bedürfnis nach klaren, deutli­chen und sicheren Grundlagen der Erkenntnis."'1

Somit wären die Anfänge des Rationalismus auf ihren gesellschaftspolitischen Ursprung zurückverwiesen. Der Übergang vom Renaissancehumanismus zum Rationalismus folgt einer Logik, die der politischen Erfordernis ihrer Zeit ent­spricht. D ie keineswegs beschauliche Situation zu Anfang des siebzehnten Jahr­hunderts, der "blutige theologische Patt des Dreißigjährigen Krieges" (Toulmin) ist es, der die philosophischen Gewißheilskonzepte überhaupt erst attraktiv ge­macht hat. Anstelle des Kryptaanalytikers der Rationalität bietet uns Tauimins Sichtweise von Descartes das B ild eines Programmatikers an, der Wissenschaft als Grundlage einer modernen, ganz auf sich selbst gestellten Welt vorschlägt.

2.5. Kulturtechnische Neuerungen

In dieser Sicht der cartesianischen Philosophie reflektiert sich eine Epochen­schwelle, die sich in Form bedeutsamer kulturtechnischer Neuerungen vollzieht, und die sowohl das ausmacht, was gemeinhin als die Geisteshaltung der Moder­ne schlechthin bezeichnet wird, als auch das, was theoretisch gesehen als Bedin­gung des Fortschritts gilt: der B uchdruck und ein Publikationswesen, das sich von den mündlich ausgetragenen akademischen Disputationen emanzipiert hat. Da­mit relativiert sich eigentlich auch schon jene Exklusivität, die eine abfallende Hierarchie vom Geistigen hin zum Materiellen, Körperlichen vorsieht, im Zirkel der Produktion und Rezeption von Texten unter gar nicht so bedächtiger Zirku-

2 1 Toulmin: Kosmopolis, op.cit., S . l 20ff

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lationsgeschwindigkeit. Die rationale Argumentation jener Epoche folgt einer impliziten Logik der kulturtechnischen Neuerung, die ihre Auswirkungen auch im B ereich der philosophischen Theoriebildung zeitigt: zogen die humanistischen Skeptiker des sechzehnten Jahrhunderts es vor, das menschlich Erfahrbare vor der allgemeinen Notwendigkeit gelten zu lassen, so kam es im siebzehnten Jahr­hundert zur Abwendung von einer Pragmatik der konkreten menschlichen Er­fahrung zugunsten des theoretischen Universalismus. Die vier folgenden, von Toulmin nachgewiesenen Schritte sind hier bedeutsam: ( 1 ) Vom Mündlichen zum Schriftlichen. Die formale Logik tritt an die Stelle der Rhetorik, im wissenschaftlichen Leben rückt die gedruckte Publikation zuneh­mend an die Stelle der persönlichen Kommunikationsform des Disputes. Statt di­rekter, oral vorgetragener Argumentation werden schriftliche Beweise formu­liert, die in räumlicher wie zeitlicher Distanz rezipiert und beurteilt werden. "Seit den dreißiger Jahren des 1 7. Jahrhunderts konzentrierte sich die Tradition der modernen Philosophie in Westeuropa auf die formale Analyse von schriftlichen Aussageketten anstelle der kontextabhängigen Stärken und Schwächen von Äußerungen, die überzeugen wollen. In dieser Tradition war die formale Logik ge­fragt, und die Rhetorik galt nichts. "22 ( 2 ) Vom Besonderen zum Allgemeinen. Im Gegensatz zur Theologie ersetzen in der Moralphilosophie allgemeine Grundsätze die Kasuistik spezieller moralischer Unterscheidungen. Tauimin führt exemplarisch an, wie in den vierziger Jahren des siebzehnten Jahrhunderts "Antoine Artaud, ein enger Freund des Mathema­tikers Blaise Pascal, auf Betreiben der Jesuiten vor dem Kirchengericht in Paris der Ketzerei angeklagt (wurde), und zu seiner Verteidigung veröffentlichte Pascal eine Reihe anonymer ,Briefe aus der Provinz', in denen er dle Methode der je­suitischen Kasuisten aufs Korn nahm, die auf der Analyse bestimmter, konkreter ,Gewissensfälle' ( casus conscientiae) beruhte. Diese sarkastischen Briefe machten die Jesuiten so grausam lächerlich, daß die gesamte ,Fallethik' in bleibenden Mißkredit geriet. "" ( 3 ) Ähnlich der Aufwertung allgemeiner Grundsätze in der Moralphiloso­phie erfolgte eine Verlagerung vom Lokalen zum Globalen; abstrakte Axiome wer­den gegen die konkrete Vielfalt lokal verankerter Fälle gesetzt. Während die Re­naissancehumanisten in der völkerkundlichen und geschichtlichen Forschung sich für kontextuelle Ausprägungen interessieren, wendet sich Descartes dezi­diert von diesem Ansatz ab - "Descartes sah in der Neugierde der Historiker und Völkerkundler einen verzeihlichen menschlichen Zug; doch er lehrte, das philo­sophische Verstehen ergebe sich nie aus der Anhäufung von Erfahrungen über bestimmte Einzelmenschen oder Einzelfälle. Die Forderungen der Rationalität

22 ebd., S.62 23 ebd., 5.621

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verlangen von der Philosophie, nach abstrakten, allgemeinen Ideen und Grundsätzen zu suchen, mit denen die Einzelfälle zueinander in Beziehung ge­setzt werden können . "''' ( 4 ) Wenn die konkrete Vielfalt zugunsten abstrakter Axiome aufgegeben wird, kommt es schließlich auch zu einer Verlagerung vom Zeitgebundenen zum Zeitlosen; wenn im philosophischen Erkenntnisstreben eine sichere Grundlage ge­sucht wird, dann eignen sich historisch kontingente Grundlagen dazu nicht be­sonders; daher waren zunehmend zeitlose und universal gültige Grundsätze ge­fragt.

2.6. Buchkultur als Medium moderner lntellektualität

Verschriftlichung, Universalisierung, Globalisierung, Zeitlosigkeit - mit diesen entscheidenden Stichworten ist die Voraussetzung jenes philosophischen Den­kens umschrieben, das als Wahrheit nur die Resultate eines abstrakten Denkens auf der Grundlage dessen akzeptiert. was ,klar und deutlich' erkannt werden kann. Es sind dies aber auch Voraussetzungen, die bereits auf einer funktionie­renden Grundlage für intellektuelle Tätigkeiten beruhten: der Buchkultur. Die in­nere Stimmigkeit eines universalisierten intellektuellen Strebens muß durch ein konstantes Medium und einen konsistenten Bezugsrahmen gewährleistet wer­den."

Die sich formierende Gelehrtenrepublik wartete freilich nicht auf die exklusi­ven Ideen eines Descartes, man muß im Prozeß einer methodisch sich etablie­renden modernen Wissenschaft eher berücksichtigen, wie sich dieser als Autor in das Kollektiv eingeschrieben hat, um ihr neues, noch unterschwelliges Paradig­ma bewußt zu erkennen und strategisch klug anzuwenden . .. Nachdem ich aber einige Jahre darauf verwandt hatte, so im Buche der Welt zu studieren und mich um neue Erfahrungen zu bemühen", schreibt Descartes im Discours, .. entschloß ich mich eines Tages, auch in mir selbst zu studieren und alle Geisteskräfte auf-

24 ebd .• S.64 - Descartes schreibt: .. Freilich. so­lange ich n u r die Lebensweise anderer Men­schen betrachtete, fand ich kaum etwas. das mir Sicherheit geben konnte. und ich be­merkte hier fast ebenso große Unterschiede wie vorher unter den Lehren der Philoso­phen. So bestand der größte Nlllzen (darin). daß ich daraus lernte, nichts allzu fest zu

glauben. wovon man mich nur du rch Bei­spiel und Herkommen überzeugt hatte; so befreite ich mich nach und nach von vielen Irrtümern, die das natürliche Licht unseres

Verstandes verdunkeln und uns unfähiger

machen können. Vernunft anzunehmen." Discours. Abs. I 5. op.cit., S. l 7

2 5 Es sind die durch den Buchdruck bewirkten Veränderungen, die .. den überzeugendsten Ausgangspunkt zu einer Erklärung liefern, wie menschliches Vertrauen sich von der Offenbarung Gottes zu mathematischer Be­weisführung und von Menschen erstellten Land-. See- und Sternenkarten verlagerte." - vgl. Eisenstein: Die Druckerpresse. op.cit., $.247

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zubieten, um den Weg zu wählen, dem ich folgen wollte; was mir weit besser ge­lang, so schien es mir, als wenn ich mich niemals von meinem Vaterland und meinen Büchern entfernt hätte."26

Die Welterfahrung dient letztlich nur der Selbsterfahrung, aber unter Bedin­gung eines in Ansätzen bereits funktionierenden wissenschaftlichen Publikati­onswesens, ohne welches die privaten Gedanken nichts weiter wären als das, und ganz unmöglich der Neubegründung einer wissenschaftlichen Methode die­nen könnten. Wäre der Denker nicht gleichzeitig und buchstäblich im Akt des Denkens ein Autor, sein Projekt verfiele genau jener Kontingenz, die er zu über­winden trachtete. Mit der Buchwelt verbindet ihn entsprechenderweise eine Art Haßliebe. Obwohl die Lektüre von Büchern ihn nicht zufriedengestellt hatte, wie Descartes von seiner eigenen schulischen Erziehung berichtet", wendet er sich freilich der Produktion des verabscheuten Buchwissens zu. Dieser Schritt hat ein strategisches Motiv, aber auch gesellschaftspolitische Gründe, denn allerdings be­steht ein Zusammenhang zwischen intellektuellen Bestrebungen und den sozial­politischen Bedingungen, die in wesentlichen Aspekten von Kirche und Staat festgelegt worden sind und gegen die der moderne Autor antreten muß - ob er will oder nicht.'"

Die angestrebte neue Gewißheit gründet auf reiner Subjektivität, und Descar­tes betont des öfteren, er wolle nicht anderen gleichsam vorschreiben, wie sie zu denken hätten.29 Jeder Kopf funktioniert anders und der individuelle Verstand gleicht einer Black Box, in die man nicht hineinschauen kann, deren Funktionie­ren man dennoch akzeptieren muß - nur was am Ende des Verarbeitungsprozes­ses etwa als Publikation herauskommt, läßt sich vergleichen in einem fortzu­schreibenden Gesamttext, den die Gelehrtenrepublik trägt. Nach eigener Aussa­ge, die im sechsten Teil seines Discours de Ia methode nachzulesen steht, haßte

26 Descartes, Discours, Erster Teil, op.cit .. 5 . 1 9

21 ebd., S. 9 - vgl. zur Diskrepanz der Descartes'­

sehen Lektüre in den ,Büchern des Studi­

ums' und im ,großen Buch der Weit' das Ka­

pitel VIII, .Asymmetrien der Lesbarkeit", in: Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt: Suhrkamp 1 98 1 , S.86ff

28 Descartes plante eine große. nie publizierte

kosmologische Abhandlung mit dem Titel .Le Monde", ein Projekt, welches er einstell­

te, als er 1 633 von Verurteilung Galileis er­

fuhr. Blumenberg bemerkt dazu: .Die obli­gate Wendung von der Welt zum Selbst ist seit Montaigne nicht mehr die große Kon­version, weil die Welterfahrung durchaus Anlässe und Anreize zur Selbsterfahrung

bietet. • - vgl. Die Lesbarkeit der Welt,

op.cit., S.92. Daß es jenseits der intellektuel­

len Neugierde aber auch darum ging, die in­

tellektuelle Arbeit mit den vorhandenen

technischen Möglichkeiten abzustimmen, darauf verweist Eisenstein: Die Druckerpres­se, op.cit .. bes. Kap. 7 - .Die Wandlungen des Buchs der Natur: Der Buchdruck und

der Aufschwung der modernen Wissen­schaft", S. l 70ff

29 Vgl. oben Anm. 1 4. Vgl. zum hier anknüp­

fenden ,Maschinenmodell der Erkenntnis' in

den Descartes'schen .Prinzipien der Philoso­phie" ( 1 644) auch Blumenberg: Lesbarkeit, op.cit., S .93f

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Desca rtes 45

Descartes ja das ,.Geschäft des Büchermachens" .30 Interessant ist nicht nur, daß der Gelehrte hier die Bedingungen seiner Textproduktion anspricht, sondern daß er sich auch der restriktiven Konsequenzen einer eigenständigen Publikation voll bewußt ist - Galileis 1 632 erfolgt Verurteilung durch die Kirche wird explizit er­wähnt, und weitere eigene Publikationspläne wurden daraufhin vorerst fallen­gelassen.

Die äußere Autorität vermag jedoch nur auf Handlungen Bezug zu nehmen, die Gedanken aber ,.sind frei" , folgen also nur den Regeln der Vernunft, die auf den einfachsten Operationen des Geistes aufbaut. In der vierten Regel zur Aus­richtung der Erkenntniskraft lobte Descartes zunächst den Commonsense j ener, ,.welche nie Wissenschaft getrieben haben" und deshalb ,.gesünder und klarer"

zu urteilen imstande wären als jene Scholaren, ,.die sich ständig in Lehranstalten aufgehalten haben" .3 1 Entgegen der Auseinandersetzung mit vorhandenen Lehr­meinungen - gerade sie wäre womöglich jene nutzlose Verschwendung geistiger Mühe, die Descartes gern vermeiden möchte - geht es der Methode um einfache Regeln der ,.geistigen Intuition" und ,.wie man Deduktionen ausfindig machen muß", nichts weiter wäre zur umfassenden Erkenntnis notwendig. Diese Evidenz, auf der die ganze cartesianische Weltsicht aufgebaut ist, sollte eigentlich für sich selbst sprechen. Dennoch hält er am Ende des Discours einen Schwall von Er­klärungen für nötig, warum seine Erörterungen denn nun publiziert worden wären (vor allem da Descartes zum Schluß erklärt, damit keine auch noch so eh­renvollen Ämter anstreben zu wollen ) . Wieder spricht er den ,.gesunden Ver­stand" (sens commun) an, um die Nachvollziehbarkeif der wissenschaftlichen For­schungen und Erkenntnisse zu behaupten, die rein aus der subjektiven Vernunft und nicht von irgendwelchen Lehrmeistern stammen. Der Autor strebt aus der Selbstgenügsamkeit der subjektiven Vernunft ausbrechen zu wollen, mit anderen Worten: er will gelesen werden.

,.Denn was die Ansichten betrifft, die ganz mein eigen sind, so entschuldige ich ihre Neuheit nicht, zumal ich überzeugt bin, daß man sie, wenn man ihre Grün­de recht bedenkt, so einfach und dem gesunden Verstand so angemessen finden wird, daß sie weniger außergewöhnlich und fremd erscheinen als irgendwelche anderen, die man über dieselben Themen haben kann; und ebensowenig rühme ich mich, irgendeine zuerst entdeckt zu haben, wohl aber rühme ich mich, daß ich sie weder jemals übernommen habe, weil sie von anderen behauptet wurden,

30 Descartes: Discours. Sechster Teil: • . . . man inclination, qui m'a toujours fait hair Je metier de faire !es livres . . . ". op.cit . . S. 981

31 Descartes: Regulae, Regel 4: . . . . quod etiam experientia comprobatur, cum saepissime

videamos illos, qui litteris nunqua m operam navarunt. Ionge solidius et clarius de obviis rebus judicare, quam qui perpetuo in scholis sunt versa ti." op.cit., S.22f

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noch auch, weil sie überhaupt nie vertreten worden sind, sondern immer nur, weil meine Vernunft mich von ihnen überzeugt hat. ""

2.7. Die neue Rolle der Öffentlichkeit

Erst die Öffentlichkeit verhilft zum Sieg über das Transitorische eines defizitären zeitgebundenen Wissens, Überwindung also der .,Kürze des Lebens" und des da­mit zusammenhängenden .. Mangels an Beobachtungen", deshalb also, so Des­cartes weiter, .. meinte ich, daß es kein besseres Mittel gegen diese zwei Hinder­nisse gebe, als der Öffentlichkeit all das wenige, das ich gefunden habe, getreulich mitzuteilen und kluge Köpfe zu der Aufgabe einzuladen, weiter vorzudringen, indem sie, jeder nach Neigung und Vermögen, Beobachtungen, die anzustellen wären, beisteuerten und ebenfalls der Öffentlichkeit all ihre Entdeckungen mit­teilten, damit die letzten dort anfingen, wo ihre Vorgänger aufgehört haben, und wir, indem sich auf diese Weise Leben und Arbeiten vieler vereinigt, alle gemein­sam viel weiter kämen, als es jeder für sich vermöchte.""

Damit, mit diesem Verlangen nach Publizität von wissenschaftlicher For­schung, sind bereits die eigentlichen Prinzipien der einer Community of Investiga­

tors and Interpretars (Peirce) ausgesprochen. Aber die Kultur des Diskurses, die De­scartes hier als publizistische Kontextualisierung subjektiver Erkenntnisleistun­gen anstrebt, setzt sich nicht ganz so umstandslos durch. Auch die cartesianische Philosophie, die ein Werkzeug mit Ewigkeitswert bereitstellen will, kann die Kul­tur, in der sie stattfindet, nicht transzendieren. Die cartesianische Methode ist nur angeblich so vollkommen voraussetzungslos, gerade weil sie sich von den Vor­aussetzungen der Vergangenheit und den Bedingungen der Kultur selbst befrei­en will - tabula rasa für den neuen wissenschaftlichen Autor. Sie tut dies, indem sie alle Referenzen tilgt und alle beteiligten Akteure verschwinden läßt - Descar­tes zitiert im wesentlichen nichts und niemanden, er scheint darauf bedacht. ei­nen völlig künstlichen Neubeginn zu setzen. Wird sein Ansatz rekontextualisiert, dann eröffnet dies aber einen anderen Blick auf den einsamen Meister: .,Die Ge­nialität Descartes' liegt in seiner unbedingten Skrupellosigkeit gegenüber älteren Theorien. Er plündert. fügt zusammen, flickt, verdreht und verdeckt Stücke, Brocken, Ideen, um sich daraus ein Kostüm zu schneidern, trennt ab, was ihn stört, überhöht, überdehnt oder verengt nach Belieben den Sinn der Wörter, ver­nichtet in drei Zeilen die Arbeit von drei Jahrhunderten, läßt sich zwanzig Seiten lang über eine Lappalie aus. " 3 4

32 Descartes: Discours, Sechster Teil, op.cit., S . I25

33 ebd. S. I 03

34 Michel Authier: Die Geschichte der Bre­chung und Descartes' .vergessene" Quellen,

in: Michel Serres (Hg.): Elemente einer Ge-

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Descartes 47

Michel Authier, der dies beobachtet hat, sieht bei Descartes keineswegs eine sich rein aus Vernunft begründende Wissenschaftlichkeit am Werk, vor allem wo es um seinen naturwissenschaftlichen Beitrag geht." Der Kritiker sieht im Ge­genteil die Präsenz von zeitgenössischen Lehrmeinungen "auf jeder Seite gegen­wärtig ( . . . ). Alle Entdeckung sind präsent, doch die Akteure sind verschwun­den. " Deshalb konstatiert Authier der cartesianischen Umwälzung den barbari­schen Gründungsakt eines wissenschaftlichen Rationalismus, der die Arbeit seiner Vorgänger radikal auszulöschen beabsichtigt: "Mit Descartes vollzieht sich keine wissenschaftliche Revolution, allenfalls eine Revolution in der Darstel­lungsweise wissenschaftlicher Resultate. "36

Die Radikalität findet nicht in der reflexiven Sphäre statt, sondern exoterisch, auf der Ebene des Ausdrucks. Es steckt wohl eine gewisse Willkür in dem Modell, das den forschenden Wissenschaftler an die Stelle des scholastisch Gelehrten setzt, und zu dem weiters die Herauslösung einer neuen Form aus der traditio­nellen Verankerung des Gelehrtenturns gehört. Die Darstellung beansprucht ihre eigene Geschlossenheit, die zuvor aufgestellten Hypothesen werden allein aus lo­gischen Prinzipien heraus erklärt. Zu Descartes Selbststilisierung gehört weiters, daß er als souveräner eigenständiger Autor bereits die Allgemeinheit der aufge­klärten Bürger adressiert und nicht nur die Kleriker und Scholaren, die den Kreis der Geltung seiner Aussagen durch den Rahmen akademischer Autorität be­schränken könnten. Er schreibt deshalb bewußt für ein breiteres Publikum und daher in der Volkssprache - en Langue vulgaire: "Wenn ich ferner französisch schreibe, die Sprache meines Landes, und nicht lateinisch, die Sprache meiner Lehrer, so deshalb, weil ich hoffe, daß Leute, die sich nur ihrer ganz unverfälsch­ten natürlichen Vernunft bedienen, besser über meine Ansichten urteilen wer­den als solche, die nur den Schriften der Alten glauben; und was die betrifft, bei denen sich gesunder Verstand mit Gelehrsamkeit verbindet und die allein ich mir zu meinen Richtern wünsche, so werden diese sicherlich nicht so parteiisch fürs Lateinische eingenommen sein, daß sie sich weigern, meine Gründen zu hören, weil ich sie in der Volkssprache vortrage. " 3 7

So ist denn weniger die Natur und die empirische Beweisführung Bezugs­punkt dieser modernen wissenschaftlichen Theoriebildung. Heimlicher Bezugs­punkt bildet vielmehr das spezifische Aufschreibesystem" der neuzeitlichen Philo-

schichte der Wissenschaften, Frankfurt: Suhrkamp 1 998, 5.445-485, hier 5.476

35 Die wissenschaftliche Forschung, auf welche die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs Anwendung finden sollte, wurde von Des­cartes in drei Beispielen exemplifiziert: der Dioptrik oder der Theorie des Verhaltens

von Licht. der Theorie von Meteoren und der analytischen Geometrie.

36 Auth ier, l.cit., S.472f 37 Descartes: Discours, Sechster Teil, op.cit.,

5 . 127 38 Vgl. zum Verhältnis von philosophischer

Terminologie, gesellschaftlichem Kollektiv

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48 Imaginäre Räume

sophie: im sechsten Teil des Discours, wo Descartes ausführlich die Gründe erör­tert, die ihn als Autor zum Schreiben bewogen haben, fordert er die Leser zur Ge­duld auf, "das Ganze aufmerksam zu lesen" und mögliche "Einwände . . . meinem Verleger zu schicken" ." Einwand und Erwiderung würden dann in künftige Pu­blikationen Eingang finden, wiewohl Descartes in diesen Zeilen sich die Autorität vorbehält, über die Veröffentlichung von Einsprüchen und Anmerkungen selbst zu entscheiden. Die Umsetzung dieser Einladung zum Diskurs erfolgt dement­sprechend inkonsequent. Die Meditationes beinhalten ein Vorwort an den Leser, in welchem Descartes an seine Aufforderung aus dem Discours erinnert, er indes nur zweierlei zwischenzeitlich eingelangtes "Erwähnenswertes" findet - Einwände zur Reichweite seiner ,rein vernünftigen' Argumentation, die er mit logischer Vernunft entkräftet. Dem folgt eine flüchtige Entgegnung auf atheistische Ein­wände, die seinem reformulierten ontologischen Gottesbeweis nicht folgen mö­gen ( Descartes folgerte bekanntlich aus der Endlichkeit des menschlichen Geistes die unbegreifliche Existenz des unendlichen Gottes) . Man glaubt, aus diesen Zei­len weniger den sicherlich vorhandenen Ärger über eine minder sorgfältige Lek­türe seiner Texte herauszuhören, als vielmehr eine fundamentale Enttäuschung darüber, daß die Leser nicht bereit sind, seinen logischen Deduktionen auf Schritt und Tritt zu folgen: das Lästige am Leser ist, daß er den Text anders kontextuali­siert und möglicherweise gar Wahrscheinlichkeiten dort gelten läßt, wo der Des­cartes'schen Überzeugung nach nur sauber deduzierte Folgerungen aus reinen philosophischen Grundsätzen stehen dürfen: in der Entfaltung des wissenschaft­lichen Fortschritts.

An dieser Stelle folgt der frustrierte Sprung zurück in die ,Eigentlichkeit', der radikale Rückzug jener publizistischen Öffnung, die gegen Ende des Discours ver­sprochen wurde: Daß die Meditationes nun doch wieder im verzopften Latein prä­sentiert werden, hat nicht nur mit der Anbiederung des Philosophen an die Ge­lehrten der theologischen Fakultät an der Sorbonne zu tun, sondern wohl auch mit der tiefen Enttäuschung eines Autors, der sein Publikum nicht gefunden hat. Nachdem er "nun einmal das Urteil der Welt erfahren habe", schreibt der ent­täuschte Autor des radikal Neuen, erwarte er "weder den Beifall der Menge, noch eine große Zahl von Lesern; denn ich schreibe nur für solche, die ernstlich mit mir nachdenken und ihr Denken von den Sinnen und zugleich von allen Vorur­teilen abwenden können und wollen, und deren gibt es, wie ich wohl weiß, nur sehr wenige. "'0 Wenn man die relativ niedrige Zirkulationsgeschwindigkeit von

und Autor die für die Jahrzehnte nach Des· cartes a m Beispiel Spinozas a usgeführte Analyse von Gilles Deleuze: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie ( 1 968), München 1 993

39 Descartes: Discours, Sechster Teil, op.cit., 5 . 1 2 3

4Q Descartes: Meditationes, Vorwort an den Le· ser, op.cit . . S . l 9

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Texten in jener Zeit bedenkt, dann wundert es, daß den 1 64 1 publizierten Me­

ditationes doch bereits ein Jahr später prominente Einwendungen von Autoren wie Pierre Gassendi, Thomas Hobbes und Antoine Arnauld folgten. Auch die ge­schätzte Sorbonne reagierte also, allerdings wurde dabei wohl ein wenig nachge­holfen: ein Mentor und Freund, der Jesuitenpater Marin Mersenne, um den sich ein in vielen Briefzeugnissen dokumentiertes, frühes wissenschaftliches Kom­munikationsnetz formiert hat, hatte umtriebig diese Ausgabe kritischer Erwide­rungen auf Descartes besorgt.

Daran wird die Einsamkeit des modernen schreibenden Gelehrten deutlich, dem die Wichtigkeit des kommunikativen Feedbacks zu bewußt ist, um sich um diesen Prozeß nicht sorgen zu wollen. Allein die Vorteile der Buchkultur, in der man sich als Gelehrter fortan bewegt, bringen auch exakt diesen Nachteil mit sich, daß eine vor Publikum nicht erfolgreiche Publikation eine pervertierte Form der Kommunikation darstellt. Nur durch die Rekursionsschleife der allgemeinen kritischen Lektüre, aus der wiederum neue Texte entstehen, läßt sich die Positi­on des Autors verfestigen. Absichtserklärungen, die auf eine höhere Wahrheit zielen, brechen sich in dieser ihrer Bedingung der Möglichkeit, gegen die Descar­tes vordergründig eine individualistische Ethik der reflexiven Authentizität auf­bietet. Ohne die Öffentlichkeit wäre das säkulare Denken jenseits der traditionel­len Schablonen aber einsam geblieben. Immerhin wird damit, über die Themati­sierung des Schreibens als solchem, die bedeutungschaffende Relation zwischen dem philosophischen Autor und der Gelehrtenrepublik auf eine bewußte Ebene gehoben - Publizität als imaginärer Raum, innerhalb dessen eine neue Kultur der Vernunft ihrer Entfaltung zustrebt.

Zusammenfassung Auf der Suche nach einer neuen Gewißheit inmitten

der sozio-ökonomischen Krise des neuzeitlichen Europa setzt die Phi losophie

von Descartes das abstrakte Denken als absolutes Wahrheitsinstrument ein -

a uf der Grundlage dessen, was ,klar und deutlich' erkannt werden kann. Die

problematisch gewordene Vermitt lung zwischen Ich und Weit wird neu er­

stel lt, wobei an die Stelle der göttlichen Offenbarung die mathematische Be­

weisführung tritt.

Die Wissenschaftsgeschichte verzeichnet hier einen Neubeginn, der a l lgemein mit der Abstraktion vom gesellschaftlichen Kontext beschrieben wird. E iner

der Effekte ist die dual istische Grundstruktur der Erkenntnis, d ie Trennung

zwischen Materie und Geist. E ine Folge dieser Trennung ist in den Geisteswis­

senschaften ein starker Theoriebegriff, der das Metaphysische (das über der

Natur stehende) privi legiert. Für die Naturwissenschaften drückt dies eine Be­

freiung aus, a ls Öffnung von neuen Forschungswegen (der Körper ist n icht län-

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50 Imaginäre Räume

ger sakrosankt, der medizinische Eingriff ,berührt nicht die Seele'). Vor dem

selbstbewußten Subjekt steht nichts weniger in Frage als die Existenz von

Weit. Die Vergewisserungen erfolgen vor dem Hintergrund einer bereits funk­

tionierenden Rahmenbedingung, der Druck- und Verlagskultur. Das moderne

Denken ist dieser spezifischen Buchkultur verpfl ichtet, der Philosoph reflek­

tiert die Tatsache des Schreibens ebenso wie die des Denkens, und erfindet sich

neu als Autor. Er wendet sich jenseits akademischer Kanonisierungszwänge an

e ine al lgemeine Öffentlichkeit, die von nun an zum Prüfstein seiner Theorie­

bildung werden sol l .

Das erkenntnistheoretische Problem der Moderne hat seinen Ausgangspunkt

in der spezifischen ,Mediatisiertheit' von Weit. Sie ist in Bezug zu den Kultur­

techniken zu sehen, die für die rational istische Epoche kennzeichnend sind

(Schriftlichkeit der Aussage, a l lgemeine Verbindl ichkeit, un iversal istischer An­

spruch, Zeitlosigkeit). Der Konstruktionseffekt in der Darstel l ungsweise wis­

senschaftl icher Aussagen bleibt zunächst ebenso verborgen wie die Rol le des

Autors im phi losophischen Aufschreibesystem selbst. lmmauel Kants kritische

Phi losophie der Subjektivität wird eine zentrale Rolle für die Reflexion der

neuen gesellschaftl ichen Wirkl ichkeit spielen, die immer noch nach neuen Be­

gründungen und einheitlichen Kodifizierungen (Ernest Gel lner) für Wissen,

Handeln und Moral sucht und nach einer verbindl ichen kosmopolitischen Ord­

nung (Stephen Tou lmin) strebt und dazu ihr Prinzip von Publizität reformu­

liert.

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Abbildung 3 Etienne-Louis Boul!ee: Kenotaph für Newton (I 784)

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3. Kapitel - Aufklärung und Publizität.

Zu den Bedingungen der Vernunftwahrheit bei Kant

das ganze Spiel des Verkehrs unserer Gattung mit sich selbst auf diesem Glob . . . "

Immanuel Kant

3.1 . Von dem, was ist, zu den Erscheinungen

Die von Menschen erfahrene und gedachte Welt ist mediatisiert, das heißt an sich gar nicht nicht so, wie sie ihnen erscheint. Das ist zunächst nicht klar. Wer sich angesichts dieser Irritationen des Scheins hinsichtlich des Fremden nicht länger auf die Rolle eines geheimnisvollen Vermittlers verlassen mag, entwickelt philo­sophische Aneignungsprojekte. Grundlegende Reformulierungen der philoso­phisch-politischen Voraussetzungen1 und neue Formalismen eines kategorialen Apparates, in den die Welterfahrung gezwängt wird, sollen allem "Possenspiel" der Kommunikationen, wie Kant einmal meinte, ein Ende machen. Einschrän­kungen der Publizität sind es, welche die europäische Kultur vor allem rechts des Rheins von einer Vollendung der politisch-sozialen Emanzipation abgehalten ha­ben. Die Regeln sind klar, nun sollen gute Gründe angeführt werden, Wahrheit und Öffentlichkeit aneinander zu koppeln, damit durch das Für und Wider der Argumentationen einiges zum Besseren sich wendet.

Die Ausgangsfrage: Wenn es in der Wirklichkeit nur Erscheinungen gibt, was ist es dann, "was da erscheint"? Es ist nicht übertrieben zu sagen, daß diese Dif­ferenz, die Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft als Eingrenzung des Scheins so zwingend darlegt, ganze Generationen irritiert hat. Die Differenz zwischen dem Ding an sich und seiner Erscheinung impliziert nämlich einen Widerspruch zwi-

Als Jean·Jacques Rousseau 1 7 54 seinen .Diskurs über die Ungleichheit der Men­schen• publiziert und damit die Aufklärung radikalisiert, wird er in einer italienischen

Polemik als Sozialist bezeichnet. Vgl. Ulrich Im Hof: Das Europa der Aufklärung, Mün­chen: Beck 1 993, S.2 1 9

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Kant 53

sehen Natur und dem menschlichen FreiheitspotentiaL oder zwischen Bereichen des Seins und des Denkens - und in der Folge die Frage seiner Vermittlung, die dem philosophischen Anspruch nach klärt, wie überhaupt Ordnung in die Welt kommt.

Eine Welt, die dem rationalen Subjekt als vermittelte entgegentritt, will von ir­gendetwas zusammengehalten werden, in einem "Sammlungspunkt" gewisser­maßen, für den aber erst noch ein Maßstab gefunden werden muß. Dieser liegt für Kant, wie wir wissen, in der Vernunft selbst. Aus ihr selbst und nicht aus der Natur der Dinge werden jene Prinzipien abgeleitet, welche die Gesellschaft auch als psychopolitischen Zusammenhang den Formen einer geometrischen Geradli­nigkeit unterwirft, deren idealen Fluchtpunkt wir als die kulturelle Moderne be­zeichnen. Ihre Archäologie fördert Embleme der Vernunft zutage, die davon zeu­gen, wie die klassische Episteme der feudalen Repräsentation zerfallen und auch im ästhetischen Schein nicht länger aufrechtzuerhalten ist.' Mit dem aufkeimen­den bürgerlichen Selbstbewußtsein tritt der Privatraum an die Stelle einer höfi­schen Repräsentationssphäre, und als Öffentlichkeit gilt fortan eine durch Rä­sonnement erzeugte Sphäre, in die nur Zugang hat, wer sich mit guten Argu­menten daran beteiligt. '

Die Ablösung von feudalen Verhältnissen erzeugt eine Leere, d ie mit neuen Kompetenzen gefüllt wird, und einen Bedarf nach neuem Zusammenhang, den im Bereich der Naturwissenschaften vielleicht die neu entdeckten Naturgesetze, im Bereich des Geistes jedoch weder historische Vergewisserung noch metaphy­

sische Spekulation befriedigend zu stiften vermögen. In ihrer Absicht deckt die philosophische Theoriebildung von Immanuel Kant sich hierin mit der von Des­cartes: Die Existenz des Subjektes kann nicht von empirischen Zufälligkeiten ab­hängen, und wenn auch philosophisch noch mehrfach der Gottesbeweis ange­treten wird, so emanzipiert sich das neue Konzept von Wissen doch insoweit vom Glauben, als es nach neuen Begründungen seiner logischen Möglichkeit ver­langt. Die Sprache der Vernunft, die strenge Form der Eindeutigkeit, ist letztlich das Resultat einer Reorientierung, die aller Existenz eine logische und eine mo­ralische Ordnung unterlegt. Die Grundbefindlichkeit des modernen Menschen aber braucht einen Sockel, der jene Ordnung trägt, die nicht allein von den For­men der Natur vorgeschrieben ist - eine Metaphysik der Sitten. Gefragt ist eine Ge­wißheit, die sich abhebt von der Kontingenz alles historisch Gewachsenen, vom Pathologischen, wie es Kant in einem nicht medizinischen Sinne auch zu nennen

2 Jean Starobinksi: 1 789. Die Embleme der

Vernunft. hg. von Friedrich Kittler, Mün­chen: Fink [o.J.]

Wie sich dies in der Literatur des ausgehen­den achtzehnten Jahrhunderts spiegelt. hat

Jürgen Habermas rekonstruiert: Struktur­wandel der Öffentlichkeit, Frankfurt: Suhr­kamp 1 962

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54 Aufklärung und Publizität

pflegte. Diese Gewißheit kann also nicht von außen kommen, denn über noch so klar und deutlich erkannten Daten ist nicht jene Verbindlichkeit zu erzeugen, die von einer allgemeinen menschlichen Vernunft sprechen läßt.• Die klare cartesia­nische Idee nun mag Gegenstände der mathematischen Wissenschaften ausbil­den, aber es ist, wie schon Leibniz sagte, die Reflexivität oder der Gedanke mei­ner selbst, der den Gegenständen meiner Sinne etwas hinzufügt: "Außer dem Sinnlichen und dem bildlich Vorstellbaren (sensible et imaginable) gibt es somit noch rein intelligible Inhalte, die den Gegenstand des reinen Verstandes bilden."'

Diese Intelligibilität bildet eine Art Überschuß, die von keiner Empirie gedeck­te Bedingung der Möglichkeit von Vernunft selbst, als einer neuen Basis für das Denken selbst, die nicht durch sinnliche Anschauung zugänglich ist - und anders ausgelotet werden will. Sie ist transzendent, also die einzelne Erfahrung über­schreitend, bewegt sich aber nicht außerhalb des möglichen Erfahrungshorizon­tes; schließlich ist auch das Denken eine Erfahrung, und Kant setzt dafür den Ausdruck transzendental. Dieser Begriff bezeichnet die Bedingungen der Möglich­keit unserer Erkenntnis, oder die Art und Weise, wie sie vor aller Erfahrung, also apriorisch für uns besteht: in der transzendentalen Ästhetik die subjektiven An­schauungsformen Raum und Zeit, und in der transzendentalen Logik die Prinzi­pien unseres subjektiven Verstandesgebrauchs.• Damit werden Bedingungen phi­losophisch sichtbar gemacht, die für die Gewinnung objektiver Erkenntnisse apri­

ori bestehen, und zwar für alle Subjekte im gleichen Sinne. Diese Philosophie erhebt nicht mehr den Anspruch, die Welt an sich zu erklären, sondern be­schränkt sich auf den Bereich der Erscheinungen, wie sie uns gegeben sind.

Was aber ist die Basis, die kognitive Architektur von Vernunft? Die sinnliche Erfahrung ist eine mögliche Kontrollinstanz für diesbezügliche kognitive An­sprüche; für das achtzehnte Jahrhundert gilt: "Die Konzentration auf die Daten, die im Prinzip einem einzelnen Beobachter verfügbar sind, und auf ihre Atomi­sierung hat die Transzendierung kulturell auferlegter und dogmenbewahrender

4 Da die erkenntnistheoretische Reflexion sich besonders für Erkenntnisgewinne und daher für synthetische Urteile interessiert, wäre hier die Behandlung des Kausalprinzips von D escanes über John Locke und George Ber­keley bis David Hume angebracht; dieses Thema ist jedoch philosophiegeschichtlich ausführlich aufgearbeitet worden. Für eine ebenso knappe wie konzise Darlegung der Problematik vgl. Ferdinand Alquie: Die Idee der Kausalität von Descartes bis zu Kam, in: Geschichte der Philosophie Band IV (Die

Aufklärung), hg. von Franc;ois Chätelet, Frankfurt: Ullstein 1 974, S . 1 92-207 Gottfried Wilhelm Leibniz: Von dem, was jenseits der Sinne und der Materie liegt. (Sur ce qui passe les sens et Ia matiere.) Brief an die Königin Sophie Charlotte von Preußen ( 1 702 ), in: Ges. Werke, hg. v. Gerh., Band VI. 5.4I 3 Friedrich Kaulbach: Begründung der kriti­schen Transzendentalphilosophie im Bereich der theoretischen und praktischen Vernunft, in ders.: Immanuel Kam, Berlin: deGruyter I 982, 5 . 1 05-264

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Illusion erreicht. "' Daneben aber gibt es Überzeugungen und Illusionen, die mehr versprechen als das Lernen aus Erfahrungen. Gerade das achtzehnte Jahrhundert war erfüllt von Versprechungen, das weltliche Wissen zu erweitern und die ma­terielle Welt einem realeren geistigen Bereich unterzuordnen, einem Geheim­wissen um etwa vor der Erfahrung verborgenen Welten und geheimen Kommu­nikationskanälen zu ebendiesen, die den Menschen in seinem verlorenen neu­zeitlichen Dasein in anderen als den wissenschaftlich bislang bekannten Dimen­sionen zu reintegrieren versprachen. Ein "elastisches Medium" bezeichnet den Kraftmittelpunkt, den Mechanismus der das Körperliche durchdringenden Kräf­te regelnd, als raumbildende Kraft, die jedoch materialistisch gedacht wird.•

Freilich boten die anderenorts mit sonderbaren Apparaten durchgeführten Experimente mit Elektrizität. mit Magnetismus, mit Hydromantie etc. genug An­laß für Spekulationen über die Korrespondenz mit einer für die menschlichen Sinne unsichtbaren Welt und der uralten Hoffnung auf pneumatologische Ver­mittlungstheorie (Geisterlehre ) ! Aber genau diese Ausflüge in eine spirituelle Welt - als Erbe der spekulativen Naturtheologie mit einiger Öffentlichkeitswirk­samkeit umgesetzt von den ,Mesmeristen' in Straßburg oder der ,Swedenborgia­nischen Exegetischen und Philanthropischen Gesellschaft' zu Stockholm10 - er­regten schon im Ansatz den Unmut akademisch reflektierter Urteilskraft. Der prominenteste Kritiker einer Welt der pneumatischen Vermittlung meldet seinen Zweifel an: "Soll er die Richtigkeit aller solcher Geistererscheinungen gänzlich ableugnen? Was kann er vor Gründe anführen, sie zu widerlegen? Soll er auch nur eine einzige dieser Erzählungen als wahrscheinlich einräumen?" 1 1

7 Gellner: Descartes, op.cit., S . 1 94 8 1mmanuel Kant: Metaphysicae cum Geometria

iunctae usus in Philosophia Naturali, cuius Speci·

men l. continet Monadologiam Physicam ( 1 7 56), in: Werkausgabe, hg. Wilhelm Weischedel. Frankfurt: Suhrkamp 1 968, Band li, 5 . 5 6 1 -Es handelt sich um den Versuch, metaphysi­sche Ansprüche mit jenen der Geometrie zusammenzudenken, und ist die einzige Stelle in Kants Schriften, wo der Begriff Me­dium Verwendung findet, und zwar noch als von der Materie abhängige Kraft; als Beispiel dient der substanzialistisch gedachte Äther. Eine neue Ontologie, die mit den Vorstel­lungen des Äthers als materieller Substanz aufräumte, entstand erst Mitte des neun­zehnten Jahrhunderts und in der Folge von

Michael Faradays Experimentaluntersu­chungen über Elektrizität ( 1 844, 1 846) so­

wie James Clerk Maxwells theoretischer Vereinheitlichung der physikalischen Theo­rien von Elektrizität, Magnetismus und Licht: A Dynamical Theory of the Electro­magnetic Field, 1 864 - vgl. dazu Arthur Za­jonc: Die gemeinsame Geschichte von Licht und Bewußtsein, Hamburg: Rowohlt 1 994

10 Roben Darnton: Der Mesmerismus und das Ende der Aufklärung in Frankreich, Mün­chen: Hanser 1 98 3

1 1 Immanuel Kant: Träume eines Geisterse­hers, erläutert durch Träume der Metaphy­sik ( 1 766), in: Werkausgabe, op.cit, Bd.II, 5.923

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56 Aufklärung und Publ izität

3.2. Gibt es eine Sprache der Engel?

Was den Philosophen Kant hier bewegt, ist mehrschichtig. Wenn in der Welt das, was ist, nicht alles ist - das Metaphysische, das Intelligible oder nicht unmittelbar sinnlich Erfahrbare fordert sein Recht - wie läßt sich dann die Möglichkeit dieses Überschusses begreifen? Jede Kultur hat ihre Schamanen und Zauberer, die kommunikative Kanäle öffnen, die in andere Welten hineinführen, welche uns im Normalfall aber verborgen sind. Auch die Philosophie ist, über weite Strecken, von mancherlei Spekulationen hinsichtlich dieser menschlichen Verbindungen zur Welt geprägt. Lassen sich, wie der Volksaberglaube seit jeher nahelegt, auch Geister denken, die nicht materiell, im materiellen Raum aber dennoch gegen­wärtig sind? Nichts anderes behauptete Emanuel Swedenborg, der über seine Reisen in andere Welten und Besuche von Geistern nicht nur ausführlich berich­tet", sondern damit bei seinen Zeitgenossen und auch bei Hofe entsprechende Erfolge gefeiert hat. Auf der anderen Seite sagt eine Kritik der Vernunft, die Kant bald darauf in Form von souveränen Grenzbestimmungen ausarbeiten sollte, wesentliches über die Täuschungen und Irrwege des Denkens in seiner Vermitt­lungstätigkeit selbst aus. Störend ist zunächst ja die Tatsache, daß diese Täu­schungen den gleichen Quellen entstammen wie die Einsichten, welche die Ver­nunft hervorbringt. Also haben solche Täuschungen wohl ihre eigene Ratio­nalität! n In einer kritischen Reflexion dieser Verhältnisse aber soll Aufklärung gelingen, indem sie den Kampf aufnimmt gegen jene Verrückung in der Ordnung der Dinge, welche die grundlegende Täuschbarkeil des Denkens ausnützt. Die Argumente sind entweder empirisch, als solche aber mehr oder weniger zufällig gefundene, oder aber werden von der Vernunft selbst als Strukturen der Ratio­nalität erst entwickelt.

Die Aufklärer traten nicht nur an gegen den Aberglauben und gegen eine re­pressive Tradition, sondern vor allem gegen jene ,Phantasten', die gerade in einer Zeit Konj unktur hatten, da Naturforschung, Esoterik und Wissenschaft noch in

1 2 Emanuel Swedenborg war ursprünglich ein Naturforscher, zu dessen Entwü rfen Schiffs­hebewerke und auch eine Flugmaschine zählten, der Experimente zu Gehirn und Nerven anstellte, und Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ein visionäres Bekehrungser­lebnis hatte, auf das seine Lehre von einer überlegenen geistigen Welt folgte (das ,neue Jerusalem' zog bis heute existierende Ge­meinden einer ,Neue Kirche' nach sich) -die materiellen Erscheinungen dieser Welt sind demnach lediglich Abbilder einer gei-

stig-göttlichen Überwelt, die wirklicher ist als die erfahrbare Realität. Auf dieser Basis wurde die Bibel auf ihren spirituellen Sinn hin neu ausgelegt - Arcana coelestia: quae in

Scriptura Sacra seu Verbo Domini sunt, detecta;

hic primum quae in Genesi (Exodo) una cum mi­

rabilibus quae visa sunt in mundo spirituum et

in coelo angelorum ( 1 749- 1 7 5 6 )

13 Dieter Henrich: Selbstaufklärung der Ver­nunft, in: ders.: Fluchtlinien. Philosophische Essays, Frankfurt: Suhrkamp 1 982, 5.43-64

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Kant 57

einem gewissen Nahverhältnis zueinander standen. Neue Vernunftkriterien wa­ren gefragt, denn solche Zwischenwelten sind nicht seriös im akademischen S in ­ne, u n d waren e s auch i m achtzehnten Jahrhundert nicht. Kant sah die Gefahr, daß die Philosophie durchaus jene reflexiven Mittel bereitstellen könnte, den Ei­gensinn des Intelligiblen und sogar darüber hinaus womöglich noch die Geister­seherei plausibel zu machen. Die Frage ist, ob und wie sich aus der Philosophie

selbst ein Grund ableiten läßt, jene illuminierten Exkurse, Grenzüberschreitun­gen und Reisen in jenseitige Zwischenwelten zugunsten eines Hier und Jetzt der Vernunftwahrheiten zu kritisieren - indem mittels rationaler Methode nach den apriorischen Bedingungen gefragt wird. Es scheint, wie wenn die Aufklärung erst in einer vehementen Abwehr jener schwärmerischen Bedrohungen der Rationa­lität sich dessen, was als Projekt der Vernunft gilt, vergewissern konnte. '• Kant je­denfalls entwickelt in genau solcher Abwehrbewegung, die auch mit einer publi­zistischen Strategie zusammenwirkt, jene "eigenthümliche Methode der Meta­physik" (Kant ) , die ihn zu einem der einflußreichsten Philosophen der Moderne machen sollte. Kant hatte nämlich nicht ganz zufällig, während die Idee zu einer Kritik der reinen Vernunft erst in ihm gärte, "ein großes Werk gekauft, und, wel­ches noch schlimmer ist, gelesen, und diese Mühe sollte nicht verloren sein . ""

Der Philosoph macht sich also an d ie Rezension dieses Werks, nämlich Swe­denborgs Arcana Coelestia, dessen Lehre von der Korrespondenz alles Materiellen mit einem tiefer liegenden Geistigen den strenger philosophischen, sich um Er­kennbarkeit und aufklärerische Entmystifizierung bemühenden Ansatz verunsi­cherte: offenbar zeugen ja auch Kants ,Beobachtungen über das Gefühl des Schö­nen und Erhabenen' noch davon, daß es etwas gibt, was das einzelne Subjekt als übersubjektive Macht erfahren muß, weil es Herz und Gemüt bewegt und mäch­tig genug ist, daß es sie gern einer überirdischen Stimme, einer Kommunikation von Wesen außerhalb seiner selbst zuschreibt. '• Wenn für Swedenborg in diesem Fall die Engel sprachen, dann fragt Kant in demselben Zusammenhang nach den Bedingungen der Möglichkeit, oder nach den Grenzen dessen, was sich über­haupt vernünftig aussagen läßt. Sein Seufzer - "Es wird mir nach gerade be­schwerlich, immer die behutsame Sprache der Vernunft zu führen." 1 7 - hat genau damit zu tun, daß er sich gerade erst auf der Suche nach den prinzipiellen Aussa­gemöglichkeiten begibt.

Es wurde vermutet, daß Swedenborgs Vision von einer Sprache der Engel als ein Wunsch zu dechiffrieren wäre, die Konventionen der höfisch-feudalen und

14 Vgl. Hartmut Böhme, Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft. Zur Emwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants,

Frankfurt: 5uhrkamp 1 983, zu Kanl und

5wedenborg bes. 5 .250ff

1 5 Kam, Träume, op.cit., 5.924

16 Böhme, Böhme: Das Andere, op.cit., 5 .255 17 Kam, Träume, op.cit., 5.941

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58 Aufklärung und Publizität

auch der daran anschließenden bürgerlichen Kommunikationen, die mondäne fa(on de par/er, zugunsren einer bislang ungeahnten idealen Unmittelbarkeit zu durchbrechen. Und so sieht diese himmlische Kommunikation aus, die keine an­gesichtige, sondern eine vergeistigte und über verborgene Kanäle laufende ist:

"Im ganzen Himmel haben alle nur eine Sprache und verstehen einander, aus welcher Gesellschaft sie auch stammen mögen, einer benachbarten oder einer entfernten. Die Sprache wird nicht erlernt, ist vielmehr einem jeden einge­pflanzt. Sie fließt unmittelbar aus der Neigung und ihrem Denken hervor. Der Ton entspricht der Neigung, die Lautgliederungen, also die Wörter, entsprechen den Denkvorstellungen, die der Neigung entspringen. Weil die Sprache diesen entspricht, ist sie ebenfalls geistig, ist tönende Neigung und artikuliertes Denken. Wer aufmerksam ist, kann bemerken, daß jeder Gedanke aus einer Neigung her­vorgeht, die ihrerseits einer Liebe angehört, und daß die Denkvorstellungen nur verschiedene Formen sind, in welche sich die allgemeine Neigung aufgefächert hat. Jeder einzelne Gedanke und jede Idee wird nämlich durch eine Neigung be­seelt und belebt. Deshalb erkennen die Engel den anderen schon an seiner Rede­weise, aus dem Ton seine Neigung und an der Gliederung des Tons, den Wörtern, seine Gesinnung. Die weiseren Engel können schon an einem einzigen Satz die vorherrschenden Neigung erkennen, auf die sie vor allem ihre Aufmerksamkeit richten . " 18

Die kommunikative Unmittelbarkeit, die sich von materialen Äußerlichkeiten nicht beirren läßt, sondern mühelos ins Innere der Bedeutungen vorstößt - das "Lebensbuch" der Menschen liegt ihr offen - erregt den Verdacht des rationalen Kritikers. Nicht daß er auf kulturelle Überformung und den sozialen Machtver­hältnissen entsprechende gesellschaftliche Konvention abzielte; die Faktizität der Kommunikation spielt keine entscheidende Rolle, wenn es um die Gestaltung ei­ner menschlichen Gemeinschaft geht. Diese soll schließlich nicht vor der Ge­schichte moralisieren, sondern Zivilisation realisieren. Die Idee der Solidarität ist jüngeren Datums, und mit der Durchsetzung von sozialen Interessen verbunden, die dann Thema des neunzehnten Jahrhunderts sein sollten. Denn läge tatsäch­lich ein , Vemunftgrund' bereits in der Natur, nach dem Leibnizschen ,ratio est in natura' des siebzehnten Jahrhunderts, dann hätte dieser analog den Naturgeset­zen eigentlich längst schon gefunden sein müssen.

Die Kritik zielt also nicht auf die kommunikative Erzeugung vernünftigen Zu­sammenseins, sondern auf Grundsätzlicheres. Jene ganz andere idealsprachliche Form der intuitiven Kommunikation oder der ,Sprache der Engel', von der Swe­denborg schwärmt, hat einen Schwachpunkt, und der liegt dort, wo die Sozialität

18 Emanuel Swedenborg: Himmel und Hölle. nach Gehörtem und Gesehenem. Zürich

1 977, S. 1 48f - zit. nach Böhme, Böhme. op.cit., S.262f

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Kant 59

sich der Bedingung von Äußerlichkeiten bewußt ist. Ausdruck und Bedeutung fallen unweigerlich auseinander, wenn keine transzendente Ebene mehr gege­ben ist. Ab einem bestimmten Grad von Differenzierung und Komplexität wird die Differenz von Wesen und Erscheinung geradezu konstitutiv für die moderne Gesellschaft, und es ist unter diesen Bedingungen essentiell wichtig, nicht nur den Schein zu wahren, wie dies noch für die höfische Gesellschaft zutreffen mag, sondern die Erscheinung selbst zu konstruieren: durch eine Erziehung und D iszi­plinierung der konkreten Individuen und der Kultivierung von Vernunft im ab­strakten Sinn. Dies gelingt nur, indem es zur moralischen Pflicht jedes Einzelnen gemacht wird, sich aus dem bloßen Naturzustand herauszuarbeiten, wie Kant in seiner Religionsphilosophie ausführt. Vermittlung aber ist das kultivierende Merk­mal gegenüber jeder Form der Unmittelbarkeit, die im Fall des Menschen keine Rückkehr zu ursprachlichen Verhältnissen bedeuten würde, sondern einen un­weigerlichen Rückfall in den bewußtlosen Naturzustand."

Vernunft bedeutet nüchterne Anstrengung im Sinn von Mühe. Alternative Bewußtseinszustände unter Eingebungen wie durch Drogen, Rausch, Träumen oder anderen sinnlichen E inflüssen werden demnach als Quelle von Erkenntnis ausgeschlossen, da sie jene Unmittelbarkeit pflegen, die auch mit einer ,Sprache der Engel' fälschlicherweise versprochen wird. Zwischen dem Ich und der Welt steht unweigerlich ein medialer Vermittlungsakt, der als solcher schon auf ,Be­dingungen der Möglichkeit' hinweist, denen die Erscheinungen unterworfen sind. Ebenso hat Denken in all seiner subjektiven Kontingenz das Problem, sich dem jeweils anderen denkenden Subjekt adäquat darzustellen. Das funktioniert nur aufgrund der vorgängig cartesianischen Trennung von Denken und Materie, und obwohl die Natur der Seele uns nicht bekannt ist, gilt für die geheimnisvolle Gemeinschaft von Geist und Körper, so Kant, daß die Seele den Körper nicht ver­lassen und in unmittelbaren Kontakt mit den Dingen treten kann.20 Umgekehrt

19 Das aufklärerische Projekt der Vernunft

kann in diesem Sinn als Angstabwehr geie·

sen werden. vgl. Max Horkheimer, Theodor

W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philo­

sophische Fragmente ( 1 947) , Frankfurt: Fi­

scher 1 997 20 Kant begründet dies mit einem Modell der

Daten- bzw. Zeichenverarbeitung: .Die Ur­

sache, die da macht, daß man die nachden­kende Seele vornehmlich im Gehirne zu

empfinden glaube ist vielleicht diese. Alles

Nachsinnen erfordert die Vermittlung der Zeichen vor die zu erweckende Ideen, um in deren Begleitung und Unterstützung dessen

den erforderlichen Grad Klarheit zu geben.

Die Zeichen unserer Vorstellungen aber sind

vornehmlich solche, die entweder durchs

Gehör oder das Gesicht empfangen sind,

welche beide Sinne durch die Eindrücke im

Gehirne bewegt werden, indem ihre Orga­

nen auch diesem Teil am nächsten liegen. Wenn nun die Erweckung dieser Zeichen, welche Cartesius ideas materiales nennt, ei­

gentlich eine Reizung der Nerven zu einer ähnlichen Bewegung mit derjenigen ist,

welche die Empfindung ehedem hervor­

brachte, so wird das Gewebe des Gehirns im Nachdenken vornehmlich genötiget werden,

mit vormaligen Eindrücken harmonisch zu beben, und dadurch ermüdet werden. Denn

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60 Aufklärung und Publ izität

darf dann daraus abgeleitet werden, daß die Welt nicht zu uns spricht, sondern ei­ne Chiffre darstellt, die decodiert werden will und die durch nichts anderes als den Verstand entschlüsselt werden kann. Das Denken folgt wohl weniger, als tra­ditionell angenommen wurde, einer verborgenen Struktur der Dinge: "Metaphy­sischer Behauptungen ist die Welt satt: man will die Möglichkeit dieser Wissen­schaft, die Quellen, aus denen Gewißheit in derselben abgeleitet werden könne, und sichere Kriterien, den dialektischen Schein der reinen Vernunft von der Wahrheit zu unterscheiden.""

3.3. Ernüchterung. Kritik des Imag inären

Der Philosoph interessiert sich natürlich nicht ernsthaft für Geister, wohl aber für die Frage nach der Konstellation dessen, was für uns erfahrbar ist und damit exi­stiert, sowie dessen, was bloß behauptet und vermutet oder gar geträumt wird. Wie weit führt uns die Logik des Geistes? Die Spaltung eines geistigen Inneren vom körperlichen Äußeren des Menschen schafft das Problem, daß das Ich nach außen hin Einbildungen projiziert, die nicht wirklich sind. Aber haben sie nicht wenigstens subjektive Realität? Denn was ist schon Wirklichkeit, wenn - Kant verweist hier auf die cartesianischen ideas materiales - diese Vorstellungen der Einbildungskraft etwa in den Nervenbewegungen nachweisbar wären. Ja wohl, aber so wird der Jocus imaginarius außerhalb dem denkenden Subjekt gesetzt", was nichts anderes als eine Verrückung bedeutet, ähnlich einem Betrunkenen, der doppelt sieht. Durch innere oder äußere Beeinflussung der Sinne ist alles Mögliche vorstellbar, allein: .Das Blendwerk hört auf, so bald man will und die Aufmerksamkeit anstrengt."" Das erkennende Subjekt ist demnach nicht nur kultiviert und diszipliniert, es hat auch unbedingt nüchtern zu sein, und beteiligt sich nur unter dieser Voraussetzung von wacher Ernsthaftigkeit am Gemeinwe­sen. Träumen können und dürfen wir wohl, aber dabei befinden wir uns in einer privaten Welt; wachend aber leben wir in der gemeinschaftlichen Welt - wer um­gekehrt auf nicht nachvollziehbare Art sich in der Welt bewegt, ist eben bloß ein Träumer.>'

wenn das Denken zugleich affektvoll ist, so empfindet man nicht allein Anstrengung des Gehirnes, sondern zugleich Angriffe der reizbaren Teile, welche sonst mit den Vor­stellungen der in Leidenschaft versetzten Seele in Sympathie stehen.• - Kam: Träume. op.cit.. S.932f (Anm.) Man kann hierin eine Ahnung dessen entdecken, was die Neuro-

biologie mittlerweile als Grundlage für Den­ken und Sprechen sieht: Neuronenaktivität.

21 Immanuel Kam: Prolegomena zu einer künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können ( I 783 ), in: Kam, Werkausgabe, op.cit., Bd. V /VI. S . l 09ff

22 Kam: Träume, op.cit., S .956f 23 ebd., S.952; vgl. auch S.947 Anm.

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Kant 61

Das reflexive Ich hält eine objektiv sich ausdifferenzierende Welt zusammen, jedoch nur unter Bedingungen der Mitteilbarkeit. die durch das meine Vorstel­lungen begleitende Ich denke 24 garantiert wird, da erst diese Reflexivität der Vor­stellung das Wissen begründet. es nicht mit leeren Illusionen zu tun zu haben. Ei­ne seltsame Lösung: die Welt. die nicht so ist, wie wir sie mit unseren Wahrneh­mungen vorzufinden glauben, hat auch im denkenden Ich noch kein festes Fundament - .. Denn in dem, was wir Seele nennen, ist alles im kontinuierlichen Fluß und nichts Bleibendes" (Kant) - sondern lediglich in der Aktivität der je­weiligen reflexiven Selbstverortung; das Ich als . . so etwas wie das, was man im Fernsehen einen link man nennt. einen Überleitungssprecher: es bindet die ver­schiedenen Wahrnehmungen zusammen, so daß sie eine Einheit bilden.""

Die transzendentale Bedingung des menschlichen Daseins, die Kant ergrün­det, zielt auf die Voraussetzungen im Weltverständnis, das einerseits auf Bedin­gungen einer gemeinschaftlichen Grundbefindlichkeit gebaut ist, und anderer­seits auf die synthetischen Leistungen der Subjekte, die alle nach den gleichen Regeln mit Verstand und Sinnen Ordnung in die Welt bringen.'• In einer Ab­wehrbewegung gegenüber den Verworrenheiten des einsamen Traums also, die am Beispiel Swedenborgs durchexerziert, wenngleich nicht ganz überzeugend gelöst27 wird, ist jener kategoriale Apparat vorbereitet. der den menschlichen Geist als eine Art Präzisionsmaschine auslegt, die nur innerhalb bestimmter Grenzen sicher arbeitet. Was sich außerhalb dieser Grenzen befindet, wie Krank­heit, Phantasie, Rausch, Traum, Sexualität, Einbildung usw. wirft das Subjekt auf eine isolierte, verrückte Situation zurück. Denken folgt nicht einer Ordnung der

24 .Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellun­gen begleiten können; denn sonst würde et­

was in mir vorgestellt werden, was nicht ge­

dacht werden könnte, welches eben soviel

heißt, als die Vorstellung würde unmöglich,

oder wenigstens für mich nichts sein.·

Immanuel Kam: Kritik der reinen Vernunft,

Werkausgabe, op.cit., Band III, S. I 36

25 Ge IIner: Descartes & Co., op.cit., S .3 I f, unter Bezug auf Kants Paralogismen der reinen

Vernunft. Werkausgabe, op.cit., Band IV,

S. 384 26 Ausgehend von einer Theorie der Allgmein­

begriffe, die in der philosophischen Tradition

entwickelt wurde, entwickelt Kam die Transzendentalphilosophie als .Metaphysik

der Metaphysik" - doch gerade weil diese sich .mit den subjektiven Bedingungen der

Möglichkeit aller apriorischen Erkenntnis"

befaßt, geht es um transsubjektive Geltun-

gen: .Wenn in dem Titel des Werkes [Kritik der reinen Vernunft] von ,Vernunft' die Rede

ist, dann darf man unter diesem Wort nicht

ein Talent oder auch ein ,Vermögen' verste­

hen, obwohl bei Kam irreführenderweise im

Anschluß an die alte Vermögenslehre von

,Erkenntnisvermögen' die Rede ist. Vernunft

ist vielmehr Inbegriff von Vollzügen, Hand­

lungen und Bewegungen des Denkens. Da­

zu gehört der Übergang von der Sphäre pri­

vaten, je uns angehörenden Empfindens

und Fühlens zur Gemeinsamkeit des Mittei­lens und zur Öffentlichkeit." - Vgl. Kaul­bach: Immanuel Kam, op.cit., S . l l 7 f

27 .Nunmehro lege ich die ganze Materie von Geistern. ein weitläufig Stück der Metaphy­

sik, als abgemacht und vollendet bei Seite. Sie geht mich künftig nichts mehr an.·

Kam: Träume. op.cit., S.964

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62 Aufklärung und Publ izität

Dinge, sondern macht umgekehrt erst über die kategoriale Ordnung des Denkens die der Dinge erkennbar. .. Die bisherige Philosophie", wie Heinrich Reine dazu süffisant bemerkt hat, .. die schnüffelnd an den Dingen herumlief. und sich Merk­male derselben einsammelte und sie klassfizierte, hörte auf. als Kant erschien, und dieser lenkte die Forschung zurück in den menschlichen Geist und unter­suchte, was sich da kund gab."'8

Das Ich als Autor von Welt arbeitet mit entscheidenden Begriffen, um zu seinen Urteilen über die Erscheinungen zu kommen. Kant nennt sie Kategorien, die im Wortsinn eine Aussagemöglichkeit bedeuten. Eine Vernunftwahrheit konstituiert sich unter Bedingungen der inneren Freiheit, die nicht wie die äußere von kon­tingenten Autoritäten abhängen soll. Deshalb wird nicht nur der Erkenntnisap­parat in eine transzendentale Ästhetik und eine Logik - hier Sinnlichkeit, dort Denken - unterteilt, es wird auch das Hauptgewicht auf letztere gelegt, um die menschlichen Verbindungen zur Welt nicht von sinnlichen Qualitäten abhängig vorzustellen; was die Sinne affiziert (Ästhetik) gilt bekanntlich als Quelle mögli­cher Täuschungen. In seinen Vorreden zur Kritik der reinen Vernunft legt Kant die­se Motive dar, die hier nur soweit verfolgt werden sollen, wie sie zum Verständ­nis der aufklärerisch projektierten wahren Reform der Denkart beitragen - daß nämlich .. die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe her­vorbringt", und zwar in der Praxis der Naturforschung ebenso wie in der Philo­sophie.

Über den kategorialen Apparat erforscht diese theoretische Philosophie Grundprinzipien des menschlichen In-der-Welt-Seins, dessen Hauptfrage bleibt, .. was und wie viel Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen" kann.29 D ie philosophische Problematik kennt hier keine wissenschaftlichen Tat­sachen, sondern nur kognitive Prinzipien, denn statt um Wissen über die Welt geht es ihr um die Differenz vom Ansich der Realität und ihrer Gegebenheit für uns. Eine Bestimmung der Art von Gegenständen, die sich unserer Erkenntnis mittelbar erschließen, erfolgt über die Kategorien, und das sind genaugenommen Funktionen in Aussagen über Gegenstände, deren Begrenzung das menschlich Denkmögliche bedingt, interessanterweise aber nicht ausschließt, daß es auch prinzipiell andere Möglichkeiten gibt, andere Intellekte etwa mit ganz anderen kategorialen Systemen.'0

28 Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion

und Philosophie in Deutschland ( 1 834 und

1 852) , Stungart: Reclam 1997, 5.99 29 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft

( I 78 1 ), Vorrede, Werkausgabe, op.cit., S .23

30 Vgl. Thomas E. Seebohm: Über die unmögli­

che Möglichkeit, andere Kategorien zu den­ken als die unseren, in: Forum für Philoso­

phie Bad Hornburg ( Hg. ) : Kants transzen­

dentale Deduktion und die Möglichkeit von Transzendentalphilosophie, Frankfurt: Suhr­kamp 1 988, S . l l -29

Page 63: Medienphilosophie Hartmann

Kant 63

In dem Sinn richten sich die Gegenstände tatsächlich nach unseren Möglich­keiten, weil ihr Ansich ohnehin unzugänglich bleibt, da die Grenzen möglicher Erfahrung nicht zu transzendieren sind. Was jenseits der Erscheinungen als Be­reich möglicher Erfahrung liegt, dieses Ansich ist für uns nur denkmöglich, da wir alles nur durch einen apriorischen Filter angeborener Bedingungen (das sind für Kant: Raum und Zeit, die logischen Kategorien, und dann noch die Ideen der reinen Vernunft wie Seele, Welt, Gott . . . ) adäquat erkennen können. Der philo­sophische Gegenstand ist aufgrund dieser Beschränkung nicht mehr, wie im Ra­tionalismus, die objektive Welt, sondern die Transzendentalphilosophie be­schränkt sich auf deren Möglichkeit, indem sie sich auf die subjektive Erschei­

nungswelt konzentriert. Es geht in weiterer Folge nicht um die Welt, sondern um das, was wir über sie gültig aussagen und mitteilen können. Konfrontiert mit einer mediatisierten Welt, stellt sich das Grundproblem der modernen Philosophie als eine Verständigungsfrage dar, und als Aufgabe bleibt eine Klärung der Beziehun­gen zwischen Subjekten, Repräsentationen, und der Realität."

3.5. Das reflexive Subjekt als Vermittler

In ihrer ganzen Komplexität, die Kant in der sogenannten Deduktion der reinen Verstandesbegriffe (Kategorientafel) entfaltet, will diese Philosophie nichts an­deres, als im Ich den reflexiven Kern zu beweisen, der die Welt im Innersten zu­sammenhält. Hier findet sich der gesuchte Sammlungspunkt, von dem aus eine radikal subjektive Perspektive von Werten entworfen wird, die mit einem übersub­

jektiven Geltungsanspruch ausgestattet sind. Mit dieser Transzendentalphilosophie verschiebt sich die D ichotomie von Materie und Geist um einen wesentlichen Aspekt. D ie besagten Werte sind sozialer Natur, das heißt daß im Sinne der Communitas nur der Teil der Erkenntnis zählt, der als Erscheinung "für uns" wirk­lich wird; alles andere bleibt im Bereich des "an sich", nicht eigentlich erkennbar, sondern nur ,denkmöglich'. Es gibt nun mindestens zwei Möglichkeiten, diese Orientierung, gewissermaßen eine Radikalisierung des Descartes'schen Neuan­satzes, einzuschätzen. Auf die restriktiven Züge der Vernunftkritik wurde oft genug hingewiesen, schon Heinrich Heine deutete sie als ein großes Mißver­ständnis: über Kant in der Philosophie und Robespierre in der Politik sah er ein an die Macht gekommenes Spießbürgertum - "die Natur hatte sie bestimmt

Kaffee und Zucker zu wiegen, aber das Schicksal wollte, daß sie andere Dinge ab­wögen, und legte dem einen einen König und dem anderen einen Gott auf die Waagschale . . . " "

3 1 Arthur C. Danto: Wege z u r Welt. Grundbe· 32 Heine: Zur Geschichte, op.cit., 5 .95

griffe der Philosophie, München: Fink 1 998

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64 Aufklärung und Publ izität

Ähnlich sieht es Ernest Gellner, der eine bestimmte Tradition der Auf­klärungskritik evoziert, wenn er den instrumentalistischen und gefühlskalten Blick auf die geistige menschliche Natur mit düsteren Konnotationen wie folgt charakterisiert: "Der Geist, wie er in der großen Kritik vorgestellt wird, wird fast in der Form von Rollen, Hebeln, Rädern und Haken beschrieben, die, man fühlt es, aus rostfreiem Stahl hergestellt sind - fehlerlos, sauber und vor allem äußerst zuverlässig. Dies vor allem: Der Geist ist äußerst zuverlässig, das Produkt bester deutscher Wertarbeit. Wie die erlesenste deutsche Maschinerie wird er nicht zu­sammenbrechen. Es gibt nichts Kontingentes, nicht Nachlässiges, Wackliges oder Zufälliges an der Operation solcher Maschinen. Was sie tun, tun sie unerbittlich, verläßlich, mit Notwendigkeit. Die Ordnung in der Welt wird durch die Präzisions­maschine unseres Geistes garantiert. Kants drei große Kritiken sind die Bedie­nungshandbücher, die er der Menschheit als den Benutzern dieser glänzenden Ausstattung vermacht hat.""

Die Befreiung von traditionellem Aberglauben und kulturellen Irrtümern hat­te ihren Preis, und der bestand in einer wesentlichen Beschränkung auf den for­malen Maßstab einer Existenz, die keiner anderen als der allgemeinen Gesetz­mäßigkeit unterworfen sein sollte. Daß das Denken den Verstandesstrukturen folgt, ist gewissermaßen auch eine Kapitulation vor der Unmöglichkeit, die grundlegende Mediatisiertheil von Welt zu durchbrechen, oder die Welt der Din­ge als hintergehbar darzustellen. Diese Grenzziehung kann also - trotz aller Bom­bastik der ausgeführten Vernunftkritik - auch als eine gewisse philosophische Bescheidenheit aufgeiaßt werden. Damit befand sich Kant auf der Höhe seiner Zeit, die längst damit begonnen hatte, einem dezentrieften Weltverständnis das Wort zu reden. Im Orientierungsgefüge der Neuzeit spalten sich die einzelnen Wissensbereiche auf: Wissenschaft, Politik und Kunst gehen ihren je eigenen Weg in die Expertenkultur einer entzauberten Moderne." Ab Descartes kann die Intention philosophischer Theoriebildung darin gesehen werden, das Denken über die Methode des systematischen Verstandesgebrauchs zu disziplinieren. Nicht nur die sozialpolitischen Wirrungen, auch kosmische Entdeckungen und territoriale Entgrenzungen führen zu einer Dekontextualisierung des Denkens, die ihrerseits als Reaktion auf die Relativierung der vermeintlich �entralen Stel­lung des Menschen im Kosmos interpretiert werden kann. Die Selbstbestim­mung, auch in Form einer Einklagung von Mündigkeit", setzt das bewußte Sub-

33 Gellner: Descartes & Co, op.cit., S .37 34 Vgl. dazu die wissenschaftssoziologische Re­

konstruktion von Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände,

Frankfurt: Suhrkamp 1 9 8 1 , sowie ders.:

Nachmetaphysisches Denken. Philosophi­sche Aufsätze, Frankfurt: Suhrkamp 1 988

35 Zur u.a. auch rechtsgeschichtlichen Auslo­tung des Begriffs ,Mündigkeit' vgl. Manfred Sommer: Identität im Übergang: Kant,

Frankfurt: Suhrkamp 1 988, bes. S . l 1 7ff

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Kant 65

jekt an die Stelle eines verborgenen Weltenbewegers, der aus dem Hintergrund die unsichtbaren Fäden zieht. Die Überprüfung der Mittel, mittels derer sich Wis­sen im aufgeklärten Subjekt konstituiert, folgt im zeitdiagnostischen Reflex dem Schema der Ausdifferenzierung der Wertsphären des Wissens, des Handeins und der Moral: woraus sich der architektonische Aufbau von Kants dreigliedriger Ver­nunftkritik in Theorie oder eine kognitive, in Praxis oder eine normative Sphäre, sowie in Ästhetik ergibt. Die Aufklärung differenziert sich.

Vernunftfragen Relativ autonome Wertsphäre des Kants Kritik der: Kulturen der Diskurse Moderne

• Was kann ich des Verstandes: Kognitiven: ,.reinen Wissenschaft und wissen?" Theorie das Wahre Vernunft" Technik

.Was soll ich des Willens: Normativen: .praktischen Recht und Moral tun?" Praxis das Gute Vernunft"

• Was darf ich des Geschmacks: Ästhetischen: • Urteilskraft" Kunst und Kritik hoffen?" Ästhetik das Seitöne

Karrt reflektiert damit in seiner theoretischen Philosophie die differenzierte Art und Weise, wie sich der moderne Mensch ein mehrschichtiges ,Bild' von der Welt macht, und verpflichtet diesen gleichzeitig darauf, für eine entsprechende Kon­gruenz der nicht immer deckungsgleichen Folien zu sorgen, aus denen dieses Bild letztlich besteht. Die verschiedenen Bildebenen schießen zusammen in der Hoffnung auf eine "Kultur der Vernunft", die Karrt in der Vorrede seiner Kritik der

reinen Vernunft beschwört, und zwar mit der Pathetik dessen, der seine Zeit auf ein durchgängiges Programm verpflichten will. Daß dies eine gewisse Mechanik beinhaltet, war den Zeitgenossen klar und keineswegs verdächtig. "Der Mensch ist also eine künstliche Maschine", schreibt etwa Herder in seiner großangelegten Rekonstruktion der neuzeitlichen Humanität, "zwar mit genetischer Disposition und einer Fülle von Leben begabt; aber die Maschine spielet sich nicht selbst, und auch der fähigste Mensch muß lernen, wie er sie spiele. Die Vernunft ist ein Ag­gregat von Bemerkungen und Übungen unserer Seele, eine Summe der Erzie­hung unseres Geschlechts, die, nach gegebenen fremden Vorbildern, der Erzoge­ne zuletzt als ein fremder Künstler an sich vollendet."'6

Die Frage wird sein, welches Mittel ihm dabei zur Verfügung steht. Innere Triebkräfte und äußere Bedingungen konkurrenzieren hier um die Hauptrolle im Spiel der ,Bedingungen der Möglichkeit', Vernunft hier und dort Sprache, Tradi­tion, Kultur. Zwar siegt die Vernunft als Prinzip über die anderen bedingenden

36 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philoso­

phie der Geschichte der Menschheit ( 1 784· 1 785) . Neuntes Buch Abs. I - zit. nach Aus­gabe Wiesbaden: Fourier 1 985. hier S.225

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66 Aufklärung und Publ izität

Momente, dafür stellt sich ihr aber wieder das Problem der Vermittlung hinsicht­lich einer gelingenden Praxis. Unter der Perspektive der Vernunft besteht die Welt aus kausalen Regelmäßigkeiten, die in den logischen Funktionen des Ver­standes festgelegt sind; ist ihr blinder Fleck nicht tatsächlich der, den die vielen Kritiker zu erkennen glaubten, nämlich die kulturell eingewöhnten Sitten, die den Menschen ihre ganz eigene Form des begrifflichen Zwangs auferlegen? Das seit Kant klassische Ordnungsgefüge von kognitiver, moralisch-praktischer und ästhetischer Rationalität wäre dann nur ein Oberflächenphänomen, ein Effekt von Familienähnlichkeiten an sich kontingenter Diskurse, die unter anderem am linear-typographischen Muster am Leitfaden des Buches entfaltet werden."

3.5. Die Forderung nach Publizität

Die Rückkopplung an die verschwiegen bedingende Sphäre der Öffentlichkeit folgt bei Kant jedoch auf den Fuß. Im Gegensatz zu Descartes, der sein Vertrauen in die Kraft des seine Thesen verteidigenden Autors gesetzt hat, wird bei Kant die wahrheitsstiftende Kraft der Vernunft nachdrücklich an die Existenz einer argu­mentierenden Öffentlichkeit gebunden. War die erkenntnisleitende Frage der Aufklärung danach, wie sich eine Vernunftwahrheit prinzipiell konstituieren könne, als solche schon gegen die Autorität der Tradition und die Macht der ka­nonischen Schriften gerichtet, so verbindet sich in diesem Votum für unbedingte Publizität. zum dem sich Kant im November 1 784 mit seinem Aufklärungsessay bekennt, die Forderung nach einem öffentlichen Vernunftgebrauch mit der Ein­klagung des Rechts auf freie Meinungsäußerung.'"

Er macht dabei die interessante und oft kritisierte Unterscheidung, daß der öf­fentliche Gebrauch der Vernunft - gemeint ist zuerst die Artikulation der Gelehr­ten, die wissenschaftliche Publizität mit ihren als Mechanismen der Replik aus­gebildeten Feedbackschleifen - immer frei sein solle, kleinere private Einschrän­kungen hingegen in Kauf genommen werden könnten, ohne den Fortschritt der Aufklärung ernsthaft zu behindern. Aufklärung tritt damit in das Licht eines kol­lektiven Fortschritts der Menschheit, zu dem wir individuell beitragen, beispiels­weise in der Loslösung von falschen Autoritäten (darunter von Büchern als stell-

37 Vgl. den • Verflechtungsbefund", den Wolf­

gang Welsch in seiner Revision rationaler

,Ordentlichkeiten' entfaltet: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Kon­zept der transversalen Vernunft, Frankfurt: Suhrkamp 1 996; zur daran anschließenden

Interpretation der TransversaHrät im Lichte

der neuen Medien vgl. Mike Sandbothe: In-

teraktivität - Hypertextualität - Transversa­

lität. Eine medienphilosophische Analyse

des Internet, in: Stefan Münker, Alexander Roesler (Hg. ) : Mythos Internet, Frankfurt: Suhrkamp 1 997, S .56ff

38 Immanuel Kam: Beantwortung der Frage:

Was ist Aufklärung? ( 1 784), in: Werkausga­be, op.cit., Bd.Xl. 5 .53-6 1

Page 67: Medienphilosophie Hartmann

Kant 67

vertretendem Verstand) , aber auch von den falschen Träumen der Einbildungs­kraft. An dieser Stelle wird das aufklärerische Konzept politisch, da sich die Fra­ge nach einer spezifischen Balance zwischen privatem und öffentlichem Ver­nunftgebrauch stellt, wobei lezterer im Vertrauen auf den Eigensinn des rationa­len Arguments in Form eines Kontraktes mit der herrschenden politischen Macht (in diesem Fall Friedrich II von Preußen) abgesichert werden soll.'9

Mit Kant gilt: "Die Welt ist die Signatur des Wortes. "'0 Heine bemerkte dazu abfällig, daß der Mensch nun offensichtlich dem Gott der Bibel gleichgestellt sei, da er seine Gedanken nur öffentlich kundtun müsse, und schon gestalte sich die Welt anders. Aber Heine vergaß, daß Kant, dem die Religion zur "reinen Ver­nunftsache" geriet, unter dieser Perspektive statt nach dem Gott als Autor doch lieber nach den Redakteuren der biblischen Bücher gefragt hat.'1 Bücher - auch heilige Bücher - sind dem Aufklärer Instrumente fremder Leitung, die durchaus manipulative Mittel sein können, und uns vom Selberdenken abhalten. In dem kurzen Aufklärungs-Essay von Kant geht es darum, Öffentlichkeit als absoluten Geltungsanspruch durchzusetzen: "der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zu Stand bringen ( . . . ) Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauch seiner ei­genen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Pu­blikum seiner Leserwelt macht. "'2 Wohl wissend, daß Kritik und Entgegnung, Ar­gument und Gegenargument einen irreversiblen Prozeß in Gang setzen, der ana­log zur Selbstkorrektur der Vernunft aus eigenen Mitteln dem immanenten Fortschritt der Aufklärung dient, plädiert wie schon Descartes auf einer pragma­tischen Ebene nun auch Kant für die definitive Objektivierung des wissenschaft­lichen und im weiteren Sinne des gesellschaftspolitischen Diskurses via Einrich­tung und Intensivierung der Gelehrtenrepublik, die eine geregelte Produktion, Distribution und Rezeption von Texten kennt. In gegenwärtiger Diktion würde man sagen, daß nach dem Prinzip der Selbstorganisation jene Irrtümer des Wis­sens behoben werden, deren Grund im bloßen Mangel seiner Verfügbarkeit und Anwendung liegen - garantiert werden muß lediglich das Prinzip seiner D urch-

39 Michel Foucault: What is Enlightenment?

( 1 968), in: Paul Rabinow (Hg. ) : The Fou· cault Reader, New York: Pantheon Books

1 984, 5 .32-50

40 Heine: Zur Geschichte, op.cit., 5.92 41 Kant: Der Streit mit der theologischen Fa­

kultät. Anhang biblisch-historischer Fragen, über die praktische Benutzung und mut· massliche Zeit der Fortdauer des heiligen

Buches, in: Werkausgabe. op.cit., Band XI, 5 . 3381. Die aufklärerische Forderung nach

einer Bibelkritik und damit einer histori­

schen Beurteilung von Religionsfragen er­

hob Denis Diderot im Artikel .. Bible" der En­

zyklopädie. vgl. dazu Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung ( 1 932 ) . Harn­burg: Meiner 1 998, 5 . 2 5 1

42 Kant: Was ist Aufklärung, op.cit., 5 . 55

Page 68: Medienphilosophie Hartmann

68 Aufklärung und Publ izität

setzung, und das ist eine Frage der politischen (und im weiteren auch der techni­schen) Pragmatik.

Wie in der Vernunftkritik, so besteht Kant auch mit seinem Aufklärungskon­zept auf der rein formalen Ebene. War die zentrale, gegen traditionell verbürgte Wahrheitskonzepte gerichtete erkenntnisleitende Frage der Vernunftkritik die, wie sich denn überhaupt eine Vernunftwahrheit konstituiert, so verbindet sie sich in der Frage der Aufklärung mit den beiden Impulsen einer Forderung öf­fentlichen Vernunftgebrauchs (als theoretischem Prinzip) einerseits und der Ein­klagung des Rechts auf freie Meinungsäußerung (als gelebter Praxis) anderer­seits. Die Beschränkung auf Formalität schließt jede materiale Analyse aus. Öf­fentlichkeit, Medien, oder Buchkultur sind kein philosophisches Thema, sondern werden mit dem Begriff Publizität implizit thematisiert, als Leitbild einer erst noch zu leistenden Vernunftaufklärung.

Instruktiv dazu ist der nüchterne Blick auf die Praxis der politischen Revoluti­on, die diesen Weg abzukürzen versucht. Statt auf eine gewaltsame und auto­ritäre Veränderung im Hier und Jetzt setzt Kant seine ganze Hoffnung auf eine .. wahre Reform der Denkungsart", die allein gesellschaftlich relevante Verände­rung zeitige. Sie wird, das gilt es festzuhalten, im Zusammenspiel von Wahrheits­anspruch und dem Prinzip von Publizität angesiedelt: schon ist es ein Publikum und kein einsames Subjekt, das sich selbst aufklärt: .. Es ist also für jeden einzel­nen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmün­digkeit herauszuarbeiten. ( . . . ) Daher gibt es nur wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu ent­wickeln, und dennoch einen sicheren Gang zu tun. Daß aber ein Publikum sich

selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich. "4'

Kant hat konsequenterweise dort, wo es nicht um Wissen, Bildung oder ab­strakte Erkenntnis geht, sondern um gesellschaftspolitische Konfliktlösungen, Publizität als ein transzendentales Prinzip öffentlichen Rechts eingesetzt: .. Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht. "44 Dieses Prinzip bedingt Recht und Politik, da diese Formen öffentlichen Handeins nur dann gerecht sein können, wenn sie .. als öffentlich kundbar gedacht" werden können. Die moralische Kom­ponente dieser formalistischen Deklaration, die sich im Anhang des Traktats mit der ,.satirischen Überschrift" Zum ewigen Frieden ( 1 79 5) findet, legt die Öffentlich-

43 ebd . . 5.54 (Hervorhebung F.H.) 44 lmmanuel Kam: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Werkausgabe,

op.cit., Band XI. 5.245

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Kant 69

keit als jene Instanz fest, die einer "zur Zeit schlummernde(n), moralische(n) An­lage im Menschen"•' zur Durchsetzung verhelfen können soll.

Derart ergibt sich die Klammer zwischen theoretischer und praktischer Ver­nunft also letztlich im Hinblick auf eine mediale Sphäre öffentlicher Kommuni­kation, die eine Frühform des demokratischen Medienverständnisses bildet. Die­se Interpretation stellt sich freilich gegen die Versuche, die Vermittlung zwischen den beiden Aspekten der Vernunft in philosophischer Reinheit zu definieren. Zu­erst einmal schreiben Philosophen Aufsätze und Bücher, die gelesen und kom­mentiert oder kritisiert werden wollen, um damit einen Prozeß der Bildung zur Mündigkeit in Gang zu setzen. Das ist, wie wir gesehen haben, deklarierte Ab­sicht schon bei Descartes gewesen, auch wenn er das Geschäft des Böeherrna­chens gehaßt haben mag, und ebenso eine Implikation des transzendentalphilo­sophischen Ansatzes von Kant, der jedoch das Ausdrucksmedium der Philosophie nicht eigens thematisiert, sondern als eine mehr oder weniger funktionale Vor­aussetzung der Geistesartikulation für gegeben nimmt.••

Zusammenfassung M it dem ausgehenden 1 8. Jh. verwandeln politische

U mwälzungen m it neuen normativen Ansprüchen die feudal-repräsentative

Öffentlichkeit: dem traditionellen Weltbild wird ein neuer moralischer Univer­

salismus entgegengehalten. Logische und moralische Ordnung hängen zusam­

men, die Frage ist nicht das Warum sondern das Wie. Ernest Gel lner hat seh r

scharfsinnig bemerkt, daß erstens das Wesen des rational istischen Programms

darin besteht, der Wirklichkeit einer Weit, "die bloß a uf gutem Glauben be­

ruht", die Anerkennung abzusprechen und zweitens das kog nitive Gesetz so

zu implementieren, daß die Struktur des mensch lichen Geistes zur Basis a l ler

Weltentwürfe wird, wobei Kant quasi die "Bedienungshand bücher" l iefert,

nach denen dieser Geist als präzise und reibungslose Maschi ne funktionieren

sol l . Theorie u n d Praxis finden sich vermittelt durch eine wahrheitsstiftende Kraft, d ie bei Kant ( 1 784) nachdrücklich an die argumentierende Öffentlichkeit ge­bunden wird. Er macht eine interessante (und oft kritisierte) Unterscheidung: der Gebrauch von Vern unft sol l prinzipiell immer frei sein; private E insch rän­kungen aber h indern die Aufklärung nicht, solange der öffentliche Vernunft­gebrauch garantiert bleibt. Damit wird erstmals die Dominanz einer Rezepti­onsmacht beha uptet, die hier noch a ls Gelehrtenrepubl ik a uftritt. Aufkl ärung

4 5 ebd., 5.2 10

46 in seiner Nachschrift zum .Streit der Fakul· täten· erwähnt der alte Kam die modischen Verirrungen der Buchdrucker, die moderne,

lateinische und serifenlose Schriften setzen und damit dem Auge verderblich wären, vgl. Werkausgabe, op.cit., Band XI. 5. 392!

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70 Aufklärung und Publ izität

tritt damit ins Licht eines kol lektiven Fortschritts der Menschheit, den das Indi­

viduum nicht definieren, zu dem es ledigl ich beitragen kann, beispielsweise in

der bewußten Loslösung von falschen Autoritäten, aber auch von den Träu­

men der Einbi ldugskraft: von hier aus fragte Kant nach den sicheren G renzen

von Erkenntnis. Erkennen wird dabei a ls ein Akt des Subjekts d urchschaut, das

dabei g leichwohl a l lgemeinen Regeln (gemeinsame Grundbefindlichkeit des

Menschseins) folgt. Das Prinzip der Publ izität sorgt dafür, daß die ,Vernunft­

wesen' nicht isol iert agieren, sondern in einem gesellschaftspolitischen Dis­

kursfeld, das autonomen Regeln gehorcht. Der publizierende und sich damit

der öffentl ichen Kritik aussetzenden Autor etabliert sich als ein Ideal bürgerl i­

cher Souveränität, die sich über funktionale Selbstbezüge im Sinn des erhoff­

ten gesellschaftl ichen Fortschritts reguliert.

Page 71: Medienphilosophie Hartmann

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Abbildung 4 Samuel Thomas von Sömmering: Elektrochemischer Telegraph (1809)

Page 72: Medienphilosophie Hartmann

4. Kapitel - Die Schrift, die Sprache, das Denken.

Zur Konjunktur des sprach philosophischen Ansatzes

.. Lauter Unvollkommenheiten, die in unserm einzigen

Mittel der Fortpflanzung menschlicher Gedanken liegen . . . "

Johann Gottfried Herder

4. 1 . Säkularisationsprozeß und die Erziehung zum Text

Mit fortschreitendem Prozeß der Säkularisierung richtet sich das Interesse der modernen Kultur auf die Erstellung einer Enzyklopädie, als bürgerlich selbstbe­wußter Inventarisierung alles zuhandenen Wissens. Das individuelle Mittel der Aneignung dieses Wissens ist Bildung, die einen zentralen Stellenwert in der hu­manistischen Aufklärung einnimmt: "Befreit von den Krusten der alten Ord­nungen schien der sich selbst aufklärende Geist-Mensch die Versöhnung zwi­schen Wissen und Leben herzustellen." ' Fand das neunzehnte Jahrhundert für dieses Versöhnungsunternehmen den Zentralbegriff Arbeit - als strukturierte Aneignung von Welt, was eine neue, materialistisch vereinheitlichende Ord­nungsvorstellung mit sich gebracht hat - so diente zuvor im achtzehnten Jahr­hundert das Streben einer kleinen Elite nach vollständiger B ildung dazu, geisti­ge Freiheit und ungehinderte Entwicklung der Menschheit durchzusetzen.

Diese Bildungsidee trägt einen allgemeineren Anspruch in sich, wie es noch zu Descartes' Zeiten noch der Fall gewesen war, als es vornehmlich darum ging, daß aristokratische Individuen sich methodisch zu einer Kultur der Vernunft

durchbilden. Nun aber kommt die Erziehung des Volkes ins Spiel und damit die programmatische Alphabetisierung und das Lesenlernen.' Damit gelesen werden

Faßler: Was ist Kommunikation? op.cit., S. 1 1 0 Vgl. die Rekonstruktion von Friedrich Kitt·

ler: Lesenlernen um 1 800, in: ders.: Auf·

Schreibesysteme 1 800/ 1 900, München: Fink 1 987, S.33ff

Page 73: Medienphilosophie Hartmann

Herder, Humboldt 73

kann, müssen nicht nur genügend Texte verfügbar sein, es braucht auch eine Verständigung darüber, daß mittels dieser typographischen Matrix ein ,Selbst' sich formieren und erhalten läßt.' Diese Verständigung wird, wie wir gesehen ha­ben, in der Philosophie von Descartes und in der von Karrt exemplarisch vorbe­reitet; beim einen durch die kommunikative Rückkopplung des denkend Reflek­tierenden mit dem seine Reflexionsprodukte Lesenden, beim anderen durch die breitere Absicherung von Publizität als bürgerlicher Maxime und Menschen­recht. Bei beiden aber existiert der Text unabhängig von seiner Materialität: ver­nachlässigt wird, daß die Form, in der das Denkens seinen Niederschlag findet, auch eine Rolle spielt, und daß die Verbreitung der Ideen von einer Buchkultur abhängig ist, als materieller Basis und eigentlichem Medium der Aufklärung.•

Bevor die Erziehung zum Text greifen kann, finden wir die Notwendigkeit ei­ner Differenz, die mediale Kommunikationen unabhängig von den Interaktionen der Alltagskultur bestehen läßt. Die Lektüre ist eine interaktionsarme Praxis, die zwischen Autoren und Lesern den Text absolut setzt und damit auch einen kul­turtechnischen Habitus, der alles andere als selbstverständlich ist. Aber solange er sich mit einer emanzipatorischen Hoffnung verbindet, wird dieser ,monosensori­sche' Habitus nicht problematisiert, sondern im Gegenteil zur bürgerlichen Tu­gend erhoben.

Wo die Vernunft als Wirklichkeit strukturierende Macht gefragt ist, steht der Text als Autorität und Medium ihrer Durchsetzung vorläufig ohne Alternative. Auf die vielen Implikationen der kulturellen Homogenisierung durch Typogra­phie und Buchdruck, die eine völlig neue Wissensindustrie begründen, werden wir in der Folge noch zurückkommen.' Es ist eine Textwelt, welche im Hier und Jetzt die neue Ordnung des Seins verbürgt: als Form, die Vernunft verkörpern und mit den traditionellen geistigen Autoritäten brechen sollte. War es lange Zeit ein zentraler Text, nämlich die heilige Schrift (Bibel ) , so wird mit der historischen Kontextualisierung dieses kanonischen Textes die Frage unabweisbar, welchen säkularen Ersatz man diesem Manifest des Glaubens im Sinne eines rationalen

Zu unterschiedlichen Lektüreformen in ver· schiedenen Bevölkerungsschichten und den Umgang mit dem Druckwerk vgl. Roger Chartier: Lesewelten. Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit, Frankfurt: Campus 1990

4 Zum Verhältnis zwischen Intellektuellen, Blichern und Öffentlichkeit im achtzehnten

Jahrhundert, die Formung von Denkweisen und die Macht des Buches vgl. Roben Da rn­ton: Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots Encyclopedie, oder: Wie ver-

kauft man Wissen mit Gewinn? Berlin: Wa­genbach 1 993

Zu den Grundzügen der Druckkultur vgl . Ei­senstein: Die Druckerpresse, op.cit. Zur sprachwissenschaftlichen Verarbeitung von Literalität (dem gesellschaftlichen Ausdruck des Schriftlichkeitsprozesses) vgl. Helmut

Glück: Schrift und SchriftlichkeiL Eine sprach- und kulturwissenschaftliche Studie, Stuttgan: Metzler 1 987

Page 74: Medienphilosophie Hartmann

74 Schrift, Sprache, Denken

Wissens entgegensetzen könne, und worauf demnach die Aufmerksamkeit der Masse sich bündeln läßt.•

Die Textwelt ist eine künstlich erzeugte Welt, die dem Sinn der Aufklärer Rechnung trägt, an die Stelle von religiösem Offenbarungsglauben eine aus dem Zusammenspiel von Sinnen und Vernunft stammende Erkenntnis setzt, die sich autonom aneignen läßt. Das menschliche Wissen stammt aus einer Welt, die kul­turell überformt ist. Nach der Loslösung von überlieferten Autoritäten erhebt sich in der Folge jedoch eine nicht minder gewichtige Frage: wieviel an den menschlichen Fähigkeiten bestimmt sich aus der Natur, und wieviel verdankt sich der Konvention? Inwieweit sind die Paradigmen unserer Wirklichkeitser­fahrung, wie Sprechen und Denken, organischer Natur? Wieviel an der Sprache ist willkürlich: besitzt das menschliche Subjekt zeichensetzende Souveränität, oder unterliegt es unbewußten Regeln der Natur im Sinne eines Sprachinstink­tes?

In dem Moment, da Geschichte für die Ideen und politischen Konzepte der Neuzeit eine Rolle zu spielen beginnt, tritt das menschlich gestaltende Moment neben die ursprünglich schöpferische Tat Gottes. Die gesellschaftliche Reproduk­tion erzeugt ihren eigenen kulturellen Mehrwert. Am Ursprung des ketzerischen Bruchs mit der Auffassung vom reinen Geist, der gelegentlich zu den Menschen gesprochen hat, steht wohl die Einsicht, daß auch der heilige Text in Gestalt sei­ner Autoren, Übersetzer und Interpreten sich letztlich als eine Kommunikation von Menschen untereinander darstellen lassen muß: auch der .,Geist Gottes", schreibt Johann Georg Hamann, konnte sich nur .,durch den Menschgriffel der heiligen Männer" mitteilen.' Dieser Griffel. das Schreibwerkzeug, wird als den Geist bedingende Möglichkeit durchschaut. Doch wenn durch dieses hinzugetre­tene Moment auch eine geschichtliche Welt in ihr Recht gesetzt wird, dann be­ginnt jetzt das enzyklopädische Projekt als Suche nach und Inventarisierung von praktischen Vernunftmomenten auf der einen, die Vergewisserung des histori­schen Ursprungs der konkreten kulturellen Ausdrucksformen auf der anderen Seite. Bei Kant begründet sich die Vernunft so radikal selbst, daß sie ihre Irrtü­mer, im immanenten Fortgang aber auch deren Berichtigungen aus sich selbst hervorbringt. Menschliches Handeln aber findet in einer Welt der Geschichte

Es sei daran erinnert. daß beispielsweise Kant ja noch dezidiert zwischen .Literaten" und .. Idioten" unterscheidet; in Bezug auf mögliche Vorwürfe hinsichtlich seines Textes .. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" trennt er die Fachöffent· lichkeit. an welche sein Buch gerichtet sei. vom allgemeinen Publikum, dem dieses auf· grund mangelnder Werkkwtde der Ge/ehrsam-

keit ein . unverständliches, verschlossenes" sein müsse - vgl. Kam: Streit der Fakultäten. op.cit., Band XI. S.270 bzw. S.280 Johann Georg Hamann: Streit über die Spra· ehe und Schreibart des heiligen Testaments ( 1 762), zit. nach: Detlef Otto: Johann Georg Hamann, in: Tilman Borsehe (Hg. ) : Klassiker der Sprachphilosophie, München: Beck 1 996, S . l 97-2 1 3, hier S .203

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Herder, Humboldt 75

statt, die den Menschen ebenso sinnfremd entgegentritt, wie sie von ihnen mit­gestaltet wird.• Natur und Geschichte - zwei Seiten jener Medaille Des­cartes'scher Prägung.

Das ideengeschichtliche Konzept der universalen B ildung drängt nach Alpha­betisierung, um der Vernunft durch lesende Aneignung ihren gemäßen Aus­druck zu schaffen, und nach Enzyklopädistik, dem Schlüssel für die Lesbarma­chung der Natur (Hans Blumenberg ) . Gegenüber dem wahren und sicheren Wis­sen von der Natur steht Geschichte als .. Logik der Phantasie" im Abseits der Aufklärung', bis der nach Vicos Scienza Nuova liegengebliebene Faden bei Herder wieder aufgenommen wird. Geschichte aber bedeutet die Artikulationen des menschlichen Geistes zu verfolgen, und schließlich auch ein Verlangen nach der Reflexion der Rolle von Sprache und Schrift, deren Ursprung ausgehend von hi­storischen und interkulturellen Schriftvergleichen, die in Gegensatz zur göttli­chen Offenbarung traten, und der damit verbundenen Bedeutungsproblematik ­das menschliche Zutun im Gegensatz zur Reinheit der göttlichen Schrift - als ver­lorene Menschheitssprache vorbabylonischer Zeiten zum Gegenstand von Ur­sprungsspekulationen gemacht wird. Das Woher und das Wohin von Sprache und Schrift als positive Anthropologie einerseits, die polemische Negation der sich selbst begründenden Vernunft durch das historische Apriori der Sprache ande­rerseits bestimmen den monistischen, anticartesianischen Diskurs der deutschen Spätaufklärung.'0

4.2. Die Enzyklopädie als absoluter Text

Im Versuch, hier quasi eine Leerstelle zu besetzen, und damit das erst noch zu schreibende allgemeine Buch antizipierend, bildet sich der ideelle Fluchtpunkt der frühbürgerlichen europäischen Kultur: ein gewaltiger gedruckter Datenspei­cher zur individuellen Wissensaneignung. In der Einleitung zur gemeinsam mit Denis Diderot projektierten Enzyklopädie schrieb Jean Le Rond d' Alembert: .. D ie Enzyklopädie soll eine geheiligte Stätte werden, in der das Wissen der Menschen vor den Zeitläuften und Revolutionen gesichert wird. " Die enzyklopädische Ord­nung menschlichen Wissens folgt auch dem ökonomischen Zweck individueller Verfügbarkeit durch .. Aufstellung in möglichst begrenztem Raum." Euphorisch wähnten die Herausgeber sich in der Rolle derer, die den Grundstein allen Wis-

s Kar! Löwith: Weltgeschichte und Heilsge·

schehen ( 1 950) . in: ders.: Der Mensch in­mitten der Geschichte. Philosophische Bi­lanz des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler 1 990, S. l 1 5ff

9 Cassirer: Philosophie der Aufklärung, op.cit.,

5.280 10 Vgl. zum Anticartesianismus ausführlich

Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rah­men des neuzeitlichen Rationalismus, Mün­chen: DTV 1 986, 5 .576ff

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76 Schritt, Sprache, Denken

sens bis in künftige Zeiten hinein gelegt hätten - .Die Nachwelt soll dann ihre Entdeckungen zu den von uns aufgezeichneten hinzufügen, damit die Geschich­te des menschlichen Geistes und seiner Taten von einem Zeitalter zum anderen bis in die fernsten Jahrhunderte vorliege. "" Der Blick in die Vergangenheit zeige deutlich jene Lücke der Überlieferung, die nicht nur den Zugang zu den Arbeiten der antiken Völker verhindere, sondern auch .,die wahren Grundsätze ihrer Sprachen"; eine Tatsache, die es als Verpflichtung der Gegenwart vor der Zukunft zu korrigieren galt.

D ie Enzyklopädisten hatten ihr Werk'2 nach dem Motiv einer Verwirklichung von Vernunft gegen die Autorität überlieferten Wissens gestaltet, geradezu als ei­ne Vorwegnahme von Kants Forderung eines öffentlichen Vernunftgebrauchs, der die modernen Individuen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit befreien sol­le. Sie wußten freilich um die unabgeschlossene und unabschließbare Aufgabe, die gerade den Bereich der Bildungs- und Wissenschaftspublizistik vor neue An­forderungen stellte: .,Wir wissen, daß die Entfernung von der Erde zum Himmel unendlich ist, und unterlassen es trotzdem nicht, den Turm von Babel zu bau­en.""

Dieser Turm präsentiert sich, in der Annäherung ans neunzehnte Jahrhun­dert, als einer aus Büchern, nicht als singuläres Produkt, sondern vielmehr als ein Publikationssystem, das mit der Emphase des Neuen die absolute Idee von Öf­fentlichkeit inszeniert. Hans Blumenberg diagnostizierte an jenem Zeitalter mit seinem Bedürfnis nach Lesbarkeit als Metapher für Erfahrung und Lesbarma­chung als Aufklärungsprogramm ein gänzlich neues Genre: .. Zwischen dem Buch der Natur und dem der Offenbarung bildete sich ein drittes literarisches Genre heraus, das eines nahen oder fernen Tages zu einem weiteren Buch werden konnte oder gar mußte - und dann wiederum zum einzigen und absoluten B uch, zur neuen Bibel. ""

1 1 Jean L e Rond d' Alembert: Discours Prelimi­naire de l "Encyc/opidie ( 1 7 5 1 ). zit. nach der von Günther Mensching besorgten deut· sehen Ausgabe, Einleitung zur ,Enzyklopä­

die', Frankfurt: Fischer 1 989, S . l 08, S.46, S . I07f

12 Encyclopidie ou Dictionnaire raisonne des Seien­ces, des Arts et des Metiers, Paris 1 7 5 1 - 1 780. Daß es neben der politischen Funktion auch Aufschluß über moderne Verfahren der Ver­

lagsindustrie gibt, für die das Buch zum Ge·

schält wird, zeigt Darnton: Glänzende Ge­schäfte, op.cit.

13 Denis Diderot: Gedanken zur Interpretation der Natur, IX, zit. nach Günther Mensching: Die Enzyklopädie und das Subjekt der Ge­schichte, in: d'Alembert: Einleitung zur ,En­

zyklopädie', op.cit., S. l 54

14 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt,

Frankfurt: Suhrkamp 1 989, S . l 70 - Nach 1 800, als Dichtung und Politik in einem be­stimmten Nahverhältnis standen, sollte die­ser Wunsch bei der Schaffung neuer Lese­

bücher zum Tragen kommen. Über das Bedürfnis nach einem neuen .National­

buch", das als .poetische Bibel" die heilige

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Herder, Humboldt 77

4.3. lnstrumentalisierung von Sprache

Dieses Genre also soll der Vernunft adäquaten Ausdruck verschaffen. Versuchten die Enzyklopädisten bewußt, einen Zusammenhang zwischen der Mannigfaltig­keit der präsentierten Einzelerkenntnisse zu stiften, so taucht diese Idee einer in­neren Organisation der Gegenstände ja auch in Kants Transzendentalphilosophie als treibendes Motiv auf. Laut Michel Foucault - der im Hinblick auf diese Ord­nung den Mythos vom Turmbau zu Babel. dem bekanntlich die große Sprach­verwirrung folgt, in seiner Studie zum Funktionswandel der Sprache als ordnen­der ,Disposition' des modernen Subjekts implizit reinterpretiert hat - eröffnet das enzyklopädische Projekt als Rekonstruktion der Ordnung von Welt jenen Er­kenntnisraum, in dem .. Natur erkennen ( . . . ) eine wahre Sprache zu errichten" bedeutet. " Tatsächlich ist die Vorstellung einer Idealsprache als Vereinheitli­chungsprojekt in Zusammenhang zu setzen mit dem bereits im siebzehnten Jahr­hundert sich verstärkenden Bestreben, zur Sicherung eines kommunikativen Verständigungsraumes der Gelehrtenrepublik Ambiguitäten möglichst zu ver­meiden, was natürlich in einer sehr instrumentalen Auffassung von Sprache münden muß. ' •

Man könnte auch sagen, daß an dieser lnstrumentalität das Projekt eines pro­blemfreien Ausdrucksraumes. das uns in der Folge noch beschäftigen wird, letzt­lich scheitert. Die Implikationen sind weitreichend, gerade unter medienphiloso­phischen Aspekten. Erinnert sei an die radikale These Foucaults, daß wenn es denn gelänge, die Einheit der Wissenschaften tatsächlich zu stiften, mit einer fun­damentalen Disposition des Wissens - .,das Wissen der Identitäten, der Unter­schiede, der Merkmale, der Äquivalenzen, der Wörter" - auch der Mensch selbst. der sich mit diesem metaphorischen Trick erfunden hat, verschwinden könnte. Plausibilität hat eine solche These, wenn der Begriff des Menschen nicht absolut genommen wird, indem nämlich das Subjekt so in Abhängigkeiten gedacht wird, daß mit einer Veränderung des Objekt- oder Weltbezugs seine Auflösung in ein ,Projekt', wie es bei Viiern Flusser heißen wird, als Möglichkeit besteht. Der Welt­bezug selbst ist nämlich abhängig von Codierungen, die sich im Prozeß der Zivi­lisation zunehmend differenzieren und abstraktifizieren; hinsichtlich einer dis­kursiven Einheit besteht die Möglichkeit, diese entweder als ein unerreichbares Ideal (auch im Sinne einer Einheit der Wissenschaften) zu sehen, oder als verlo-

Schrift nach deren Abschaffung als Elemen­

tarlesebuch ersetzen sollte und von Studien­

rat Imanuel Niethammer 1 808 als Projekt an den Dichter und Minister Goethe herange­tragen wurde, berichtet Kittler in: Aufschrei­besysteme 1 800/ I 900, op.cit., S. 1 54f

15 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge

( 1 966), Frankfurt: Suhrkamp 1 974, S.209 16 Vgl. den Abschnitt: • Von Leibniz zur Ency­

clopedie", in Eco: Suche nach der vollkom­menen Sprache, München. Beck I 994,

S.276ff

Page 78: Medienphilosophie Hartmann

78 Schrift, Sprache, Denken

rene Menschheitssprache, einem vorbabylonischen Zustand, von dem nichts als Fragmente übrig geblieben sind . Beides läßt die prekäre Form aktuellen mensch­lichen Daseins (oder prosaischer: der von Sprachvermögen und Leseerfahrung abhängigen Welterfahrung) hervortreten.

"Der Mensch hat sich gebildet, als die Sprache zur Verstreuung bestimmt war, und wird sich deshalb wohl auflösen, wenn die Sprache sich wieder sammelt. ( . . . ) Der Mensch war eine Gestalt zwischen zwei Seinsweisen der Sprache ge­wesen; oder vielmehr: er hatte sich erst in der Zeit konstituiert, in der dje Spra­che, nachdem sie innerhalb der Repräsentation untergebracht und gewisser­maßen in ihr aufgelöst worden war, nur durch ihre eigene Zerstückelung sich da­von befreit hat. Der Mensch hat seine eigene Gestalt in den Zwischenräumen einer fragmentierten Sprache zusammengesetzt. " 1 '

4.4. Sprache als Vernunftorgan bei Hamann und Herder

In der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts beginnt die Konjunktur ei­ner Philosophie der Sprache, die weniger mit jenen Zwischenräumen selbst sich beschäftigt als vielmehr mit den materialen Aspekten, die sie bedingen: als orga­nische Wirklichkeit. Außer Zweifel steht, daß für Kant die lebendige Sprache -vor allem als Mitteilbarkeit gefaßt - eine wesentliche Bedingung des Philoso­phierens ist, während sich bei seinen Zeitgenossen das anbahnt, was man ein phi­losophisches Verständnis von Sprache nennen darf - nicht nur ein Philosophie­ren über Sprache also, sondern ein genuines Philosophieren mit der Sprache. Die Schlüsseltexte über Sprache als einem Instrument oder Werkzeug des Denkens dieser Zeit sind im Zusammenhang mit Kants Konzeption der transzendentalen Subjektivität zu lesen. Sprache fülltjene Leerstelle aus, die an der Kantschen Ver­nunftkonzeption empfunden wird. So war Sprache für Hamann, wie er in seiner Metakritik über den Purismus der Vernunft (ca. 1 784) schreibt: "das einzige erste und letzte Organon und Criterion der Vernunft, ohne ein anderer Creditiv als Über­lieferung und Usum." Alle sogenannte Spontaneität der Begriffe liegt für Ha­mann begründet in einer "Receptivität der Sprache" als einer definitiv histori­schen Bedingung. 1 '

Die Erforschung des Problems, daß Sprache zwischen dem Ich und der Welt als vermittelnde Instanz auftritt - sofern es denn ein Problem darstellt - schließt an Kants Frage nach der allgemein geteilten Grundbefindlichkeit menschlichen

17 Foucault: Die Ordnung der Dinge, op.cit., S.46 l f

18 Johann Georg Hamann: Metakritik über den Purismus der Vernunft. Werke, ed. Nadler,

Band rrr. S.283f, zit. nach: Josef Simon: Immanuel Kant, in: Tilman Borsehe (Hg. ) : Klassiker der Sprachphilosophie, München:

Beck 1 996, S.233

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Herder, Humboldt 79

Daseins unmittelbar an. Nur wird sie im Rahmen der sprachphilosophischen Re­flexion vollkommen anders gelöst: eher mit mehr Respekt vor den empirischen Ausprägungen als mit der Aussicht, universelle Verbindlichkeiten zu identifizie­ren. Je mehr man beginnt, die Auffassung von ,Sprache' als solcher zu differen­zieren, desto stärker affiziert dies das Verhältnis von der jeweiligen Sprache zu der ihr zugeordneten Lebenswelt. Die Vermittlungsfunktion von Sprache ist ebenso notwendig, wie der Zusammenhang von Sprache und Denken als pro­blematisierbar erscheint. Mit den verschiedenen empirischen Analysen zu ein­zelnen Sprachen wird aber die Vorstellung dessen, was als Sprache schlechthin Geltung erlangt. wiederum distanziert - als metaphysisches Konstrukt von ei­genständigen .Ideen' wohl eher denn als ein solches des geographischen, ideolo­gischen oder kulturspezifischen Gefüges, wovon die um die Wende ins neun­zehnte Jahrhundert erfolgten künstlichen Bildungen einer Nationalsprache, ei­ner Muttersprache etc. Zeugnis ablegen.

Das philosophische Vertrauen Kants, daß der Mensch von sich aus zum auf­rechten Gang oder zum Zustand der Mündigkeit grundsätzlich befähigt sei, ist ein Allgemeinplatz in der Anthropologie des fortgeschrittenen Aufklärungszeitalters. Unklar bleibt allein das Mittel, das ihn zur Realisierung des immanenten Poten­

tials der Vernunft befähigt. Zumindest wird an Kant kritisiert, er habe mit seiner Konzentration auf den Geist zuwenig Aufmerksamkeit verwendet für jenes Re­gelsystem, das den Menschen ganz bestimmten begrifflichen Zwängen unterwirft und seine Weltauffassung (und damit auch die Erfahrungen) vorgängig determi­niert - die Sprache. "Durch die Bildung zum aufrechten Gange", schreibt Herder als Zeitgenosse Kants, "bekam der Mensch freie und künstliche Hände, Werk­zeuge der feinsten Hantierungen und eines immerwährenden Tastens nach neu­en klaren Ideen. " Und, daran anschließend: "Indessen wären alle diese Kunst­werkzeuge, Gehirn, Sinne und Hand auch in der aufrechten Gestalt unwirksam geblieben, wenn uns der Schöpfer nicht eine Triebfeder gegeben hätte, die sie al­le in Bewegung setzte; es war das giittliche Geschenk der Rede. Nur durch die Rede wird die schlummernde Vernunft erweckt, oder vielmehr die nackte Fähigkeit, die durch sich selbst ewig tot geblieben wäre, wird durch die Sprache lebendige Kraft und Wirkung.'' '9

Daß Menschen kommunizieren, wäre als bloße Feststellung ebenso banal, wie sie den von Kant vorgelegten Reflexionen zur Vernunft eigentlich nicht wider­spricht. Die alte Frage nach der Metaphysik, nach einer Welt hinter den Erschei­nungen, wendet Kant zur Frage nach den menschlichen Denkstrukturen. Die Frage verschwindet nur deshalb nicht. weil mit der Reflexion dieser Strukturen

19 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philoso­phie der Geschichte der Menschheit ( 1 784),

Viertes Buch Abs. 111 - zit. nach Ausgabe Wiesbaden: Fourier 1 985, 5. 1 1 4

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80 Schrift, Sprache, Denken

nicht nur die Grenze des Verstandes bewußt wird, sondern auch ein erfahrbares Diesseits und ein denkbares Jenseits dieser Grenze. Geht man an dieser Stelle nicht den Weg des deutschen Idealismus mit seinem vergeistigten Versöhnungs­versuch einer zerrissenen Welt (als intellektuelle Anschauung des Absoluten u.a. entwickelt bei Immanuel Hermann Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph von Schel­ling, Georg Wilhelm Friedrich Hege!) , dann bleibt die in der Sprache aufgehobe­ne Sinnlichkeit nicht abweisbar, und schließlich behaupten die kulturell erzeug­ten symbolischen Formen ihr Recht. Zu oft wurde der Ansatz deutscher Sprach­philosophen - Hamann, Herder, Humboldt - zu einer antirationalistischen Gegenaufklärung stilisiert, als daß er als eine unmittelbare Brücke von der Er­kenntnistheorie des achtzehnten zur Sprachphilosophie des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts anzulegen wäre. Und doch, allein die Probleme, die noch in der Gegenwartsphilosophie virulent sind, finden sich hier in der Ausein­andersetzung mit Kant deutlich vorgefaßt: sind die Grenzen meines Denkens, meiner Weltsicht, durch die meiner Sprache bestimmt?

Wenn Hamann die Bibel nicht nur als göttliche Offenbarung nimmt, sondern als ein geschichtliches Dokument, als zeitgebundene Erzählung, dann scheint hinter dieser Perspektive bereits eine gewisse Sprachskepsis hervor, wiewohl das kommunikationsanthropologische Verständnis von Sprache und Schrift, als erster

Medialität des menschlichen Kulturwesen, damit gerade eben vorbereitet wird.'" An der Kantschen Vernunftkritik beobachtet er mit Unbehagen den philosophi­schen Dualismus von Sinnlichkeit und Intellekt, wobei die apriorische Erkennt­nisqualität (bei Kant heißt es: die Spontaneität der Begriffe) im Licht der apo­steriorischen Qualitäten (der Rezeptivität von Sprache) in Vorbereitung eines sprachphilosophisch begründeten Wirklichkeitsbegriffs neu betrachtet wird. Konsequent unterzieht Hamann die Vernunftkritik Kants einer .. Metakritik", mit der er eine unzulässige Reinigung des Vernunftbegriffes von kultureller Kontin­genz festhält." Denken und Sprechen sind gegen die Abstraktionen der reinen Vernunft im Kantschen Styl in einen intimen Zusammenhang gestellt. Als ein Phi­losoph der Befindlichkeiten schreibt Hamann aber zu wirr und unsystematisch, um ernst genommen zu werden; dies auch als eine Form des Protests gegen den Systemzwang der idealistischen Philosophie, als gelebte Polemik wider die ratio­nale Abstraktionssucht. Denken und Sprechen sind eins: .,Vernunft ist Sprache", poltert Hamann, und wie Vernunft und Sinnlichkeit zusammengehören. muß je-

20 Hamann: Biblische Betrachtungen ( 1 758),

zit . nach Detlef Otto, in: Borsehe (Hg.),

op.cit .. S.203 21 Hamann: Metakritik über den Purismus der

Vernunft ( 1 784), 1 800 posthum veröffent· licht. Hamann kritisiert an Kam den dreifa·

chen Reinigungsprozeß: erstens von Über·

Iieferung, Tradition und Glauben; zweitens von der Erfahrung bzw. der .alltäglichen 1n­duction"; und schließlich drittens von der Sprache, jenem .einzigen und letzten Orga­non und Criterion der Vernunft".

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Herder, Humboldt 81

der Begriff ihm auch wahrnehmbares Zeichen sein. Nimmt man dieses .. Sprach­principium der Vernunft" ernst, dann müßte .. die ganze [Philosophie] zu einer Grammatik" gemacht werden, die letztlich sprachanalytisch von allen Zweideu­tigkeiten befreit." Wir werden den Gedanken bei Fritz Mauthner ausgearbeitet finden. Der Witz dabei: Sprache ist nicht die Lösung des Vernunftproblems, son­dern erst der Anfang einer Problematik, an der bis weit ins zwanzigste Jahrhun­dert hinein laboriert werden wird.

4.5. Die Sprachauszeichnung des Menschen

Die Welterschließung ist nicht allein über das Rationale zu denken. Ausgehend von der Differenz dogmatischer und historischer Glaubensgehalte im achtzehn­ten Jahrhundert (buchstäbliche und relativierende Bibellektüre) wird eine neue Rezeption von Natur und Geschichte vorbereitet. Die Hoffnung ist, sie würde ei­ne neue Bedeutung für den Menschen als solchen bereithalten - das Buch der Natur ersetzt als Vorstellung jenes philosophische System, das letztlich auch nur aus einzelnen Erkenntnissen von Gegenständen bestünde. Die Frage ist nicht nur, wo bei all den Abstraktionen der Philosophie denn der Mensch bleibe, son­dern vor allem auch, wo er herkommt und was ihn vom Tier unterscheidet: wie hat der Mensch eigentlich begonnen zu denken? .. Die Anthropozentrik ist eine der großen Tröstungen für die fällig gewordenen Abschreibungen, " hat Blumen­berg dazu angemerkt. Und weiter: . . Die Lesbarkeitsmetapher ist in der Auf­klärung Leitfaden für die Geschichte der ständigen Unterwanderung einer sich als unbestechlich befindenden Vernunft durch die heimlichen Wünsche, die Welt möge mehr Bedeutung für den Menschen haben und ihm mehr zeigen, als ver­nünftigerweise von ihr erwartet werden darf. Das Sinnverlangen, rational des Feldes verwiesen, schafft sich Zugänge, ist listiger als die sich selbst zur List er­nennende Vernunft. ""

Mit dem Begriffspaar von Vernunft und Sprache wird eine gegensätzliche Po­sition aufgebaut, die du rch eine neue Anschauung der geschichtlichen Welt24 im achtzehnten Jahrhundert bei Herder, Schüler und Freund Hamanns, verstärkt wird. Die neuen Zugänge, die Alternative zu reinen Vernunft, werden als Suche nach Vollständigkeit gleichsam als Pendant zum enzyklopädischen Gedanken hi­storisch gelegt. Herders Archäologie der Kultur und seine Deutung des Sprach-

22 Hamann, Brief an Jacobi. 2 3 .4. 1 787, zit. nach Detlef Otto, in: Borsehe (Hg), op.cit., S.2 1 2 f

23 B1umenberg, Die Lesbarkeit. op.cit., 5. 1 82 und 5 . 1 99

24 Vgl. Cassirer: Philosophie der Aufklärung, 5. Kap.: Die Eroberung der geschichtlichen Welt, op.cit.. 5 .26 3 · 3 1 2

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ursprungs aus der Naturanlage des Menschen steht nicht zufällig in der Nähe zu den französischen Herausgebern der Encyclopedie, d'Alembert und Diderot, mit denen er um 1 770 zusammentrifft.

Die ersten Gründe zivilisatorischen Wissens zu erforschen und sich dadurch seines Kenntnisstandes versichern - die Frage danach, was die Leistungsfähigkeit der Sprache in der Darstellung des gegenwärtigen Standes der Wissenschaft be­trifft, wird durch die Forschungen zum Ursprung dieses menschlichen Vermö­gens ergänzt. Der junge Herder ist in jenen Jahren bereits ein berühmter Mann. Mit Veröffentlichung der Fragmente Über die neuere deutsche Literatur ( 1 766/67) war klar geworden, daß er eine über poetische Reflexion erzeugte Therapie des Deutschen anstrebte, mit der philosophischen Implikation einer Grenzbestim­mung der menschlichen Erkenntnis durch Sprache, als einer .,negativen Philoso­phie" von .,Schranken und Umriß"." 1 770 folgte ganz in diesem Sinn die berühmte Antwort auf die Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften, ob die Menschen, sich selbst und ihren natürlichen Fähigkeiten überlassen, Spra­che hätten erfinden können.'•

Die Antwort fällt bekanntlich positiv aus, da sie sonst ja keine Menschen wären. Herder widerlegt die These vom adamitischen (göttlichen) Ursprung der Sprache, die in den sprachphilosophischen Erörterungen seiner Zeit dominierte. Der Mensch hat Sprache nicht nur erfinden können, sondern gar müssen, um die spezifischen Mängel auszugleichen, die ihm als Tier eigen sind. Der Traktat wird eröffnet mit der starken naturalistischen These, daß der Mensch ,.schon als Tier" Sprache habe, also über eine Art Sprachinstinkt verfügt. Beeinflußt von den sprachphilosophischen Ansätzen der französischen Enzyklopädisten, die die re­konstruktive Qualität der Sprache als einem deskriptiven Instrument vergegen­wärtigten, neigte Herder selbst zur ,logosmystischen' Tradition von der Sprach­lichkeit der Welt, und damit auch der Geschichte und des Denkens. Sprache ist ihm Werkzeug der Welterschließung, allerdings ist es die Sprache selbst, welche den Menschen vom bloß sprechenden Tier, oder von dem .,unmittelbaren Na­turgesetz" der tönenden Empfindung, abhebt, denn ohne die Sprache gibt es kei­ne Vernunft. Ein Zurück vor diesen Zustand ist nicht vorstellbar, der Preis wäre ein Verlust der Menschlichkeit. Den Menschen sich ohne Sprache vorzustellen ist

25 Herder 1 764, zit. nach Ulrich Gaier: Johann

Gottfried Herder, in: Borsehe (Hg) : Klassiker

der Sprachphilosophie, op.cit., S.2 1 8 26 Die Berliner Akademie der Wissenschaften

hatte 1 769 die Preisfrage wie folgt ,interna­tional' ausgeschrieben: .En supponent les

hommes abandonnees ä leurs facultes natu­

relles, sont-ils en etat d'inventer le Iangage?

Et par quels moyens parviendrent-ils d'eux­

memes ä cette invention?" Herders Antwort: Abhandlung über den Ursprung der Spra­che, erschien 1 7 7 1 im Druck. Zit. nach Wer­ke in zwei Bänden, hg.v. Gerold, 1 953 - Der Text ist im ,Projekt Gutenberg' online abruf­

bar: http://www.gutenberg.ao/.de/herderlspra­chelsprachOI .htm

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für Herder jener Denkfehler, der die Problematik zum Sprachursprung gewisser­maßen erst erzeugt. ,.Alle Tiere bis auf den stummen Fisch tönen ihre Empfin­dungen; weswegen aber hat doch kein Tier, selbst nicht das vollkommenste, den geringsten, eigentlichen Anfang zu einer menschlichen Sprache. Man bilde und verfeinere und organisiere dies Geschrei wie man wolle: wenn kein Verstand da­zukommt, diesen Ton mit Absicht zu brauchen, so sehe ich nicht, wie nach dem vorigen Naturgesetze je menschliche, willkürliche Sprache werde?""

Der Mensch ist Sprachgeschöpf - ,.denkendes sensorium commune" - und da die Sprache menschlich ist, vermag Herder wohl natürliche Wurzeln, aber keine göttliche Ordnung zu erkennen, wenn es um den Ursprung der Sprache geht." Indem der Mensch seine Wahrnehmungsmerkmale in ,.Zeichen" faßt, mittels de­rer er alles auf sich bezieht und fortwährend ,.Merkworte ins Buch seiner Herr­schaft" einträgt, anthropomorphisiert er gleichsam die Natur über die Sprache, die ihm spezifischer ,.Mittel- und Vereinigungssinn geworden" ist. Herder speku­liert in seiner Preisschrift nicht allein philosophisch, sondern argumentiert mit wissenschaftlichen Tatsachen - mit ,.festen Data", wie er behauptet, die sich un­ter anderem aus dem Bau der alten Sprachen und ethnologischen Vergleichen er­schließen würden. Definitiv erscheint Vernunft als relativ hinsichtlich ihrer Sprachgebundenheit und der Mensch ist ganz im Sinne der Aufklärung spra­cherfindender Akteur, nicht passiver Empfänger einer Gabe, die höheren Ur­sprungs sein müßte.

Aus dieser Sprachabhängigkeitsthese des Denkens begründet sich auch der Plan, den Deutschen eine verlorene poetische Muttersprache wieder anzuerziehen, die Nation also über Sprache zu therapieren, wobei Sprache klar an die Stelle der Re­ligion als sozial einigende Macht tritt. Ausgehend von der organischen Totalität, spielt die Sprache ihre spezifische Rolle für den Menschen auch als Kulturwesen, indem sie Sinnliches und Ideelles vereint. Der Sozialisationsprozeß, damals noch poetischer "Übungen unserer Seele" genannt, fügt zusammen, was als Kultur die ,.Zusammenwirkung der Individuen" ergeben soll: in der bewußt gemachten ,.Tradition einer Erziehung zu irgendeiner Form menschlicher Glückseligkeit und Lebensweise" .29

Daß eine Kulturanthropologie von der sprachphilosophischen Grundüberzeu­gung profitiert, beweist Herder mit seinem über mehrere Jahre angelegten Pu­blikationsprojekt Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit ( 1 784- 1 79 1 ), dessen Veröffentlichung sich mit der zweiten Auflage von Kants Kritik der reinen

27 Herder, Ursprung der Sprache, op.cit., S.20 nen, den gölllichen Ursprung der Sprache 28 Wenige Jahre zuvor ( 1 766) war ebenfalls in nachzuweisen.

den Schriften der Berliner Akademie der 29 Herder: Ideen, Neuntes B uch, Abs.J, op.cit .. Versuch Johann Peter Süßmilchs erschie- S.227

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Vernunft ( 1 787) überschneidet. Kant hat diese Bücher rezensiert, allerdings ohne auf die sprachphilosophische Wende in Herders Erkenntnistheorie auch nur ir­gendwie näher einzugehen.'" Dabei hat dieses transzendentale Problem die Leser und Interpreten Kants vermutlich sehr stark beschäftigt: Wenn Denken unbe­dingt an die Artikulation von sprachlichen Zeichen gebunden ist, wie Herder vor­schlägt, dominiert diese Ebene der Sinnlichkeit letztendlich nicht die Erkenntnis, und wenn ja, ist damit dann nicht auch die analytische Trennung einer theoreti­schen und einer praktischen Vernunft zumindest fraglich geworden? Die Kritiker Kants waren am meisten davon motiviert, daß das Zusammenspiel von Verstand und Sinnlichkeit in der Erkenntnis in systematischer Unterscheidung zum Den­ken als Geschäft des reinen Verstandes sich als nicht sehr plausibel dargestellt hatte - das transzendentale Paradoxon."

Herder kritisiert an Kant explizit den Dualismus einer Sphäre der Erkenntnis, die in der Transzendentalphilosophie von einer Sphäre der menschlichen Praxis abgegrenzt wird. Wo Sprache und Denken ineins gesetzt sind, wird, wenn zwi­schen Denken und Erkennen kein wesentlicher Unterschied zu machen ist, das eigentliche Problem unterlaufen. Wenn Vernunft Sprache ist, dann wird mit und in der Sprache auch schon gedacht. Begriffliches Artikulieren ist schon eine Form des Denkens, das seinerseits entwicklungsgeschichtliche Abhängigkeiten zeigt und natürlich auch eine gewisse Affinität zu den laufenden Kommunikationen. Freilich stellt sich angesichts der absoluten Begrifflichkeil das Problem, ob denn das Denken nicht dauernd über die Sprache hinausschießt? Aber um welches Sprechen, um welches Denken handelt es sich denn? Wir sehen an dieser Frage, daß die Rede sich wohl nur auf das begriffsbildende Denken beziehen kann, und daß das Thema damit noch längst nicht ausgestanden ist. Aufschlußreich dazu das ,Neunte Buch' der Herdersehen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Mensch­

heit, dem kulturanthropologischen Versuch der Einlösung des sprachphilosophi­schen Grundgedankens. Mehr noch als in der Preisschrift spielt Sprache hier die definitorische Rolle in der Menschwerdung, in einer Ausbildung des "künstli­chen Geschlechtscharakters" des Menschen, ohne daß wir uns "bei täglichem Gebrauch der Rede" je einen Begriff von dem Zusammenhang stiftenden Werk­zeug machen. Wie aber die empirische Beobachtung nun zeigt, ist diese Künst­lichkeil selbst zunächst einmal ein Problem:

"Keine Sprache drückt Sachen aus, sondern nur Namen: auch keine menschliche Ver­

nunft also erkennt Sachen, sondern sie hat nur Merkmale von ihnen, die sie mit Worten

bezeichnet; eine demütigende Bemerkung, die der ganzen Geschichte unsres Ver­standes enge Grenzen und eine sehr unwesenhafte Gestalt gibt. ( . . . ) denn daß

30 Kam. Werkausgabe Band XII, op.cit .. S.781 - 3 1 Christian Stetter: Schrift u n d Sprache, 806 Frankfurt: Suhrkamp 1 997, S.402f

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ein wesentlicher Zusammenhang zwischen der Sprache und dem Gedanken, ge­schweige denn der Sache selbst sei, wird niemand glauben, der nur zwo Sprachen auf der Erde kennet. ( . . . ) Dächten wir Sachen statt abgezogner Merkmale und sprächen die Natur der Dinge aus statt willkürlicher Zeichen: so lebe wohl. Irr­tum und Meinung, wir sind im Lande der Wahrheit. " 32

Diese Formulierungen nehmen vorweg, was später Mauthner, Peirce, Frege und Wittgenstein zu ihrem je eigenen Problem machen sollten: es gibt nicht die Gewißheit einer absoluten Ikonizität. Ausdruck und Bedeutung fallen potentiell immer auseinander. Herder kämpft mit dem semiotischen Urproblem, daß Be­zeichnetes und Bezeichnendes, die Sache und ihr Merkmal. teilweise weit diffe­rieren können. Wird der Sprachursprung auf einer breiten onomatopoietischen Basis angesetzt, wie es die Preisschrift noch nahelegt, dann ist die Differenz zwi­schen einer natürlichen Zeichenbeziehung und der arbiträren Zeichenhaftigkeit der Sprache als einer konventionellen Kulturleistung erklärungsbedürftig.

Herder löst dieses Problem zunächst dadurch, die Frage nach der Wahrheit zu­gunsten derjenigen nach dem Verstehen durch den Kommunikationspartner hintanzustellen. Er gibt zu, daß ..lauter Unvollkommenheiten" in der Sprache als .. unserem einzigen Mittel der Fortpflanzung menschlicher Gedanken" liegen. Der Punkt bei Herder ist, daß seine sprachphilosophische Konzeption der Anthropo­logie sich auf einen Ansatz des fortgesetzten intersubjektiven Lernens verläßt. Je­ne Unvollkommenheiten, die als Störfaktor im Kommunikationsprozeß erwähnt werden, sind dann eher nebensächlich, wenn es nicht um die .. reinen Anschau­ungen" zu tun ist - in der zwischenmenschlichen Verständigung geht es schließ­lich nicht um objektive Wahrheiten, sondern um eine performative Pragmatik.

Philosophen mögen sich eine menschliche Vernunft als frei und unabhängig von den Sinnen und physischen Organen vorstellen; sie sind darin laut Herder nicht besser als der durchschnittliche Erdenbürger, der .. alles aus sich selbst her­vorzubringen wähnet ( . . . ) Der Philosoph indessen, ( . . . ) er müßte, dünkt mich, da ihn alles an Abhängigkeit erinnert, sich aus seiner idealischen Welt, in der er sich allein und allgnugsam fühlet, gar bald in unsre wirkliche zurückfinden." Herder verweist auf den sekundären Sozialisationsprozeß der Bildung von Indi­viduen, aus welchem der zu erziehende Mensch selbst wieder als Erzieher her­austritt, indem er .. als ein fremder Künstler an sich vollendet", was die Vernunft als .. ein Aggregat von Bemerkungen und Übungen unserer Seele" ihm vorgibt: .. Der Mensch ist also eine künstliche Maschine, zwar mit genetischer Disposition und einer Fülle von Leben begabt; aber die Maschine spielet sich nicht selbst, und auch der fähigste Mensch muß lernen, wie er sie spiele."" Daraus wäre zu fol-

32 Herder: Ideen. Neuntes Buch, Abs.II, op.cit., S .232

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gern, daß Sprache (und Sprechenlernen) ein Disziplinierungsakt ist, der den dro­henden sozialen Antagonismen entgegenwirken soll. Die Konvention allein er­klärt aber weder die Arbitrarität des Zeichens, noch löst sie das Problem vom Sprachursprung in der Entgegensetzung mit Sprachpragmatik. Es wäre philoso­phischer Dünkel. hier die praktisch bestehenden Differenzen vorschnell einzu­ziehen - und Herder bleibt sowohl realistisch, was den realen Sprachgebrauch anbelangt: .. Manche Nation hat für das männliche und weibliche Geschlecht ei­ne eigne Sprache; bei andern unterscheiden sich im bloßen Wort Ich gar die Stän­de. " - als auch, was den idealen Sprachgebrauch betrifft: . . Ein feineres Idiom, durchdringend wie der Sonnenstrahl. könnte teils nicht allgemein sein, teils wä­re es für die jetzige Sphäre unserer gröberen Tätigkeit ein wahres Übel. " 34

Mit anderen Worten ist Sprache als menschliche Tätigkeit auf ein Ideal gar nicht angewiesen (eine E insicht, zu der später auch Wittgenstein wieder finden sollte ) . Die Sprachphilosophie bietet grob gesagt drei Konzepte an, sich das Ver­hältnis von Sprachentwicklung und Zivilisation bzw. kulturellen Fortschritt zu denken: .,.. das erste ist die Vorstellung von einer Ursprache, die eine Zeitlang im Hebräi­

schen vermutet wird, und von der im Anschluß an die babylonische Sprach­verwirrung nur Derivate geblieben sind; diese Version nährt eine zivilisations­kritische Kulturzerfallsthese, nach welcher die ursprüngliche Einheitsform als höherweniger Zustand idealisiert wird, um daraus eine kritische Folie für die Zeitdiagnose zu gewinnen .

.,.. Neben dieser Vorstellung entspricht das Modell einer Idealsprache eher dem Kommunikationsideal einer bestimmten Gruppe, wie der Wissenschaftselite einer Gesellschaft, der es vor allem darum geht, das Werkzeug zum Zweck der eindeutigen Kommunikation ohne Bedeutungsverluste, die der Ausdruckse­bene geschuldet sind, zu optimieren .

.,.. Das dritte Konzept läßt sich unter dem Begriff einer Universalsprache subsu­mieren, als einem unerreichten Werkzeug der Völkerverständigung unter Be­dingungen einer zunehmenden gesellschaftlichen Komplexität.

4.6. Zur Funktion von Schrift

Wir verlassen für unsere Reflexion, die uns von Herder noch zum Humboldt führt, den bequemen Weg, der dem Motiv des Ideals unhinterfragt folgt, zugun­sten einer sozialwissenschaftlich inspirierten Erinnerung daran, daß Sprache als solche außerhalb ihrer Funktion im sozialen Gemeinwesen nicht zu fassen ist. Will man, gerade angesichts der sich jetzt entwickelnden neuen Medientechno-

33 ebd .. 5.225 34 ebd .. 5.234[

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logien, die Frage nach der Sprache weder spekulativ noch naiv (wie in der vor­schnellen These vom grassierenden Sprachverlust") fassen, dann ist es ange­bracht, sich auf ihre kommunikative Funktion im Kontext mit anderen Aspekten der menschlichen Kommunikation zu konzentrieren. Sprache ist tatsächlich ei­ne Grenze unserer Welt, allerdings nicht in jenem emphatischen Sinn, der bei Wittgenstein zum Ausdruck kommt: Sprache nicht im referentiellen Sinne unse­res Gegenstandsbezugs, sondern als das System sozialer Normierungen und kul­tureller Inklusionen bzw. Exklusionen: .. Der Mensch lebt und denkt begrifflich. Begriffe sind von einer Gemeinschaft geteilte innere Zwänge. Sie sind an äußer­liche Bedingungen der Verwendung gebunden. Die Menschheit ist die einzige Spezies, deren Verhalten nicht genetisch vorprogrammiert ist. Ihr unerträglich flüchtiges Potential muß in jeder Gemeinschaft gezügelt werden, wenn Kohäsi­on, Kooperation und Kommunikation überhaupt möglich sein sollen.'''•

Die einzelnen Sprachen der Völker zeigen in diesem Sinn eine gemeinsame Anlage des Menschen zur Wirklichkeitsbewältigung im Sinne einer Gebunden­heit an seine soziale OrganisationsfähigkeiL Als ein kollektives Gebilde bietet sich die Sprache gerade auch in der Spracherwerbsphase als ein Strukturganzes an, wobei je nach individueller Kapazität eine Anpassung an dessen Erfordernisse er­folgt. Grammatische Korrektheit hat unter diesem Aspekt sehr viel mit sozialer Kohärenz zu tun. 37 Analog zu diesem erst über die soziolinguistische Theorie transparent gewordenen Gedanken hofft der aufklärerisch gesinnte Herder auf eine innere Angleichung der Menschen bei äußerer Ungleichheit, . . durch das zwar unvollkommene, aber allgemeine Mittel der Sprache" . D ie disziplinierende Komponente, die in diesem Gedanken auch steckt, wird ignoriert und noch dort, wo es eigentlich nahe läge, als Befreiungsmoment interpretiert: bei der Erörte­rung der Funktion der Schrift. Kurz gesagt lautet Herders These, daß der Mensch sich ab einer bestimmten Entwicklungsstufe .. eine Sache als Merkmal" aneigne, und mit dieser Substitutionsleistung durch ein .. willkürliches Zeichen" der Spra­che erst hält die Vernunft ihren Einzug, und mit ihr Wissenschaften und die Kün­ste: Sprache und Schrift (Bildung) erlauben genau jene Distanzierung, welche die ausbeuterische Aneignung von Natur (Arbeit) erst ermöglicht hat. Dies unter­scheidet die Nationen gelehrter Bildung von den schriftlosen Kulturen, denen Sprache als solche ja auch zu eigen ist. Erst eine .. Verewigung der Vernunft und der Gesetze in Schriftzügen" bringen aber jenen Vorteil, .. den flüchtigen Geist

nicht nur in Worte, sondern in Buchstaben zu fesseln." "

35 Barry Sanders: Der Verlust der Sprachkultur. Frankfurt: Fischer 1 995

36 Ge I Iner: Descartes & Co. op.cit.. S.49 37 Vgl. Roman Jakobson: Der grammatische

Aufbau der Kindersprache. in: Elmar Holen·

stein: Von der Hintergehbarkeil der Sprache.

Frankfurt: Suhrkamp 1 980, S. l 7 1 - 1 86, hier S. l 74

38 Herder: Ideen, op.cit., 5 .235

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Dieser Materialisierungsleistung, einer sukzessiven Verkörperung der Sprache in den Schriftzügen, entspricht umgekehrt eine Entkörperlichung des Wortes, seine Transzendenz. Das entkörperlichte Wort löst die Menschen aus ihrer sozia­len Einbettung, in der sie hernach nurmehr durch Zwang und Ritual zu halten sind. Die Einführung der Schrift ist von ihrem Einsatz in der Religion kaum weg­zudenken. Schrift ist Schriftglauben, sie löst die sprachliche Äußerung vom Spre­cher ebenso wie vom Kontext, in der sie gemacht wird, und ermöglicht dadurch dekontextualisierten Sinn, oder, wie Gelirrer sagt, .,Sinn ohne Sprecher oder Zuhörer".,. Die Schrift, der Text als Träger des tatsächlichen oder interpretierten semantischen Gehaltes ist eine bestechende Idee für die Aufklärer, da die im Text ihr Eigenleben führende Bedeutung ja zur individuellen Aneignung offensteht und damit einen geistigen und moralischen Egalitarismus vorbereitet. Noch die Diagnose von einer Krise der historisch-metaphysischen Epoche, mit der Jacques Derrida den Logozentrismus als .,Metaphysik der phonetischen Schrift" vorge­stellt hat, oder die von Hans Blumenberg diagnostizierte Lesbarmachung von Welt als Erfahrungssubstitut ist in diesem Licht zu sehen.••

Auf den in Buchstaben gefesselten Geist, den Herder als Momentum der aufge­klärten Zivilisationsentfaltung betrachtet, fällt der Schatten der Einschränkung, der sich aus dem Vergleich mit der freien Rede bestimmt. Emotionale Artiku­liertheit verschwindet hier langsam ebenso wie lokal charakteristische Idiome und die Gedächtniskunst, die der Schrift als Stütze noch nicht bedarf; dies alles wird bereits von Herder thematisiert, der hier die menschliche Seele als eine von Gelehrsamkeit und Büchern schwer belastete zeichnet: .,In Buchstaben gefesselt, schleicht der Verstand zuletzt mühsam einher; unsre besten Gedanken verstum­men in toten schriftlichen Zügen . ... ,

Warum diesen toten Ballast dann nicht einfach abwerfen? Weil in die Traditi­on der Schrift, in diese Raum und Zeit der menschlichen Anschauung über­brückende Medialität, die Hoffnung auf ein einigendes Band der Menschheit ge­legt wird. Und weil sie bei Herder die innere Anlage zur Humanität erst zu ihrem möglichen Ausdruck bringt, ist sie ursprünglicher als eins ihrer Resultate - die spekulative Vernunft, die sich .,durch Bemerkung und Sprache erst dem Men­schen angebildet hat. "42

39 Ernest Gellner: Pflug, Schwert und Buch.

Grundlinien der Menschheitsgeschichte, München: DTV 1 993, 5.8 l f

40 Jacques Derrida: Grammatologie ( 1 967), Frankfurt: 5uhrkamp 1 983; Hans Blumen­berg: Lesbarkeit, op.cit.

4 1 Herder: Ideen, op.cit., 5 .236 42 ebd., 5.248

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4.7. Sprache als Medium bei Humboldt

Waren es bei Kant die verbindenden Aktivitäten des seiner selbst bewußten (meine geistigen Aktivitäten reflexiv begleitenden) ,Ich', welche als die Welt qua einheitserzeugender Selbstreflexion zusammenhielten, so stellt nun die Sprach­philosophie diese reflexive Tätigkeit des Denkens radikal unter die Bedingungen der Sinnlichkeit. In seinen Thesen ,.Über Denken und Sprechen" und immer wie­der verstreut folgenden Bemerkungen zum Thema verstärkt Wilhelm von Hum­boldt die bei Herder angelegten Thesen von der Sprache als einem Medium des Denkens: .. . . . kein Denken, auch das reinste nicht, kann anders als mit Hilfe der allgemeinsten Formen unserer Sinnlichkeit geschehen . "43 Wir wollen hier nicht noch eine Rezeptionsgeschichte Humboldts aufrollen, sondern lediglich dieses nicht-substanzialistische Motiv von der Sprache als Medium für unsere Zwecke etwas präzisieren.

Analog zu den kategorialen Formen als Bedingung von Verstandestätigkeit er­möglicht erst die Sprache eine Systematisierung der Denkformen durch ,.logische Bahnen zur Überschaubarmachung der Welt", wie Humboldt sagt. Sprache ist die Art und Weise, wie die Gegenstände dem Bewußtsein gegeben sind, sie ist .. das bildende Organ des Gedanken"44, mithin logische Voraussetzung für das Erfassen von Welt, ohne die jede innere intellektuelle Tätigkeit vollkommen flüchtig wä­re. Worte ermöglichen das geistige Nachbilden des wahrgenommenen Gegen­standes, seinen Begriff, den wir hier durchaus in der ursprünglich haptischen Be­deutung dieses Wortes (etwas Greifen) nehmen dürfen. Da ihm ein ,.Abdruck des Gegenstandes an sich" nicht zur Verfügung steht, muß der Mensch sich einer evolutionär ausgebildeten Konstruktion bedienen. Dies hat freilich einen gewis­sen Effekt. den Humboldt als .. gleichartige Subjectivität" bezeichnet, der jeder Sprachgemeinschaft mit der ihr je eigenen, schwer hintergehbaren Weltansicht eignet.

,.Der Mensch lebt mit den Gegenständen hauptsächlich, ja, da Empfinden und Handeln in ihm von seinen Vorstellungen abhängen, sogar ausschließlich so, wie die Sprache sie ihm zuführt. Durch denselben Act. vermöge dessen er die Spra­che aus sich herausspinnt, spinnt er sich in dieselbe ein, und jede zieht um das

43 Wilhelm von Humboldt: .über Denken und

Sprechen• (Fragment, ca. 1 795/96), in:

ders., Schriften zur Sprache, Stungart:

Reclam 1 973, S . 3 -

http:/ lwww. weltkreis.com/mauthner/

44 Wilhelm von Humboldt: über die Verschie·

denheil des menschlichen Sprachbaues und

ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung

des Menschengeschlechts (Einleitung zum Kawi-Werk, 1 836-39 posthum publiziert), Paderborn: Schöningh ( UTB ) 1 998, S . 1 80

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Volk, welchem sie angehört, einen Kreis, aus dem es nur insofern hinauszugehen möglich ist, als man zugleich in den Kreis einer anderen hinübertritt. ""

Wenn Sprache also Bedingung von Erkenntnis ist, oder das Mittel. das dem Menschen die Reflexion (d.h. geistige Tätigkeit) erst ermöglicht, dann klingt hier­in aber auch schon ein restriktives Moment an - das Motiv von der Sprache als Grenze meiner Welt. Sprache findet ihre Existenz im jeweils Sprechenden; ohne eine allgemeine Form der Sinnlichkeit findet kein Denken statt, und Denken faßt die Vorstellungen in Einheiten, deren sinnlich konkrete Bezeichnung die einzeln verwendete Sprache ist. Mit Sprache skandiert der Mensch sozusagen seinen Re­flexionsfluß in der Zeit, und trifft dabei auf die Sprachzeichen als notwendige und von der Natur bereits abgehobene Töne - schon eine Abstraktionsleistung, die über eine bloße Abbildfunktion hinaustreibt. Ist sie nun eine Leistung des In­dividuums, oder unterliegt dieses der Macht der Sprache, die seine Vorstellungen begrenzt? Spricht nun das Subjekt die Sprache oder spricht die Sprache das Sub­jekt?

Man hat sich lange damit begnügt zu konstatieren, daß Humboldts Antwort auf diese Frage eben ,dialektisch' sei. Es handelt sich tatsächlich um einen fle­xiblen Prozeß, den sich Humboldt darzustellen bemüht, indem er das .. theils Feste, theils Flüssige in der Sprache" thematisiert. Indem sie sprechen, objekti­vieren die Sprechenden unwillkürlich die Sprache, indem sie eine bestimmten Vorrat an Worten heranbilden, auf den sie zurückgreifen können, und ein sprachökonomisches System von Regeln, nach denen diese Worte zu verwenden sind. Humboldt sieht nun Sprache .. in der Folge der Jahrtausende zu einer selbst­ändigen Macht" anwachsen und stellt fest, daß Gedanken derart zum Objekt werden und als solche ihre Wirkung auf die Sprechenden ausüben - .. Denn so in­nerlich auch die Sprache durchaus ist, so hat sie dennoch zugleich ein unabhän­giges, äußeres, gegen den Menschen selbst Gewalt ausübendes Dasein."••

Die Sprache, überall so unterschiedlich wie die Individuen, die sie sprechen, hat doch wieder Struktureigenschaften, die innerhalb eines sogenannten Sprach­kreises prinzipiell die gleichen sind. Sie tritt uns als Objekt entgegen, beispiels­weise in Form der schriftlichen Überlieferung. Aber Schrift entziffert sich nicht selbst, sondern in ihr lebt Sprache nur, sofern sie der Aktualisierung des Gedan­kens dient, weshalb die noch nicht entzifferte Schrift eines toten Sprachkreises für uns nichtssagend ist. In der Schrift aber schießen die beiden konträren Moti­ve - .. daß die Sprache der Seele fremd und ihr angehörend" sei - absichtsvoll zu­sammen: hier bildet die Sprache sich ihr .. eigentümliches Dasein, das zwar immer nur in jedesmaligem Denken Geltung erhalten kann, aber in seiner Totalität von

45 ebd .. 5 . 1 86[ 46 ebd., 5 . 1 52 ( Hervorhebung F.H. )

Page 91: Medienphilosophie Hartmann

Herder, Humboldt 91

diesem unabhängig ist." " Die Dialektik wäre also auflösbar in der Behauptung einer Parallelität, nach der das Problem der Sprache tatsächlich zwei Seiten hat, wobei in der souveränen Sprachausübung des Individuums der Geist frei bleibt, während er in der Übernahme bestehender Sprachstrukturen eben nicht frei sein kann. Dabei bleibt aber Humboldt nicht stehen, wie folgende Formulierung zeigt: "Die Sprache ist gerade insofern objectiv einwirkend und selbständig, als sie sub­jectiv gewirkt und abhängig ist. Denn sie hat nirgends, auch in der Schrift nicht, eine bleibende Stätte, ihr gleichsam todter Theil muß immer im Denken auf's neue erzeugt werden, lebendig in Rede oder Verständniß, und muß folglich ganz in das Subjekt übergehen. Es liegt aber in dem Act dieser Erzeugung, sie gerade ebenso zum Object zu machen; sie erfährt auf diesem Wege jedesmal die ganze Einwirkung des Individuums, aber diese Einwirkung ist schon in sich durch das, was sie wirkt und gewirkt hat, gebunden."

4.8. Die doppelte Natur der Sprache

Humboldt sagt damit, daß es in der Sprache tatsächlich um mehr geht als um ein­fache Subjekt-Objekt-Verhältnisse, oder daß die sprachliche Tätigkeit keine ein­dimensionale Weltauseinandersetzung (Arbeit am Objekt) ist. Der sprachliche Ausdruck ist nicht rein bezeichnend, sondern unterliegt, eben weil er sprachlich ist, intersubjektiven Voraussetzungen. Subjekte kommunizieren nicht mit Ob­jekten, sondern mit anderen Subjekten über Objekte, Subjekte und ihre Bezie­hungen. Damit rückt uns die Sache schon näher: Sprache, jetzt dialogisch be­trachtet, löst die individuelle Vorstellung von dem sie erzeugenden Subjekt und ,objektiviert' sie in der menschlichen Kommunikation. Zwar findet im Individu­um die Sprache ihre letzte Bestimmtheit, doch nie spricht jemand exakt dieselbe Sprache wie ein anderer, sodaß es auch wieder "immer die Sprache (ist), in wel­cher jeder Einzelne am lebendigsten fühlt, daß er nichts als ein Ausfluß des ganzen Menschengeschlechts ist." Auch nicht in der Mitteilung allein, sondern erst im intersubjektiven Dialog vollendet sich die Objektivierung - durch eben je­nes subjektive Feedback, das über Gelingen oder Nichtgelingen des Kommuni­kationsaktes entscheidet. Humboldt formuliert letztlich nichts anderes als jenen Rückkopplungsprozeß, dem jeder Kommunikationsakt folgt: "Erst wenn das vom Ich gesprochene Wort, vom Du erwidert, zu seinem Ohr als das Wort eines anderen zurückkehrt, erreicht die mit dem Wort verbundene Vorstellung wirkli­che Objektivität, ohne darum der Subjektivität entzogen zu werden. "

47 Vgl. hierzu und die folgenden nicht einzeln ausgewiesenen Zitate: Humboldt, Einleitung zum Kawi-Werk, op.cit., S . l 89ff

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92 Schrift, Sprache, Denken

Damit wird das Denken abhängig gedacht nicht nur von der Sprache als sol­cher, sondern von jeder einzelnen Sprache, die eine je historische Bedingung des Denkens bildet." E ine Art Sprachsinn wird dabei vorausgesetzt, eine Auffassung, die bei Herder vorbereitet wurde, und zu der die zeitgenössische Kognitionswis­senschaft wieder neigt, wenn sie vom Sprachinstinkt des Menschen spricht.•• In der Kontrastierung von je historischer Ausprägung oder dem jeweiligen ,Ver­ständigungsmittel' und der grammatischen Tiefenstruktur oder dem ,Wesen der Sprache' wird Sprache in ihrer doppelten Natur von konkret Gesprochenem und abstraktem Sprachkonzept, von Verständigungsmittel und grammatischem Bau, zu analysieren sein: als .. geistiger Akt im Sprechen und Verstehen", wie Hum­boldt sagt, sowie auch als Struktur, nämlich als ein durch diesen Akt erzeugter .. zwar nie außer dem Menschen, aber immer außer dem einzelnen vorhandener Stoff". Das impliziert letztlich die Transformation des transzendentalphilosophi­schen Ansatzes im Sinne einer Kommunikationsanthropologie, die sich metho­disch induktiv den Einzelphänomenen widmet und mit der bei Humboldt, einer polyglotten Forscherpersönlichkeit, eine Ethno-Hermeneutik der verschiedenen Sprachkulturen angelegt wird.

Nicht nur sind Sprache und Denken in Abhängigkeit gedacht, auch zwischen Sprache und ihrer geronnen Form, der Schrift, herrscht ein analoges Abhängig­keitsverhältnis - Sprache ist in ihren formalen Aspekten über Schrift vermittelt. 5° Humboldt offeriert durch seine differenzierte Betrachtungsweise der Objektivie­rungsformen von Sprache übrigens eine gegenteilige Auffassung zu der These vom Sprachverlust durch Zivilisationsentwicklung: in einer oralen Kultur ist es nicht so spürbar, daß es Rückwirkungen jedes Einzelnen auf die Sprache gibt, was aber nicht heißt, daß sie dort substanzialistischer wäre. Je mehr Belesenheit, je mehr Schrift und Literatur, desto spürbarer wird dies jedoch, .,denn die Verän­derung liegt nicht immer in den Worten und Formen selbst, sondern bisweilen nur in dem anders modificirten Gebrauche derselben; und dies letztere ist, wo Schrift und Litteratur mangeln, schwieriger wahrzunehmen."" Gewalt der Spra­che gegen den Menschen, durch jahrhundertelanges Sprechen ausgebildeter Bai-

48 Diese Relativierung (mit der wir uns im nachfolgenden Exkurs beschäftigen werden)

wurde auch als .Humboldts kopernikani­

sche Wende" bezeichnet, vgl. Donatella di

Cesare: Wilhelm von Humboldt, in: Tilman

Borsehe (Hg. ) : Klassiker der Sprachphiloso­phie. München: Beck 1 996, S.275-289, hier

S.282 49 Steven Pinker: Der Sprachinstinkt. Wie der

Geist die Sprache bildet, München: Knaur 1 996

50 Humboldt: Über die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau (Akademievorlesung, Berlin 1 824), in ders.: Über die Sprache. Reden vor der Akademie,

Tübingen: Francke (UTB) 1 994, S .98- 1 2 5 .

Vgl. dazu Christian Stetter: Schrift u n d Spra­che, Frankfurt: Suhrkamp 1 997, bes. S.400-4 1 1

5 1 Humboldt: Einleitung zum Kawi-Werk.

op.cit., S . 1 90

Page 93: Medienphilosophie Hartmann

Herder, Humboldt 93

last einerseits, kreative Aneignung und individuelle Bestimmung der Sprache an­dererseits sind die beiden Pole, zwischen denen die .. Sprachuntersuchung" die .. Erscheinung der Freiheit" erkennen und gleichwohl .. sorgfältig ihren Gränzen nachspüren" muß. Dies signalisiert eindeutig ein anderes Problembewußtsein als die Frage nach dem Ursprung und dem Entstehen der Sprache: .. Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache; um aber die Sprache zu erfinden, müsste er schon Mensch seyn. "52 Statt Spekulation ist nun empirische Forschung angesagt, unter­sucht werden die Strukturbedingungen der Sprache selbst. Damit wird die mo­derne Auffassung vorbereitet, nach der die Denkgesetze aus der Zergliederung sprachlicher Ausdrücke gewonnen werden sollen - Logik und Grammatik statt Transzendentalphilosophie. Dies wird zur Auffassung Wittgensteins führen: .. Man denkt nicht außerhalb einer Sprache".

Zusammenfassung Individuel le Bi ldung wird im späten achtzehnten Jahr­

hundert großgeschrieben, und sie erfolgt über die mannigfaltigen Texte, die

an die Stel len des einen, geoffenbarten Textes treten. Die Lesbarkeit der Weit

wird zum Parad igma mensch licher Wirklichkeitserfahru ng, wofür a ls herausra­

gendes Beispiel die Encyclopedie steht, als ein Versuch, das gesamte bü rgerli­

che Wissen zu systematisieren. Scheint dieses Wissen im Text a ls Kulturprodu kt

aufgehoben, so wird die Sprache als organ ische Einheit zum Aufentha ltsort

der Vern unft. Von nun an wird die phi losophische Forschungsfrage gefaßt, in­

wieweit die Grenzen menschlichen Denkens mit jenen der Sprache zusam­

menfal len.

l n dem Moment, da Erkenntnis als Leistung oder vielmehr als Konstruktion des

Subjekts durchschaut wird, wird diese ,Leistung' durchwegs angezweifelt.

Kant stel lt in seiner Erkenntniskritik die Frage danach, ob es eine Gewißheit im

Erkennen g i bt, und dies in Analogie zur laufenden Suche nach den Naturge­

setzen. Die pragmatische Anthropologie Herders und H umboldts sol l Kants

Transzendental p h i losophie mit einer Kritik der dort vollzogenen Rei nigung

von Sprache, Kultur und Geschichte ergänzend überwinden: das menschl iche

Denkvermögen ist abhängig vom Sprachvermögen. Menschsein und Spre­

chenkönnen sind zusammengehörig, vor a l lem aber h insichtlich dessen, was

der Mensch sich kulturell a ls ,Vernunft' erarbeitet hat. Strukturale Eigenschaf­

ten von Sprache werden bei Humboldt erkannt, der in der Sprache gar einen

Moment der Gewalt entdeckt, die sie gegen den Menschen ausübt. Er denkt

bereits über die Struktureigenschaften von Sprache nach: als geistiger Akt

52 Humboldt: Über das vergleichende Sprachs· tudium in Beziehung auf die verschiedenen

Epochen der Sprachentwicklung ( 1 820) . in ders.: Über die Sprache. op.cit., S .20

Page 94: Medienphilosophie Hartmann

94 Schrift, Sprache, Denken

wird Sprache stets neu erzeugt, a l lerdings aufgrund von objektivierten Prä­

missen, über die der einzelne Mensch keine unbedingte Gewalt hat.

Die einzelnen Sprachen zeigen eine gemeinsame Anlage der Menschen zur

Wirklichkeitsbewältigung durch soziale Gebundenheit. Denk- und Sprechwei­

sen werden zunehmend als Ergebnis einer historisch-ku lturel len Entwicklung

gesehen. ln ihrer Abhängigkeit von der Schrift tritt a bermals die doppelte

Struktur der Sprache hervor, die im Bezug auf das Denken ebenso als Bedin­

gung wie a ls Bedingendes betrachtet wird. Sprache ist das Medium menschli­

cher Existenz, Artikulation von Vernunft, und als solche eine Tätigkeit oder ein

Tei l des menschlichen Handelns, der darüber hinausgeht, sich nur mit der ob­

jektiven Weit auseinanderzusetzen.

Page 95: Medienphilosophie Hartmann

D

c

H G

M

Abbildung 5 Darstellung der Gesichtsmuskeln nach Bell und Henle, aus Charles Darwins 'Ausdruck der Gemüthsbewegungen ' (1884)

Page 96: Medienphilosophie Hartmann

5. Kapitel - Das Jenseits von Sprache.

Fritz M auth ners Radikalisierung der Sprach philosophie

,.Die Ergebnisse der Philosophie sind . . . Beulen, die sich

der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat. "

Ludwig Wittgenstein

5. 1 . Von der Philosophie zur Sprachkritik

.,Alle kritische Philosophie muß Kritik der Sprache werden." Mit dieser rabiaten Forderung radikalisiert Fritz Mauthner die Sprachabhängigkeitsthese, nach der Sprache die je historische Bedingung allen Denkens und jeder Vernunft ist. Die Philosophen haben ihn dafür verachtet, mißachtet und verleugnet - wovon Wirt­gensteins Verdikt aus dem Tractatus prominentes Zeugnis ablegt. ' Was wir bei Mauthner finden, ist eine fundamentale Skepsis über die Möglichkeit von Er­kenntnis überhaupt, da ihr sinnliches Mittel, die Sprache, uns die Welt mehr ver­schleiert als enthüllt. Wie auch bei Wittgenstein findet sich bei Mauthner eine mystische Sehnsucht nach dem Jenseits von Sprache, dem großen Schweigen, der sprachfreien Vernunft. Diese historischen Positionen wären eine Diskussion in einem medienphilosophischen Zusammenhang weniger wert, würden sie nicht die Mittel einer Kulturkritik vorbereiten, die speziell bei Mauthner nicht im Zweifel darüber steckenbleibt, welchen Maßstab wir an die Wirklichkeit letztlich anlegen können, sondern dezidiert ideologiekritische Züge annimmt. Eine Kritik, die lange vor einer Geißelung der Produkte einer massenmedialen Kultur de­monstriert hat, wie Formen die Inhalte von Kommunikation bestimmen und wie der so bewirkte falsche Schein Vorstellungen erzeugt, die reale Handlungsfolgen

Satz 4.003 1 - .Alle Philosophie ist ,Sprach·

kritik' (Allerdings nicht im Sinne Mauth·

ners). " vgl. Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus (ca. l 9 1 8) , in: Werkaus­

gabe Band I. Frankfurt: Suhrkamp 1 984, S.26 - Ausnahmen der zeitgenössischen Re-

zeption, welche die Sprachkritik Mauthners wenigstens streifen, bestätigen die RegeL vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symboli­schen Formen ( 1 923 ) , Darmstadt: Wiss. Buchgesellschalt 1 988, S. l 37

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Mauthner 97

bewirken. Die gesamte Betrachtung der Sprache bei Mauthner ist darauf ange­legt; die Verbindung zwischen den symbolischen Akten der Menschen und ihren materialen Auswirkungen zu zeigen, über die sich ein Schleier kulturellen Ver­gessens gelegt hat.

Sprache verliert in den Schriften dieses zu seiner Zeit äußerst populären Sprachkritikers ihren hehren Nimbus eines die Menschheit beglückenden Kom­munikationsmediums, um als Instrument der Verblendung, Täuschung und Un­terdrückung nicht nur einer beißenden Kritik, sondern einem breiten, dekon­struktiv angelegten Desillusionierungsunternehmen unterzogen zu werden. Mauthner, der fundierte schriftstellerische und journalistische Erfahnmgen be­saß, ist wie besessen von der Vorstellung, die Menschheit von ihrem Wortaber­glauben zu befreien, von all den ideologischen und religiösen Scheinbegriffen, von den Schlagwörtern der Dogmatiker wie den programmatischen Begriffen der Aufklärer. Gleichzeitig ist Mauthner voller Verachtung für die moralisierenden Sprachpuristen, und taub für alle Anwandlungen einer Idealsprache, die kontin­gente Bedeutungsdimensionen ebenso vergißt wie die grundlegende Geschicht­lichkeit der Sprachverwendung. "Die Sprache ist kein Organismus", schleudert er den Humboldtianern entgegen, um ganz im Zeichen eines semiotischen Relati­vismus Konvention und Manipulierbarkeil hervorzuheben: "Sprache ist eine Be­wegung, die zum Zwecke der Mitteilung Zeichen hervorbringt. Die Teile der Sprache, die Wörter, gehören nur der psychologischen Wirklichkeit an, nicht der körperlichen. ( . . . ) Wörter sind keine Körper; weil aber die Wörter Zeichen für Sachen oder Sinneseindrücke sein sollen, darum sind die Menschen trotz ihres Widerwillens gegen die fremden Bewegungen, der sich Purismus nennt, immer wieder gezwungen gewesen, ihre Sprache durch Entlehnungen zu bereichern. Wie die Sprache nur zwischen den Menschen entstanden ist und besteht, so sind die Sprachen zwischen den Völkern entstanden. Es gibt keine autochthonen Spra­chen. "'

Schon dieses Zitat, welches sich in der Einleitung in das voluminöse Wiirter­buch der Philosophie findet, zeigt, wie sehr Mauthner der alten nominalistischen Differenz verpflichtet ist, nach welcher die Logik des Wortes als distinkt von der Realität der Sachen gedacht wird. Die Unterscheidung dient dem Kampf gegen die Scheinbegriffe, die auf psychologischer Ebene Unheil anrichten, weil sie uns in der Verblendung lassen, daß ein Begriff von der Sache schon den Zugriff auf diese bedeute. So ist für den Sprachkritiker vieles am Denken und seinen Ab­straktionen, und damit natürlich auch an der Philosophie, lediglich eine "mißverstandene Grammatik", die über die antike Kategorienlehre und den mit-

Fritz Mauthner: Wörterbuch der Philoso­phie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Spra-

ehe ( 1 9 1 0 ) . Erster Band, Wien: Böh1au 1 997, S .LXX1Xf

Page 98: Medienphilosophie Hartmann

98 Jenseits von Sprache

telalterliehen Wortrealismus sich tiefer und tiefer in den Wortaberglauben hin­einschraubt, um schließlich in jener Sackgasse zu enden, in der sie sich hoff­nungslos mit der metaphorischen Unverbindlichkeit von "Zeichen von Zeichen von Zeichen" herumschlägt. ' Haben wir denn noch eine Möglichkeit, mit dieser Situation adäquat unzugehen (für die man sehr viel später den Begriff Simulation

setzen wird)? Erweist die Sprache sich nicht gerade in dieser Radikalisierung der Kritik als eher schwer bis gar nicht hintergehbar? Kann der Kritiker seinen Standpunkt noch ausweisen, von dem aus er uns eine neue Erkenntnis ver­spricht?

5.2. Dekonstruktion der ,Logokratie'

Nur oberflächlich gesehen bietet uns Mauthner eine wirklich plausible Antwort auf diese Frage, auf die besser eine Gegenfrage zu stellen wäre: warum überhaupt sprechen und nicht vielmehr schweigen? Hier haben wir diese grandiose Illusion vom Jenseits der Sprache im nonverbalen Erfahrungskonsens, in dem alle unse­re Ideen in reiner Form aufgehoben sind, und doch sind wir geschlagen mit die­sem unzulänglichen Mittel, das alles verspricht und letztlich nichts hält. Skepsis und das Verlangen nach Auflösung als eine gefährliche Mischung, die eine Über­windung der später von Heidegger so genannten Uneigentlichkeif in Aussicht stellt: wäre Sprache doch bloß ein Erzeugnis der Erkenntnis, und damit adäquater Aus­druck der Beziehung des Menschen zur Welt, statt deren Bedingung zu sein.• Mauthner dekonstruiert die ,Logokratie' der abendländischen Metaphysik im Sin­ne eines Nicht-Identischen: "Ich verstehe also unter Logokratie die nicht genug­sam bekannte Tatsache, daß die Macht, der die Menschen mehr gehorchen als ir­gend einer anderen Macht, die Macht der Worte ist."' Aber die Aufforderung zur

Mauthner: Wörterbuch, op.cit . . Zweiter

Band, Abschni!l ,Nominalismus', S .41 6-432,

hier S.430

4 Vor der Sprache die Poesie, und noch vor

dieser die Musik; dies war in jener Zeit die von Nietzsche gesetzte Option, die den Men­schen - im • Walten des Instinktes" - näher zur Wahrheit bringt als jene mangelhafte Symbolik der begrifflichen Sprache. Dies al­

lerdings um den Preis, daß ,der Mensch sich als Subjekt . . . vergißt" und dementspre­

chend anstelle der Subjektbeziehungen zur

Welt die .Relationen der Dinge zu den Men­schen• gelten läßt. Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne ( 1 873), ein Text, der in seiner sprach-

kritischen Wendung der Metaphysikkritik

von prägender Bedeutung für Mauthner ge­

wesen ist, vgl. Hans Gerald Hödl: Nietzsches

frühe Sprachkritik. Lektüren zu ,Über Wahr­

heit und Lüge im aussermoralischen Sinne', Wien: WUV 1 997, S. l 3 Fritz Mauthner: Logokratie, in: ders.: Wör­

terbuch, op.cit., Band 2, S .305-307. Vgl. da­zu in abwehrend kritischer Haltung Gon­fried Gabriel: Philosophie und Poesie:

Kritische Bemerkungen zu Fritz Mauthners ,Dekonstruktion' des Erkenntnisbegriffs, in: Elisabeth Leinfellner, Huber! Schleichen (Hg. ) : Fritz Mauthner. Das Werk eines kriti­schen Denkers, Wien: Böhlau 1 995, S.27-41

Page 99: Medienphilosophie Hartmann

Mauthner 99

"Rebellion gegen Logokratie" folgt auf den Fuß. Die Sprachentstehung wird nach Mauthner auf metaphorischem Wege ermöglicht, da der Mensch sich Bilder ge­macht hat, um die Welt in den Griff zu bekommen, und diese Bildhaftigkeit stei­gert sich, da sie Wörter als "Bilder von Bildern" erzeugt und damit eigentlich ei­ne kulturelle Hyperrealität induziert. Seine Begriffsprache unterscheidet den Menschen vom Status der Tiere, mit ihr unterwirft er sich aber wiederum der Herrschaft der Logokratie: "Seine Sprache, die ihn von der Macht der zeitlichen und räumlichen Gegenwart vielfach befreit, macht ihn wieder zum Sklaven der Vergangenheit." Und daran schließt nun die unmittelbare Bedienungsanleitung zur sprachkritischen Verbesserung der conditio humana an: "Er müßte denn mit einem unverhältnismäßigen Kraftaufwande Sprachkritik treiben und jedesmal das Wort, das ihn beherrschen will, nach seiner Herkunft und nach seinem Rech­te zur Macht fragen; Sprachkritik ist in dieser Beziehung Rebellion gegen die Lo­gokratie."• Im Bewußtsein, daß diese Anstrengung eine unverhältnismäßige sei, versucht Mauthner sie individuell zu leisten, indem er über Tausende von ge­druckten Buchseiten hinweg den Beweis antritt, daß die konkrete Sprachkritik in ständiger Vergegenwärtigung des historischen Sinns von Begriffen und Aussa­gen über den Nominalismus hinauszugehen vermag.

Am Elend des sprachlichen Ausdrucks könnte der Mensch verzweifeln, doch Mauthners Motiv ist subtiler als dieser Defätismus der sprachlichen Form. Ein bekanntes !<Ieist-Zitat, das neben mehreren anderen motivisch auf den ersten Band von Mauthners Beiträgen zu einer Kritik der Sprache einstimmen soll, gibt hier den Ton an: L'idee vient en parlant. Der Gedanke kommt während des Sprechens; und Heinrich von !<Ieist äußert diese geniale, die Sprachabhängigkeitsthese per­siflierende Idee in dem Fragment Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken

beim Reden (ca. 1 80 5 ) als Parodie der Volksweisheit, daß der Appetit mit dem Es­sen komme. Wer also spricht, entwickelt Gedanken, und das auch dort, wo vor­her gar keine waren. Diese Leichtigkeit der Auflösung des Abhängigkeitsverhält­nisses von Denken und Sprechen, ohne diesen kategorialen Rahmen zugunsten von irdischer Musik, transzendentaler Meditation oder sonstigen Sphärenklän­gen zu verlassen, hat Klasse: die philosophische Spekulation, für welche die Spra­che ein Klotz am Bein des Denkens darstellt, findet sich aufgelöst im Zustand des en parlant, im Reden als dem lauten Denken. "Die Sprache ist alsdann keine Fes­set etwa wie ein Hemmschuh a n dem Rade des Geistes, sondern wie ein zweites,

mit ihm parallel fortlaufendes, Rad an seiner Achse." (!<Ieist) Der Mensch hat nicht Sprache, wie Herder gesagt hat, noch hat die Sprache

den Menschen, wie Heidegger sagen wird - vielmehr ist der Mensch ein tätig

6 Mauthner: Wörterbuch, op.cit . . Zweiter Band, S.307

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100 Jenseits von Sprache

Sprechender. Das ist der Punkt, der Mauthner so interessant macht, daß er näm­lich das Abstraktum Sprache durch die Aktivität, "durch das Tätigkeitswort Spre­

chen" zu ersetzen vorschlägt.' Hätte der Mensch nämlich nur die Sprache, dann wäre er ziemlich einsam und vermutlich auch arm, denn: "Es gibt nicht zwei Menschen, die die gleiche Sprache sprechen. "• Sprache ist also etwas zwischen den Menschen, ist ein "sozialer Faktor" und als solche "eine wirkliche Art des menschlichen Handelns" . Sprache hält die Menschen in einem Zustand gegen­seitiger Vernetzung, die wiederum nicht als Zustand, sondern als Tätigkeit gefaßt wird. D ie Vorstellung, daß der Mensch als einzelner ( und nicht das Kollektivsub­jekt) Sprache habe, ist für Mauthner ebenso absurd wie die Vorstellung, "er wä­re wie der Teilnehmer an einem ausgedehnten Telephonnetze, das keinen zwei­ten Teilnehmer hätte."•

Wenn wir der Tätigkeit innewerden, die als sprachliche Aktivität reale Aus­wirkungen zeitigt, dann würden wir nicht mehr nach dem ,Wesen' der Sprache fragen müssen, sondern diese als das metaphysische Konstrukt durchschauen, das sie tatsächlich ist. "Im Anfang war das Wort", wie Mauthner seine Sprach­kritik mit biblischer Pathetik eröffnet, um gleich darauf einzulenken: "Mit dem Wort stehen die Menschen am Anfang der Welterkenntnis und sie bleiben ste­hen, wenn sie beim Worte bleiben. Wer weiter schreiten will, auch nur einen kleinwinzigen Schritt, um welchen die Denkarbeit eines ganzen Lebens weiter bringen kann, der muß sich vom Worte befreien und vom Wortaberglauben, der muß seine Welt von der Tyrannei der Sprache zu erlösen versuchen." '0 Sprach­kritik ist das Programm einer teils mühsamen etymologischen Rekonstruktion je­ner Gehalte, die keine Sprachskepsis mehr zulassen - nichts weniger als eine Kri­

tik der sprachlichen Vernunft. Mauthner rechtfertigt sich dabei dauernd selbst, und der performative Widerspruch ist ja nicht von der Hand zu weisen, der darin liegt, die Welt mit Worten von der Sprache erlösen zu wollen, oder etwa ein B uch ge­gen die Sprache zu schreiben. Wieder hilft die Einsicht, daß die Sprache lebt und kein starres Gebilde ist: wer in diesem Geschäft weiterkommen will, müsse die Sprache hinter sich und vor sich und in sich vernichten, um sie neu zu errichten - "so muß ich jede Sprosse der Leiter zertrümmern, indem ich sie betrete. Wer folgen will, der zimmere die Sprossen wieder, um sie abermals zu zertrüm­mern.""

7 Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der

Sprache, Erster Band, Zur Sprache und zur

Psychologie, Leipzig: Meiner 1 92 3 (Dritte Auflage), 5. 1 6

s ebd., S . l 8 9 ebd., 5 . 1 1 bzw. 5. 1 7

10 ebd . . 5. 1

1 1 ebd .. 5.2 - Zur Leitermetapher, d ie Willgen­stein im Tractatus ebenfalls bemüht. und an­deren Parallelen vgl. Elisabeth Leinfellner:

Fritz Mauthner im historischen Kontext der empirischen, analytischen und sprachkriti­schen Philosophie, in: Leinfellner. Schlei­chen (Hg. ) : Mauthner, op.cit . . 5. 1 45- 1 63

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Mauthner 101

5.3. Die sprachl iche Konstruktion von Welt

Natürlich verbirgt sich darin eine mystische Perspektive auf das Jenseits der Spra­che. Zuvor aber muß die Analyse des sprachlichen Zustandes erfolgen, die Be­griffsprüfung, die zeigt, daß auch in den begrifflichen Konkretionen noch keine direkte Anschauung steckt, sondern wir immer wieder nur der sprachlichen Grenzen innewerden, wenn wir die Wirklichkeitswelt zu verstehen suchen. Die Kategorien unseres Weltverständnisses sind geronnene Formen grammatikali­scher Sprachfunktionen, nach denen wir uns die Wirklichkeit zurechtlegen - in der gegenwärtigen Terminologie ist dies ein radikaler sprachlicher Konstruktivis­mus. Unsere Erkenntnisanstrengungen richten sich nicht auf Erscheinungen, nicht auf eine Wirklichkeit, in der wir identischen Tatsachen vorfinden würden, sondern jede Beobachtung erzeugt ihre eigene Wirklichkeit, und weder in ihr, noch in der Sprache, gibt es eine Reinheit oder ein eindeutiges Fundament: Kon­tingenz ist alles und alles ist kontingent.12 Nicht nur hängt das Denken, das sich aus der Logik und/oder der Grammatik bestimmen lassen soll, von der Sprache ab, es ist geradezu (ebenso wie seine Pendants, die Logik und die Grammatik) ein Merkmal der Sprache, die selbst nichts weiter ist als eine Art des menschlichen Han­

delns. Die Philosophie ist dann für Mauthner, wie er in seinem Wö'rterbuch fest­hält, eine Arbeit an abstrakten Begriffen, deren wenig erbauliches Resultat die skeptische Resignation wäre: mit der Einsicht, daß wir gar keine Erkenntnis­werkzeuge haben, die uns irgendwie Gewißheit verschaffen. Daher ist "die Ein­sicht in die Unannehmbarkeil der Wirklichkeitswelt . . . keine Negation, (son­dern) unser bestes Wissen; die Philosophie ist Erkenntnistheorie, Erkenntnis­theorie ist Sprachkritik; Sprachkritik aber ist die Arbeit an dem befreienden Gedanken, daß die Menschen mit den Wörtern ihrer Sprachen und mit den Wor­ten ihrer Philosophien niemals über eine bildliehe Darstellung der Welt hinaus gelangen können.""

Mit der Sprache legt sich ein ideologischer Schleier über die gesamte Wirk­lichkeit. "Wir haben nur Worte, wir wissen nichts. " Diese sind aber ungeeignete Werkzeuge zum Erfassen der Wirklichkeit. Sie erzeugen im Gegenteil den Wor­taberglauben, der darin besteht, daß die Form zum Inhalt wird oder daß die Real­abstraktion sich in der Realität bestimmend auswirkt. Hexenverfolgungen und

12 .Der alte griechische Satz ,man kann nicht

zweimal in denselben Fluß hinabsteigen' gilt auch für die Sprache. Ihre Worte und For­

men haben sich unaufhörlich verändert.

( . . . ) Unablässig wandeln die Sprachen die Bedeutung ihrer Worte und bei dem unü­bersehbaren Verkehr des letzten Jahrhun-

derts, bei dem starken Aufwand a n neuen

Begriffen kann die Sprache dem Bedürfnis

an Bedeutungswandel kaum nachkommen.· Mauthner: Beiträge, op.cit., S .7f

13 Mauthner: Wörterbuch, op.cit., Einleitung S.XIf

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102 Jenseits von Sprache

Religionskriege sind historische Beispiele für einen Wortaberglauben, der vom Gottesbegriff ausgeht. Als geistigen Befreiungsschlag gegen solche Dogmen und metaphysische Zwangsvorstellungen konzipierte Mauthner eine Kulturgeschich­te des Abendlandes vom Standpunkt der religiösen Befreiung, eine Dekonstruk­tion des Gottesbegriffs in dem mehrbändigen Werk über den abendländischen Atheismus. Auch diesen Beitrag begreift Mauthner als praktizierte Sprachkritik, indem er in theologischen Schriften den unbewußten Fesselungen durch den Zeitgeist nachspürt, und historische Texte auf die .. Abhängigkeit jedes Denkers von der Sprache der Zeit" hin dechiffriert. '4

Der Zusammenhang von Denken und Sprechen wird endlich .,lachend" mit dem Hinweis aufgelöst, daß es sich bei diesen Begriffen um bloße Verben han­delt, sie also eine menschliche Handlung ausdrücken. Wer glaubt zu denken, mö­ge sich gefälligst daran erinnern, daß er oder sie nur spricht: es gibt keinen Logos über die Worte hinaus. Die menschliche Handlung als Zweck .,erzeugt sich das Verbum, die zweckmäßige Menschensprache mit ihren Begriffen und Kategori­en erzeugt sich das Denken. " " Mithin glauben die Menschen zu denken, während sie doch nur sprechen . .,Die Sprache wie die Vernunft ist niemals wirk­lich als in den einzelnen Sprechakten und Denkakten; Sprache und Vernunft sind zwischen den Menschen, sind soziale Erscheinungen, sind eine und dieselbe so­ziale Erscheinung als wie die Sitte. Vielleicht auch nur: als wie eine Spielregel. So wenig wir eine übermenschliche philosophische Sprache kennen, so wenig wis­sen wir - wenn wir nur die Sehnsüchte der Mystik ausscheiden - von der reinen Vernunft. Kritik der Vernunft muß Kritik der Sprache werden. ( . . . ) Nichts ist in den Begriffen der Sprachen, was nicht zuvor in unseren Sinnen war." ' •

Die radikale Konsequenz ist die, daß die Wirklichkeit von der sprachlichen Be­griffswelt abhängt, und die menschlichen Gedankenwelt von der ererbten Spra­che. Jede Wortgeschichte nimmt für Mauthner dabei Züge einer Monographie zur Kulturgeschichte der Menschheit an; übrig bleiben die .. wenigen hundert Wörter, deren Bedeutung im Lauf der Zeiten gewechselt hat"" und die es wert sind, in einem Wörterbuch der näheren Betrachtung unterzogen zu werden. Phi­losophie bedeutet ihm diese Tätigkeit, nichts mehr als die Arbeit an ein paar ab­strakten Wörtern in letztlich skeptischer Resignation. Kultur stellt sich als jener .,einigende Wortschwall" dar, der die vielen Individualsprachen mit ihren Nach­ahmungen und Entlehnungen zur Deckung bringt. Mauthner leitet daraus ein

14 Fritz Mauthner: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande ( 1 920- 1 923) , 4

Bände, Frankfurt: Eichborn 1 989, Vorwort, s.xv

15 Mauthner: Über Denken und Sprechen, in:

Beiträge, op.cit., S . l 76ff. hier S.232

16 Fritz Mauthner, in: Raymund Schmidt (Hg. ) : D i e Philosophie der Gegenwart in Selbstdar­stellungen, Leipzig: Meiner 1 922, 5. 1 3 5

17 Mauthner: Wörterbuch, op.cit., Einleitung

S.Xl

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starkes antidualistisches Moment ab, nach dem es in doppelter Setzung dessen, was doch nur einmal ist, ständig dazu kommt, daß Idee und historische Ausprä­gung auseinanderfallen. Eine der Folgen davon ist die Vorstellung einer einheit­lichen Ursprache, die als vorbabylonischer Zustand gegen die historischen Sprachdifferenzierungen gesetzt wird - Spracheinheit liegt aber immer nur am Ende einer Dialektentwicklung, nicht an deren Anfang, in den sie stets hinein­projiziert wird. Das konservierende Moment der Sprache wird so gesehen, daß es zwar immer nur einzelne Sprachbewegungen der Menschen gibt, also eine Sprachpraxis der Reflexbewegungen oder "Instinkthandlungen", die in einge­wöhnten oder auch tradierten Bahnen verlaufen.'•

Wie die flüssige Sprache sich über alltagspragmatische und ideologische Me­chanismen verdichtet, ihre Wortfetische errichtet und als solche bis hin zum tra­dierten Dogma verfestigt, diesem Grundproblem plante Mauthner in einer Schrift genauer nachzugehen, die erst 1925 posthum erschien, deren Gedanken aber immer wieder variiert worden sind: Die drei Bilder der Einen Welt. Sie fundiert die These von der welterzeugenden Macht der Sprache in Form einer Drei-Wel­ten-Theorie, nach welcher analog zu den Sprachfunktionen des Adjektivs, des Verbums, und der Substantive eine Ordnung der Dinge als Konstrukt zwischen Subjektivität und obj ektiver Wirklichkeit vorgestellt wird, welches über die drei verschiedenen, in der Sprache repräsentierten Modi'• funktioniert.

Mauthners sprachkonstruktivistisches Weltbildmodell Adjektiv Sinneseindrücke Erfahrung: Sinnlich· Eigenschaften der Welt 1

(Wahrnehmung) keit. Kunst Dinge (Qualitäten) .adjektivische"

Verb Aktivitäten Werden: Beschrei· Zeit und Bewegung Wel t 2 (Verbindung) bung. Wissenschaft (Handlungen) .verbale"

Substantiv Symbole Sein: Religion, Mystik Raumwirklichkeit. Welt 3 (Bezeichnung) Sein (Substanzen) .substantivische"

Schweigen Exstasis nonverbales Denken (gottlose) Mystik Jenseits von Sprache

Die reale Welt zerfällt hier in die drei Welten der Erfahrung, des Seins und des Werdens.'" Grundlegend ist die sinnliche Erfahrungswelt als adjektivische, die als

18 ebd., S.XXX und XXXIf 19 Die Entsprechung von Denkkategorien und

Te ilen der menschlichen Rede läßt sich in der westlichen Philosophie bis zur Kategori· enlehre des Aristoteles zu rückverfolgen; vgl. den Absch nitt .Griechisches Philosophieren (Aristoteles)" in Mauthner: Wörterbuch, op.cit., Band 2. S . 5 9 - Mauthner selbst ver-

dankt seinen antikantianischen Ansatz der Diskussion der aristotelischen Kategorien­lehre in Entsprechung zu den grammati­schen Klassen der indogermanischen Spra­che bei Adolf Trendelenburg: Geschichte der Kategorienlehre, Berlin 1 846

20 Fritz Mauthner: Die drei Bilder der Welt, ein sprachkritischer Versuch. Aus dem Nachlaß

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1 04 Jenseits von Sprache

uns allein zugängliche Welt der Sinneseindrücke die einzig wirklich reale Welt darstellt, im Sinn einer natürlichen Welt, die sensualistisch aufgenommen wird (auch beispielsweise von Tieren) . Die spezifisch menschliche Welt ergibt sich aus kognitiven Tätigkeiten, denen das Verbale und das Substantivische der Sprache entspricht. Sie existiert nicht an sich, sondern durch sprachliche Gewöhnung und Tradierung. Mauthner nennt als Beispiel das Wort ,Feuer': es gibt keinen wirklichen Gegenstand hinter dem Substantiv, dennoch wäre es sinnlos, die Wirklichkeit des Feuers (chemisch gesehen die spezifische Form eines Oxyda­tionsprozesses) zu leugnen. Unsere Sinnesorgane bieten uns eine pointillierte Welt, deren einzelne Eigenschaften wir instinktiv zu einem Gegenstand verdich­ten, den wir zu sehen vermeinen, obwohl er nur ein Symbol adjektivischer Wir­kungen ist. So ist auch das Wort ,Feuer' ist nur ein Symbol, unter dem wir die mythologischen Ursachen adjektivischer Wirkungen zusammenzufassen ge­wohnt sind; wir begreifen das Ensemble von Bewegungen, Verhältnissen, Wir­kungen etc. in der sprachlichen Verdichtung zum Sein, das als solches unwirklich ist - "Alles fließt", wie schon Heraklit wußte, nur die Sprache wirkt konservierend und baut die Täuschung eines bleibenden Seins auf. Im Banne der Sprache, so Mauthner, folgen wir einer tiefen Sehnsucht nach den Dingen an sich, die hinter der adjektivischen (sinnlich wahrnehmbaren) Welt liegen, und nehmen die Sym­

bole der substantivischen Welt für solche Dinge; daher die Bezeichnung ,Welt der Mystik' für diesen Bereich. Durch die geschichtliche Entwicklung der Wahrneh­mungsorgane und evolutionäre Zufälligkeiten bieten unsere Sinne uns einen Ausschnitt der Welt an, den wir für die Wirklichkeit nehmen. Es ist eine Welt voller Dinge, die doch wieder nur Symbole von Sinneswirkungen sind.

Neben der Welt der Wahrnehmungen und der Welt künstlicher Zustände gibt es aber noch die Welt des Werdens, in Ergänzung zur Konstruktion des räumli­chen Seins ( Substantiv) die im Verbum ausgedrückte Konstruktion der Zeit. Die verbale Welt deutet auf die Prozeßhaftigkeit unseres Wissens, indem wir die Welt begreifen, bzw. das Wirken der adjektivischen Welt geistig verarbeiten. Die Tätig­keitsbegriffe der Sprache erinnern daran, daß immer das Subjekt etwas macht oder etwas tut, und in den Verben kommen die Zwecke seines Handeins zum Ausdruck. Diese Welt des Begreifens ist im weiteren dann die Welt der wissen-

herausgegeben von M. Jacobs, Erlangen

I 925, Wiederabdruck in: Fritz Mauthner, Sprache und Leben. Ausgewählte Texte aus dem philosophischen Werk, hg. von G. Wei­

ler, Salzburg: Residenz I 986, S. I 89-255 .

Mauthner skizziert seine Drei-Welten-Theo­rie in der Selbstdarstellung, l.cit., S. l 38!f. Vgl. im einzelnen Mauthner: Wörterbuch,

op.cit., Band L S. l 7!! ( adjektivische Welt),

Band 3, S .262f! (substantivische Welt) und ebd., S .359f! (verbale Welt) , . Zur Unbe­stimmtheit des grammatischen Sinnes und

Weltbezug vgl. Mauthner: Beiträge, op.cit., Band 3, S . I ff. bes. S . l 02; weiters zum Zu­

!allscharakter der Wirklichkeit ebd., Wissen und Worte, 5 . 5681!

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schaftliehen Erklärungen, mit der Einschränkung, daß auch die Naturwissen­schaften die Welt nicht erklären, sondern nur die Erscheinungen beschreiben können.

Die Lehre von diesen drei Welten verdankt sich einer Trennung zu analyti­schen Zwecken, da es natürlich nur eine Welt gibt. die Gegenstände unseres Den­kens als Konstrukte unserer Sprache aber drei Bilder von ein und derselben Welt erzeugen. Mauthners Philosophie versteht sich antidualistisch und antidogma­tisch, denn weder nur sensualistisch noch idealistisch, noch entwicklungsge­schichtlich allein läßt sich der Wahrheit näherkommen; weder über die Sinn­lichkeit bis in ihre Steigerungsformen der Kunst hinein, noch über den Aber­glauben des naiven Realismus der abstrakten Substantive in der Mythologie, noch in der Verwechslung der wissenschaftlichen Beschreibungsmuster mit der Erklärung von Phänomenen erschließt sich die Wirklichkeit, sondern höchstens in ihrem Zusammenspiel: .,Kunst. Mystik und Wissenschaft sind drei Sprachen, die einander helfen müssen. "'1

5.4. Ekstase des Schweigens

Hier nun taucht das Problem der Distanznahme innerhalb des auch noch so kri­tisch verwendeten sprachlichen Instrumentariums auf. denn Mauthner hält die Sprache an sich ja für grundsätzlich unfähig, mit ihren Worten das .. auseinan­derzulegen, was in der Wirklichkeitswelt beisammen ist" .22 Die diskursiven Schlüsse drehen sich im Kreis, und die Sprachkritik droht in Resignation zu ver­fallen, da sie überall nur Suggestionen der Sprache entdeckt. Dies nennt Mauth­ner die Metaphysik der Sprachkritik, doch es muß einen Ort geben, von dem aus diese Beobachtung noch möglich ist, bzw. einen Begriff, der diese Behauptung zuläßt. Dieser metaphysische Standpunkt außerhalb der eingewöhnten Sprach­spiele von Kunst, Mythologie oder Wissenschaft ist die Ekstasis, die als Ergänzung zur Drei-Welten-Theorie hinzugedacht werden muß.

Mauthner geht mit Hinweisen auf diesen Aspekt äußerst sparsam um, doch er läßt keinen Zweifel daran, daß ein wortloses Begreifen vorstellbar ist, in dem der Ballast des je tradierten Weltbildes abgeschüttelt wird. Hier greift das Klischee von der künstlerischen Erkenntnis. Aber Mauthner spricht nicht von Versöh­nung mit der Wirklichkeit. sondern von der temporär aufgehobenen Differenz; es gibt ein nichtsprachliches Erleben, das wirklich ist: .. Und ich kann es erleben, für kurze Stunden, daß ich nichts mehr weiß vom principium individuationis, daß der Unterschied aufhört zwischen der Welt und mir. ,Daß ich Gott geworden

21 Mauthner: Wörterbuch, op.cit., Band 3, S . 366

22 Mauthner: Beiträge, op.cit., Band 3, S.244

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bin.' Warum nicht?"" Die Stunden der Ekstase, die Mauthner hier beschwört, er­innern an den alten Hamann, der dem rationalistischen Zug im Aufklärungsauf­satz Kants das Matthäus-Zitat entgegenhält: "Auch in der Dunkelheit giebts gött­lich schöne Pflichten I Und unbemerkt sie thun -- -" .24

Mit den drei Bildern der Welt zeigt Mauthner, wie das sprachliche Konstrukt des Seins jenes Nichtsein konterkariert, vor dem der Mensch seit jeher sich fürch­tet, doch aus dem kein Gott ihn mehr rettet. Seine gottlose Mystik als ein Jenseits der Sprache trägt eine explizit taoistische Konnotation, da nichts sich mehr sagen

läßt über Ursachen und Ziele oder weiterführende Begriffsinhalte. Der Mensch proj iziert mittels der Sprache seine kategoriale Welt auf die Wirklichkeit, um die menschliche Angst vor dem transitorischen Charakter allen Seins zu bannen. Sehr salopp formuliert folgt das Denken also einer Struktur der Dinge, die ihrer­seits wieder ein Effekt der Sprache sind: eine Pattstellung, in welcher der Philo­soph nun vorschlägt, sämtliche Figuren vom Tisch zu wischen und den Relati­vismus mit pragmatistischer Wendung zu akzeptieren: "Es gibt keine Philosophie, es gibt nur Philosophien. Es gibt keine Grammatik, nur Grammatiken. Es gibt kei­ne Logik, es gibt nur Logiken. Und die lebendige Wirklichkeit sprengt die Fesseln der Philosophien, wie das lebendig kristallisierende Wasser im Felsenspalt den uralten, toten Felsen zersprengt.""

Oberflächlich gesehen trifft sich Mauthner hierin mit Wittgenstein, aber nur in dem Aspekt, da Sprachkritik definitiv doch nur im Sinne Mauthners möglich ist. Nach Mauthners konstruktivistischem Sprachkonzept verbietet sich eine Ab­bildfunktion von Sprache für die Wirklichkeit. Sprache repräsentiert nicht die Welt, sondern bildet sie nur metaphorisch ab; eine universale Grammatik, die im Hintergrund des anfänglichen Sprachkonzeptes bei Wittgenstein steht, ist des­halb eine Illusion. Mit der ersten Sentenz des Tractatus, welche die Grundlagen­reflexion zur Aussagbarkeil überhaupt eröffnet - "Die Welt ist alles, was der Fall ist. " - wird die logische Form des Satzes als Struktur der Wirklichkeit selbst vor­gestellt. D ieser Ansatz steht tatsächlich vollkommen konträr zu Mauthners Sprachkritik, für die jene Logik, die eine universale Grammatik ermöglichen soll, als eine Abstraktion der jeweiligen natürlichen Sprache entlarvt wird.

Es gibt bei Mauthner keine Logik der Tatsachen als allgemeine Form, ja es ist im strengen Sinn überhaupt gar keine Logik möglich. Anders formuliert hat Mauthner den Begründungszirkel sehr wohl gesehen, der sich aus dem An­spruch einer idealsprachlichen Allgemeingültigkeit ergibt. Für ihn ist die Gram­matik einer Sprache immer abhängig von der Sprache, in der sie geschrieben

23 Mauthner: Wörterbuch, op.cit., Band 2, 5.384

24 Johann Georg Hamann: Brief an Christian

Jacob Kraus, 18 . 1 2 . 1 784. in: Was ist Auf-

klärung? Thesen und Definitionen. hg. von E.Bahr, 5tuttgan: Reclam 1 990, 5.2 1

25 Mauthner: Beiträge, op.cit.. Band 3, 5.258

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wird - "so daß also der Wert der Grammatik schließlich mit dem Wert der Spra­che selbst zusammenfällt. ( . . . ) Was man gewöhnlich Grammatik einer fremden Sprache nennt, ist . . . wie ein Versuch, sich mit Hilfe einer Karte von Tirol im Hi­malaja zurechtzufinden. Es wird ja manches stimmen. Die Flüsse werden bergab laufen und die Wege werden häufig dem Lauf der Flüsse folgen; wer das aber er­raten hat, der bedarf in Asien nicht der Karte von Tirol. "26 Was aber, wenn die Fähigkeit abhanden kommt, zwischen der Landkarte und dem Land zu unter­scheiden? Vielleicht müssen wir hier den entscheidenden Schritt weitergehen mit der Einsicht, daß nicht nur Sprache, sondern Medien generell die Wirklich­keit konstruieren. Es gibt dann keine mehr oder weniger richtige Repräsentation mehr, die ontologische Differenz von Realität und Repräsentation wird eingezo­gen zugunsten einer neu zu konzipierenden Medialität.

5.5. Die Grenzen der Sprachkritik

In der Welt gibt es Handeln nur auf Seite der Menschen; und auch die homini­stische Welt zerfällt in die beiden Bereiche von Sprache und Denken, weil die Na­tur stumm ist und nur der Mensch spricht. Es gibt keine eindeutige Beziehung zur Wirklichkeit, damit auch keine Idealsprache, da immer nur der jeweilige Ge­brauchsaspekt von Sprache zählt. Damit wird die Sprache zu einem unzuverläs­sigen Agenten, da sie aufgrund ihres Eigensinns kein geeignetes Medium der Wirklichkeitserkenntnis zu sein scheint. Sprachkritik ist ein Kampf gegen alle be­grifflichen Hypostasierungen, gegen die abergläubische Wortmacht und die Spra­che als Unterdrückungsinstrumentarium: sie zeigt, daß nichts in den Worten der Sprache enthalten ist, was nicht Menschen selbst in diese Worte hineingelegt ha­ben. Sprache ist kein ErkenntnismitteL und all unser Anspruch auf Wissen muß sich damit bescheiden, daß die Natur der Sprache uns in bestimmte Grenzen weist. Die Sprachanalyse mag einzelne Ergebnisse erzielen, läßt uns aber im Dunkeln darüber, wie eine allgemeine Theorie der Sprache aussehen könnte, da Sprache nur in ihren einzelnen Aspekten - im performativen Moment - als wirk­lich anzusehen wäre. Einer Theorie der Sprache im allgemeinen ist möglicher­weise tatsächlich die Kritik des pragmatischen Sprachgebrauchs vorzuziehen; mit der Hoffnung auf eine "Übersprache" muß auch diejenige auf eine Korrektur oder Reparatur der allgemeinen Sprachverwendung27 aufgegeben werden. Die

26 Mauthner: Beiträge, op.cit., Band l. S .23 -

Zum Unterschied der Mauthnerschen Sprachkritik und der des Tractatus vgl. die

Bemerkung von Leinfellner: Mauthner im historischen Kontext. l.cit., S . l 48f. Zum Be­gründungszirkel einer universalen Gramma·

tik (ohne Bezug auf Mauthner) vgl. die hi­

storische Anmerkung in Eco: Suche nach der vollkommenen Sprache, op.cit., S .3 1 7 -

3 2 1

2 7 Elisabeth Leinfellner: Die böse Sprache. Fritz Mauthner und das Problem der Sprachkritik

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108 Jenseits von Sprache

Sprache ist nicht perfekt und kann als solche auch nicht perfektioniert werden; die kulturkritische Rede von der Logik des Zerfalls ist Mauthners Sache nicht. Nur dort, wo er mit dem Hilfsbegriff der gottlosen Mystik einen Zustand visioniert, in dem die fundamentale Differenz von Ich und Welt aufgelöst erscheint, kom­men wir der Sache etwas näher: sie hat mit der Sprache möglicherweise genau­sowenig zu tun wie mit dem rationalen Verstand. Hier deutet d ie Möglichkeit sich an, über das Verhältnis von Mensch und Welt, oder von Subjektivität und Ob­jektivität, frei nach Flusser: nicht kommunikativ vermittelnd, sondern über Spra­che projektiv entwerfend hinauszudenken.

Wir wissen mit Humboldt, daß der Mensch mittels Sprache ein Mensch ist, daß er erst als Sprechender zu dem wird, was er ist: ein Mensch. Was dies nun wieder heißt - der Mensch - das bleibe zu "bedenken", hat beispielsweise Heideg­ger gesagt.'" Heidegger verstand sich als ein Fragender, sodaß uns seine Antwort im Detail hier vorerst nicht beschäftigt. Ob das Menschsein sich auf Sprache - als Verbalsprache - reduzieren läßt, ist außerdem eine gänzlich un-Heideggersche Fragestellung. Sprache ist nur eine unter mehreren Vermittlungsweisen. Mauth­ners Leistung ist es, die Sprache als Medienmodell der Vermittlung von Welt ernst genommen und gleichzeitig ihr genuines Telos, die Vermittlung als Mitteilung, de­konstruiert zu haben.

So sind die Bedeutungsordnungen, innerhalb derer der Mensch sich bewegt, eben nicht rein sprachlich konstruierte. In Mauthners Dilemma, sprachkritisch die Grenzen der Wirklichkeitserfassung von Sprache aufzuzeigen, kündigt sich dieser Relativismus bereits an, der einfach darin besteht, daß authentische Ver­mittlung, und in der Folge auch die Erkenntnisfrage, sich nicht vereinbaren läßt mit der Praxis einer menschlichen Sprachgemeinschaft, die ganz im Sinne der so­zialen Funktion von Sprache diese zur Verhaltenskoordination im Alltag einsetzt und darüber hinaus mancherlei funktionierende Formen des nonverbalen Er­fahrungskonsenses kennt. In diesem Sinn fällt es wirklich nicht leicht, über die Sprache zu sprechen, und noch weniger, eine Theorie der Sprache vorzulegen. Sie würde darauf abstellen, das Was der Erkenntnis konsequent mit der Frage nach dem Wie des Erkennens zu ersetzen: nichts anderes bedeutet seit Kant philosophi­

sche Kritik. Mit Bezug auf die Sprache heißt das, daß zwar dem Menschen das Sprechen natürlich ist, Sprache als solche jedoch ein metaphysisches Konstrukt darstellt - Mauthners Wortaberglauben. Es besteht durchaus die Möglichkeit, hier kulturelle Abhängigkeiten eines verschiedenen Sprechens zu denken, aber die mangelnde Differenzierung hinsichtlich einer allgemeiner gedachten symboli-

und ihrer Rechtfertigung, in: Leinfellner I Schleichen (Hg.), op.cit., S .57-82, hier S.79

28 Manin Heidegger: Die Sprache ( 1 950), in: ders.: Unterwegs zur Sprache, Stuttgan:

Neske 1 997, S . l l

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sehen Logik ist augenfällig.29 Gerade da weder bei Mauthner, noch bei Wittgen­stein, oder später bei Heidegger, das Jenseits von Sprache oder Schweigen als ein kommunikatives Nirwana gedacht wird, darf der Mensch nicht auf seine Sprache eingeschränkt werden. Der Spielraum der Möglichkeiten scheint durchaus brei­ter angelegt zu sein, als die enge Schneise der Sprache, über die der Mensch sich zur Wirklichkeit durchschlägt, es zulassen würde.

Der Mensch wird nach Mauthner "just durch die Begriffssprache, die ihn vom Tiere unterscheidet, rettungslos der Logokratie unterworfen. "'0 Sprachkritik als Geschichte des Wortes weist einen erstaunlichen blinden Fleck dort auf, wo alle kulturelle Symbolik unter die Logik des Wortes subsumiert wird. Mauthner hat in seiner Kritik der Sprache wenig bis gar keine Energie darauf verwandt, das Jen­seits der Sprache anders als in einem mystischen Sinne namhaft zu machen. Er stellt nicht die Frage nach dem Zustand der Sprache in einem medientechnischen Sinn, wie sie die Erweiterung der Sprache durch die Schrift darstellt. Nicht nur die Buchstabenschrift, auch die musikalische Notation oder die logisch-mathe­matische Symbolik sind Bedingungen zur Auslagerung von kognitiven Funktio­nen unter Nutzung von physischen Medien oder Datenträgern, die ihrerseits wieder die geistigen Operationen beeinflussen. Es geht also nicht allein um eine Kritik der Wortfetische, wenn die Rückwirkung kommunikativer Objektivationen auf den menschlichen Geist zu diskutieren sind, sondern gerade auch um die Auslotung des gesamten (auch nonverbalen) Spektrums an kommunikativem Potential. Mauthner beschwört die "Weihestunden wortlosen Begreifens": "Über­all wo echte Kunst waltet ( . . . ) begreift ein Genie die eine Welt ohne Begriffe, oh­ne Sprache."" Solch solipsistisch gefaßte Exzentrizität der privilegierten Kommu­nikation mit der Wirklichkeit als Fluchtpunkt der Sprachkritik muß aber zwangs­läufig enttäuschen. Denn so von den Zwängen des Alltäglichen befreit, bildet sie als mystische Sehnsucht eine schwache Alternative zur Universalsprache, die al­les auszudrücken vermag. Immerhin findet Mauthner es nur legitim, von der Sehnsucht zu sprechen. Da Sprache ein kulturelles Gedächtnis ist, ist sie von Haus aus auf Geschichte, auf Vergangenheit gerichtet. Wie soll sie sagen, was noch nicht war? "Soll Sprache Zukunft werden, muß sie eine Sehnsucht aus­drücken lernen." " Zukunft aber ist die noch nicht verwirklichte Möglichkeit, das Virtuelle. Am Ende der Mauthnerschen Reflexion steht die Sehnsucht danach,

29 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen

Formen ( 1 92 3 - 1 929), op.cit., ders.: Versuch

über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur ( 1 944), Frankfurt: Fischer 1 990

30 Mauthner: Wörterbuch, op.cit., Band 2, S .307

3 1 Mauthner: Schweigen, i n : Sprache u n d Le­

ben, op.cit . . S .255

32 Mauthner: Wörterbuch, op.cit., Band 3,

S . l 64f, vgl. auch Band I, S . 592ff, Artikel ,Geschichte'.

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1 10 Jenseits von Sprache

,.ohne die Macht der Worte (die immer Gedächtnis sind ) " Zukunft auszudrücken. Das heißt nichts anderes, als die Gleichung Sprache = Gedächtnis = Vernunft zu transzendieren, um mit der uns unterdrückenden Vergangenheit zu brechen, und aus der Geschichte in die Nachgeschichte (Flusser) auszubrechen; der My­thos vom Menschsein jenseits der Sprache.

Zusammenfassung Hatte Kant gezeigt, daß Verstand erforderlich ist, um

überhaupt Erfahrungen machen zu können, so vollzieht Mauthner den radi­

kalen Schritt zur Sprachkritik, nach der die Wirklichkeit ganz von unserer Be­

griffswelt abstammt. Sollte in der Transzendenta lphi losophie der Verstand Er­

fahrung erst ermöglichen, so ermöglicht aus seiner Perspektive das Sprechen

erst die Gedanken. Wie die Natur keine Ordnung außerhalb des Verstandes

kennt, so sind die Kategorien

unserer Wirklichkeitserkenntnis subjektiv, und abhängig von den tradierten

Sprachformen. Mauthner entwirft ein sprachkonstruktivistisches Weltbildmo­

dell, mit dem er in kritischer Absicht zu zeigen versucht, daß das Denken sich

seiner eigenen sprachlichen Bedingungen nicht bewußt ist. Im Gegensatz zu

Wittgenstein glaubt er nicht daran, daß diese grundsätzlich sprachliche Me­

dia l ität von Weit im Sinne einer a l lgemeinen Grammatik dechiftrierbar ist; es

g ibt diese Form der Gewißheit nicht, sondern immer nur ein kulturrelatives

Sprechen (und Denken) als pragmatische menschliche Tätigkeit.

Die Sprachkritik wil l den Wortaberglauben zerstören, der darin besteht, daß

Worte ein Sein bezeichnen, das es nicht wirklich g ibt, a ls l inguistische Fest­

schreibung a ber doch falsche Vorstel lungen erzeugt, die problematische

Handlungsfolgen zeitigen.

N ützlich ist die Sprache nicht als Erkenntnis-, sondern nur als Orientierungs­

und Mittei lungsinstrument; wir würden in der Weit nicht zurechtkommen,

würden wir die Dinge nicht mit l inguistischen Mitteln festhalten. Mit den Wor­

ten ihrer Sprachen und der Begrifflichkeit ihrer jeweiligen Philosophie (als ei­

nem theoretischen Sprechen über Gedanken) gelangen die Menschen niemals

ü ber eine mehr oder weniger zufäl lige, historisch kontingente Darstel lung ih­

rer Weit h inaus. Immer wieder wird von Mauthner angedeutet, daß wir mit

der uns beherrschenden Logokratie brechen könnten; im befreienden Lachen

ü ber die Worte, im wortlosen Begreifen oder im künstlerischen Ausdruck.

Mauthner skizziert die Grenzen der Sprache als Medium, ohne a l lerdings den

entscheidenden Schritt über die ontologische Differenz von Real ität und deren

Repräsentation hinauszugehen.

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Exkurs 1 Kritik der Sprachabhängigkeitsthese

Sprechen und Sprache sind nicht eins. Die neuere Kognitionsforschung legt na­he, Sprache als einen Instinkt zu begreifen, aus dem sich eine Metainstitution zur alltäglichen Verhaltenskoordination entwickelt hat, in die Menschen sehr schnell (und als Kinder quasi automatisch) hineinwachsen können. Sprechen bedingt die Umgangsform, in der wir das alltägliche Verhalten abstimmen, Sprache oder Sprachlichkeit ist dann jene übersubjektive Instanz, die "den Strom des Zusam­menlebens in koordinierten Verhaltenskoordinationen (trägt) , aus denen sich in immer neuen Windungen eine eigene Lebensweise entwickelte."" Daraus ergibt sich aber die vorläufig unbeantwortete Frage, was es heißt, wenn wir Menschen kulturrelative Sprachspiele spielen. Wie erklärt sich diese Kultur in der Vielfalt ihrer Erscheinungen und der gleichzeitigen Differenzierung der individuellen Äußerung?

Sind die Bedingungen der Sprache auch die Bedingungen dessen, was mit der Sprache über sie selbst gesagt werden kann? Warum sucht die sprachkritische Philosophie das Jenseits der Sprache? Mit dem Argument, die sprachlichen Sät­ze würden schlicht die Vermittlerrolle zwischen dem Subjekt der Erkenntnis und dem Erkannten selbst einnehmen, hält man die Dignität und die Bedeutung der Sprache in der Philosophie für schlechthin gegeben." In einer Disziplin, die leicht ins Reich der Ideen und des reinen Geistes abhebt, macht es durchaus Sinn, auf die Wichtigkeit von propositionalen Sätzen hinzuweisen, vor allem für einen Be­reich, in dem man sich im akademischen Sinn mit ,Argumenten' auseinander­setzt. Darüber hinaus fällt es uns aber relativ leicht, ein Denken ohne Sprechen anzunehmen, schon schwerer wird es, einen von der Sprache befreiten Gedan­ken zu denken. Will man sich gegen eine Instrumentalisierung der Sprache ver­wenden, dann macht es sogar sehr viel Sinn, den Zweck der Sprache nicht auf den Ausdruck von Worten oder auf die Mitteilung von Ideen zu beschränken, sondern bei der Frage nach dem Zusammenhang von Denken und Sprache zu spezifizieren: welches Denken, welche Sprache? Warum sollte es nicht möglich sein, sich Ideen auch philosophischer Natur vorzustellen, die nicht den Grenzen

des Verbaldiskurses mit seinen spezifischen Geltungsansprüchen entsprechen? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen der Sprachverwendung und dem phi­losophischen Weltbild?

33 Humbeno Maturana: Was ist erkennen?

München: Piper 1 997, S. l 88 34 !an Hacking: Die Bedeutung der Sprache für

die Philosophie, Königstein: Hain 1 984

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1 1 2 Kritik der Sprachabhängigkeitsthese

Wir erinnern uns an Humboldts Behauptung von einer linguistischen Struk­tur der Wirklichkeit, daß das Denken nicht nur von der Sprache generell abhän­gig sei, sondern "auch von jeder einzelnen bestimmten."" Jede spezifische Spra­che wäre demnach Ausdruck eines spezifischen Weltbildes, wobei es naheliegt Ausdrucksfähigkeit und Denkmöglichkeit zu identifizieren. Über Denkmögliches sich zu unterhalten wird sinnlos, wenn es dafür keine sprachlichen Begriffe gibt. Oder umgekehrt formuliert: je differenzierter der sprachliche Ausdruck, desto differenzierter das subjektive Wahrnehmungs- und Denkvermögen. Oder: sprachliche Ausdifferenzierung zeugt von subtileren Denkprozessen als sprachli­che Eindimensionalität. Mit dem Hinweis darauf, daß der Fuchs kein Hund ist, daß eine Gattung eben mit mehreren Tierarten vertreten sein kann, der Mensch als Gattung gegenwärtig aber nur mit einer einzigen Art vertreten ist, zeigte Viiern Flusser, daß uns in diesem Bereich ganz einfach die grundsätzliche Ver­gleichsmöglichkeit fehlt.'• Könnten wir uns mit anderen Menschenarten verglei­chen, würde aufgrund zu vermutender physischer Differenzen nicht nur die Sprache in Frage stehen, sondern das Kommunikationssystem überhaupt und damit auch das, was wir gewöhnlicherweise unser ,Denken' nennen.

D ie Frage, ob dieses Denken wirklich eine Funktion der Sprache ist, bleibt vor­erst offen. Dennoch gibt es zahlreiche kulturpessimistische Spekulationen über Diskurskontrolle durch Propaganda, politische Euphemismen, Werbung und ,die Medien' ganz allgemein; im Hintergrund der in vielen Variationen geäußerten konservativen Befürchtung, daß in unserer Kultur ein massenmedial induzierter Sprachzerfall stattfinde, steht die These, daß unsere Gedanken von den Worten und ihrer Verwendung abhängig sind. Diese Idee der Manipulation durch die au­diovisuellen Massenmedien, deren Funktionsbedingung eine oberflächliche Sprachverwendung darstellt, sitzt ziemlich tief. Umgekehrt stellt man sich vor, es wäre das Denken in bestimmten Kontexten, beispielsweise im geschlechtsspezi­fischen Zusammenhang, durch eine ideologische Reform der Sprachverwendung zu ändern. Zu den Grundlagen dieser Ansätze zählt ein kommunikationsanthro­pologischer Dauerbrenner, die sogenannte Sapir-Whorf-Hypothese, nach der die Kategorien der Welterkenntnis, die dem Menschen durch seine Sprache er­schlossen werden, seine Gedanken bestimmen würden, bzw. daß die Unter­schiede zwischen den Sprachen auch Unterschiede im Denken ihrer Sprecher implizieren. 37

35 Humboldt: Über die Sprache, op.cit., S.24 36 Viiern Flusser: Menschwerdung, in: Vom

Subjekt zum Projekt, Schriften Band 3, Bensheim: Ballmann 1 994, S . l 69ff

37 Zu dieser Kritik am linguistischen Determi­nismus vgl. .Mentalese", in Steven Pinker: Der Sprachinstinkt. Wie der Geist die Spra­che bildet, München: Knaur 1 998, S.65-96, hier 5.67

Page 113: Medienphilosophie Hartmann

Kritik der Sprachabhängigkeitsthese 1 1 3

Worum geht es dabei? Als Ende der fünfziger Jahre einige Aufsätze des 1 94 1 verstorbenen Benjamin Lee Whorf herausgegeben wurden, feierte man diesen als bedeutenden Linguisten und nannte seinen Namen zusammen mit dem sei­ne Lehrers Edward Sapir ( 1 9 3 1 in Yale) und Pranz Boas, dem 1 942 verstorbenen Anthropologen, der in mehreren Expeditionen die Kulturen der nordamerikani­schen Indianer und die der Eskimos untersucht hatte." Das intellektuelle Argu­ment. das Boas und seine Schüler (darunter auch Margret Mead) vertraten, war wichtig: nichtindustrielle und schriftlose Kulturen sind keineswegs primitiv, son­dern verfügen ebenso über elaborierte Sprach- und Wissenssysteme, ein Beweis für die Komplexität ihres Weltbildes. Die daraus folgende Spielart der Sprachab­hängigkeitsthese kann als Teil eines kritisch intellektuellen Arguments gegen ein eurozentrisches Wissenschaftsbild gesehen werden.

Die deutsche Erstübersetzung von Whorfs Aufsätzen ging in den sechziger Jahren sogleich über jährliche Neuauflagen in die Zehntausende. Wer hätte nicht von der These gehört, daß in einer Kultur nur über das nachgedacht werden kann, wofür diese Kultur auch die entsprechenden sprachlichen Begriffe bereit­stellt? Daß demnach die Eskimos unzählige Wörter für Schnee haben, andere Völker aber nur ganz wenige, oder daß die indianische Hopi-Sprache keine Zeit kennt. D ie Attraktivität dieser Thesen ergibt sich, wie Pink er sagt, schlicht aus der Tatsache, daß wenn die grundlegenden Kategorien der menschlichen Realität nicht in der Welt an sich zu finden sind, sondern durch die jeweilige Kultur vor­gegeben werden, diese Determinismen dann auch mit guten Gründen kritisier­bar wären.

Seltsam genug, daß ein zirkuläres Beweisschema für die These vom Sprach­determinismus des Denkens akzeptiert bzw. anderes Sprechen mit anderem Den­ken gleichgesetzt wurde. In der Folge vieler philosophischer Spekulationen über Sprechen und Denken beeindruckten natürlich die empirischen Forschungser­gebnisse der Anthropologen. Nur sind Daten über die Sprache nicht unbedingt Daten über das Denken. Die Wissenschaftler wollten vor allem den Eigensinn al­ler Kultur hervorheben und sich biologischer Begründungen entsagen: Sprache ist kein Instinkt oder etwas ähnlich Tierisches (wie noch Herder gemeint hatte) , sondern eine definitive Kulturleistung. Alles ist Konvention. So schreibt Sapir als Konklusion aus der Beobachtung, daß sich in ,.allerprimitivsten" Indianerkultu­ren keine lautmalenden Worte finden, über das Wesen der Sprache: .. Sprache ist

38 Benjamin Lee Whorf: Language, Thought

and Reality, Cambridge Mass. 1 956, zit. nach

der deutschen Ausgabe: Sprache, Denken, Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie. Reinbek: Rowohlt

I 963; Edward Sapir: Language, New York

1 92 1 , zit. nach der deutschen Ausgabe: Die Sprache. Eine Einführung in das Wesen der Sprache, München: Hueber I 972

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1 1 4 Kritik der Sprachabhängigkeitsthese

eine ausschließlich dem Menschen eigene, nicht im Instinkt wurzelnde Methode zur Übermittlung von Gedanken, Gefühlen und Wünschen mittels eines Systems von frei geschaffenen Symbolen. Diese Symbole sind akustisch und werden mit Hilfe der sogenannten ,Sprechorgane' hervorgebracht. "39

Whorf seinerseits, der eigentlich autodidaktischer Forscher war, hatte keine große Theorie, sondern mehrere Papers geschrieben, deren Thesen erst sehr viel später einer wissenschaftlichen Überprüfung unterzogen und teilweise als wis­senschaftlicher Hoax entlarvt worden sind.40 Bekannt sind seine Beobachtungen über die Hopi-Sprachen, die sehr konjektural angelegt sein sollen. Zentral ist da­bei der Sprachrelativismus aller unser Naturbeschreibungen: "Die Formulierung von Gedanken ist selbst kein unabhängiger Vorgang, der im alten Sinn des Wor­tes rational wäre, sondern wird von der jeweiligen Grammatik beeinflußt." Whorf schreibt, das "linguistische System" sei kein "reproduktives Instrument zum Ausdruck von Gedanken, sondern formt selbst die Gedanken."41 Die Gram­matik formt unsere Gedanken - sie bestimmt, wie wir die uns umgebende Natur analysieren. Kein Individuum besitzt die Freiheit, Natur völlig unparteiisch zu beschreiben.

Alle Bedeutung entstammt demnach einem kulturrelativen linguistischen Ordnungssystem. Daß Sprache unser Denken limitiert, von der Verschiedenheit der Sprachen also auf die Verschiedenheit des Denkens schließen läßt, würde aber j ede interkulturelle Verständigung und letztlich auch ein universalistisches Weltbild unmöglich machen: die mittels der linguistischen Relativitätsthese in­tendierte Aufklärung verkehrt sich in ihr Gegenteil. Daß Denken von einem Äußeren gänzlich abhängt, ja daß ohne Sprache kein Denken möglich wäre, die­se Grundannahme fügt sich dabei übrigens bequem in das behavioristische Grundschema der amerikanischen Wissenschaft der vierziger/fünfziger Jahre (wie auch das Kommunikationsmodell nach Shannon und Weaver) . Es ging for­schungspolitisch um die Durchsetzung von Wissenschaftlichkeit, um die Lingui­stik als eine "exakte" Wissenschaft. Diese Bemühung vermischt sich mit der gleichzeitigen Absicht, einem wesentlichen Ergebnis der modernen Kulturan­thropologie gerecht zu werden: daß Sprache, Rasse und Kultur in keinem not­wendigen Zusammenhang stehen (Sapir) und daß der Glaube an die Überlegen­heit des europäischen Sprachtyps wissenschaftlich nicht haltbar ist." Auch hatte

39 Sapir: Die Sprache, op.cit., S. 1 7 40 Laura Martin: Eskimo Words for Snow, in:

American Anthropologist 88, 1 986; Geoffrey Pullum: The Great Eskimo Vocabulary Hoax, Chicago 1 9 9 1 - beide zit. nach Pinker: Der Sprachinstinkt, op.cit., S.75f

41 Whorf: Sprache, Denken, Wirklichkeit, op.cit., S . l 2

42 Heidegger hat bekanntlich die Grenzen der Sprache insofern philosophisch verbrämt, daß er sich zur oft kolportierten Behauptung verstieg, nur wer deutsch spreche, könne richtig philosophieren. In der philosophi-

Page 115: Medienphilosophie Hartmann

Kritik der Sprachabhängigkeitsthese 1 1 5

sich Whorf i n vielem, was e r als empirische Tatsachen über ethnische Sprachen präsentiert hatte, aufgrund einer unzureichenden wissenschaftlichen Basis ge­irrt. Seine berühmte These von der Sprachdeterminiertheit des Denkens unter­liegt einem Zirkelschluß, der den Kulturrelativismus von Sprache und Denken nicht überzeugend zu begründen vermag. Der linguistische Determinismus wird mittlerweile als eine .,konventionelle Absurdität" eingeschätzt, und gegenwärti­ge Kongitionswissenschaftler behaupten nicht nur die Existenz "zahlreicher Ar­ten nonverbalen Denkens", sondern auch, durch ihre Experimente und Unter­suchungen mittlerweile besser über das Denken Bescheid zu wissen, als dies in vergangeneo Forschergenerationen der Fall gewesen ist." Die Überbewertung der Sprache wäre dadurch erklärbar, daß sie gegenüber dem Denken schlicht greifbarer gewesen ist: Sprache ist der empirischen Untersuchung zugänglich. Ei­ne Introspektion in den Kopf eines Gegenübers ist uns kaum möglich, wohl aber eine Rekonstruktion der sprachlichen Äußerungen einer Person. Die These von der linguistischen Relativität unserer Weltsicht ist damit zumindest soweit frag­würdig geworden, daß die zahlreichen kulturpessimistischen Behauptungen über einen Kausalzusammenhang zwischen der Medienentwicklung und einem kulturellen Sprachverlust (der immer als Indiz für den Verlust des Denkens fun­giert) kritisch auf ihre Grundlagen hin zu überprüfen wären, auch wenn sie sich auf eine angeblich solide empirische Basis beziehen.

sehen Privilegierung des Deutschen sind

Parallelen zum linguistischen Determinis­

mus zu erkennen: ,.Vor einiger Zeit nannte

ich, unbeholfen genug, die Sprache das

Haus des Seins. Wenn der Mensch durch

lieh in einem ganz anderen Haus als der ost­

asiatische Mensch." - vgl. Martin Heidegger:

Aus einem Gespräch von der Sprache

( 1 953 /54), in: ders.: Unterwegs zur Sprache,

op.cit., S. 90 seine Sprache im Anspruch des Seins 43 Pinker: Der Sprachinstinkt. op.cit., S. 79 wohnt, dann wohnen wir Europäer vermut·

Page 116: Medienphilosophie Hartmann

Abbildung 6 Rene Magritte: Skizze zu , The Treachery of Images' (1929)

Page 117: Medienphilosophie Hartmann

6. Kapitel - Dekon struktion des sprach lichen Zeichens.

Peirces Neubegründung einer Logik der

Kommunikation (Semiotik)

6.1 . Was ist ein Zeichen?

.. We are, doubtless, in the main logical animals,

but we are not perfectly so. "

- Charles S . Peirce

Findet sich bereits bei Leibniz eine nachdrückliche Erinnerung daran, daß "die Worte nicht nur der Gedanken, sondern auch der Dinge Zeichen seien, und daß wir Zeichen nötig haben, nicht nur unsere Meinung anderen anzudeuten, son­dern auch unsern Gedanken selbst zu helfen. " ' - so folgt daraus die Frage nach der Stellung dieser Zeichen und ihrem Verhältnis zur Sprache. Sprachzeichen sind Teil einer größeren Familie von Symbolen, aus denen sich die kulturelle Welt der Bedeutungen zusammensetzt und durch die sie auch zusammengehal­ten wird. Daß Zeichen und Bezeichnetes mehr oder weniger weit auseinander­fallen können, zeigt nicht nur die Sprache jedes beliebigen fremden Kulturkrei­ses, sondern auch die Parallelität verschiedener symbolischer Systeme innerhalb einer Kultur. Jedes davon besitzt eine eigene Medialität, Kunst etwa vermittelt uns die Welt anders, als es eine wissenschaftliche Formel tut oder der umgangs­sprachliche Ausdruck. Jede symbolische Subkultur erzeugt ihre eigenen Inter­pretationskonstrukte. 2

Durch die Setzung konventioneller Zeichen bezieht sich der Mensch allerdings weniger auf eine objektive Realität, als er vielmehr das, was mit Wirklichkeit ge-

G.W. Leibniz: Von der Sprache im Allgemei­nen - Unvorgreifliche Gedanken, betreffend

die Ausübung und Verbesserung der teut­

schen Sprache, Zitat vgl. http://www.welt­kreis.com/mauthner/histlleib J .html

2 Mythos, Kunst und Wissenschaft sieht Ernst Cassirer denn auch als die drei durch Ver-

wendung konventioneller symbolischer Zei­

chen bedingten Formen der kulturellen

Wirklichkeit, vgl. Cassirer: Philosophie der

symbolischen Formen, Band I, op.cit.

Page 118: Medienphilosophie Hartmann

1 18 Dekonstruktion des Zeichens

meint ist, für sich erst konstruiert. Daneben gibt es Systeme von natürlichen Zei­chen, deren Bedeutungsspielraum enger umgrenzt sein mag, womit sich vor al­lem aber wieder die Frage aufdrängt, welche Rolle das Zeichen als solches spielt - als Glied in der Kette der Kommunikation oder als Element eines Regelkreises, als möglicherweise E igensinn produzierende Vermittlungsinstanz. Der grundle­genden Frage von Zeichen als Zeichen, ihrer Logik als Theorie der Zeichen ( und we­niger als eine Erörterung ihrer Funktion in den Prozessen der Darstellung oder der Mitteilung) widmet sich die Semiotik, wie sie im Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts von dem amerikanischen Logiker Charles Sanders Peirce neu be­gründet wurde.'

Die Grundfrage nach dem Vermittlungsgrad oder dem Maß der Verbindung zwischen Zeichen und bezeichneter Sache ist philosophisch nicht neu.' D ie Vor­stellung einer puren oder reinen Wahrnehmung wäre naiv. Jede Wahrneh­mungsevidenz unterliegt komplexen Selektierungsprozessen, und damit gewis­sen Determinationen evolutionsbiologischer und historischer, oder kognitiver und kultureller Natur. Prozesse der Kommunikation spielen dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die aristotelische Kategorienlehre, ihre Reformulierung in Kants transzendentalem Ansatz, und auch die Zeichentheorie von Peirce kön­nen als Versuche betrachtet werden, solche Prozesse zu rekonstruieren und ihre allgemeinen Grundlagen zu explizieren. Mit anderen Worten betrifft dies die Art und Weise, wie ein Bewußtseinsgegenstand dem Bewußtsein gegeben ist. sowie die Begriffe, die wir von den Dingen haben, ohne die wir sie nicht unterscheiden und auch nicht über sie sprechen könnten.

Vielleicht hilft uns folgende Überlegung, dies zu verdeutlichen. Ein Wahrneh­mungsbild von der Welt ist nicht einfach das Abbild dieser Welt, sondern selbst schon ein Darstellung, deren Konstruktionsmoment es mit zu entziffern gilt. So­ziale und kulturelle Konventionen sorgen für Zuordnungsvorschriften zwischen den Zeichen, den sogenannten Codes, die Bedingungen unserer Kommunikatio­nen sind. Ohne die Zeichen könnten wir die Welt nicht denken, und ohne die Codes, die Zeichen zu Aussagen verknüpfen, nicht über sie kommunizieren. Der Code ist eine Zuordnungsvorschrift zwischen Zeichen, beispielsweise (aber nicht nur) als soziale oder kulturelle Konvention, die festlegt, was Zeichen im konkre­ten Gebrauch bedeuten. Wichtig ist an dieser Stelle schon die Anmerkung, ·daß die Verbalsprache hier nicht als der menschliche Ureode gesehen werden darf, aus dem alle Bedeutung stammt und in dem alle Interpretation mündet. Es gibt genügend funktionierende Archetypen der Wahrnehmung, die auf präsprachli-

Vgl. .Idee und Grundriß der Peirceschen Se- 4 Vgl. die Rekonstruktion von Umberto Eco: miotik", in Klaus Oehler: Sachen und Zei- Semiotik und Philosophie der Sprache.

chen. Zur Philosophie des Pragmatismus. München: Fink I 985

Frankfurt: Klostermann I 995. 5.77-93

Page 119: Medienphilosophie Hartmann

Peirce 1 1 9

ehe Codierungen verweisen. Jeder kulturelle Zeichenvorrat ist, ebenso wie die zugehörigen Codierungsregeln, variabel hinsichtlich Zeit und Ort des Gebrauchs, sowie der inter- und der intrakulturellen Gebrauchsform.

Der Gebrauch von Zeichen ist mithin auf mehreren Ebene festgelegt; wichtig ist die Feststellung, daß ein Zeichen nicht in absoluter, sondern in eher relativer Weise für etwas steht. Wie es das aber im konkreten Fall tut, ist dann eine ent­scheidende Frage, wenn es Probleme der Kommunikations- und der Interpreta­tionsverhältnisse zu klären gilt. Denn bekanntlich ist die Sache nicht immer so einfach, daß es unmittelbare Zeichen für die Dinge gibt, bzw. daß diese zum Zweck universaler Verständigung schon gefunden werden könnten, wie es bei­spielsweise Bischof Wilkins mit seinem Vorschlag zur Entwicklung einer Real­schrift gemeint hatte.' Wie aber wäre es, die Zeichen je nach Art ihrer Verwen­dung klassifizieren zu können? Ließen sich viele Kommunikationsprobleme nicht genau dadurch lösen, daß man die Konsistenz der Zeichenverwendung un­ter Bezug auf ein allgemeines Schema der Zeichenklassen untersucht? Einen Ra­ster gewissermaßen, der Verortungen erlaubt, von denen aus Sinn und Bedeu­tung von problematisch gewordener Kommunikation geklärt werden kann? Ge­nau das war das Projekt von Peirce, der damit die Logik der Forschung im Bezug auf ihre kommunikative Basis neu begründen wollte. Dazu muß die vermeint­lich einfache Frage, wie sich Bezeichnetes und Bezeichnendes zueinander ver­halten, differenziert werden: ein Zeichen und sein Objekt, das Bezeichnete, defi­nieren sich aus einem Geflecht von Bezügen, das Peirce wie folgt charakterisiert: "I am now prepared to give my division of signs, as soon as I have pointed out that a sign has two objects, its object as it is represented and its object in itself. It has also three interpretants, its interpretant as represented or meant to be un­derstood, its interpretant as it is produced, and its interpretant in itself. Now sig­ns may be divided as to their own material nature, as to their relations to their objects, and as to their relations to their interpretants. "•

Die Einteilung in verschiedene Zeichenklassen bei Peirce ist also eher kom­plex, da es ihm darum ging, die Beziehungen zwischen Zeichen und Bezeichne-

John Wilkins: Essay Towards A Real Charac· ter ( 1 668), zit. nach Umberto Eco: Die Gren· zen der Interpretation. München: Hanser 1 992 - In Gullivers Reisen machte sich Jonat­

han Swift über die Versuche lustig, ein un­mittelbar konkretes, visuelles Alphabet zu schaffen: .Da die Wörter nur Bezeichnun­gen für Dinge sind, wäre es sehr viel einfa­cher. wenn alle Menschen die Dinge bei sich führten, die sie brauchten, um auszu-

drücken, worüber sie jeweils sprechen wol­len.· Der offensichtliche Nachteil besteht in dem Zwang, stets riesige Säcke mit sich her­umschleppen zu müssen. Zit. nach Eco: Su­che nach der vollkommenen Sprache, op.cit., 5 . 1 4 Charles S . Peirce: Letters t o Lady Welby, 1 904, in ders.: Selected Writings, ed. by Phi­lip P. Wiener, New York: Dover 1 966. 5. 390

Page 120: Medienphilosophie Hartmann

120 Dekonstruktion des Zeichens

tem möglichst präzis und für möglichst alle relevanten Fälle auszuweisen.' Grundsätzlich geht es immer darum, beispielsweise ein Wahrnehmungsobjekt als ein bestimmtes semiotisches Konstrukt herauszuarbeiten. Die Zeichenqualität wird von drei Ebenen abhängig gemacht: .,.. beginnend mit einer hohen Korrespondenz zwischen den Merkmalen des Zei­

chens und den Merkmalen dessen, was es bezeichnet. Das nennt Peirce die Ikonizität des Zeichens (ein mentales oder reales B ild, beispielsweise die Abbil­dung eines Apfels - das Zeichen als Qualizeichen) .

.,.. In der Indexikalität des Zeichens hingegen drückt sich der Grad seines Verweis­charakters aus, der mehr oder weniger deutlich ausfallen kann, beispielswei­se als physischer oder als kausaler Zusammenhang (Rauch steht für Feuer, das Wort ,Apfel' für die Frucht, etc. - das Zeichen als Sinzeichen) .

.,.. In der Symbolizität des Zeichens schließlich drückt sich die indirekte, durch ei­ne auch willkürlich festgelegte Beziehung zum Gegenstand aus (sprachlicher Zeichenzusammenhang, der uns Aussagen über den Apfel als Frucht machen lassen; Hypothesen, Theorien etc. - das Zeichen als Legizeichen) .

6.2. Zeichen als Weise des Weltbezugs (Semiosis)

Je nach Verwendungszweck und Kontext kann das Zeichen als Ikon, als Index, oder als Symbol aufgeiaßt werden, das heißt die Korrelation zwischen Zeichen und Bezeichnetem ist von der Praxis her historisch, sozial, kulturell variabel. Da­bei gilt es hervorzuheben, daß diese Untergliederung des Zeichenaspekts für jede Dimension des Zeichenbegriffs wiederholt werden kann: für das Zeichen in sei­ner ,Zeichenhaftigkeit', für das Zeichen in Beziehung zu seinem Objekt, und für das Zeichen in Beziehung zu seinem Interpretanten.• Überdies nahm Peirce im Anschluß an Kant drei kategoriale Ebenen• an (Einheit, Vielheit, Allheit) , im Be­zug auf die menschliche Wirklichkeit ist das die phänomenale Ebene oder die Welt der Wahrnehmung, die Verweisungsebene oder die Welt des Bewußtseins

7 Charles S. Peirce: Logic as Semiotic: The Theory of Signs ( 1 893 etc.), in: Philosophical Writings of Peirce, hg. von J. Buchler. New

York: Dover 1 9 5 5, S.98- 1 1 9

s Vgl. Oehler: Idee und Grundriß, l.cit., 5.821.

Ein starker Objektbezug bedeutet meist ei-

nen hohen Grad an lkonizität und eine 9

niedrige Arbitrarität, wodurch diese in der oberflächlichen Rezeption besonders gern

als ,Bildhaftigkeit' darstellt; indes sind die Zeichenfunktionen fast nie ,rein' gegeben, sondern gemischt; so ist beispielsweise in ei-

nem Kunstwerk bei hoher Jkonizität eine gleichzeitig hohe Arbitrarität möglich. Zur Gefahr der naiven Interpretation vor allem

hinsichtlich der Ikonizität vgl. Umberto Eco:

Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zei­chen, München: Fink 1 987, S.254ff Die in der philosophischen Theoriebildung immer wiederkehrende Dreiteilung hat un­durchschaute christliche Wurzeln, vgl. dazu den Abschnitt . Trinilarisches Denken·. in

Gellner: Pflug, Schwert und Buch. op.cit., S . I 8f

Page 121: Medienphilosophie Hartmann

Peirce 121

von etwas, und die Interpretationsebene oder die Welt der Abstraktion. Das führt zur erwähnten Komplexität, zu einer Vielzahl möglicher Zeichenklassen; denn aus den drei triadischen Unterteilungen ergeben sich in Kombination zehn Haupt-Zeichenklassen, auf die wir aber nicht näher eingehen wollen. Wichtig ist in unserem Zusammenhang, daß hier das Wesen der Repräsentation als solches ins Zentrum rückt, wobei Repräsentation eine nach bestimmten Regeln herge­stellte Relation bedeutet. Es gibt schließlich viele Möglichkeiten, wie Zeichen und Bezeichnetes in Beziehung zueinander stehen.

Die Zeichenrelationen folgen analog der drei kategorialen Ebenen der unbe­stimmten Möglichkeit, der bestimmten Wirklichkeit, oder der vermittelten Not­wendigkeit. Mit einer Klassifizierung von Zeichenklassen allein wäre aber nicht besonders viel gewonnen. Doch schon mit der oberflächlichen Darlegung des se­miotischen Ansatzes zeigt sich die mögliche Breite der Kontextualisierung, die ei­ne umfassende Bedeutungsanalyse von Äußerungen verlangen würde: aus ihr folgt eine wesentlich breitere Auffassung dessen, was gewöhnlich eine ,Sprache' genannt wird. Festzuhalten ist die Tatsache, daß diese Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem sich nicht auf Substanzen und Inhalte bezieht, sondern auf variable kognitive Operationen: das Denken selbst steht im Bezug entweder zu Phänomenen, zu Relationen selbst, oder zu Klassifikationen. Es folgt also eher dem Wesen der Repräsentation als dem Wesen der (verbalen) Sprache. Oder wir differenzieren, wie Charles Morris im Anschluß an Peirce vorgeschlagen hat, an dieser Stelle den Sprachbegriff als solchen zugunsten seiner semiotischen Erwei­terung: "Eine Sprache im vollen semiotischen Sinne ist jede intersubjektive Men­ge von Zeichenträgern, deren Gebrauch durch syntaktische, semantische und pragmatische Regeln festgelegt ist." ' 0

Was heißt es nun, daß die Welt zeichenhaft ist und zudem noch ein Prozeß, in dem ständig codiert und decodiert wird? Peirce nannte diesen Prozeß die Semio­

sis - "an action, or influence, which is, or involves, a cooperation of three subjec­ts, such as a sign, its object, and its interpretant, this tri-relative influence not being in any way resolvable into action between pairs . "" Diese drei Pole des Zei-

10 Charles W. Morris: Grundlagen der Zeichen­theorie I Ästhetik der Zeichentheorie

( 1 9381 1 939): Frankfurt: Fischer 1 988, S .59f - Morris bewegt sich allerdings in einer für

seine Zeit typischen behavioristischen Re­

duktion, wenn er .. Vernunft mit Zeichenre­aktionen gleichsetzt, Bewußtsein mit Zei­chenreferenz und rationales (oder .freies') Verhalten mit der Verhaltenskontrolle durch

die Vorwegnahme der Folgen mit Hilfe von Zeichen . . . ·, ebd . . S.68

11 Charles S. Peirce: Pragmatism in Retrospect: a last Formularion ( 1 906), in: Philosophical Writings, op.cit., S.268 - .. Die Semiose ist die Kooperation, die zwischen dem Zeichenträ­

ger, dem Zeichenobjekt und dem Zeichenin­

terpretanten stattfindet und so eine triadi­

sche Zeichenrelation herstellt.· - Oehler:

.. Das Zeichen als dynamisches Ereignis", i n ders.: Sachen u n d Zeichen, op.cit., 5 .95

Page 122: Medienphilosophie Hartmann

1 22 Dekonstruktion des Zeichens

chens erschließen sich leichter, wenn man akzeptiert, daß die dyadische Relati­on Zeichen/Bezeichnetes nicht schon alles gewesen sein kann. Ein Zeichen ist nach Peirce Representamen, weil es grundsätzlich einmal für etwas anderes steht. Dies tut es aber vor allem für jemanden, und zwar in einer ganz bestimmten Art und Weise, wobei es keine ganz deckungsgleichen Interpretationen gibt (keine zwei Menschen sprechen dieselbe Sprache) : "A sign, or representamen, is some­thing which stands to somebody for something in some respect or capacity. It adresses somebody, that is, creates in the mind of that person an equivalent sign, or perhaps a more developed sign. That sign which it creates I call the interpretant of the first sign. The sign stands for something, its object." ' 2 Der unaufhörliche Pro­zeß der Semiosis spielt sich also zwischen drei Polen ab, die Bedeutung abgrenzen aus dem Zusammenspiel der Zeichenhaftigkeit als solcher (syntaktische Ebene) , sowie dem jeweilig aktualisierten Bezug des Zeichen auf ein Bezeichnetes (se­mantische Ebene) im Hinblick auf eine mögliche oder tatsächliche Verwendung (pragmatische Ebene) .

Dieser Entwurf berührt die logische Grundlage von Kommunikation, ohne deren Anwendungsebene auszuklammern, und wir sehen sogleich, daß es nicht damit getan ist zu konstatieren, ein Zeichen stehe für etwas und der Code lege fest, wie es das tut. Im Konzept der Semiosis steckt vielmehr eine Aktivität, die Kommunikation als Zeichenvermittlung einerseits in Beziehung mit der mensch­lichen Auffassung von Natur setzt und andererseits erkennen läßt, daß eine grundlegende Relationalität in all den Repräsentationsverhältnissen besteht, wel­che die Welt ausmachen; letzteres gilt allgemein, also auch in Kommunikations­prozessen, die kein menschliches Bewußtsein involvieren. Dies klingt im ersten Augenblick verwirrend, da von Kommunikation üblicherweise dann die Rede ist, wenn bewußt codierte Signale über ein Medium (einen Kanal) an einen Emp­fänger gesendet werden. Die Semiotik bietet jedoch einen umfassenderen Begriff von Zeichenverwendung in der Kommunikation, da ein elementarer Kommuni­kationsprozeß selbst wieder interpretiert und damit zum Zeichen werden kann.

Die verbal gesprochene Sprache ist ein System von Zeichen, das innerhalb ei­ner bestimmten Kultur Gültigkeit hat, welche dann als ein "System eines Sy­stems von Zeichen" betrachtet werden muß. Die triadische Zeichenrelation be­zeichnet nichts weniger als ein einheitliches Grundprinzip, das eine unendliche Zeichenkette innerhalb einer Vielzahl semiotischer Systeme und Untersysteme beherrscht. Für jede Interpretation sind dann Alternativen denkbar; wenn etwa eine bewußte Äußerung auf der sprachlichen Ebene gemacht wird, werden ver-

12 Charles S. Peirce: Logic as Semiotic: The Theory o! Signs, in: Philosophical Writings, op.cit., S.99

Page 123: Medienphilosophie Hartmann

Peirce 1 23

schiedenste Bedeutungsdimensionen mit kommuniziert, wie der kulturelle Kon­text, in dem diese Sprache gilt, der psychische Subtext, der die Botschaft des Sprechers möglicherweise verzerrt, eine implizite Zielsetzung, die vielleicht non­verbal ausgedrückt wird, usw. Die alphabetische Schrift wiederum, die ober­flächlich betrachtet eine feste Zeichenbeziehung suggeriert, ist weder das einzige noch das beste Beispiel für die Semiosis, sie stellt nur eine von vielen Möglich­keiten dar, Zeichen und Bezeichnetes zueinander in Beziehung zu setzen.

6.3. Kultur als Zeichenprozeß

Der semiotische Ansatz von Peirce besagt, daß die ,Welt' aus ineinanderfließen­den Zeichenbezügen besteht, die irgendwie systematisch organisiert und daher rekonstruierbar sind. D ie Semiosis macht die jeweils relative Unbestimmtheit im Zeichenbezug zur relativen Bestimmtheit - philosophisch ausgedrückt schafft sie den Übergang von Potentialität zu Aktualität. Die Bandbreite dieser Zeichenauf­fassung ist groß, da noch das biologische Wachstum (Decodierung eines geneti­schen Codes) als ,Kommunikationsprozeß' gesehen werden könnte, vor allem aber deshalb, weil jeder Zeichenprozeß Ausgangspunkt von weiteren Zeichen­prozessen sein kann: nach Peirce eine Iteration, die Wiedereinspeisung des Er­gebnisses eines Zeichenprozesses, die Reinterpretation der Interpretation, die Re­codierung der Codierung, aber auch die Determinierung von Erkenntnis durch frühere Erkenntnisse. Nichts anderes als das also, was generell gesprochen ,Kul­tur' ausmacht.

Wie aber kommen wir eigentlich praktisch damit zurecht, wenn hier doch un­endliche Verschachtelungen möglich wären? Gewohnheit und kulturelle Kon­ventionen ersetzen im Konzept von Peirce den Bezug auf eine absolute Gewißheit, weshalb er (neben William James) auch als Begründer des Pragma­tismus gilt. Zwar gibt es eine potentiell unendliche Zeichenkette, die Deco­dierungsprozesse erfolgen aber aufgrund von kulturell eingewöhnten Regeln, die nicht immer explizit sind, sondern im Alltag unbewußt und reflexartig zur An­wendung kommen. Hierin liegt ein großes Versprechen der Semiotik, das sie als Kulturwissenschaft in den letzten Jahrzehnten immer populärer werden hat las­sen: in einer Analyse der Decodierungsprozesse die geheimen Botschaften und das unbewußte kulturelle Inventar aufzudecken. "

13 Diese Popularität erreichte ihren Höhepunkt

in den achtziger Jahren, als die Semiotik den

Strukturalismus als intellektuelle Mode ab­

gelöst haue. Das Versprechen einer endgülti­

gen Entschlüsselung aller kulturellen Codes

führte zu grotesken medialen Rezeptionen

der Semiotik als einer Art geheimer Super­

wissenschaft, beispielsweise in der Vorstel­

lung von Umberto Eco als . The Code Brea­ker" als Coverstory von Newsweek (Nr.

Page 124: Medienphilosophie Hartmann

124 Dekonstruktion des Zeichens

Tatsächlich ist es so, daß die Behauptung eines Linguistic Turn in der Philoso­phie des zwanzigsten Jahrhunderts 14 als viel zu eng empfunden wurde, um der Vielfalt der kulturellen Phänomene gerecht zu werden, über die es sich nachzu­denken lohnt. Ein Semiotic Turn (Oehler) ermöglicht hingegen, die Sprachver­wendung als einen Zeichenprozeß unter anderen zu sehen, wobei gegen die Do­minanz der hermeneutischen Methoden in den Geisteswissenschaften - ähnlich schon wie im französischen Strukturalismus, aber weniger restriktiv - durch die Analyse von Regeln der Zeichen die ,geistigen' Phänomene nach sozio-kulturel­len Kategorien dechiffriert werden konnten. Umberto Eco hat dies so ausge­drückt: "Auch wenn er glaubt zu reden, wird der Mensch von den Regeln der Zei­chen, die er verwendet, geredet. Die Regeln dieser Zeichen zu kennen heißt, die Gesellschaft zu kennen, aber auch das System der sprachlichen Determinierthei­ten, das uns als ,Geist' konstituiert. " "

D ie Semiotik untersucht die Bedeutung von Zeichen im Bezug a u f tatsächli­che oder mögliche Handlungen, und schließt damit strenggenommen auch frühere oder spätere Interpretationen in die Bedeutungsdimension über eine, wie Peirce es nennt, indefinite community of investigators and interpretors mit ein. Ebenso folgt daraus ein gewisses Unbestimmtheitsprinzip der Semiotik, da eine Bedeutung nicht exakt festgelegt, sondern auch durch folgende Interpretations­prozesse variiert oder (im Fall von Propositionen) auch falsifiziert werden kann. Jeder Gegenstand, auch in seiner wissenschaftlich exakten Bearbeitung, besitzt auf der sozialen Verwendungsebene eine je eigene, kontextabhängige Zeichen­funktion. In unserem ,darüber Sprechen' beeinflussen wir mittels bewußter und unbewußter Determinanten diese Verwendungsdimension. Dies ist besonders für die Geisteswissenschaften von Relevanz, die mit dem Peirce'schen "Apriori der Kommunikationsgemeinschaft" - deren pragmatische Sinnkritik tendenziell an die Stelle von Erkenntniskritik tritt - als Verständigungswissenschaften gesehen werden können . ' • Dementsprechend müßte eine allgemeine Semiotik konse­quenterweise an die Stelle der Sprachphilosophie treten, als eine systematisch vergleichende Analyse von Sprachen im genannten semiotischen Sinn, also nicht

5 1 /22.Dez. 1986). Die Semiotik mußte die­

sen Anspruch zwangsläufig enttäuschen, vor

allem auch da sie gern in akademischen Klassifizierungsversuchen steckenblieb; sie

verspielte dadurch die Chance, in der Post­

moderne-Diksussion eine Rolle zu überneh­men und verlor etwa in der Analyse kultu­

reller Visualisierungen rasch ihre Marktanteile an die Theoretiker der Simula­tion und der Dekonstruktion.

14 Richard Rorty (Hg. ) : The Linguistic Turn. Es­says in Philosophical Method ( 1 967); Chica­

go 1 992 15 Umberto Eco: Zeichen. Einführung in einen

Begriff und seine Geschichte, Frankfurt: Suhrkamp 1 977, 5 . 1 6 5

1 6 Karl Otto Apel: D e r Denkweg von Charles S . Peirce. Eine Einführung in den amerikani­schen Pragmatismus, Frankfurt: Suhrkamp 1 967, 5.3 5 1

Page 125: Medienphilosophie Hartmann

Peirce 1 25

nur von Verbalsprache. '7 Hier eröffnet sich freilich ein weites Feld von Fragen im Anschluß an Peirce, vor allem aber hinsichtlich des Motivs, Kultur als Summe ih­rer Kommunikationsphänome anzulegen.

Den Kulturwissenschaften eröffnet dies die Möglichkeit eines antimetaphysi­schen und auch antihermeneutischen Ansatzes, in dem theoretischer Sinn letzt­lich durch die reale Praxis oder die pragmatischen Regeln der Alltagskommuni­kation vermittelt ist. Die Einheitlichkeit einer Logik des Textes wird dadurch auf­gebrochen, daß nicht zuletzt durch die pragmatische Ebene unterschiedliche Lesarten und damit in bestimmten Zusammenhängen verborgene oder unter­drückte Bedeutungen sichtbar werden - ein Ansatz, der gegenwärtig in den Cul­

tural Studies wiederaufgenommen wird . '• Im Erkenntnisprozeß'9 wird dabei das Moment der Interpretation hervorgehoben: wir sprechen nicht nur über das Sein eines Gegenstandes oder einer Tatsache, sondern durch die Zeichenverwendung implizit zugleich immer auch darüber, wie wir uns diesen denken.

Das Moment der Vermittlung, durch reflexhafte Zeichenverwendung im All­tag unterdrückt, tritt im Forschungsprozeß deutlicher hervor. Wissenschaft und Forschung haben in der Interpretationsgemeinschaft ihr historisch kontingentes Moment, und sind nicht etwa bezogen auf eine absolute, objektive Wahrheit. Das heißt nicht, daß der Forschungsprozeß oder die Prozesse des Schließens relativ wären, sondern nur, daß ihre objektive Logik - die von der Interpretationsge­meinschaft gesetzte Grenze - meist unbewußt bleibt. Aus dieser Perspektive geht eine konkrete Ethik der Handlungsnormen dem Forschungsprozeß voraus, d .h . daß dessen Logik immer auch moralisch relevant ist. In diesem Punkt denkt Peir­ce radikal über Kant hinaus, da theoretische Vernunft immer kontextualisiert, bzw. mit der praktischen Ebene verknüpft ist. In seiner Forschungslogik ging Peirce davon aus, "daß in the long run der normativ geregelte Forschungsprozeß konstitutiv sein würde nicht nur für die theoretisch wahre Meinung" der jeweili­gen Interpretationsgemeinschaft, "sondern zugleich damit für die praktische Ver­

körperung der Vernunft in den Verhaltensgewohnheiten, welche der wahren Überzeugung entsprechen. "20

17 Eco: Semiotik und Philosophie der Sprache,

op.cit . . S.2 1 18 Wobei dieser keineswegs einheitliche For·

schungsansatz sich eher auf die französische semiologische Tradition beruft; als Aus­

gangspunkt vgl. Stuart Hall et al . (Hg.): Cul·

ture, Media, Language. London: Routledge 1 980

19 In diesem Zusammenhang ist auch die se­miotische Indizienmethode und das konjek­turale Modell der Erkenntnis nach Peirce

hinzuweisen, vgl. die Textsammlung von

Umberto Eco. Thomas A. Sebeok (Hg. ) : Der Zirkel. oder Im Zeichen der Drei. Dupin, Holmes, Peirce, München: Fink 1 985

2 0 Apel: Der Denkweg, op.cit . . S . 1 64f - Woraus

sich ableiten läßt, daß Theorie sich selbstver­

ständlich an den Erfahrungsdaten bewähren

können muß; nicht aber, daß der Sinn von Aussagen auf faktisches Verhalten (im Sinne des Behaviorismus) reduzieren läßt. Die Be­deutung des Peirceschen Pragmatismus ist

Page 126: Medienphilosophie Hartmann

1 26 Dekonstruktion des Zeichens

6.4. Kritik des Dualismus von Sprache und Denken

Der semiotische Ansatz von Peirce transponiert zentrale Gedanken der traditio­nellen Ontologie in die "Zeichenthematik" (Oehler) . Somit stellt sich die physi­kalische Realität als dynamisches Konstrukt dar, und die Semiotik hat damit ge­rade angesichts der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung im zwanzigsten Jahrhundert eine weitgehend unerkannte medienphilosophische Dimension. Sie löst nämlich den Dualismus von Denken und Sprache zeichentheoretisch auf: Daß wir in Zeichen denken, heißt daß es kein Ansich des Denkens gibt; es gibt wohl ein vorsprachliches, aber doch kein ganz zeichenfreies Bewußtsein, dem et­wa Sprache als ein privilegiertes Medium hinzutritt.

Denken findet immer schon in einer Welt der funktionierenden Symbole statt. Die Verwendung der jeweiligen Zeichen, besonders der Sprachzeichen, schafft wohl eine je eigene, irreduzible Wirklichkeit, die Nichthintergehbarkeit von Sprache als solcher gilt der Semiotik als ein verbalzentristisches Dogma." Das Po­tential des semiotischen Ansatzes liegt darin, Zeichensysteme nicht zwingend als auf der Verbalsprache basierend zu analysieren, und weiters, den sozialen Kon­text von Zeichenerzeugung und Codefunktionen (bzw. die gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren in der Semiosis) immer mitzudenken. Während die Semio­logie vor allem in ihren neostrukturalistischen Spielarten der letzten Jahrzehnte in der Film- und Medientheorie das Dogma fortschreibt, daß es möglich sei, den aus der Sprachwissenschaft entlehnten Begriffsapparat auch auf nichtsprachliche Zeichensysteme anzuwenden, lehnt die mit einem triadischen Zeichenbegriff ar­beitende Semiotik es ab, in der Sprache mehr als nur einen unter anderen Codes der Zeichenprozesse im Rahmen der gesellschaftlichen Reproduktion zu sehen.22

seine anti-spekulative Spitze, im Gegensatz zu einer mißverständlichen (und manchmal durch die Schriften Nietzsches inspirierten) Auffassung von Pragmatismus, nach der die Theorie Regeln für unser Handeln bereitstel­len solL die jeweils soviel Wahrheit haben, wie sie Nutzen für unser praktischen Leben beinhalten.

2 1 Vgl. dazu auch d i e Argumentation gegen den Sprachdeterminismus in der Folge von Roman Jacobson bei Elmar Holenstein: Von der Hintergehbarkeil der Sprache. Kognitive Unterlagen der Sprache, Frankfurt: Suhr­kamp 1 980

22 Wir unterscheiden hier zwischen einer strukturalen Analyse oder der Semiologie und der genuinen Semiotik: in der Betonung der

pragmatischen Ebene für die Zeichenbedeu­tung zieh letztere nicht auf jene wissen­schaftliche Exaktheit, die hinter Saussures Projekt einer Semiologie als allgemeiner Zei­chenwissenschaft (mit dyadischem Zeichen­begriff) steckt; Semiotik kennt in diesem Sinn keine absolute Bedeutung, keine ver­bindliche symbolische Kultur, sondern nur einen Zeichenvorrat für praktische Zwecke, wobei die Zeichen im einzelnen, bedingt durch die Semiosis, keine stabilen Beziehun­gen kennt. Die semiotische Analyse widmet sich diesen Zuständen, jedoch unter der Vor­aussetzung, .,daß es falsch ist zu glauben, daß (a) jedes Zeichensystem auf einer der verbalen ähnlichen ,Sprache' basiere und daß (b) jede ,Sprache' zwei feste Gliederun-

Page 127: Medienphilosophie Hartmann

Peirce 127

Vielleicht waren es erst die - auf ihre Weise wiederum äußerst bornierten - tech­nisch/mathematischen Analysen von Kommunikation, die in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts bestätigt haben, daß Kommunikation mehr mit funk­tionierenden Codes und weniger mit der Übertragung von Inhalten oder der Ver­mittlung von Sinn zu tun hat. Die mathematische Kommunikationstheorie setz­te sich effizient von allen Ansätzen ab, die auf sprachwissenschaftlicher Grundla­ge beruhten."

Dies bringt uns zurück zum behaupteten medienphilosophischen Potential des semiotischen Ansatzes. Der Einsatz des Computers (die Recodierung der Co­des einer Schreib- und Lesekultur) hat hier die Voraussetzungen neu struktu­riert. Wenn wir an das Beispiel computergraphisch generierter Visualisierungen etwa von Rückkopplungen und Phasenübergängen denken, bei denen die nu­merische Mathematik an ihre Grenzen stößt, dann funktioniert die graphische Repräsentation komplexer mathematischer Verhältnisse, indem qualitative sy­stemische Eigenschaften in alternativer Codierung dargestellt werden, etwa nach Farben und Mustern. Es werden also neue Anschauungsformen dort geschaffen, wo komplexe Zusammenhänge sich dem direkten Zugriff des Denkens entzie­hen. "Vor der unvorstellbaren, ,undenkbaren' Komplexität dynamischer Syste­me suchen wir heute Hilfe, ja Zuflucht bei der Anschauung, beim Bild, dessen zu­grunde liegenden Regeln uns noch weithin verborgen sind und die wir folglich auch nicht formulieren oder sprachlich ausdrücken können. ""

Das Erkennen formaler Strukturen und ihrer Relevanz steht im direkten Zu­sammenhang mit dem Problem der Interpretation, wobei der semiotische Zugang die Mittel in Aussicht stellt, jenseits des verbalzentristischen Dogmas kritisch­analytische Alternativen zu entwickeln, die sich auf die kulturellen Vorgänge als Kommunikationsprozesse richten: nicht als sprachliche oder quasi-sprachliche Abbildung von Dingen und Tatsachen, sondern als je relativer, dreiwertiger Ein­fluß von Zeichen, seinem Objekt, und seinem Interpretanten. Sie befindet sich damit jenseits der dualisierenden Redeweise von Sprache und Denken, um die Komplexität von Zeichenprozessen in einer Welt zu erfassen, in der - wie bereits bemerkt - alphanumerische Codierungen wohl prominente, aber keineswegs die einzigen bedeutungsetzenden Akte generieren. Die verbale Vermittlung sinkt zum Spezialfall der allgemeinen Zeichenvermittlung der Realität herab. Denken spielt sich in Strukturen ab, die im paradigmatischen Rahmen der Sprache allein

gen haben müsse." - Umbeno Eco: Semio­tik, op.cit .. 5.308. Zur auf dem sprachlichen Zeichen basierenden Semiologie vgl. Ferdin­and de Saussure: Grundfragen der allgemei­nen Sprachwissenschaft (ca. 1 9 1 5 ) , Berlin: de Gruyter 1 96 7

23 Claude E. Shannon, Warren Weaver: The Mathematical Theory of Communication, Urbana: Univ. of Jllinois Press 1 949

24 Oehler: Sachen und Zeichen. op.cit., S . l OOf

Page 128: Medienphilosophie Hartmann

1 28 Dekonstruktion des Zeichens

offensichtlich nicht abzuhandeln sind. Das Kantsche ,Ich denke'2' wird kulturan­thropologisch aufgelöst, die Bewußtseinsphilosophie kommunikationstheore­tisch überboten: unbewußte Schlußprozesse, vorangegangene Urteile, künftige Interpretationen - Erkenntnis als Zeichenprozeß aufzufassen heißt, die kommu­

nikative Vermitteltheil dessen in den Vordergrund zu rücken, was wir gewohnt sind ,Denken' zu nennen. Aus diesem Grund gehört Peirce in den Zusammenhang medienphilsophischer Reflexionen.

Als Wissenschaft von den Zeichensystemen beansprucht die Semiotik, Er­kenntnisfragen auf dem Weg einer Klärung des jeweils verwendeten Zeichenbe­griffs (und der Manipulation von und durch Zeichen im Kommunikationspro­zeß) zu lösen. Die Semiotik zeigt damit, daß die medial geprägte Kultur nicht nur ein Arsenal symbolisch vermittelbarer Inhalte darstellt, die exklusiv handlungs­theoretisch als Interaktionen zwischen menschlichen Individuen interpretiert werden darf, sondern genauso eine Menge von zeichenvermittelten Kommuni­kationsprozessen oder ein System von Zeichenprozessen, deren Interpretanten nicht nur durch bewußt gesetzte kommunikative Akte beteiligt sind. Indem sie den spekulativen Zusammenhang von Denken und Sprache zeichentheoretisch auflöst, zeigt die Peircesche Semiotik nicht nur daß, sondern auch wie Kommu­nikation mehr ist als nur ein gelingendes Sprachspiel: die jeweilige kontextuelle Information des Menschen kann die Bedeutung seiner Worte steigern; unabhän­gig von seinem Willen und seinem Bewußtsein ist es aber auch die in den Worten

und anderen externen Symbolen gespeicherte Information, die den Menschen ohne sein Zutun geistig bereichern.26 Im Zeitalter einer zunehmend auch durch tech­nische Medien und hybride Systeme erbrachten Informationsverarbeitung wäre es medientheoretisch naiv, nur einen normativen Kommunikationsbegriff gelten zu lassen, um sämtliche Kommunikationsphänomene als dessen Derivate abzu­handeln, und in der Folge dann über einen drohenden ,Sprachverlust' zu la­mentieren.

25 .Aga in, consciousness is sometimes used to signify the I think, or unity in thought; but the unity is nothing but consistency, or the recognition of it. Consistency belongs to

every sign, so far as it is a sign; and therefore every sign, since it signifies primarily that it

is a sign, signifies its own consistency." Charles S. Peirce: Some Consequences of the

Four lncapacities ( ! 868), in ders.: Philoso­phical Writings, op.cit., 5.249

26 Vgl. Peirce, ebd .. S .248!: • What distinguishes man from a word? ( . . . ) Man makes the

word, and the word means nothing which

the man has not made it mean, and that on· ly to some man. But since man can think only by means of words or other external symbols, these might turn round and say:

,You mean nothing which we have nor taught you, and then only so far as you ad­

dress some word as the interpretant of your thought.' ln fact, therefore, men and words

reciprocally educate each other; each increa­se of a man's information involves and is in­

volved by. a corresponding increase of a word's information. • - vgl. zu dieser Stelle in Apel: Der Denkweg, op.cit.. 5.89

Page 129: Medienphilosophie Hartmann

Zusammenfassung Der Mensch hat nicht nur Sprache, sondern ist i nsge­

samt ein symbolisches Wesen - neben der Verbalsprache beeinflussen Kultur,

Rituale, Institutionen etc. sein Denken und Handeln. Im Sinne der Komple­

xitätsreduktion und zum Zweck des intersubjektiven Austauschs kommunizie­

ren Menschen strenggenommen nicht über Di nge und Tatsachen, sondern

über Bedeutungsmodelle oder Zeichen. Al les kann Zeichen sein oder zum Zei­

chen werden, da es zu jemanden für etwas in irgendeiner H insicht oder E igen­

schaft steht, wie Cha rles S. Peirce es defi niert hat. ln der Alltagskommunikati­

on erfolgen reflexhafte Bezug nahmen, wobei andere Menschen, Tatsachen,

Di nge, auch Botschaften eigentlich Zeichenfunktionen sind, d.h. a uf der

Grundlage eines una bgeschlossenen I nterpretationsprozesses bestehen. Diese

prinzipiel le Unabgeschlossenheit der Semiosis - al les kann erneut zum Zeichen

werden, und d u rch neue Zeichenprozesse verändert der Mensch seine Wirk­

l ichkeit - führt zu stets nur pragmatisch vorläufigen Resu ltaten (wie einge­

wöhnte Hand l u ngen).

Je nach der Relation von Zeichen und Bezeichnetem gibt es versch iedene Zei­

chenklassen; der u niversale Zeichenbegriff ist analytisch zu differenzieren hin­

sichtlich einer syntaktischen, einer semantischen und einer pragmatischen

Ebene, wobei es d iese Dreiwertigkeit niemals (etwa zugunsten dyadischer Ver­

hältnisse) zu u nterbieten g i lt. Zeichen werden nach bestimmten Codes ver­

knü pft und zu Zeichensystemen oder ,Sprachen' zusammengesetzt, die ihrer­

seits wieder ein System bi lden: die Kultur. Semiotik bietet die Mögl ichkeit, Bot­

schaften auf dieser Systemebene zu decodieren und damit mehr reflexive

Möglichkeiten zu eröffnen, a ls sie etwa wie einen Text auf seine auktoria le In­

tention hin zu lesen. Die mögliche Vielzahl von Sprachen und Codes evoziert

eine virtuelle U nendl ichkeit der Interpretation, die kei ne wirkliche, wohl aber

ihre pragmatisch gezogene Grenze hat. Aus dieser Erweiterung des Kommuni­

kationsraums, der sich im übrigen nicht auf bewußte Wesen beschränken läßt,

folgt die Warnung vor einem verbazentrischen Dogmatismus, der Sprache a ls

nicht hintergehbar anni mmt und als Sprache nur Systeme zweifacher Gl iede­

rung anerkennt. Nicht jedes Zeichensystem basiert auf einer der menschl ich­

verbalen ähnlichen Sprache.

Die Semiotik löst die phi losophische Erkenntniskritik noch radi ka ler auf als die

Sprachkritik, indem sie die Sin nkritik anstelle der Frage nach Vernunft setzt.

Die Vermitt lung des theoretischen Sinns erfolgt durch die reale Praxis der

Kommunikationsgemei nschaft. Der Prozeß des Erkennens verliert sich im un­

bewußten Feld der Zeichenprozesse, an dem als eine unbeschrän kte Experi­

mentier- und Interpretationsgemei nschaft a l le kommunizierenden Wesen teil­

haben.

Peirce 1 29

Page 130: Medienphilosophie Hartmann

b (a = x) c f(v, a) d t<v. x>

lf e 1 /(lf, E)

E

(112) : : z l a

122 a l ll

r 1--:--:--:-1--.-,-"P f ( Xy1 a p) -f<v, a>

--f{v, x> 6

1--- 1 t(o, E) E r I p f(:r.y; ap)

- (a := x)

I I it<x,., ap) -t<v. a>

--{(IJ, x) 6

, ___ I {(6, E) E

1---;----;-1 �-� i f(x,., llp) -rcv, 11)

--f(IJ, x) 6

'--- I {(11, E) e (19) :

b " r f( �l .... -:--.---:--;--1 f(xy, mp) .._..I � x,., llP' I {I -f(IJ, ll) - 1 t<v,., mp> c f(IJ, x) --f<v, x) t1 t1 d I f(o, e) I {(6, E) E E a -�-it<x,., mp)

- �f(v,., mp)

(110) : :

1----,--,---�r t<x,., mp) I_ i fl'lr •p)

&-L l f(x,., llp) f(IJ, ll)

Abbildung 7 Beispiel aus Gottlob Frege: Begriffsschrift (1879)

(12 1.

(122.

(US.

Page 131: Medienphilosophie Hartmann

7. Kapitel - Die befreite Symbol ik. Frege und die Problematik logischen Ausdrucks

.,Zeichen sind für das Denken von derselben Bedeutung

wie für die Schi!Jahrt die Erfindung, den Wind zu gebrauchen,

um gegen den Wind zu segeln. "

- Gottlob Frege

7 . 1 . D i e Unvol lkommenheit der Sprache

Für Mauthner war es, wie wir gesehen haben, allein die Sprache, die uns ein be­stimmtes Bild von der Welt vermittelt, und sie ist weiters ein nur sehr ungenü­gendes Mittel für deren Beschreibung. Die Befreiung von den Abstrakta der Spra­che fügt sich als Forderung sehr gut in die Atmosphäre einer Zeit, die mit der Auf­bruchstirnmung des zwanzigsten Jahrhunderts das philosophische Denken ganz den empirischen Methoden der Naturwissenschaften anzunähern trachtete. Das Bestreben richtete sich darauf, eine möglichst präzise Sprache aufzubauen, die keine lästigen Mehrdeutigkeiten aufweist. Die Exaktheit galt als erstrebenswer­tes Ideal im Bereich wissenschaftlicher Aussagen, und die mathematische Logik harrte der Vervollständigung vieler einzelner, bislang noch unklarer Beweis­schritte. ' Die gesprochene Sprache steht diesem Ideal in vielerlei Hinsicht entge­gen. Sie ist ein unzuverlässiges und letztlich ungeeignetes Medium, wenn es dar­um geht, mehr Klarheit in unsere Aussagen über die Wirklichkeit zu bringen: die Welt, über die wir sprechen, ist nicht die Welt, wie sie ist. Es ist eine Leistung un­serer Vernunft, Distanz von den Dingen nehmen zu können und jene Differenz überhaupt zu denken, die darin besteht, daß unser Bewußtsein von diesen Din­gen unterschieden ist von den Dingen selbst.

Neben dem Bestreben, die traditionelle, ari­

stotelische Logik in Richtung einer eindeuti­gen Sprachverwendung zu vervollständigen, sorgte das Auftreten sogenannter Antinomi­

en in der Mathematik für die entscheiden-

den Impulse zur Fundierung der modernen

Logik - vgl. dazu Wolfgang Stegmüller: Hauptströmungen der Gegenwartsphiloso­

phie. Eine kritische Einführung, Band I . Stuttgan: Kröner 1 978. S.430f

Page 132: Medienphilosophie Hartmann

1 32 Die befreite Symbolik

In der Sprache fallen diese beiden Ebenen unbemerkt ineinander; sie er­scheint als das Medium, welches - je nach der Perspektive, die man anlegt - das Wesen des Menschen (als Sprechendem) ausmacht oder auch (als Versprechen) dem Sein zum Ausdruck verhilft. So oder so ist es Sprache, die zwischen Reinheit (an sich) und Äußerlichkeit (für uns) vermittelt, und zwar als ein formaler Me­chanismus, der einerseits zum einzig bedeutungsverleihenden Akt überhöht wird und der andererseits einen Akt des Vergessens hinsichtlich der symboli­schen Formen darstellt, die nicht zuletzt aufgrund ihrer lebensweltlich struktu­rierenden Funktion den Rahmen der traditionellen Erkenntnistheorie sprengen.' Die verschiedenen Diskurse, um eine allgemeine Form des Sprechens auch über die Sprache zu erwähnen, zeugen von der realen Macht der Sprache als Existenz er­zeugendem Medium, und als solches ist sie ebenso Mittel der Herrschaft wie der kritischen Reflexion, oder Repräsentation eines Willens zum Ausdruck im Sinne des bereits Gedachten wie des bloß Denkbaren. Und so ist Sprache über ihre bloß kommunikative Funktion hinaus ein absoluter Imperativ der gesellschaftlichen Moderne. Nur aus diesem Grund erklärt es sich, daß das zwanzigste Jahrhundert es nicht gut sein hat lassen mit dem befreienden Lachen Mauthners über den fei­erlichen Betrug der großen Worte, und sich statt dessen der Magie sprachlicher Transzendenz ergeben hat: hier Wittgensteins Sprachspiele, dort Heideggers Weg zur Sprache.

Freilich setzt sich der mit Mauthner begonnene Ansatz einer Entmystifizie­rung der Sprachfunktion als einem unzulänglichen Medium der Welterkenntnis beim heute viel mehr beachteten Wittgenstein prominent fort. Die Verwirrungen der Sprache, die er .. Verhexung unseres Verstandes" genannt hat, sind Wittgen­stein jahrzehntelang Thema der philosophischen Reflexion, ohne aber jemals wirklich gelöst zu werden, da der Kampf gegen sinnlose Sätze allzu eng geführt wird - als Frage der Form, welche die lllusion nicht zu durchbrechen imstande ist, daß anhand der Logik unserer Sprache selbst zwischen sinnvollen und sinn­losen Aussagen eine Grenze gezogen werden könne. Weil mit der Sprache nur systemimmanent argumentiert werden kann, wir mit der Sprache also nicht über die Sprache hinausgelangen, deshalb kommt das Schweigen auch schon in Witt­gensteins Tractatus an so zentraler Stelle vor.'

Vgl. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache, op.cit., Vorwort S.V Vgl. den Tractatus, Satz 7: "Worüber man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen." Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus I Tagebücher ! 9 14· ! 9 1 6 I Philosophischen Untersuchungen.

Werkausgabe Band ! , Frankfurt: Suhrkamp 1 984, hier S.85 - Daß das Schweigen frei­lich nicht mit Stille oder Negation aller Äußerung zu identifizieren ist, darauf be­stand Wittgenstein selbst: .Ich finde es un­möglich, in meinem Buch auch nur ein ein­ziges Wort zu sagen über alles das, was die Musik für mich in meinem Leben bedeutet

Page 133: Medienphilosophie Hartmann

Frege 133

Es sei der Skandal der Philosophie, bemerkte Wittgenstein einmal, nicht aus­reichend klar gemacht zu haben, daß die metaphysischen Probleme eigentlich insgesamt Probleme der Sprache sind. Wenn wir voraussetzen dürfen, daß die sprachlichen Begriffe lediglich die Summe von Erfahrungselementen• sind, dann legt es die analytische (auf Sinneserfahrung ausgerichtete) Methode nahe, nur­mehr verifizierbare Aussagen zu produzieren. Jener Sektor der menschlichen Kommunikation, der mit einer alltäglichen Wortsprache bestritten wird, die mit­unter auch unsinnige Fragen und Als-ob-Formen statt tatsächlicher Propositio­nen erzeugt, fällt aus dem Bereich dessen, was Wissenschaft genannt werden darf. Allen Vorbehalten zum Trotz darf man sich eine Formelsprache vorstellen, die dieses Problem nicht kennt, weil sie jeden Bedeutungsüberschuß eliminiert, der von der Sprache selbst erzeugt wird. Sie läßt also nur zwei bedingte Formen von Aussagen zu: eine enge Form der apriorischen Aussagen, die logisch wider­spruchsfrei sein müssen, und eine weitere Form der aposteriorischen, die an der Er­fahrung verifizierbar sein sollten. In diesem Sinn könnte eine augewandte Sprachkritik als philosophische Agenda in Form einer logischen Klärung jener Gedanken funktionieren, die sich tatsächlich und ausschließlich in propositiona­len Sätzen ausdrücken lassen.

Es liegt auf der Hand, daß der Gedanke an eine reine, von den Schlacken der Umgangssprache befreite Kunstsprache, die das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit ein für allemal festlegen sollte, hier wieder einmal auftauchen muß. Durch Peirce wurden wir auf das Problem aufmerksam, daß es abhängig vom In­terpretanten eine Sinnebene gibt, und auch der Logiker Gottlob Frege unter­scheidet zwischen Sinn und Bedeutung eines Ausdrucks: Wenn beispielsweise die Venus der erste und der letzte sichtbare Planet des Tages ist, warum bezeich­net man dann dasselbe Objekt einmal als Morgenstern und dann wieder als Abendstern? "Die Gleichheit fordert das Nachdenken heraus durch Fragen, die sich daran knüpfen und nicht ganz leicht zu beantworten sind. Ist sie eine Bezie­hung? eine Beziehung zwischen Gegenständen? oder zwischen Namen oder Zei-

hat." M. Drury: Gespräche mit Wingenstein, 4 zit. in: Joachim Schulte: Wingenstein. Eine Einführung, Stul!gart: Reclam 1 989, 5.26. Später kennt Willgenstein jenes Schweigen, zum dem passiver Medienkonsum nötigt, und bekennt: .Ich habe oft aus einem dum· men amerikanischen Film eine Lehre gezo·

gen. " ( 1 947 ) . vgl. Vermischte Bemerkungen, in ders.: Über Gewißheit. Werkausgabe Band 8, Frankfurt: Suhrkamp 1 997, 5 .5 3 1

Dieses Theorem, von dem sich schon Maut­hner äußerst beeindruckt zeigte, geht auf Ernst Mach zurück, in dessen Werk über .. Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen"

(publiziert 1 886 und 1 903 überarbeitet) erstmals von den Scheinproblemen die Rede

ist, die dann wegfallen, wenn philosophi­sche Konzeptionen des Absoluten fallenge­lassen werden zugunsren einer forschenden Konzentration auf . Tatsächliches" .

Page 134: Medienphilosophie Hartmann

1 34 Die befreite Symbolik

eben für Gegenstände?"' Gewißheit ist nur zu erreichen, sagt Frege, wenn keine Referenz auf den Gegenstand angestrebt wird. Statt der ontologischen schlägt er die logische Begründung vor. Das Geheimnis von sprachlichen Mißverständnis­sen liegt darin, daß Zeichen (analog zum semiotischen Ansatz von Peirce) nicht in einer logisch zweiwertigen Beziehung stehen, sondern in einer dreiwertigen: .. Es liegt nun nahe, mit einem Zeichen (Namen, Wortverbindungen, Schriftzei­chen) außer dem Bezeichneten, was die Bedeutung des Zeichens heißen möge, noch das verbunden zu denken, was ich den Sinn des Zeichens nennen möchte, worin die Art des Gegebenseins enthalten ist."•

Weil der Sinn des Ausdrucks von seiner Bedeutung unterschieden ist. darum sprechen wir einmal vom Morgenstern und einmal vom Abendstern, obwohl es sich um dasselbe Objekt ( die Venus) handelt, welches aber in einem unter­schiedlichen Kontext gegeben ist. Aus ähnlichen Gründen geben wir im alltägli­chen Sprachgebrauch es nicht auf. vom Sonnenaufgang und Sonnenuntergang zu sprechen, obwohl wir inzwischen wissen, daß dies nur ein Effekt der Erdrota­tion ist. Soweit, so gut - für wissenschaftliche Logik ist dies natürlich keine gute Voraussetzung. Sie beansprucht nämlich nicht, den Sinn eines Ausdrucks zu in­terpretieren, sondern seine Bedeutung oder die logischen Verhältnisse zu klären.

Die logische Perspektive stößt sich auch an dem, was Mauthner als Wortaber­glauben bezeichnet hat: die abstrakten Begriffe tendieren dazu, verdinglicht zu werden und die VerdingHebung von Verallgemeinerungen ( Nation, Rasse, Ge­schlecht) kann mit fatalen Folgen auf die soziale Realität einwirken, vor allem weil diese mittels sprachlicher Konzepte gestaltet wird. Von etwas Sprechen heißt. ihm Existenz zu verleihen; was aber heißt existieren für jene abstrakten Konzepte, die - in dualisierender Redeweise - einmal nur als symbolische Re­präsentationen in der sozialen und nicht als Entsprechungen in der realen Welt da sind, pure Realitätskonstruktionen also? So verallgemeinert sich die Kritik der Vernunft mit guten Gründen zur analytischen Sprachphilosophie.7

Gottlob Frege: Über Sinn und Bedeutung ( 1 892) , in ders.: Funktion, Begriff, Bedeu­

tung. Fünf logische Studien, hg. von

Günther Patzig, Göttingen: Vandenhoeck

1 994, S.40

6 ebd., S.41 7 .. Man muß lediglich die Neigung, alles Sag­

bare als existent zu betrachten, mit der Möglichkeit der Sprache, alles zu sagen,

kombinieren, um in der Sprache selbst die Möglichkeit, wenn nicht das Prinzip der on­

tologischen und theologischen Delirien aus­

zumachen, die sich weit über den Bereich der Philosophie hinaus beobachten lassen."

- Pierre Bourdieu: Gegen die Magie der Worte, in ders.: Satz und Gegensatz. Berlin:

Wagenbach 1 989, S.48

Page 135: Medienphilosophie Hartmann

7.2. Eine neue Begriffsschrift für logische Verhältnisse

Frege 135

Das Grundproblem im Spannungsfeld eines sprachkritischen Paradigmenwech­sels ist nun, daß nicht nur die Erfahrungselemente der Erkenntnis gegenüber transzendentalen Ideen in ihr Recht gesetzt gehören, sondern daß sich die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug von Sätzen (z.B. logischen Behauptungen) völlig neu stellt. Es wäre in einer Zeit des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, da der naive Empiriebegriff stürzt, reduktionistisch, die Wirklichkeit auf ihre empi­risch feststellbare Ausprägung einzuschränken. Und längst schon weiß man, daß es aus rein logischen und apriorischen Begriffen bestehende Urteile gibt, die nicht falsch sind, obwohl sie sich nicht an der empirischen Wirklichkeit überprüfen las­sen. Das Problem ist hier, daß die logische Form eines Satzes seiner äußeren Form nicht immer entsprechen muß - Ausdruck und Bedeutung können mehr oder weniger auseinanderfallen. Worte liefern uns oft genug unsinnige Zeichenver­bindungen. Dieses Problem dachte sich Gottlob Frege als ein durch eine neuarti­ge Begriffsschnft lösbares: durch die Entwicklung eines neuen Zeichensystems für logische Verhältnisse.•

115

{68) :

[ (��(a= e) l d ] 1- j 1-r(b-:-aJ = I f(d, •> --{(b, e) •

f(r) �-, �� (ll = F) -/Co, a)

-/{b, F) �___,.___, al (ll = x)

-f{b, Q) --{(b, x) d

b I {(d, <) E

Abbildung 8 C X Beispiel für ,eindeutiges Verfahren' a e

aus Freges Begriffsschrift (9) :

d '----- } /(d, E) E (116.

Diese neue Schrift sieht so aus, daß die Zweidimensionalität der Schreibfläche in Anspruch genommen wird, indem die Zeichenverbindungen gleichzeitig durch vertikale und durch horizontale Striche erfolgen, die lateinische und/oder grie-

8 Gottlob Frege: Begriffsschrift. Eine der arith­metischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens, Halle: Neben 1 879, zit.

nach der Ausgabe in Frege: Begriffsschrift und andere Aufsätze, Hildesheim: Olms

Page 136: Medienphilosophie Hartmann

1 36 Die befreite Symbolik

chisehe Buchstaben verbinden. Frege unterscheidet zwischen dem " wagerechten Inhaltsstrich" und dem "senkrechten Urtheilsstrich", wobei Höhlungen des In­haltsstrichs und Klammern sowie Abtrennungen die Zeichenverbindung noch weiter zu differenzieren erlauben. So ergibt sich eine Art Muster, das entfernt an einen technischen Schaltplan erinnert. Das hat einen guten Grund, denn tatsäch­lich eliminiert Frege aus seiner Darstellung eines Urteils die Unterscheidung von Subjekt und Prädikat, um statt einer Folge eher einen Verhältniszustand auszu­drücken. Frege nennt die ganz zu Anfang seiner Erklärung der neuen Bezeich­nungen die Verwandlung des Urteils "in eine blasse Vorstellungsverbindung, von welcher der Schreibende nicht ausdrückt, ob er ihr Wahrheit zuerkenne oder nicht. ''• Die Darstellung dieser Verbindungen wäre Aufgabe der Begriffsschrift, die er als eine Art Schaltplan logischen Denkens präsentiert. Sie hat nichts mehr mit einer Sprache im Sinne zwischenmenschlicher Kommunikation zu tun, "die nur a us der Wechselwirkung des Sprechenden und des Hörenden hervorgeht", zugunsten der reinen Tatsachenfeststellung. Frege entwirft ja explizit keine Spra­che, sondern eine Schrift, seine Begriffsschrift. 10

Wie so oft in der Philosophie ist die Antwort in ihrer Ausführung weit weni­ger interessant als die Frage, die von Frege gestellt wurde. Man spürt mit dem Ab­strakterwerden der Wissenschaften die größer werdende Kluft zwischen der wis­senschaftlichen Argumentation einerseits und den Sinneseindrücken anderer­seits. Diese Kluft drückt sich in Mißverständnissen aus, die "ihre Ursache in der Unvollkommenheit der Sprache" haben. Ist das Medium der Vermittlung verbes­serungsfähig? Zweifellos bedürfen wir der sinnlichen Zeichen, um zu denken. Wenn wir aber denken, kann das auch gegen die Logik des Sinnlichen gehen:

"Die Zeichen sind für das Denken von derselben Bedeutung wie für die Schif­fahn die Erfindung, den Wind zu gebrauchen, um gegen den Wind zu segeln. Deshalb verachte niemand die Zeichen! von ihrer zweckmäßigen Wahl hängt nicht wenig ab. Ihr Werth wird auch dadurch nicht vermindert, daß wir nach langer Uebung nicht mehr nöthig haben, das Zeichen willkürlich hervorzubrin­gen, daß wir nicht mehr laut zu sprechen brauchen, um zu denken; denn in Wor­ten denken wir trotzdem und, wenn nicht in Worten, doch in mathematischen oder andern Zeichen. " 1 1

! 993 - hier ders.: .Ober den Zweck der Be· griffsschrift" ( ! 882/83 ), S. 97

9 Frege: Beg riffsschrift, op.cit., S.2 1 0 Vgl. ebd .. 5.4: .Bei d e m ersten Entwurfe ei·

ner Formelsprache Iiess ich mich durch das Beispiel der Sprache verleiten, die Unheile aus Subject und Prädicat zusammensetzten.

Ich überzeugte mich aber bald, dass dies meinem besonderen Zwecke hinderlich war und nur zu unnützen Weitläufigkeilen führ· te."

1 1 Gottlob Frege: .Ober die wissenschaftliche Berechtigung einer Begriffsschrift" ( 1 882), in ders.: Begriffsschrift, op.cit., 5. 1 07

Page 137: Medienphilosophie Hartmann

Frege 1 37

Folglich genügen Worte nicht unbedingt, um richtig zu denken: ihre Bedeu­tung ist nie eindeutig, die Sprache ist, genauso wie das Leben, nun einmal nicht besonders logisch. Wäre sie das, dann würde die Befolgung der präskriptiven grammatischen Regeln allein schon die Richtigkeit einer Gedankenbewegungen verbürgen. An einem Beispiel aus der Euklidischen Geometrie zeigt nun Frege, daß der Unterschied zwischen Formen des logischen Schließens und der Ver­wendung von Sprache darin liegt, daß in der Sprache zwecks Vermeidung "einer unerträglichen Weitschweifigkeit" kleine logische Zwischenschritte oft einfach übersprungen werden und daß Sprache somit die logischen Verhältnisse im strengen Sinn nicht auszudrücken, sondern nur anzudeuten vermag. Worte genügen nicht, um logisch richtig zu denken, aber es gibt neben den Worten ja noch andere Zeichen. Während Wortsprache den Vorteil hat, sich verschieden­sten Aufgaben a npassen zu können, bringt sie den Nachteil logischer Ungenau ­igkeit mit sich. Deshalb die Forderung: "Wir bedürfen eines Ganzen von Zeichen, aus dem jede Vieldeutigkeit verbannt ist. dessen strenger logischer Form der ln­halt nicht entschlüpfen kann. " " In der Begriffsschrift sollen die einzelnen Teile ei­nes logischen Schlusses nun so genau zu notieren sein, daß die logischen Bezie­hungen zwischen seinen kleinsten einzelnen Teilen deutlich hervortreten kön­nen.

Für die erforderliche Strenge des logischen Schließens muß ein Zeichen un­mittelbar die Sache bedeuten und darf nicht, wie in der Wortsprache, lediglich ein "anschaulicher Vertreter" sein. Die mathematische Formelsprache schafft den Ausdruck einer Sache ohne Vermittlung des Lautes, nicht aber ohne Zeichen, die auch zum begrifflichen Denken unentbehrlich sind. Was liegt näher für Frege ( im Anschluß an Leibniz und jüngere Vertreter der Logik), als hier besondere Zei­chenverwendungen für logische Verhältnisse einzuführen, die diesen Vorteil weiterentwickeln? Durch bessere Ausnutzung der Ökonomie der Schreibfläche, so Freges Grundidee, kann eine Bedeutung sichtbar gemacht werden, die in der gewohnten Schrift nicht vorkommt. In dieser ist etwa die von der relativen Zei­lenlänge abhängige gegenseitige Lage der Wörter offensichtlich bedeutungslos. Eine Gleichung verkürzt den Ausdruck, weiters läßt sich auch durch eine Berücksichtigung der spezifischen Anordnung auf der Schreibfläche sehr viel zu­sätzlich ausdrücken: "Die arithmetische Formelsprache (gestattet) den Inhalt ei­nes einfachen Urteils in einer Zeile unterzubringen. Solche Inhalte - hier Glei­chungen oder Ungleichungen - werden so, wie sie aus einander folgen, unter einander geschrieben. ( . . . ) In dieser Weise wird die zweifache Ausdehnung der Schreibfläche für die Uebersichtlichkeit verwerthet. "" Im Vorwort zur Begriffs­schrift vergleicht Frege deren Verhältnis zur "Sprache des Lebens" mit dem des

12 ebd . . S. I I O 13 ebd .. 5 . 1 1 2

Page 138: Medienphilosophie Hartmann

138 Die befreite Symbol ik

Mikroskops zum Auge. Das Auge ist beweglich und vermag sich den verschie­densten Umständen anzupassen, ist aber als optischer Apparat unzulänglich et­wa für wissenschaftliche Zwecke, die eine schärfere Unterscheidung verlangen und daher Apparate wie das Mikroskop entwickeln. Die Sprache des Lebens bleibt unberührt, für die Zwecke der Wissenschaft gilt es jedoch das sprachliche Instrumentarium zu präzisieren.

Die Verbesserung der Schreibflächenökonomie ist nicht das einzige Motiv für die Einführung der Begriffsschrift, Frege faßt durch Schritte wie Ersetzung der Begriffe ,Subject' und ,Praedicat' durch ,Argument' und ,Function' oder durch das Kalkül der Junktoren und Quantaren die moderne Logik neu . 14 Die Begriffs­schrift beansprucht dabei durch die inhaltliche Entleerung einer Zeichensprache das Problem zu lösen, das darin besteht, den logischen Ausdruck zu vereinheitli­chen: "Ich will die wenigen Zeichen, die ich einführe, mit den schon vorhande­nen Zeichen der Mathematik zu einer einzigen Formelsprache verschmelzen. Da­bei entsprechen die bestehenden Zeichen ungefähr den Stämmen der Wortspra­che, während die von mir hinzugefügten Zeichen den Endungen und Fremdwörtern zu vergleichen sind, welche die in den Stämmen liegenden Inhal­te in logische Beziehung setzen.""

-�P(a) oonträr �� P(a) - X(a) - X(a)

8 � 8 u ao u b .q .. � ... � b

..... ,..o

a b"<:J a 1 1 t "l. t e .... o.,o e � ... .. ... r <:>o �0� r n n

-,�IP(a) -,�-P(a) Abbildung 9 conträr •• I_ X(a) , Tafel der logischen Gegensätze' aus -X(a) Freges Begriffsschrift

Frege steht damit in der Tradition, aber auch in gewisser Konkurrenz zu Kon­zepten des neunzehnten Jahrhunderts, die dazu entwicklet werden, von der

14 Vgl. vor allem zu den sprachphilosophischen Implikationen Wolfgang Künne: Goulob

Frege. in: Borsehe (Hg.), op.cit., S .325ff

15 Frege: über den Zweck der Begriffsschrift.

op.cit., S . l 00

16 George Boole: An lnvestigation of the Laws

of Thought, on Wh ich Are Founded the Ma­thematical Theories of Logic and Probabili­

ties. 1 8 54 - http:llwww-groups.dcs.st­and.ac.uk!-history/Mathematicians/Boole.html

Page 139: Medienphilosophie Hartmann

Frege 1 39

Arithmetik zur Algebra überzugehen und damit das Rechnen von den Zahlen zu emanzipieren. Einerseits hält, mit George Boole'•, die symbolische Logik Einzug in die Mathematik, wo es darum geht, logische Prozesse durch algebraische Sym­bole auszudrücken. Andererseits gab es bereits erste Versuche, damit, daß das Symbolisierbare automatisch rechenbar gemacht wird, so etwas wie eine univer­selle logische Maschine und damit eine Vorform künstlicher Intelligenz zu schaf­fen; ein Beipiel dafür ist die Entwicklung der ,Analytical Engine' durch Charles Babbage ."

Noch laufen a l l diese Stränge nicht zusammen. Frege bleibt doch irgendwie zwiespältig, wenn er auf die Reichweite seiner Begriffsschrift zu sprechen kommt. Wenn derselbe Gedanke sich verschieden ausdrücken läßt, dann erzeugt dies die bekannten Unsinnigkeiten der Wortsprache; Frege unterscheidet zwi­schen Form und Inhalt von propositionalen Sätzen, wobei man es nicht generell verbieten dürfe, daß der Ausdruck umgeformt wird - das Fehlen j eglicher Kon­tingenz in eindeutigen Formen würde eine Erstarrung oder Lähmung der Logik zur Folge haben, geht es doch darum, "den Gedanken in seinen mannigfachen Einkleidungen wiederzuerkennen. " '" Wie bekannt, wird die Umgangssprache aufgrund ihrer Redundanzen als eher ungeeignet empfunden, die feineren logi­schen Strukturen wiederzugeben, weshalb von Frege eben eine logische Aus­drucksform entworfen wird, die das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit zu­mindest auf syntaktischer Ebene besser gestalten soll.

Diese rein logische Sprache wäre die von aller Kontingenz befreite, apriorische Idealsprache. Es wird in der Diskussion dieses Entwurfs einer vollkommenen Sprache, die man leicht als ein Phantasma abtun könnte, meist übersehen, daß es sich um die Idee einer wissenschaftliche Spezialsprache handelt, die gar nicht behauptet, an die Stelle der Umgangssprache zu treten. Ludwig Wirtgenstein im Tractatus und Rudolf Carnap in Der logische Aufbau der Welt nahmen diesen Impuls bald nach Frege wieder auf, als ein Ideal des logischen Positivismus - eine feh­lerfreie Sprache, aus der die Vieldeutigkeit der natürlichen Sprache verbannt ist zugunsten einer Widerspruchsfreiheit zwischen der Ebene der Propositionen und jener der Wirklichkeit ."

17 Charles Babbage: Passages from the Life of a Philosopher ( 1 864). dt . : Passagen aus einem Philosophenleben, Berlin: Kadmos 1 997 -Vgl. dazu Werner Künzel / Peter Bexte: Ma­schinendenken I Denkmaschinen. An den Schaltstellen zweier Kulturen, Frankfurt: In­sel I 996, bes. S. I 09

18 Gottlob Frege: Über Begriff und Gegenstand ( 1 892). in: ders.: Funktion. Begri ff. Bedeu-

tung. Fünf logische Studien. Göttingen: Van­denhoeck 1 994, S. 70

19 .Die Begriffsschrift Freges u nd Russells ist eine solche Sprache, die allerdings noch nicht alle Fehler ausschließt." Vgl. Wittgen­stein: Tractatus 3 .325, op.cit .. S.22f

Page 140: Medienphilosophie Hartmann

140 Die befreite Symbolik

7 .3. Das neue logische Zeichensystem

War es das, was Frege wollte? In einem Vortrag über seine Begriffsschrift wird dies klarer, denn Frege verdeutlicht auf die Kritik hin, er habe die Boole'schen Vorleistungen im Bereich der Logik mißachtet, sein eigenes Anliegen wie folgt. "Ich wollte nicht eine abstracte Logik in Formeln darstellen, sondern einen Inhalt durch geschriebene Zeichen in genauerer und übersichtlicherer Weise zum Aus­druck bringen, als es durch Worte möglich ist. "2° Frege betont die mediale Aus­drucksebene, für die er einen über die Wortsprache hinausgehenden Reformvor­schlag unterbreitet: Diese Ebene des physikalischen Ausdrucks wird meist unter­schätzt oder schlicht übersehen, besonders wenn es darum geht, die Stringenz im Ausdruck als solche zu würdigen. Der klare Ausdruck bürgt für den klaren Ge­danken, und umgekehrt. Frege gibt zu bedenken: Boole schlägt eine symbolische Ausdrucksebene vor, welche die logische Urteile in Fortsetzung der Leibnizschen Unterscheidung von ,non ens' und ,ens', Nichtsein und Sein auf der existentiel­len Ebene (oder ,null' und ,eins' auf der Ebene der Schaltungen) auf jene Ebene transponiert, die relevant ist für jede analytische Differenzierung von allgemei­nen Propositionen. Frege stellt den Vorteil der Begriffsschrift insofern heraus, als es hier um eine neue Bezeichnungsweise geht. Als "bloße Darstellung der logischen Formen" nützt sie die Ökonomie der Schreibfläche laut Frege besser als die Boo­le'sche Symbolverkettung, die keinen Zusammenhang erkennen lasse und durch die "eine einzige oft überlange Zeile" entstände.21 Frege radikalisiert gewisser­maßen das, was in jeder arithmetischen Ableitung üblich ist, wo die Gleichungen nicht nebeneinander stehen, sondern zwecks Übersichtlichkeit von oben nach unten aufeinander folgen. Darauf weist er hin, um die Kritik abzuwehren, er "huldige der japanesischen Sitte der Verticalschrift" . Daß die Boole'sche Logik einst auf keinen bewußten Referenten mehr angewiesen sein wird, sondern An­wendung in Maschinen findet, denen die Verarbeitung überlanger Codezeilen aus Nullen und Einsen kein Problem bedeutet, wie sollte Frege dies damals in den Sinn kommen?22

Freges Revolution der logischen Bezeichnung ist eine Erinnerung an den Aus­druck in der Philosophie. Die Umgangssprache ist hier ein Hindernis, jedenfalls sieht das der logische Empirismus so: je abstrakter und je differenzierter der Aus­druck unserer Gedanken, desto problematischer ist die Verwendung der natürli-

20 Frege: Über den Zweck der Begriffsschrift,

op.cit, S97 21 ebd. 5 . 1 04f

22 Obwohl die einschlägigen Anmerkungen der

,First Lady of Cyberspace', Ada Lovelace, zu Babbages ,Analytical Engine' längst vorla-

gen, freilich ohne Bezug auf Boole; vgl. Lady Ada Lovelace: 5cientific Memoirs, London

1 843, zit. nach Künzel I Bexte: Maschinen­

denken I Denkrnaschinen, op.cit., 5 . 1 14- 1 22

Page 141: Medienphilosophie Hartmann

Frege 141

chen Sprache. Meist wird aber nur der Wunsch gesehen, die Mehrdeutigkeit der Worte zu überwinden. Indem er die Sprache recodiert, wollte schon Leibniz eine philosophische Sprache frei von Ambiguitäten schaffen: der Wissensstoff besteht aus Elementen oder Grundideen, die ebensogut durchnumeriert werden könn­ten." Recodierung heißt aber immer auch, eine andere Schrift einzusetzen. Fre­ge nun will vermeiden, formal verschiedene logische Verhältnisse durch formal gleiche Ausdrucksmittel darzustellen. Er versucht damit, die Limitierungen des Druckereigewerbes mit seinem eingespielten Repertoire an Ausdrucksmitteln zu durchbrechen. Die formale Gleichheit auf der Ausdrucksebene ist nicht nur der Sprache geschuldet, die gleiche Worte für verschiedene D inge setzt, sondern ebensosehr der Schrift oder besser, dem Druck. Deshalb entwirft Frege ja seine Begriffsschrift, als Optimierung der Schreibflächenökonomie, aber auch als Nega­tion des drucktechnischen Imperativs - wenn man so will, als Kritik der mecha­nistisch eingespielten Codierungs/Decodierungstechniken. "Ich sehe in dieser Be­

zeichnungsweise einen der wichtigsten Bestandtheile meiner Begriffsschrift, durch den sie auch als bloße Darstellung der logischen Formen einen bedeutenden Vor­sprung vor Booles Schreibweise hat."24

Das neue logische Zeichensystem, das also vorgeschlagen wird, zeigt auf einer nicht gänzlich explizit gemachten Ebene den Zusammenhang von Kulturtechnik, von typographischem Code und Denken. Das Problem ist nicht allein das Ver­hältnis von Sprache und Wirklichkeit, sondern das der Codierung und des Aus­drucks. Die Emphase eines neuen logischen Denkens, das mit den tradierten for­malen Ausdrucksmitteln nicht länger zurechtzukommen sucht, sondern sie kur­zerhand verändert, bedeutet schon einen Ausbruch aus der Gutenberg-Galaxis. Deren Regelhaftigkeit, repräsentiert in der tradierten Form des Buchdrucks, ge­gen die Frege im Interesse seiner Sache so offensichtlich verstößt, weist die neu­en, unbekannten Zeichen jedoch weit von sich. Frege trifft auf pragmatische Schwierigkeiten, die mit der Ordnung der Setzkästen zu tun hat, und sollte sich auch über die kühle Aufnahme seiner Begriffsschrift in der Fachöffentlichkeit be­klagen: für Mathematiker enthalte die Begriffsschrift metaphysisch verdächtige Begriffe, und die Philosophen läsen sie genausowenig, da diese mit fremdartig wirkenden Formeln nichts anfangen könnten.

Deklarierte Absicht der Begriffsschrift war, die Wissenschaft durch eine Ver­besserung der Methode, durch eine erhöhte Stringenz im Ausdruck zu fördern. Mag man auch neue Wahrheiten in seiner Schrift vermissen, so wäre es eben die analytische Haltung selbst, die laut Frege den Vorteil darstellt. Es sollte die Be-

23 G.W. Leibniz: Lingua Generalis ( 1 678), zit.

nach Eco: Auf der Suche nach der idealen Sprache, op.cit., S .276

24 Frege: Über den Zweck der Begriffsschrift,

op.cit .. S . l 05

Page 142: Medienphilosophie Hartmann

1 42 Die befreite Symbolik

geisterung eines Leibniz wiederaufleben, dessen ,allgemeine Charakteristik' ein wohl zu groß angelegtes Unternehmen gewesen sein mag, aber dennoch würde eine "unermessliche Vermehrung der geistigen Kräfte der Menschheit aus einer die Sache selbst treffenden Bezeichnungsweise entspringen"25, wenn man diese schrittweise realisieren würde: die moderne Arithmetik, Geometrie und Chemie hätten bereits überprüfbare Verwirklichungen des Leibniz'schen Gedankens in einzelnen Gebieten gebracht. Die Begriffsschrift wird in die Mitte dieser Neue­rungen gesetzt, um die Lücken der bestehenden Formelsprachen zu ersetzen. Al­lerdings zeigt die verbesserte Methode durchaus kulturell zweideutige Implika­tionen, denn sie macht ja nicht Halt bei den Formalwissenschaften: "Wenn es ei­ne Aufgabe der Philosophie ist, die Herrschaft des Wortes über den menschlichen Geist zu brechen, indem sie die Täuschungen aufdeckt, die durch den Sprachge­brauch über die Beziehungen der Begriffe oft fast unvermeidlich entstehen, in­dem sie den Gedanken von demjenigen befreit, womit ihn allein die Beschaffen­heit des sprachlichen Ausdrucksmittels behaftet, so wird meine Begriffsschrift, für diese Zwecke weiter ausgebildet, den Philosophen ein brauchbares Werkzeug werden können."26

7.4. Zweifelhafte Reinheit einer Formelsprache

Die Verwendung von Symbolen in der logischen Formalsprache hat einen ge­wissermaßen ästhetischen Charakter, der als Ausbruch aus der Linearität von Frege ja bewußt wahrgenommen wurde. Die Formelsprache des reinen Denkens zielt auf die Medialität der Sprach/Schriftfunktion selbst. Um die verwirrenden metaphysischen Probleme zu vermeiden, werden zwei Grundannahmen be­müht: die erste ist die, daß ein ,reines' Denken erst von der Sprache ,verunrei­nigt' wird. Die ,andere' Sprache, nämlich die Formelsprache, ersetzt nicht die natürliche Sprache, es bleibt ihr damit das Problem, diese als Metasprache stets mitverwenden zu müssen. Hierin steckt schon die Resignation, daß eine Verbes­serung der Sprache in therapeutischer Absicht kein Zurück zu einer Ursprache bedeuten kann. Die zweite Grundannahme ist die, daß der Geist auf einer uni­versalen Grammatik beruht, wobei die gegebene sprachliche Ebene ein Ober­flächenphänomen darstellt. Dies erzeugt einen Zirkel, nach dem die gemeinsa­men Gesetze oder auch universalen Konstanten aller Sprachen im klaren Licht der Vernunft durch die Maschen der sie verhüllenden Sprache scheinen - es braucht dazu eine Metasprache, die auf alle anderen Sprachen umstandslos an­wendbar wäre, die ihrerseits aber schwer anders als wiederum auf das Modell ei-

25 Gottlob Frege: Vorwort zur Begriffsschrift ( 1 878). in: op.cit., S.XI

26 ebd .. S.XIlf

Page 143: Medienphilosophie Hartmann

Frege 143

ner verbalen Sprache bezogen gedacht werden kann.'7 Dieses Problem spinnt sich fort, vor allem in Wittgensteins Versuchen, die Lo­

gik der Sprache einzukreisen, um damit die philosophischen Probleme (alle ! ) zu lösen. Dem Denken eine Grenze zu ziehen läßt sich nur mit der Sprache und in der

Sprache erreichen, und zwar indem man sich strikt auf den "Ausdruck der Ge­danken" bezieht, da wir das Jenseits dieser Grenze des Denkens nicht denken können.28 Die Weichheit und Veränderlichkeit der Wortsprache, die Frege als so störend empfand, lehnt Wittgenstein durch eine bereits äußerlich demonstrierte Strenge ab. Mit dem Tractatus tritt der philosophische Zuchtmeister auf, dessen streng numerisch konstruiertes Satzgefüge sich aus der historischen Distanz aber wie eine Parodie auf sich selber liest, wiewohl der erhobene Anspruch ernst ge­nommen werden muß, das Unaussprechliche mittels beschränkter Aussagemög­lichkeiten einzukreisen. Die logische Strenge ist hier mehr als eine Beschwörung zu sehen, und alle Überzeugung reicht nicht aus, sie konsequent auf ein Ziel hin durchzuhalten: das Streben nach Klarheit wird zum Selbstzweck.'• D ie Idee einer physikalischen Basissprache, in der Satz und Wirklichkeit zusammenschießen würden wie in der Abbildung Bild und Abgebildetes, wird später bekanntlich zu­gunsten der Umgangssprache aufgegeben.'0 Aus einem Streben nach dem Kalkül

wird die Rede vom Spiel; aus dem harten logischen Denken ein weiches und ten­tatives, das dem Verständnis der wirklichen verwendeten Sprachfunktionen näherkommen will . Manche (beispielsweise Gilles Deleuze ) sehen darin nicht ganz zu Unrecht eine Bankrotterklärung der Philosophie. Und Wittgenstein selbst: "So gelangt man beim Philosophieren am Ende dahin, wo man nur noch einen unartikulierten Laut ausstoßen möchte."' 1 Auch diesen Ausdruck mag man dann als Sprachspiel oder als Teil eines Sprachspiels zur Beschreibung frei­geben. Nur wird das Problem dadurch nicht gelöst. Jenes Streben nach der Einlösung einer von Leibniz bis Frege erträumten Steigerung des Erkenntnispo­tentials "aus einer die Sachen selbst treffenden Bezeichnungsweise" (Frege) un­terliegt der Vorstellung eines geheimen Ideals, das sich die ständigen Kample-

27 Eco: Suche nach der vollkommenen Spra­

che, op.cit., S .3 1 9f 28 Wittgenstein: Tractatus, Werkausgabe Band

I. op.cit.. Vorwort S .9 - Zum stilistischen Einfluß von Frege auf Wittgenstein vgl. Zet­tel Nr.7 1 2, in: Wittgenstein: Über Gewißheit,

Werkausgabe Band 8, Frankfurt: Suhrkamp 1 997, S.442

29 Daß dies für den ,ganzen' Willgenstein gilt,

zeigt Matthias Kroß: Klarheit als Selbst­zweck. Berlin: Akademie Verlag 1 993

30 Tractatus, Satz 4. 1 2. S . 33 - Zur Konstrukti­

on idealer Sprachen und der lllusion, diese wären vollkommener als die Umgangsspra­che, vgl. Wittgenstein: Philosophische Un­tersuchungen Nr. 8 1 , Werkausgabe Band I ,

op.cit., S.286

3 1 Wittgenstein : Philosophische Untersuchun­

gen Nr.26 1 , op.cit., S .363

Page 144: Medienphilosophie Hartmann

144 Die befreite Symbolik

xitätssteigerungen und den steigenden Abstraktionsgrad als Fortschritt des Den­ken vorstellt und nicht als das, was sie tatsächlich sind: soziokulturelle Ausdiffe­renzierungsprozesse, die wie schon die Einführung der phonetischen Schrift und des Zahlensystems nach einer neuen medialen Organisation verlangen.

Es sind nicht die philosophischen Verhältnisse, die immer komplexer werden und dadurch abstraktere Ausdrucksmittel verlangen, sondern die formal zur Ver­fügung stehenden Mittel - in diesem Fall die des Leitmediums Buch - genügen irgendwann nicht mehr, die an sie gestellten gesellschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Anforderungen zu erfüllen: damit ist der Zeitpunkt gekom­men, ihre Rationalisierung voranzutreiben.

Zusammenfassung Nach vielen historischen Versuchen, eine den Gedan­

ken adäquate Ausdrucksebene zu finden, besinnt sich der Logiker Gottlob Fre­

ge auf die Medialität der Schrift selbst. Ohne Zeichen wären wir nicht in der La­

ge, begrifflich zu denken. G leichzeitig wissen wir, daß unsere Sprache nicht lo­

gisch vollkommen ist, sondern vieles nur andeutet. E ine Präzisierung könnte

hier, wie Frege meinte, zum Fortschritt der Wissenschaften beitragen. Analog

zur chemischen Formel etwa müßte eine neue Form des Ausdrucks geschaffen

werden, eine strenge Zeichenverwendung, die den Inhalt definitiv festhält. Es

fehlt ein Mittel, schon auf der Ausdrucksebene Fehler im eigenen Denken

ebenso zu vermeiden wie Mißverständnisse bei anderen.

Eine neue Anschaul ichkeit der Denkformen sollte weit über die Mathematik

h inausreichen und die übera l l wiederkehrenden logischen Verhä ltnisse adä­

quat bezeichnen helfen, während die Umgangssprache hier unzulängl ich

bleibt. Deshalb entwickelte Frege eine Begriffsschrift, die unter Ausnutzung

der zweifachen Ausdehnung der Schreibfläche die Bedeutung eines Ausdrucks

nicht nur abstrakt erschl ießt, sondern auch aus seiner Lokalisierung auf der

physischen Ausdrucksebene Damit revoltiert der Logiker gegen eine l ineare

Abstraktion der typographischen Anordnung von Zeichen.

Das Motiv der Begriffsschrift ist eine durchaus instrumental istische Verbesse­

rung wissenschaftlichen Ausdrucks im Sinne von dessen Rational isierung. For­

male Logik ist nicht kommunikativ, sondern sie hat eine Funktion, die verbes­

sert werden kann. Sie bi ldet damit einen teils unbewußten Protest gegen die

technischen Mittel einer typographischen Ku ltur, die den wissenschaftlichen

Diskurs behindern.

Freges Neuansatz ist ein wichtiger Schritt in der Formal isierung der logischen

Denkleistung, und die Anlage seiner Begriffsschrift erinnert nicht von unge­

fähr a n den Schaltplan von Maschinen. Die Sprache des logischen Ausdrucks

Page 145: Medienphilosophie Hartmann

Frege 145

wird explizit vom Urteil befreit, um die Zeichenverbindungen selbst im Vorfeld

der Urtei lsbi ldung zu rational isieren. Diese neue Schrift erfüllt keinerlei kom­

munikative Zwecke mehr, sondern nurmehr rein funktionale. Frege leistet da­

m it zweierlei: erstens macht er erste Sch ritte in Richtung ei ner Maschinenkom­

munikation, indem geistige Operationen impl izit a ls rational isierbar vorge­

stellt werden. Zweitens bahnt sich mit der Begriffsschrift bereits das Ende der

.,Gutenberg-Galaxis" (Mcluhan) an, indem die bestehenden typographischen

M ittel zum Zweck wissenschaftlichen Ausdrucks radikal in Frage gestellt wer­

den.

Page 146: Medienphilosophie Hartmann

ISOTYPE INTERN A T I O N A L S Y S T E M ÜF TYP O G R A P H i e PI CTURE

E D U CATION

t EI

I

Abbildung 10 Gerd Anrtz, Otto Neurath: ISOTYPE Titelbild (!936)

Page 147: Medienphilosophie Hartmann

8. Kapitel . Sprechende Zeichen.

Otto Neuraths internationale Bildsprache

.,Der ermüdete Mensch nimmt rasch im Bilde etwas

zur Kenntnis, was er lesend nicht mehr auffassen könnte."

Otto Neurath

8.1 . Beschreibung statt Erklärung

In einer Gegenbewegung zur im akademischen Rahmen wiederauflebenden ,er­fahrungsfeindlichen' Philosophie des deutschen Idealismus' entwickelte sich in den Jahrzehnten um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert eine empiristi­sche Strömung, die eine gänzlich neue Forderung an die philosophische Disziplin als Wissenschaft zu stellen wagte - nämlich die, sich am Stand der entwickelten Technik und Naturwissenschaften zu orientieren. Dieses Ideal einer exakten Wis­senschaft hatte jedoch gerade selbst mit sich zu kämpfen, da etwa in der mathe­matischen Grundlagenforschung einige gravierende Widersprüche zu diskutie­ren waren, die der Forderung nach absoluter Wissenschaftlichkeit nicht gerade entgegenkamen, sondern im Gegenteil eher die Auflösungstendenz einer mono­lithischen wissenschaftliche Eindeutigkeit signalisierten.

Das Exaktheitsideal oder die Frage nach einer möglichen Gewißheit schwenkt von nun an mehr in die Richtung eines Rätseins darüber, wovon wir denn über­haupt sinnvoll sprechen könnten. Die Frage wird auf die rein logisch-mathema­tische Ebene verlagert, um sich in Fragen der syntaktischen Ebene zu verlieren, aber stets mit der Absicht, die symbolische Logik weiterzuentwickeln, also den von Frege eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen.' Hier sollte sich aber auch

Zur Entwicklung der akademischen Philoso· phie bis zu jener Zeit vgl. den Überblick von Herben Schnädelbach: Philosophie in

Deutschland 1 83 1 · 1 933, Frankfurt: Suhr­

kamp 1 983

Allred N. Whitehead I Benrand Russell:

Principia Mathematica, Cambridge 1 9 1 0-1 9 1 3

Page 148: Medienphilosophie Hartmann

148 Sprechende Zeichen

die Kluft zwischen der wissenschaftlichen Erklärung der Welt und dem Wunsch auch einem erweiterten Verstehen vertiefen. Wittgenstein wird dagegen einen anderen Weg markieren: "Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ih­re Stelle treten."'

Mit anderen Worten wird die auch im Lichte neuer ,Tatsachenerfahrungen' immer noch problematische Frage nach der Verbindung von Sprache und Welt nun in auf eine Ebene der philosophischen Theorie der Beschreibungen trans­formiert, mit der die logische Ausdrucksform als solche in den Vordergrund rückt. Als Frage danach, wie wir im Prozeß der Erkenntnis von Welt zu irgend­einer Gewißheit gelangen können, wird sie sprachanalytisch reinterpretiert als Frage danach, welche unserer Aussagen über die Welt empirisch sinnvoll zu ma­chen sind und welche eben nicht.

Das Ziel dieses Philosophierens ist nunmehr die logische Klärung der vorge­fundenen Gedanken, die alle irgendwie vermittelt oder kommuniziert werden. Vollkommen gegen das Motiv der traditionellen, metaphysisch orientierten Phi­losophie gerichtet, die mittels systematischer Entfaltung synthetischer Sätze eine neue Wahrheit zu entfalten trachtet, entsteht aus diesem Motiv die analytische Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts. Das Problem des Erkennens wird hier nicht gelöst, sondern auf seine relevanten Momente zurückgeführt - soll heißen: dem antimetaphyischen Weltbild des Positivismus entsprechend und in wissen­schaftliche Argumentation auflösbar. Die Grundlagen der Naturwissenschaften befanden sich auf mehreren Diskussionsebenen in der Krise ( Russells Typenleh­re, Einsteins Relativitätstheorie, Bohrs Quantenmechanik) , wobei sich die er­neuerte Philosophie mit ihrer Methode der logischen Analyse anbot, eine neue Rolle im Konzert der Disziplinen zu übernehmen. Den Wissenschaften überließ man die Feststellung empirischer Tatsachen, der Philosophie sollte die logische Analyse der damit aufgestellten Behauptungen überlassen sein. Sie spielt dabei aber eine belastende Doppelrolle, sich nämlich zunächst selbst zu therapieren und dabei gleichzeitig den restlichen wissenschaftlichen Disziplinen eine logische Orientierung zu liefern. Sie wird damit zur Wissenschaftslogik ( Rudolf Carnap) , während sie den Mauthnerschen Grundgedanken weiterverfolgt und sich an­schickt, durch eine Säuberung der Ausdrucksebene, indem ,metaphysische Scheinbegriffe' eliminiert werden, eine geistige Erneuerung zu leisten.•

Wittgenstein: Philosophische Untersuchun­gen Nr. l 09, Werkausgabe Band I , op.cit., S.298f - im Tractatus (Satz 6.52) hieß es resi- 4

gnativ: • Wir fühlen, daß wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind,

unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.· ebd., 5.85 Rudolf Carnap: Oberwindung der Metaphy­sik durch die logische Analyse der Sprache, 1 9 3 1

Page 149: Medienphilosophie Hartmann

Neurath 149

Die alle Lebensbereiche spürbar durchdringende Wissenschaftlichkeit wird hier nicht als defizitäre Rationalisierung erlebt, sondern als moderner Aufbruch in eine bessere Welt, in der die Bereiche des Ökonomischen und des Sozialen nach rationalen Grundsätzen gestaltet sind. Diese Flucht nach vorn in eine ein­dimensionale Wissenschaftlichkeit, die sich von dem jahrhundertealten meta­physischen und theologischen Schutt selbst befreit, tritt in der programmatischen Gründungsakte des Wiener Kreises, einer Gemeinschaftspublikation von Rudolf Carnap, Hans Hahn und Otto Neurath, besonders deutlich hervor.

"Die wissenschaftliche Weltauffassung ist nicht so sehr durch eigene Thesen charakterisiert als vielmehr durch die grundsätzliche Einstellung, die Gesichts­punkte, die Forschungsrichtung. Als Ziel schwebt eine Einheitswissenschaft vor. Das Bestreben geht dahin, die Leistungen der einzelnen Forscher auf den ver­schiedenen Wissenschaftsgebieten in Verbindung und Einklang miteinander zu bringen. Aus dieser Zielsetzung ergibt sich die Betonung der Kollektivarbeit; hier­aus auch die Hervorhebung des intersubjektiv Erfaßbaren; hieraus entspringt das Suchen nach einem neutralen Formelsystem, einer von den Schlacken der hi­storischen Sprachen befreiten Symbolik; hieraus auch das Suchen nach einem Gesamtsystem der Begriffe. Sauberkeit und Klarheit werden angestrebt, dunkle Fernen und unergründliche Tiefen abgelehnt. In der Wissenschaft gibt es keine ,Tiefen'; überall ist Oberfläche: alles Erlebte bildet ein kompliziertes, nicht immer überschaubares, oft nur im einzelnen faßbares Netz."'

Ausgerechnet im Zeitalter der Entdeckung des Unbewußten durch die Freud­sche Psychoanalyse will man also überall nur Oberfläche sehen - ungeachtet die­ser Prätention, die man auch als defensive Selbstbewertung von Wissenschaft­lichkeit einstufen kann, werden im Kontext dieses Manifestes moderner Aufge­klärtheil zwei medienphilosophisch elementar wichtige Aussagen getätigt. Erstens wird die Metaphysik aufgrund ihrer Ausdrucksebene attackiert; ange­griffen wird dabei die Haltung der traditionellen Philosophie, nach welcher der Geist "aus sich heraus, ohne Benutzung irgendwelchen Erfahrungsmaterials zu Erkenntnissen" oder durch rein synthetisches Urteilen zu neuen Inhalten führen könnte. Die Kritik gilt also recht eindeutig dem reinen, von aller Medialität be­freiten Geist und damit dem dekontextualisierten Denken. Über die zweite und damit zusammenhängende Aussage, die traditionelle Konfusion von Sprechen

Wissenschaftliche Weltauffassung - Der Wiener Kreis, Wien 1 929, im Auftrag des neu gegründeten Vereins Ernst Mach geschrie­bene Standortbestimmung im Vorfeld der , I . Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften' in Prag; zit. nach der Ausga-

be in: Otto Neurath: Wissenschaftliche Welt­auffassung. Sozialismus und Logischer Em­pirismus, hg. von Rainer Hegselmann, Frankfurt: Suhrkamp 1 979. S .8 1 - I O I . hier S.86

Page 150: Medienphilosophie Hartmann

1 50 Sprechende Zeichen

und Denken, haben wir im Vorfeld dieser Diskussion in den vorangegangenen Kapiteln schon einiges in Erfahrung gebracht. Der mißachtete Einfluß der Um­gangssprache auf den Bereich der kognitiven Leistungen erzeugt eine systemati­sche Unklarheit über die logische Leistung des Denkens selbst. Daran schließt sich das (auch von Wittgenstein in jener Zeit hochgehaltene) Votum für eine physikalische Basissprache an, die mit den Problemen aufräumt, die aus den Ir­reführungen durch die für wissenschaftliche Zwecke ungeeigneten Umgangs­sprache stammen. Erst dann ließe sich klar analytisch arbeiten, bzw. erst dann ließen sich die Ergebnisse der wissenschaftlichen Analyse im intersubjektiven Kontext reibungslos kommunizieren. Die seit Leibniz angestrebte Erneuerung der Logik wird radikal mit der pragmatischen Ebene einer Neugestaltung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zusammengedacht.• Logi­sche Analyse heißt, keine eigenen philosophischen Aussagen aufzustellen, son­dern im Gegensatz dazu die erfahrungswissenschaftlich gewonnenen Aussagen auf analytischem Weg zu klären. Am besten benutzt sie dazu eine gereinigte Me­dialität, also das, was schon Frege ein zentrales Anliegen war: die von eigener Be­deutungsgenerierung unbelastete, die befreite Symbolik.

8.2. Der Einsatz optischer Methoden

Im beginnenden zwanzigsten Jahrhundert hat die Wissenschaft ein eminentes Problem: wie ist mit einer Ausdrucksebene umzugehen, die weder Gegenstands­repräsentation noch Metaphysik sein will? Wie werden die neuen Erkenntnisse, im Zusammenhang mit neuen logischen Methoden, aber auch im Hinblick auf neue mediale Reproduktionstechniken, in eine adäquate Darstellung überführt? Die Philosophie als akademische Disziplin bleibt zunächst unberührt von der Re­volutionierung der Kulturtechniken durch neue Speicher- und Übertragungsme­dien; hingegen in Gebrauchsgraphik und Werbung finden sich ebenso wie in der modernen Kunst (Kubismus, Bauhaus, russischer Konstruktivismus) Reflexe auf die moderne Medientechnik, die den Einsatz optischer Methoden ermöglicht, die schließlich auch in der Wissenschaft ihren Einzug halten. Bereits rückblickend auf diesen Prozeß, schreibt Otto Neurath 1 9 3 1 in seinem Aufsatz "Bildstatistik nach Wiener Methode":

6 Die Forderung nach einer neuen Lebensbe­deutsamkeil der Philosophie war in jener

Zeit kaum originell, weist erkennbar antiin­tellektuelle Züge auf und fand sich dement­sprechend auch auf Seiten der reaktionären

Theoriebildung, vgl. dazu Frank Hartmann:

Denker Denken Geschichte. Erkundungen

zu Philosophie und Nationalsozialismus, Wien: Passagen 1 994

Page 151: Medienphilosophie Hartmann

Neurath 1 51

"In ihrer modernsten Form sucht die Wissenschaft Vorgänge vor allem optisch

festzuhalten. Die astronomischen Tatsachen werden photographiert, Sternen­bahnen und Spektren, Kristallstrukturen werden mittelbar photographisch fest­gehalten, das Verhalten von Ameisen, das Verhalten von Kindern bei bestimm­ten Reaktionen zeigt uns die Photographie, ja, Tonaufnahmen werden uns op­tisch nahegebracht. Wo die ruhende Photographie nicht ausreicht, tritt die Kinoaufnahme hinzu. Diese Ausbreitung des optischen Protokolls - an die Stelle früherer Eintragungen treten Registrierapparate - lehrt uns ein flüchtiger Ver­gleich älterer und neuerer wissenschaftlicher Literatur. Aber nicht nur die Proto­kolle bedienen sich optischer Mittel, auch die Darstellung der Ergebnisse bedient sich ihrer in wachsendem Umfang."'

Das Ungenügen der linear prozessierten Worte einer typographischen Schrift­zeile wird dort offensichtlich, wo es über die prozessuale Rekonstruktionslogik hinaus um die Darstellung von Relationen geht. Und genau dies war Neuraths Absicht: gemäß der wissenschaftlichen Weltauffassung, die dem Leben und den Lebensproblemen' dienlich sein soll, geht es ihm auf einer pragmatischen Ebene um eine gesellschaftliche Aufklärung mit Hilfe optischer Methoden. Diese sollten dazu dienen, die Lebensbedingungen und die Auswirkungen der Technik, aber auch die Rationalisierungsfolgen der Moderne und damit die sozialen Verhältnisse

generell zum Ausdruck zu bringen. Die Probleme der Wissenschaft - vor allem in Fragen des Wissenstransfers - werden dezidiert als Kommunikationsprobleme gese­hen. Neuraths Programm einer internationalen B ildsprache läßt sich als einer der radikalsten Versuche dechiffrieren, den cartesianisch/kantianischen Erkenntnis­raum der Moderne mit medialen Mitteln zu durchbrechen. Tragendes Motiv da­bei ist die Aufwertung der analog-visuellen gegenüber der ,alphanumerischen Codierung' (Flusser ) .

Die zahlreichen historischen Versuche, eine wissenschaftliche Idealsprache ohne Ambiguitäten zu finden, belegen das Ungenügen der Worte bzw. einer Kul­turtechnik, die das phonetische Alphabet privilegiert hat. Francis Bacon, Thomas Hobbes und John Locke mögen als frühmoderne philosophische Zeugen für die Bemühung dienen, durch den Ansatz bei der Sprache eine Therapie der Wissen­schaft einzuleiten. Ende des siebzehnten Jahrhunderts schreibt Locke in seinem Essay Concerning Human Understanding unmißverständlich: "Da der Hauptzweck der Sprache beim Kommunizieren der ist, daß man verstanden wird, eignen sich

7 Neurath: Bildstatistik nach Wiener Methode, 8

1 9 3 1 , in ders.: Gesammelte bildpädagogische

Schriften, hg. von Rudolf Haller und Robin

Kinross, Wien: Hölder-Pichler-Tempsky, 1 99 1 , 5. 1 80

Dies ist als Antwort auf die Skepsis Willgen­

steins zu lesen, die er in den letzten Sätzen

des Tractatus zum Ausdruck bringt; vgl. Neu­

rath et al . : Wissenschaftliche Weltauffas­

sung, op.cit . . S . l 0 I

Page 152: Medienphilosophie Hartmann

1 52 Sprechende Zeichen

die Wörter für diesen Zweck nicht gut."• Neurath bezieht sich für sein Konzept auf den religiösen Volkspädagogen Johann Amos KomensJ<Y, genannt Comenius, dessen Opera didactica omnia im siebzehnten Jahrhundert für die Idee einer enzy­klopädisch angelegten, anschaulichen Wissenssammlung stehen; Neurath be­zieht sich mehrfach auf dessen Orbis pictus, der Bilder in aufklärerischer Absicht einsetzt . ' 0 Er faßt deshalb sein Unternehmen, entscheidende Diskrepanzen zwi­schen den Zeichen, dem Bezeichneten und dem Sinn von Symbolen zur logi­schen Klarheit und E indeutigkeit im Anschaulichen zu bringen, unter dem Slo­gan zusammen: "Worte trennen, Bilder verbinden. ""

Otto Neurath war ein Pionier in vielerlei Hinsicht: in seinen Schriften finden sich Beiträge zu Nationalökonomie, Soziologie, Wissenschaftstheorie und Sozial­philosophie. '2 Beachtlich ist jedoch vor allem sein revolutionärer kommunikati­onstheoretischer Ansatz, der die Rolle der Kommunikation in der Entstehung des modernen Menschenbildes reflektiert. " Im weiteren Kontext der wissenschaftli­chen Weltauffassung artikulierte er eine Frühform der Medienpädagogik, die er als Fortsetzung des Aufklärungsprogramms verstanden hat: der durchaus politi­sche Kampf gegen die Abstraktionen der Metaphysik sollte durch die Implemen­tation eines neuen Bild-Text-Stils ausgetragen werden, als eine kommunikations­technische Aufwertung einer ikonischen Bildsprache, der International Picture

Language, bzw. ISOTYPE. 14 Ausgangspunkt dazu war sein 1 924 in Wien gegründetes Gesellschafts- und

Wirtschaftsmuseum, einem "Volksbildungsinstitut für soziale Aufklärung" (Neu­rath) , das darüber hinaus mit der Frage, wie soziale Verhältnisse sichtbar gemacht werden können, ein Konzept für die "Museen der Zukunft" lieferte. Deren zen­traler Gedanke beruht auf der Tatsache der möglichen technischen Reproduzier­barkeil als solcher, und weiters der damit verbundenen Vereinheitlichung von vi­suellen Darstellungsmethoden. Neurath bezieht sich hier auf das historische Bei-

9 Zit. nach Eco, Die Suche nach der vollkom­

menen Sprache, 1 994, op.cit., S.220

10 "Die ISOTYPE-Arbeit setzt fort, was in ge­

wissem Sinn Comenius in seinem ,Orbis pic­tus' erstrebt hat. Die Idee einer einheitlichen Enzyklopädie schließt sich an alte Enzyklo­pädiepläne an und bewegt sich in derselben Richtung wie die Bestrebungen von Paul Ot­

let, der in der Cite Mondial einen internatio­nalen Museumskomplex schaffen wilL des­

sen Elemente durch Reproduktion verbreitet

werden können." Neurath: Bildpädagogi­sche Schriften, op.cit., S.348

1 1 Neurath: Bildstatistik nach Wiener Methode.

op.cit., S . l 90 und passim

12 Vgl. Paul Neurath, Elisabeth Nemeth (Hg. ) :

Otto Neurath oder die Einheit von Wissen­

schaft und Gesellschaft, Wien: Böhlau 1 994

13 Otto Neurath: Modern Man in the Making, New York: Knopf 1 939 - vgl. die deutsche Fassung in Neurath: Bildpädagogische Schriften, S.449-590

14 ISOTYPE = International System ofTypographic Picture Education; Otto Neurath: International Picture Language, London: Kegan Paul

1 936; ders.: From Hieroglyphics to Isotypes,

London: Future Books, Vo1.3, 1 946 - vgl. die deutschen Übersetzungen in Neurath, Bild­pädagogische Schriften, S .355 -398 bzw. S.636-645

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Neurath 1 53

spiel der Schrift und des Drucks: während früher ein im Manuskript enthaltenes Wissen durch seine Einzigartigkeit Teil eines einmaligen Schatzes war, demokra­tisiert sich gespeichertes Wissen nach der Gutenbergsehen Neuerung durch die Möglichkeit der Serienproduktion. Wurden in den Museen bislang seltene und daher ,sehenswerte' Originale ausgestellt, werden die Museen der Zukunft den Zugang zum Wissen revolutionieren, indem sie den Ausstellungswert neu definie­ren und weiters die Ausstellung selbst "in Standardserien produzieren" . " Das Ge­sellschafts- und Wirtschaftsmuseum realisierte dies zunächst durch Schautafeln mit aufbereiteten Daten zur Wirtschaftslage und zu sozialen Angelegenheiten, mit denen als Wanderausstellung beispielsweise die städtischen Volkshallen bestückt wurden.

8.3. Die Transferleistung wissenschaftlicher Darstellung

Das Problem der wissenschaftlichen Darstellung zeigt sich besonders kraß dann, wenn Wissen über die engen Grenzen der Gelehrtenrepublik hinaus kommuni­ziert werden soll. Verläßt man den sicheren Boden des Fachjargons, entsteht ein spezifisches Adressatenproblem. Neben den unterschiedlichen Ebenen der sprachlichen Kompetenz wird außerdem klar, daß es in der Kommunikation nicht um einen verbalsprachlichen Zeichengebrauch allein gehen kann. Mit den neuen Speicher- und Übertragungsmedien bricht im zwanzigsten Jahrhundert ein neues Wahrnehmungszeitalter durch, in dem das visuelle Kommunikati­onsdesign stets mehr in den Vordergrund rückt: "Die modernen Menschen emp­fangen einen großen Teil ihres Wissens und ihrer allgemeinen B ildung durch bildhafte Eindrücke, Illustrationen, Lichtbilder, Filme. Die Tageszeitungen brin­gen von Jahr zu Jahr mehr Bilder. Dazu kommt das gesamte Reklamewesen, das einerseits mit optischen Signalen, andererseits auch wieder mit Darstellungen ar­beitet. Ausstellungen, Museen sind durchaus Kinder dieses Schaugetriebes. " 1 6

Neuraths Leistung war, dies nicht nur im Sinn einer treffenden Zeitdiagnose erkannt zu haben, sondern für seine Zwecke ein modernes, visuelles Kommuni­kationsdesign in praktischer Absicht entworfen zu haben, um gleichzeitig ein wichtiges Element der Konstruktion von Öffentlichkeit der gesellschaftswissen­schaftliehen Reflexion zuzuführen. Seine Prognose lautete, daß sich mit den neu­en Visualisierungen in Werbung, Unterhaltung und allgemeiner Publizistik ein neuartiges Netz visueller Argumentation ausbildet, dem sich auch die Wissenschaft nicht versagen darf. Gegen die Tendenz zur Rationalisierung wissenschaftlichen

15 Neurath: Museum of the Future ( 1 93 3 ) , deutsch in: Bildpädagogische Schriften, op.cit., S.244

16 Neurath: Statistische Hieroglyphen ( 1 9 26) , in: B ildpädagogische Schriften, op.cit., S.40

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1 54 Sprechende Zeichen

Wissens plädiert er für ein konkretes Ausdruckssystem, um dieses Wissen zu kommunizieren, und macht sich schließlich mit Hilfe des Graphikers Gerd Arntz daran, dieses in pragmatischer Anwendung zu entwickeln. Zwischen der ein­heitswissenschaftlichen Entfesselung des gesellschaftlichen Potentials, als Einlö­sung von liegengebliebenen Aufklärungsansprüchen, und dem E insatz einer B ildsymbolsprache in Prozessen des Wissenstransfers, mit dem Ziel einer Syste­matisierung der bildliehen Repräsentation gesellschaftlich relevanter Informatio­nen, besteht ein Zusammenhang, zu dessen Verständnis der zeithistorische Kon­text in Betracht gezogen werden muß.

Neurath verhielt sich stets subversiv zum akademischen Bildungs- und Wis­senschaftsideaL Er engagierte sich zudem politisch in der Münchner Räterepublik und war für kurze Zeit Präsident des Bayrischen Zentralwirtschaftsamtes - seine venia legendi am soziologischen Institut von Max Weber in Heidelberg hat er al­lerdings aufgrund dieser politischen Aktivität verloren. Wenn man akzeptiert, daß es in der Philosophie nicht um wissenschaftliche Tatsachen allein geht, son­dern um die Differenz von Erscheinung und Realität (bzw. deren Konstruktion), dann war Neurath sicher auch Philosoph. Er thematisierte diese Differenz als ei­ne zwischen Anspruch und Wirklichkeit der gesellschaftlichen Moderne, als Wi­derspruch zwischen den Idealen der bürgerlichen Aufklärung und den lebens­weltlichen Kosten der Modernisierung. Die fortschrittliche Frage Neuraths lau­tet: wie kann der Wissenschaftler als ,Gesellschaftstechniker' zur Verbesserung der politischen und wirtschaftlichen Konstruktion beitragen?

Seine Antwort war auf eine überraschend einfache Prämisse gebaut: Die Ver­besserung der menschlichen Lebenslage läuft über konkrete Maßnahmen - be­treffend Wohnung, Nahrung, Kleidung, Arbeitszeit - auf wissenschaftlich-me­thodischer Grundlage von empirischer Beobachtung und logischer Analyse. Es waren die harten Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, die Neurath von der Machbarkeit einer wissenschaftlich fundierten Gesellschaftstechnik überzeugt haben. Im Österreichischen k.u.k.-Kriegsministerium mit Organisationsfragen beschäftigt, sah er in der mit dem Ausnahmezustand eingeführten, zentral ver­walteten Naturalwirtschaft die Möglichkeit eines radikalen Bruchs mit abstrak­ten Einheiten (Geld) als dem eingewöhnten Regulativ von Gesellschaft. " Der durch die Kriegsverhältnisse erzwungene Eingriff in ökonomische Zusammen-

17 Hier kehn sich gewissermaßen das Prinzip

um, das Georg Simmel um 1 900 im Geld als der modernen ,.Objektivierung des Lebens"

entdeckt hat: .Das Geld hat den Zweckver­band zu seinen reinen Formen entwickelt, jene Organisationsan, die sozusagen das Un­persönliche an den Individuen zu einer Ak-

tion vereinigt und uns die Möglichkeit ge­lehn hat, wie sich Personen unter absoluter

Reserve alles Persönlichen und Spezifischen vereinigen können." - Georg Simmel: Philo­sophie des Geldes, Frankfun: Suhrkamp 1 989, 5.72 ! . Neurath verfaßt zwischen 1 909 und 1 9 1 9 zahlreiche Artikel zur Kriegswirt-

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hänge signalisierte eindeutig politische Machbarkeit. Neurath sagt an einer Stel­le, daß es die Erfahrungen des Krieges seien, welche die Utopie gesellschaftsfähig machten, da in ihm tiefgreifende Änderungen sozusagen "über Nacht" (d .h . aber auch ebenso unerwartet wie unfreiwillig) realisiert würden: D ie Wirtschaft ist keine Ordnung ,an sich', sondern enthüllt sich genau hier als eine äußerst mani­pulierbare Maschinerie. 1 8 Den wissenschaftlichen Fortschritt mochte er sich ganz ähnlich vorstellen: aus Diskontinuitäten stammend und nicht aus kognitiver Weiter- oder Höherentwicklung. '•

Für die Sozialtheorie bedeutet das auf der einen Seite eine Rekonstruktion der Wissenssysteme, auf der anderen Seite aber eine ethische Verpflichtung auf kon­krete Gesellschaftsorganisation. Neuraths Anspruch auf die Einheit von Wissen­schaft und Gesellschaft kennt als treibendes Motiv nicht nur die Frage, wie Ein­heit in die theoretische Ordnung zu bringen ist, sondern vor allem, wie eine so­ziale Verbindlichkeit zu erreichen wäre, um die Sozialwissenschaften für eine vernünftige Gesellschaftsordnung fruchtbar zu machen. Er war zuversichtlich, damit den Dualismus der europäischen Philosophie - das Auseinanderstreben von Vernunftperspektive und Handlungspotential bzw. von Theorie und Praxis ­als dräuenden Überhang des 1 9. Jahrhunderts programmatisch überwinden zu können. Aber er wußte, daß nur eine historisch vergleichende Betrachtung und nicht axiomatische Setzung zur Einheitswissenschaft führen kann. Nur so ließe sich ein utopisches Kollektiv der wissenschaftlichen Forscher begründen, wel­ches freilich nicht als autarke Gelehrtenrepublik intendiert war, sondern mit volkspädagogischer Intention: Neurath entwickelt dazu die historisch bereits in Ansätzen bestehende "bildstatistische Methode" weiter und propagiert flexible Präsentationsformen wissenschaftlicher Ergebnisse.

schafts/ehre, in der die These von der Auflö·

sung der Geldwirtschaft zugunsren einer Na·

turalwirtschaft vertreten wurde, vgl. Otto

Neurath: Durch Kriegswirtschaft zur Na tu·

ralwirtscha[t (München 1 9 1 9 ) , Auswahltex­

te in: Neurath, Nemeth (Hg.) 1 994, op.cit..

S . l 44ff

18 .Die gewaltigen Umgestaltungen des Krieges haben der Utopie neues Leben eingehaucht. Die Generale und Politiker der letzten Jahre haben unter Verachtung der überlieferten

Gesellschaftsordnung alles dem militäri·

sehen Erfolge dienstbar zu machen gesucht. Kein Eingriff war ihnen zu groß. wenn er den Sieg zu verheißen schien. Die Bande der

Familie wurden erschünert, Menschenmen­

gen hin und her geschoben. Industrien von

Grund auf umgewandelt - alles in der kür­

zesten Zeit. Um der Vernichtung willen wur­

de gezeigt, was Menschenkraft zu leisten

vermag. Ist es so unverständlich, wenn im­

mer mehr Menschen die Frage aufwerfen.

ob man nicht in ähnlicher Weise Friedens­

ziele erstreben könne, wie man so lange

Kriegsziele erstrebt habe?" - Otto Neurath: Die Utopie als gesellschaftstechnische Kon­struktion ( 1 9 1 9 ) , in: Neurath, Nemeth (Hg. )

1 994, op.cit., S. l 59f

19 Eine wissenschaftssoziologische Parallele zur

späteren Argumentation des Paradigmen­wechsels bei Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions, Univ. of Chicago

Press 1 962

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1 56 Sprechende Zeichen

Der Aufklärungsimpuls sollte zu einer Neuauflage der Enzyklopädie als einer aufklärenden Weltübersicht in Theorien und Bildern führen - nicht jedoch als ein verbindlicher Standard, sondern als gedankliches Rahmenmodell der sich stets verändernden Bedingungen gesellschaftlicher Wissensproduktion. Denn Neurath war sich wohl der Gefahr bewußt, die darin liegt, "ein System von ab­soluter Geltung errichten zu wollen". Die Enzyklopädie war gedacht als eine pro­visorische Ansammlung von Wissensbeständen, abhängig vom Gebrauch und künftiger Systematisierung und Präzisierung. Neurath geht es um ein neues Be­ziehungsmuster zum Wissen, und diese Haltung ist das vielleicht Bestechendste an seiner Theoriebildung: das Angebot ergeht an das Kollektiv auch im Sinne der künftigen Anwender, und genau hieraus erklärt sich seine Konzentration auf die kommunikativen Aspekte und auf Fragen der Darstellung.

Mit einer Systematisierung der Darstellung sollte auf einer ersten Ebene die Verständigung innerhalb der Forschergemeinschaft20 verbessert werden, auf ei­ner zweiten Ebene dann der allgemeine Zugang zum Wissen. Auf der ersten Ebe­ne hilft die wissenschaftliche Einheitssprache, auf der zweiten die Schaffung ei­ner neuen Bildsprache. Denn wenn man sich schon darüber einig ist, daß das Wissensreservoir ständig wächst, dann benötigt man im nächsten Schritt eine Be­antwortung der Frage des Zugangs zum Informationspool der modernen Gesell­schaft. Und hier hat Neurath etwas kommunikationstheoretisch ganz Wesentli­ches erkannt: die Notwendigkeit einer Transposition der Aufklärungskommuni­kation auf eine demokratischere Ebene jenseits des alphanumerischen Codes. Da, wie Gestalt- und die Wahrnehmungspsychologie im ausgehenden neun­zehnten Jahrhundert zu zeigen vermocht hat, ein Großteil der Informationen, denen ein Individuum ausgesetzt ist, optisch verarbeitet wird, kann man daraus den Schluß ziehen, daß Informationen visualisiert bzw. Daten in Bilder verwan­delt werden müssen, um überhaupt entsprechend wahrgenommen zu werden.

20 Neurath schreibt in Einheitswissenschaft und Psychologie ( 1 933 ) : .Metaphysische Termini trennen - wissenschaltliehe Termini

verbinden. Die Wissenschaftler, geeint durch

die Einheitssprache, bilden eine Art Gelehr­

tenrepublik der Arbeit, möge sonst noch so vieles die Menschen trennen. • - in: ders .. Gesammelte philosophische und methodolo­

gische Schriften, hg. von Ru doll Haller und H.Rutte, Wien 1 98 1 , Bd.2, 5.6 1 0 Vgl. auch die Bemerkungen zu .Einheit der Wissenschalt als Aufgabe·. die Neurath im

Vorfeld des Internationalen Kongresses für Einheit der Wissenschaft (Prag 1 934) ge­macht hat, in: Neurath, Nemeth (Hg.) 1 994, op.cit., 5 .375!1. Das Medium der wissen­

schaltliehen Kooperation war die Enzyklo­

pädie der Einheitswissenschalt, die als Inter­

national Encyclopedia of Unified Science ­

Foundations of the Unity of Science ab 1 938 in Chicago publiziert worden war. Autoren der ersten Bände waren außer Neurath u.a. auch Charles Morris und Rudoll Carnap.

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8.4. Die ,Wiener Methode' der Bildstatistik

Neurath 1 57

"Der moderne Mensch ist vor allem Augenmensch. Die Reklame, das Aufklärungs­plakat, Kino, illustrierte Zeitungen und Magazine bringen ein Großteil aller Bil­dung an die breiten Massen heran. Auch die, welche viele Bücher lesen, schöp­fen immer mehr Anregung aus Bildern und B ilderreihen. Der ermüdete Mensch nimmt rasch im Bilde etwas zur Kenntnis, was er lesend nicht mehr auffassen könnte. Darüber hinaus ist die bildhafte Pädagogik ein Mittel, weniger vorgebildeten

Erwachsenen, die optisch empfänglicher zu sein pflegen, und auch der weniger be­

günstigten Jugend Bildungschancen zu öffnen, die für sie sonst nicht in Frage kom­men."21

Die Systematisierung der bildliehen Darstellung zu einer neuen Bildsprache würde dabei helfen, allgemein zugängliche Übersichten zu verschaffen und Zu­sammenhänge zu sehen, die durch den abstrakten Ausdruck, ja sogar durch Wor­te und Ziffern, verstellt werden. In mehreren Aufsätzen - exemplarisch in "Bild­liehe Darstellung sozialer Tatbestände" ( 1 926) und natürlich in "Bildstatistik nach der Wiener Methode" ( 1 93 1 ) - hat Neurath seine suggestive Maxime dazu wiederholt, die das verbindende Moment der visuellen Ebene betont: Worte tren­

nen, Bilder verbinden. Es sind zwei Motive zu beachten, die diese Maxime als kei­neswegs naiv erscheinen lassen. Wie bereits im Traktat Wissenschaftliche Weltauf­

fassung festgehalten, soll eine der Einheitswissenschaft dienende Symbolik ein neutrales Formelsystem ermöglichen, das von den "Schlacken der historischen Sprachen" und dem "metaphysischen und theologischen Schutt der Jahrtausen­de" befreit ist." Neben dieser Befreiung vom geschichtlichen Ballast sorgen, als gleichsam zweites Motiv, die technischen Medien um 1 900 für eine neue Ord­nung der Dinge, und Neurath hat gerrau registriert, daß neue Kommunikations­mittel und -techniken in ihre Phase der Durchsetzung treten.

Daß diese Neugestaltung der Ausdrucksebene durchaus als ein medientechni­sches Problem zu verstehen sei, wird aufgrund folgender Überlegungen klar. Ei­nerseits wird, etwa im zitierten Traktat, die wissenschaftliche Aufgabe in den Zu­sammenhang vieler anderer politischer und pädagogischer Bestrebungen gestellt, die wirtschaftlichen und die gesellschaftlichen Verhältnisse neu zu gestalten. Die Eigenheiten der gewachsenen Sprache werden dabei übrigens keineswegs ne­giert, nur ihre Eignung für die fälligen sozialtechnologischen Veränderungen der Moderne wird bezweifelt." Andererseits gilt die Diagnose, daß in den techni­schen Wissenschaften bereits bestehende Vereinheitlichungen etwa auf der Pro­duktionsebene innovative Wirkungen zeitigen, die im Bereich der Gesellschaft

21 Neurath: Bildstatistik nach Wiener Methode, 22 Neurath et al.: Wissenschaftliche Weltauffas-

l.cit., 5. 1 89 sung, op.cit., 5.87 bzw. 5. 1 00

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1 58 Sprechende Zeichen

noch auf sich warten lassen: es gibt noch keine der technischen entsprechende soziale Innovation, eine der internationalen Maschinentechnik entsprechende Ge­

se llschaftstechnik. 24 Das zu diesem Zweck entwickelte kommunikative Instrumentarium wird mit

Hilfe von neu entwickelten Piktogrammen oder ISOTYPE-Symbolen analog den Wörtern der Sprache zu einer Bildsprache zusammengesetzt, die aus drei Ele­menten besteht: Wörterbuch, Grammatik und Stil. Nach bestimmten Transfor­mationsregeln sollten einmal gewonnene wissenschaftliche Aussagen damit all­gemein kommunizierbar gemacht werden. Dazu kooperierte ein Team von So­zialwissenschaftlern mit Experten für graphische Umsetzung25, woraus eine Sammlung universell verwendbarer symbolischer Elemente, ein visueller Thesau­

rus aus sprechenden Zeichen, entstehen sollte. Anstelle der Bezeichnung Wiener Me­

thode der Bildstatistik setzte Neurath in der Emigration 1 9 3 5 dann das internatio­nal verwendbare Akronym ISOTYPE.26 Die neue Methode der Darstellung ist auf Regeln einer möglichst ikonischen Kommunikation gebaut, gemäß dem postu­lierten Vorrang der visuellen Ebene:

"Ein Bild, das nach den Regeln der Wiener Methode hergestellt ist, zeigt auf den ersten Blick das Wichtigste am Gegenstand; offensichtliche Unterschiede müssen sofort ins Auge fallen. Auf den zweiten Blick sollte es möglich sein, die wichtigeren Einzelheiten zu sehen und auf den dritten Blick, was es an Einzel­heiten sonst noch geben mag. Ein Bild, das beim vierten und fünften Blick noch weitere Informationen gibt, ist, vom Standpunkt der Wiener Schule, als pädago­gisch ungeeignet zu verwerfen. "2'

23 .Die Unbestimmtheit aller Termini, die bald

größer, bald kleiner ist, gehört mit zum We­

sen der Sprache. Auf ihr beruht ein Teil der

Leistungsfähigkeit der Sprache. • - Neurath:

Einheit der Wissenschaft als Aufgabe, l.cit.,

S.380 24 ebd. - derselbe Gedanke findet sich in Flus­

sers Reflexion über die kommunikations­theoretischen lmplikationen der zweiten in­

dustriellen Revolution, die nach dem Verhältnis des Menschen zur Welt (Arbeit) die zwischenmenschlichen Verhältnisse (Kommunikation) verändert hat: nach der

Technologie ist jedoch die Kommunikologie erst

im Begriff, ausgearbeitet zu werden; vgl. Viiern Flusser: Vorlesungen zur Komm uni-

kologie, in: Schriften Band 4, Mannheim

1 996, S.235ff

25 Neuraths Ansatz wird von den kongenialen

Fähigkeiten des Graphikers Gerd Arntz mit­

getragen, den Neurath 1 929 in einer Düssel­dorfer Ausstellung kennengelernt und zur Mitarbeit im Wien er Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum engagiert hat.

26 Zum historischen Kontext vgl. die Einlei­tung von Robin Kinross in Neurath, Bild­

pädagogische Schriften, op.cit., und Rainer Hegselrnann: Otto Neurath - Empiristischer Aufklärer und Sozialreformer, Einleitung zu:

Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung, op.cit.

27 Neurath, Die Museen der Zukunft, l.cit ..

S.257

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a) Arbeiter b) streikender

Arbeiter

• I c) Arbeitsloser

Neurath 159

Abbildung 1 1 Gerd Arntz, Otto Neurath: Arbeiterfigur - die Variation der Haltung denotiert verschiedene Zustände der Grundfigur

Mit den Piktogrammen ging es darum, zunächst möglichst einfache Grundtypen zu entwerfen, deren verschiedene Zustände (beim Arbeiter etwa die Arbeitslo­sigkeit oder die Streiksituation) die in leichten graphischen Variationen codiert wurden. Die daraus zusammengesetzten bildstatistischen Tafeln lassen dann auch komplexere ökonomische Prozesse abbilden, ja sogar historische Zusam­menhänge: Hygieneanweisungen, Handlungsabläufe wie die Gebrauchsanwei­sung für ein Münztelefon, Verhaltensanweisungen für Serviceleistungen (bei­spielsweise in Hotels) oder für Notfälle (Brandschutz, Notausgang), die damals erst langsam aufkommenden Verkehrsregeln, aber auch die Darstellung ge­schichtlicher Ereignisse und sozialer Prozesse. Das Ideal richtete sich auf eine in­ternationale Verwendbarkeit der Zeichen und einer damit verbundenen "Entba­bylonisierung" der Kommunikationsverhältnisse." Die Konstruktionsregeln für die Piktogramme waren dementsprechend einfach und streng: .,.. Grundsätzlich gilt ein relationaler Einsatz von Zeichen; zum Ausweis größerer

Quantitäten wird ein Zeichen nicht vergrößert, sondern entsprechend oft wie­derholt.

.,.. Bevorzugt wird die Verwendung typisierender Zeichen anstelle illustrierender Zeichen, was eine Reduktion auf zum Erkennen absolut notwendige Elemen­te bedeutet .

.,.. Unabdingbar ist die Konsistenz der eingesetzten Zeichen; zur Sicherung der Wiedererkennbarkeil wird immer dasselbe Zeichen für dieselben Inhalte ver­wendet .

.,.. D ie Zeichenbedeutung soll aus sich heraus erkennbar sein, das Zeichen also selbsterklärend und daher möglichst ohne Zusatztext."

28 Neurath: International Picture Language

( I 936); deutsch in: Neurath. Bildpädagogi­sche Schriften, op.cit., 5 .355-398, hier 5 .357

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1 60 Sprechende Zeichen

.,.. Angestrebt wird letztlich die höchstmögliche Ikonizität der Zeichen; keine stellvertretenden oder hinweisenden Zeichen werden verwendet, um annähernde Deckungsgleichheit von Zeichen und Bezeichnetem zu gewähr­leisten.

Die Methode war die, nicht einfach Zahlen und Daten zu illustrieren, sondern ei­nen gänzlich neuen Typus von Zeichen zu kreieren, der symbolische Elemente mit starker Ikonizität repräsentiert. In der Anwendung entwickelt ISOTYPE eine Beobachtungsaussage, die unabhängig von der Intentionalität des Kommunika­tors rezipierbar sein soll und die auf visuellem Weg ein Argument entwickelt: Diagramme und Trickfilme kommen zum Einsatz, um soziale und ökonomische Relationen sichtbar zu machen.'0 Neurath entwickelte die neuen Darstellungs­qualitäten im praktischen Kontext, über zahlreiche Auftragsarbeiten in Wien, Moskau, den Niederlanden, unter anderem auch für die britische Regierung (Propagandafilme) und das amerikanische Gesundheitsamt (Tuberkulose-Auf­kläru ng ) . Nicht zu vergessen die wissenschaftspolitische Enzyklopädie: nach der Erinnerung von Charles Morris sollte die enzyklopädische Einheit der Wissen­schaften als voluminöses Publikationsprojekt 260 Monographien umfassen, sup­plementiert durch zehn Bände eines visuellen Thesaurus."

8.5. Bilderschrift als Volksaufklärung

Die neuen symbolischen Werkzeuge und der Code ihrer Verwendung gehören heute zum Common-Sense von Visualisierungsstrategien, wenn auch die ange­strebte Einheitlichkeit sich nicht ganz durchgesetzt hat. Aber wie schon zu Zeiten von Neuraths Transformationsressort arbeiten heute die Interface-Designer daran, über das bloße Abbilden hinauszugelangen, um durch ein technisch gestütztes Navigationsdesign kulturtechnisch gesetzte Grenzen zu transzendieren. Die Ge­staltung graphischer Benutzeroberflächen im Bereich der digitalen Bildschirm­kommunikation allerdings scheint soviel Zeichensprachen hervorzubringen, wie

29 Neben den Piktogrammen sollte im neuen ,Bild-Text-Stil' nur Basic-English zum Ein­satz kommen, ein von Charles K.Ogden aus­gearbeiteter Grundwortschatz von ca. 850 Worten, den Neurath für seine Publikation International Pielure Language 1936 (l.cit) tatsächlich verwendet hat. ISOTYPE auf der symbolischen und BASIC auf der verbalen zusammen erst bilden ein System. welches

über pädagogische Zwecke hinaus generelle Aufklärungsimpulse ermöglichen sollte. Vgl. Otto Neurath: Basic by Isotype. Psyche Mi­niatures, Nr.86, London: Kegan Paul 1 9 37

30 Neurath: Das Argumentieren mit Hilfe von Isotype, in: Neurath, Bildpädagogische Schriften, op.cit., S . 594ff

31 zit. in: Manfred Geier: Der Wiener Kreis. Frankfurt: Rowohlt l 992, 5.22

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es Designer gibt - ein Hinweis auf die unabdingbare gestalterische Kreativität, die eigentlich im Widerspruch zu Neuraths Vereinheitlichungsplänen steht.

Dieser Wunsch nach Vereinheitlichung und Zentralisierung folgt einem Broad­cast-Prinzip der Kommunikation von wenigen (Wissenschaftler) an viele ( unwis­sende Masse) und bildet aus heutiger Sicht - die gesellschaftspolitischen Umstän­de haben sich gewandelt, ebenso die verfügbare Technologie - einen Schwach­punkt des Neurathschen Ansatzes. Die Eindeutigkeit als Kommunikationsprinzip gehört zu den Phantasmen einer Moderne, die diese nicht immer mit lauteren Absichten umzusetzen bestrebt war." Die Stärke des kommunikationspolitischen Ansatzes von Neurath aber liegt darin, nicht nur den Adressatenkreis der Wis­senschaftskommunikation erweitert gefaßt zu haben, sondern auch, die alte For­derung des bürgerlichen Aufklärungszeitalters nach Publizität unter Berücksich­tigung der sich revolutionierenden Kommunikationsverhältnisse neu einzulö­sen. In der entstehenden "neuen Bilderschrift" sah Neurath keinen Kulturzerfall, sondern hob im Gegenteil die Vorteile der ikonischen, will sagen synthetisch-zei­chenhaften statt linear-decodierenden Kommunikationsformen hervor, die der Erweiterung der individuellen sprachlichen Umgebung dienen - oder, um seinen Zeitgenossen Ludwig Wittgenstein zu paraphrasieren: dem Sprengen der (ver­bal)sprachlichen Begrenzung meiner Welt.

In der Vergangenheit der Schriftkulturen war die Bilderschrift ein Mittel der Unterprivilegierten, und wer sie propagiert, unterwandert das verbalzentristische Dogma der neuzeitlichen Intellektualität. Philosophisch gesehen hatte dieses Dogma im zwanzigsten Jahrhundert Konjunktur. Neurath hat mit den Borniert­heiten der später so genannten sprachanalytischen Philosophie nichts gemein . Er war vom Werkzeugcharakter der Sprache fest überzeugt; die Sprache als Kom­munikationsmittel galt es aktiv zu gestalten und notfalls radikal zu ersetzen - im­mer unter der Einschränkung, daß die absichtliche Erstellung von Konventionen im größeren Ausmaß nicht möglich ist. "Sprache machen", das heißt als Aufga­be für den Philosophen die adäquate Übersetzung der Realität in Metaphern oder in "sprechende Zeichen" mit dem möglichen Resultat eines im Sinne des Prag­matismus für jegliche Veränderung offenen "Thesaurus von symbolischen Werk­zeugen" ." Damit erweist sich Neurath als in einer erfolgversprechenden Rich­tung entsprechend sensibilisiert: optische Methoden sollen die liegengebliebenen Aufgaben der Aufklärung lösen und diese von ihrem restriktiven, dem religiösen

Bilderverbot verpflichteten Bildungsideal befreien. "Information durch Malerei­en" - warum eigentlich nicht? Die Humanisierung des Wissens, so die Program-

32 Vgl. Zygmunt Bauman: Moderne und Ambi­valenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Harn­burg: Junius 1 992

33 Neurath: Universaljargon und Terminologie,

in: Neurath, Nemeth (Hg. ) 1 994, op.cit.,

S.40 l ff

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matik, ist durch visuelle Mittel wie ISOTYPE endlich zu realisieren: .. Der ge­wöhnliche Bürger sollte in der Lage sein, uneingeschränkt Informationen über alle Gegenstände zu erhalten, die ihn interessieren, wie er geographisches Wis­sen von Karten und Atlanten erhalten kann.""

Dem argwöhnischen Leser kündigt sich hier zwar ein Widerspruch an: so wie das Lesen einer Straßenkarte die Erfahrung der Reise niemals ersetzen kann, ist direkte Weltwahrnehmung durch ein symbolisches System nicht zu ersetzen. Bei gerrauerer Überlegung vermag Neurath aber wiederum zu überraschen. Wenn wir nämlich bedenken, daß es im Medienzeitalter auf diese Direkterfahrung letztlich nicht mehr sosehr ankommt, weil das Mediale und das Außermediale sich in der sozialen Realität nicht mehr einfach trennen läßt, dann hat Neurath recht behalten: schließlich sind es die symbolischen Werkzeuge, die uns die Ori­entierung in jenem Konstrukt erlauben, das wir aus Gewohnheit ,unsere Welt' nennen - und ob wir uns physisch in ihr bewegen oder nicht, das wird tenden­ziell zu einer Nebensächlichkeit. Neurath zieht unausgesprochen den richtigen Schluß aus der Tatsache, daß die Wahrnehmung nie eine reine ist. sondern in ei­nem symbolisch vermittelten Kontext gemacht wird, daher immer schon Inter­pretation bedeutet. und konzentriert sich daher auf den Aspekt des Kommuni­kationsmediums.

Sollte es gelingen, den durch die Druckerpresse gesetzten kommunikativen Vereinheitlichungsprozeß mit anderen Mitteln, im anderen Kontext, zu wieder­holen? Wenn Neurath versucht, mittels ikonischer Konfigurationen den neu­zeitlichen epistemischen Raum zu durchbrechen, dann schließt er damit an die zahlreichen Versuche an, eine Idealsprache zu finden bzw. neu zu konstruieren. In der Suche nach einem geeigneteren Medium als der Wortsprache setzt sich al­lerdings auch eine die bürgerliche Emanzipation begleitende kommunikative Herrschaftsphantasie fort, die ihren Ausdruck in den Schriften fast aller Aufklä­rer fand und sie deshalb den Postmodernen so verdächtig macht. Bei der Menschheitsbeglückung durch ein rationales Kommunikationsinstrument wur­den potentielle Anwender nämlich gar nicht erst gefragt, die Eliminierung der Bedeutungsprobleme in wissenschaftstherapeutischer Absicht werden aber den­noch immer wieder auf die Sozialverhältnisse zu übertragen versucht. In diesem Sinn war denn auch Neurath typisch modern. Gerade unter dem E indruck der ge­sellschaftlichen Krise nach der Jahrhundertwende schien die Gesellschaftsutopie sich bestens beleben zu lassen, indem man die Symbolsprache durch Vereinheit­lichung erneuerte und so die Realisation des transzendentalen Geschichtsziels

34 Neurath: Von Hieroglyphen zu lsotypen, in:

Neurath, Nemeth (Hg.) 1 994, op.cit., 5.287

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Neurath 163

politisch vorantrieb - worin sich bekanntlich Nationalismen und Sozialismen stark konkurrenziert haben.

8.6. Funktioniert der Universalcode?

Die weiterführende Frage aber ist die, ob der gegen die Arbitrarität des Verbalen angestrebte Universalcode denn nun tatsächlich funktioniert oder nicht. Bilder sprechen, und Neurath verlangt nach sprechenden Zeichen zur Herstellung ge­eigneter B ilder: "Die Bildstatistik operiert von vornherein mit räumlich-zeitli­chen Gebilden, während in der Wortsprache die Möglichkeit besteht, sinnleere Verknüpfungen zu verwenden, deren Beseitigung oft mühevoll ist. Worte tragen mehr emotionelle Elemente in sich als Mengenbilder, die von Menschen ver­schiedener Länder, verschiedener Parteien ohne Widerspruch aufgenommen werden können; Worte trennen, Bilder verbinden .""

Der Kunstgriff, mittels dessen man sich der hinderlichen ,Sprachschlacken' der Tradition befreien wollte, entspricht ganz der philosophisch-therapeutischen Programmatik der Moderne. Die Ästhetik des Surrealismus und die moderne Computertechnologie hat Neurath in diesem Punkt gründlich widerlegt, indem sie sehr wohl via Photo-Composing und Morphing, also mit digitaler B ildbear­beitung, surreale Scheinwelten unter der Brechung physikalischer Gesetze er­zeugen kann: optische Montagetechniken erlauben ebenso sinnleere Verknüp­fungen wie die Wortsprache - angefangen mit den Bildparadoxien von Rene Magritte bis hin zu den digital erzeugten Videosynthesen. Eine visuelle Sprache - und das gilt besonders für den Substitutionscode der Piktogramme - wird außerdem als noch so elaboriertes semiotisches System immer parasitär von den Inhalten der natürlichen Sprache abhängen. Sie bedarf der kontextuellen Er­klärung, und ihr Einsatz ist nicht nur historisch, sondern auch ethnisch-kulturell beschränkt. Die Grenze der Piktogramme als Bauelemente eines Universalcodes liegt eben darin, daß "Bilder zwar die Form oder Funktion einer Sache aus­drücken können, sich aber schwer tun, wenn sie Handlungen, verbale Tempi, Adverbien oder Präpositionen ausdrücken sollen ." '6 Ein ausschließlich ikonisch aufgebauter Universalcode scheint daher unmöglich; ein Bild vermag Eigen­schaften darzustellen, es funktioniert aber nicht als Substitutionscode für Sach­verhalte, denen immer mehr als bloß die visuell darstellbaren Züge eigen sind." Ein B ild sagt mehr als tausend Worte; tausend Worte sagen wiederum oft genug mehr als ein bloßes B ild. Das Problem mit einer perfektionierten Universalspra­che, deren Vollkommenheit auf logisch-mathematisches Kalkül gebaut sein soll,

35 Neurath: Bildstatistik nach Wiener Methode. 36 Eco: Die Suche nach der vollkommenen !.eil . . 5. 1 90 Sprache. op.cit.. 5 . 1 8 3

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1 64 Sprechende Zeichen

lag darin, daß auch ihre Inhalte letztlich ideal werden müssen: ihre Probleme lä­gen dann ausschließlich auf der Ebene des Syntaktischen. In dem Bestreben nach einer endgültigen Entbabylonisierung hat eine Bildzeichensprache deshalb ihre Bedeutung und ihr Gewicht in den pragmatischen Aspekten. D ie Betonung einer visuellen gesellschaftlichen Kommunikationsebene bedeutet überdies, von der Borniertheit eines Dualismus von Oralität und Literalität, wobei Mündlichkeil und Schriftlichkeil immer auch als Zeichen für den Grad Zivilisationsentwicklung steht, als Effekt akademisch disziplinärer Kanonisierungen Abstand zu nehmen."

Wird es, kann es, soll es nun also Sprechende Zeichen geben, die unsere Kom­munikation verbessern? In einer Minimalform haben sie ja längst Einzug in un­seren Alltag gehalten, und es gibt kaum einen öffentlichen Raum, der nicht mit piktogrammatischen Elementen ausgestattet wäre. Die politische Hoffnung, die Neurath damit verbunden hatte, war wohl etwas zu anspruchsvoll. Daß ISOTY­PE nicht im ursprünglich erhofften Maße realisierbar war, hat aber einen tiefe­ren Grund: Neurath hat wohl die Dimensionen von Zeichen im semiotischen und Bild im kommunikationspraktischen Sinn vermischt.39 Ein Zeichen eines Objek­tes ist mehr als sein bloßes ,Bildzeichen' - dieses ist nicht nur mehr oder weniger ikonisch, sondern hat eine je verschieden ausgeprägte syntaktische, eine seman­tische und eine pragmatische Dimension. Künftige Interpretationen beispiels­weise, aber auch Dialekte, wie sie sich in jeder lebendigen Sprache aus ihrem so­zialen Gebrauch heraus entwickeln, beschränken die künstlichen Optimierungs­möglichkeiten von Sprache im sozialtechnischen Sinn. Das betrifft auch die bildsprachliche Ebene, deren Bedeutung konventioneller Natur ist und daher stets neu erlernt werden muß, statt einfach vorausgesetzt werden zu können.

Eine andere Einschätzung ergibt sich aus der Perspektive des World Wide Web,

dem innovativsten Kommunikationswerkzeug der Gegenwart. Wie bereits zi­tiert, plante Neurath uneingeschränkten Informationszugang für jedermann; der Bürger sollte beliebig Wissen erwerben können, so wie er geographische Kennt­nisse aus Landkarten und Atlanten gewinnen kann. Neurath bekämpfte damit implizit das Dogma, daß ein am typographischen Medium geschultes Wissen eine höhere epistemische Glaubwürdigkeit besitzt als ein alternativ erzeugtes Wissen. Umso mehr, da wir uns mittels symbolischer Werkzeuge in der Welt bewegen, ist es keine leere Forderung, daß Intellektuelle ihre kommunikativen Mittel in ei-

37 Vgl. die bereits erwähnte Kritik an konkret

visuellen Alphabeten, s.o. 6. Kap. Anm. 5 -Vgl. auch Fritz Mauthners Kritik an Bishop Wilkins Realschri!t, die auf Neurath übertra­gen werden könnte, Wörterbuch der Philo­

sophie, Band 3, op.cit., S.322

38 Vgl. die Überhöhung der Buchkultur des Je­

suiten Walter Ong: Orality and Literacy, London 1 982

39 Achim Eschbach: Bildsprache. Isotype und

die Grenzen, in: Je!! Bernard, Gloria Wir­halm (Hg. ) : Neurath. Zeichen, Wien: ÖGS!ISSS 1 996, 5 .37!!

Page 165: Medienphilosophie Hartmann

Neurath 165

nem breiteren als dem bloß verbalsprachlichen Kontext zu entwickeln hätten. Hier läßt sich von Neurath lernen, daß (Kommunikations- ) Design•o auf die Ent­wicklung von sozialen Interfaces hinausläuft.

"We return to the inclusive form of the icon", konstatierte Marshall McLuhan drei Jahrzehnte nach Neurath in Understanding Media (s .u. 1 2 .Kap. ) . Seine Dia­gnose stützt sich auf das Medium Fernsehen, an dem erkennbar wurde, daß me­diale Repräsentation, Information und Unterhaltung in neuen Formen jenseits der typographischen Ordnung des Alphabets stattfinden. So hat sich parallel zur technischen Entwicklung langsam die Einsicht durchgesetzt, daß es auch noch andere Formen des Lesens gibt als bloß solche, die vom alphabetischen Code un­terstützt werden. Es gibt Formen ikonischer Kommunikation ( und unsere Le­benswelt ist nachgerade gesättigt damit) , die sich in der kommunikativen Praxis überzeugender und angemessener einsetzen lassen als die lineare wissenschaftli­che Argumentation. Wie das Beispiel Otto Neuraths zeigt, bedurfte es nicht erst der Einführung des Fernsehens, damit sich diese Erkenntnis gewinnen läßt. Be­eindruckend bleibt aber vor allem seine Überzeugung, daß wir dem medialen Wandel keineswegs hilflos ausgesetzt sind, sondern daß wir selbst es sind, die ihn aktiv gestalten können.

Zusammenfassung Otto Neurath ist der erste Phi losoph und Sozialtheore­

tiker, der das visuelle Darstel lungspri nzip der Gegenwart zum Thema gemacht

hat - ein Weltverbesserer im positiven Sinn dieses Beg riffs. Ausgehend von der

Situation der Arbeiterkultur, die zu seiner Zeit von noch großer physischer Ver­

ausgabung bestimmt war, überlegt er sich Mögl ichkeiten zur Optimierung der

Rezeption aufklärerischer Inhalte, die zur Verbesserung der a l lgemeinen Le­

benssituation der unterprivilegierten Schichten beitragen sol len. Sozialkritik,

Gesel lschaftsutopie und Volksaufklärung werden h ier medienpragmatisch

u mgesetzt, indem das herrschende abstrakte Schriftkonzept kulturtechn isch

ergänzt wird.

Aus diesem aufklärerischen I mpuls heraus entwickelt Neurath mit H i lfe seines

graphischen Teams eine neue Bi ldersprache, die a bstrakte Erkenntnisse in

leicht rezipierbare Formen überträgt: die Piktog ramme und optischen Leitsy­

steme, welche heute den urbanen Kommunikations- und Bewegungsflu ß der

Metropolen leiten, wurzeln ebenso in diesem Ansatz wie die B i ldstatistiken,

40 Implizit weitergedacht wurde der Ansatz

zum sozialen Design in Richtung der synthe· tischen Bilder von Viiern Flusser: Vom Stand

der Dinge. Eine kleine Philosophie des De­sign, Göttingen: Steidl 1 993

Page 166: Medienphilosophie Hartmann

1 66 Sprechende Zeichen

ohne die heutzutage kein aktuelles Magazin mehr auskommen mag. Für eine

Zeit, deren technische Mittel auf Druckwerke, Schautafeln und einfache Lehr­

fi lme beschränkt waren, ist Neuraths pädagogischer Ansatz besonders avant­

gardistisch: wenn abstrakt vorhandenes Wissen nicht genutzt wird, wenn die

Menschen beispielsweise nicht mehr in Museen gehen, dann müssen die Mu­

seen der Zukunft zu den Menschen gehen. Dazu wird e ine gesellschaftliche

Kommunikationsebene jenseits des dogmatischen Dualismus von Schriftlich­

keit und Mündl ichkeit neu konzipiert.

Die internationale B i ldsprache ist ein visionäres Konzept für die Visua l isierung

und i m weiteren für die Demokratisierung von Wissen durch Standardisierung

und Rational isierung der B i ldzeichenebene. Es wurden damit neue symboli­

sche Werkzeuge geschaffen, die nicht nur anders codierte Aussagen i l lustrie­

ren, sondern selbst die Bedeutung tragen sollten. Ebenso wie die Wissenschaft

a uf eine einheitliche Sprache zurückgreifen können sollte, um Verständi­

g ungsschwierigkeiten zu entgehen, wird in einer komplexen Gesel lschaft der

intuitiv erfaßbare, visuel le Code gegenüber dem alphanumerischen Code an

Bedeutung gewinnen - genau das nicht nur erkannt, sondern auch in Anwen­

dung gebracht zu haben war die spezifische Leistung Neuraths.

Page 167: Medienphilosophie Hartmann

Abbildung 12 Heidegger, Philosophie schreibend (1968)

Page 168: Medienphilosophie Hartmann

9. Kapitel - Die wirkliche Wirklichkeit.

Tech nik und Lebenswelt

"Die Vorstellung von der Sprache als

Information drängt heute in das Äußerste."

Martin Heidegger

9.1 . Diskurserweiterung im Massenmedium

Der fehlende unmittelbare Zugang zur Welt, über den sich die Philosophen prak­tisch einig sind, provoziert nichtsdestoweniger den Versuch, solche Unmittelbar­keit doch wenigstens hin und wieder reflexiv einzuholen. In den ersten Jahr­zehnten des zwanzigsten Jahrhunderts breitete sich in der Philosophie eine ge­wisse allgemeine Ratlosigkeit aus, vor allem angesichts einer Welt, deren Koordinaten politisch, ökonomisch, und sozial aus den Fugen geraten schien. Der Mensch wurde als ein werkzeugschaffendes Lebewesen aufgefaßt, das seine Sinnesorgane mittels Techniken in die Welt hinein erweitert, sich sozusagen ex­pansiv anlegt, nicht ohne sich dadurch eine Menge neuer Probleme zu schaffen. Die Wirklichkeit wird uns medial nicht näher gebracht, oder anders formuliert: das, was uns medial näher gebracht wird, ist nicht die Wirklichkeit. Wir werden nachfragen müssen, was es stattdessen ist (s.u. Kap. l l ) .

Daß diese mediale Explosion, daß die telematische Überwindung von Distanz aber keine wirkliche Nähe schafft, dieser Verdacht wurde schon früh erhoben. Heidegger zitiert in den zwanziger Jahren den ,Rundfunk' als Beispiel dafür, wie sich hier "eine in ihrem Daseinssinn noch nicht übersehbare Entfernung der ,Welt' auf dem Wege einer Erweiterung der alltäglichen Umwelt" vollzieht.' Nicht nur die somit hergestellte Nähe ist illusorisch, die mediale Erweiterung ei­nes bestimmten Sinnesorgans stört außerdem die anderen menschlichen Sinne und Anlagen - ein gewissermaßen dialektischer Prozeß, dem McLuhan dann sei-

Martin Heidegger: Sein und Zeit ( 1 927), Tübingen: Niemeyer 1 993, S. l 05

Page 169: Medienphilosophie Hartmann

Husserl, Heidegger, Horkheimer 1 69

ne Aufmerksamkeit schenken sollte (s.u. Kap. 12 ) . Es ist wohl kein Zufall, daß ge­rade mit dem Einbruch neuer medialer Techniken das menschliche Bewußtsein in der Philosophie zum großen Thema wird. In der phänomenologischen Analy­se des menschlichen Bewußtseinsstroms kündigt sich der Bruch mit dem metho­dischen Prinzip oder dem mechanischen Schematismus an, dem Descartes die zentrale philosophische Bedeutung zugesprochen hatte: die Krise der Linearität als ein Paradigmenwechsel, welcher sich ab Mitte des zwanzigsten Jahrhundert - im Übergang von der technischen Reproduzierbarkeit des Industriezeitalters zur Automation - als das kybernetische Prinzip interdisziplinär durchsetzen sollte.'

Kritiker und Reformer dieses zunächst als Repression menschlichen Bewußt­seins gezeichneten Prozesses gab es zuhauf, auch Bewegungen, die völlig neues Terrain zu erschließen versprachen. Aber die akademische philosophische For­schung stagnierte, während neue Diskurse wie die der Soziologie, der Psycho­analyse, der Sprachkritik eigene Aufmerksamkeit auf sich zogen. Im Aufmerk­samkeitsmanagement konkurrenzierte der philosophische Diskurs nicht nur mit neuen Disziplinen, sondern zunehmend auch mit neuen Prinzipien der Organi­sation von Öffentlichkeit, die sich jenseits der akademischen Text-Diskurse ent­wickelten. In der Gutenberg-Galaxis mochte man sich zunächst noch souverän darüber hinwegsetzen, aber nach einem halben Jahrhundert technischen Expe­rimentierens mit der drahtlosen Telegraphie war mit der Wende ins zwanzigste Jahrhundert das ,Marconi-Zeitalter' endgültig angebrochen.'

D ieser Paradigmenwechsel mag Zeitgenossen nicht so recht verständlich ge­wesen sein, beruhte die Anwendung auch der drahtlosen Telegraphie doch eini­ge Zeit lediglich darin, zwei räumlich entfernte Kommunikationspartner mitein­ander zu verbinden. Eine spektakuläre Katastrophe, die ironischerweise zum massenmedialen Dauerbrenner des zwanzigsten Jahrhunderts avancieren sollte, sorgte jedoch dafür, daß sich im telematischen Bereich ein sozialer Innovations­schub verdeutlichte: die Medien begannen, ihr Publikum spontan zu organisie­ren.•

Vgl. dazu die Rekonstruktion von Steve J.

Heims: The Cybernetics Group, MIT Press

I 99 I

Guglielmo Mareanis Patent auf drahtlose Nachrichtenübermittlung beruht keineswegs 4

auf seiner Erfindung, sondern "gehört in

den Zusammenhang einer langen Reihe

technischer Forschungen, die allesamt das Ziel verfolgten, den Telegraphen vom Draht

zu befreien", vgl. Flichy: Tele, op.cit., S. I 67

- Den Ausdruck Marconi-Zeitalter gebrauchte McLuhan in Kontrast zum Gutenberg-Zeit-

alter, um die neue "elektronische Interde­

pendenz• auszudrücken, vgl. Marshall

McLuhan: The Gutenberg-Galaxy. The Ma­

king of Typographie Man ( 1 962) Das Zusammenspiel von sozialen und rech­

nisehen Effekten ist der blinde Fleck techni­

scher Medienarchäologie, was besonders am

Hardware-Fetischismus deutscher Medien­

theoretiker um Friedrich Kittler auffällt. Es

gibt noch sehr wenig alternative Studien, die auf der kulturellen Ebene ansetzen.

Page 170: Medienphilosophie Hartmann

1 70 Technik und Lebensweit

An einem Aprilnachmittag des Jahres 1 9 1 2 empfing ein junger Telegraphist namens David Samoff den Hilferuf der sinkenden Titanic, woraufhin er drei Tage lang die Funkverbindung zwischen Schiffbrüchigen im Überlebenskampf und der amerikanische Öffentlichkeit, die als erste das Schiffsunglück als mediale Ins­zenierung verfolgen durfte, aufrechterhalten konnte.' Nach diesem Ereignis, welches vom Potential der drahtlosen Funkverbindungen überzeugte, stieß Sar­noff bald zum Unternehmen ,American Marconi', wo er bis zum Präsidenten auf­steigen sollte. Auf dem Weg in die Vorstandsetage entstand 1 9 1 6 ein strategisches Papier mit dem Titel "Looking Ahead", in welchem die Idee präsentiert wurde, den Rundfunk über allgemein verbreitete Empfangsgeräte - er nannte sie radio

music box - "zu einem ähnlichen häuslichen Konsumartikel zu machen wie Kla­vier oder Phonograph. Die Idee besteht darin, mit den Mitteln der drahtlosen Te­legraphie Musik in alle Haushalte zu übertragen."• Die Titanic-Katastrophe als er­stes rudimentäres Broadcasting-Ereignis begründet die massenmediale Konstella­tion des Jahrhunderts. Wenige Jahre später entwickelte sich das Radio zum Massenmedium, wie Patrice Flichy detailliert ausführt: in den USA boomte zunächst der Amateurfunk, und nach dem ersten Weltkrieg begann man in Ame­rika auf der Grundlage einer neuen industriellen Produktion und Vermarktung der Empfangsgeräte um 1 920 mit dem professionellen Radiobetrieb, 1 92 1 wur­den auch in Europa zunächst vom Eiffelturm in Paris regelmäßige Radiosendun­gen ausgestrahlt. Die Industrialisierung der Gerätefertigung und die allgemeine Vorliebe des Publikums für Tanzmusik sorgte dafür, daß dieses neue Medium ge­sellschaftliche Akzeptanz erzielen konnte. Aus der Zweipunkt-Telekommunika­tion war der Rundfunk geworden, und mit seinem Broadcast-Prinzip eignete sich das Radio nicht allein als Propagandainstrument der amerikanischen Marine während des ersten Weltkrieges, sondern in der Folge auch als Träger einer neu entstehenden Massenkultur.

Nach dieser Vergegenwärtigung der Entwicklung einer Mediensphäre, die un­aufhaltsam in den Alltag drängt, kommen wir zurück zur Frage nach der philo­sophischen Reaktion. Was geschieht mit der Lebenswelt des Menschen ange­sichts der Wahrnehmungsverschiebungen durch Verwissenschaftlichung, Tech­nisierung, und Medienkultur? Wo bleibt der Sinn des Ganzen? Die Rationalisie­rung erzeugt einen technischen Fortschritt, dessen Sinn und Zweck bei weitem nicht selbsterklärend ist. Stellvertretend für einen Zeitgeist, in dem sich ein deut-

Vgl. zu diesem Beispiel Flichy: Tele, op.cit., 5 . 1 79[. der sich hier auf folgende Publikatio-nen beruft: Erik Barnouw: A History of Bro- 6

adcasting in the United 5tates, 1 966/ 1 968. und Margaret B.W. Graham: RCA and the

Videodisc - the Business of Research, Cam­bridge 1 986

David 5arnoff: .Looking Ahead" ( I 9 I 6 ) , zit. nach Flichy: Tele, op.cit.. 5 . 1 79

Page 171: Medienphilosophie Hartmann

Husserl, Heidegger, Horkheimer 171

Jicher Umschwung vom Optimismus zur Skepsis hinsichtlich des wissenschaft­lich-technischen Fortschritts abzeichnete, sei hier Max Weber zitiert. In seinem berühmten, 1 9 1 8 gehaltenen Vortrag über Wissenschaft als Beruffragte er: .. Hat der ,Fortschritt' als solcher einen erkennbaren, über das Technische hinausreichen­den Sinn, so daß dadurch der Dienst an ihm ein sinnvoller Beruf würde?" Das .. Lebensproblem" der Wissenschaften bestehe darin, so Weber, zwar eine Ant­wort auf die Frage zu geben, was wir tun müssen, .. wenn wir das Leben technisch

beherrschen wollen", nicht aber .. ob das letztlich eigentlich Sinn hat".' Grob ge­sprochen gab es wenigstens zwei Möglichkeiten, die Krisenerfahrung einer .. Ent­zauberung der Welt" (Max Weber) zu verarbeiten und dem Menschen mehr als die Rolle eines bloßen Anhängsels der Technik zuzugestehen: .,. Erstens die Suche nach einer neuen Authentizität, als Aufforderung, angesichts

der zunehmenden Technisierung, der medialen Oberflächlichkeiten und der Vermassung, reflexiv tiefer einzudringen in die Verflechtungen des Seins - für diese Richtung steht die Radikalisierung der philosophischen Reflexion in der Phänomenologie Husserls und ihrer Fortsetzung bei Martin Heidegger .

.,. Zweitens die Kritik im Sinne einer politischen Emanzipation von den Impera­tiven der Technik, die Kritik an der Instrumentalisierung des Einzelnen und der allgemeinen Degradierung des Menschen als Empfänger von Botschaften - für diese Alternative steht eine von der materialistischen Entfremdungskri­tik ausgehende, aber schon durch die Psychoanalyse sensibilisierte Herr­schaftskritik, wie sie mit der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno vorgelegt wurde.

9.2. Die Entdeckung der Lebenswelt. Husserl

Bei Kant richtete sich das erkennende Subjekt auf die objektive Welt, bzw. auf deren Erscheinung. Die Art, wie die Dinge dieser Welt für uns sind, unterscheidet sich grundsätzlich von ihrem Ansieh. Wir perzipieren die Dinge durch den Filter unseres Wahrnehmungsapparates und unseres Bewußtseins, die D ingwelt er­scheint also durchwegs mediatisiert. In Kants Terminologie liegen den Gegenstän­den als Phänomena die Noumena zugrunde, die - darauf deutet die Nichterkenn­barkeit des Ding an sich - nur im Denken angenommen werden können. Im Aus­gang des neunzehnten Jahrhunderts hat Franz Brentano, ein deklarierter Gegner Kants und ein Wegbereiter des Positivismus, als Gegenprogramm zum neukan­tianischen Idealismus die Erforschung der Tatsachenphänomene zum Programm

Max Weber: Wissenschaft als Beruf ( 1 9 1 8) . Berlin: Dunker&Humblot 1 97 5. 5. 1 8 bzw. 5.23 (Nachdruck)

Page 172: Medienphilosophie Hartmann

172 Technik und Lebenswelt

seiner wissenschaftlichen Philosophie gemacht. Sein Schüler Edmund Husserl ar­beitet dessen deskriptive Psychologie weiter aus zu einer allen Wissenschaften vom Realen übergeordneten Phänomenologie, die als eine verstehende Wissen­schaft die Grundstrukturen der Alltagswelt zu ergründen und diese in die Wis­senschaft miteinzubeziehen sucht. Dieser Ansatz lebt in vielen kommunikations­und medienwissenschaftlichen Analysen bis in die Gegenwart fort; er themati­siert gewissermaßen auch die Erfahrungsverluste der Moderne, wobei gerade die Lebensweltanalyse durchaus als eine therapeutische Aufgabe der Phänomenologie angesehen wurde.

Der Weg der modernen Wissenschaften, der seinen methodischen Ausgang bei Descartes nimmt und über Kant in eine naturwissenschaftlich-technisch be­stimmte Gegenwart führt, erzeugt auch eine bestimmte Vergessenheit, die in ei­ner Schwächung der geisteswissenschaftlichen Disziplinen zum Ausdruck kommt und schließlich in dem mündet, was Husserl mit fundamentalistischer Pathetik die "radikale Lebenskrisis des europäischen Menschentums" nennen sollte.• Der Weg in die Aufklärung als wissenschaftlicher Entzauberung der Welt wird auf sei­ne Defizite hin rekonstruiert, mit der klaren Absicht, das Aufgabenfeld der Phi­losophie neu zu definieren. Dieser methodische Neuansatz, welcher der Philoso­phie neue wissenschaftliche Dignität und historische Relevanz verleihen sollte, interessiert uns hier nicht im philosophiegeschichtlichen Sinne, sondern auf­grund seines diagnostischen Potentials einerseits, und seiner Nachwirkung in den Kulturwissenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts andererseits. Nach Husserl muß aus der Philosophie erst eine "strenge Wissenschaft" werden, nicht nur da­mit sie ihre disziplinären Probleme löse, sondern das Lebensproblem der Moder­ne. Das Ziel seiner phänomenologischen Wende sah Husserl nämlich darin, das Rätsel der Subjektivität zu lösen und sich dadurch philosophische Klarheit über das Bewußtsein des Menschen von sich selbst und von seiner Welt zu verschaffen. Das Mittel zur Erreichung dieses Ziels war die methodische Konzentration auf den Vermittlungszusammenhang des scheinbar objektiv Gegebenen, den es auf­zubrechen gilt, um zwischen objektiven Eigenschaften und subjektiver Konstitu­tion des Empirischen unterscheiden zu können.

Husserl erhob daher die Forderung: "Weg mit den Wortanalysen. Die Sachen selbst müssen wir befragen. Zurück zur Erfahrung, zur Anschauung, die unseren Worten allein Sinn und vernünftiges Recht geben kann."• Das methodische Mit-

Edmund Husserl: Die Krisis der europäi­schen Wissenschafren und die transzenden­tale Phänomenologie ( 1 9 3 5 ) , Hamburg: Meiner 1 977, S . l Edmund Husserl: Philosophie a l s strenge Wissenschaft ( 1 9 1 1 ) , Frankfurt: Kloster-

mann 1 965, S .27 - Husserl referiert hier ei­ne psychologische Auffassung, die er kriti­siert, um erst durch .das Medium der Phä­nomenologie" (ebd., S .23) und damit über die Bewußtseinsanalyse zu diesen Sachen vorzuswßen.

Page 173: Medienphilosophie Hartmann

Husserl, Heidegger, Horkheimer 173

tel, das er vorschlug, um eine nichtmediatisierte Ebene des Seins zu erkennen, nannte er die phänomenologische Reduktion. Diese bestand im wesentlichen in ei­ner meditativen Verlagerung vom Objekt der Wahrnehmung auf den Wahrneh­mungsvorgang selbst - bzw. vom Bewußtseinsgegenstand auf das eigentlich sub­jektive Bewußtsein von ihm - und weiters darin, daß .. der Forscher alle wertenden Stellungnahmen, alle Fragen nach Vernunft und Unvernunft des thematischen Menschentums und seiner Kulturgebilde sorgsam ausschalte . " 10

Besonders an der sogenannte ,Krisisschrift' von Husserl aus den dreißiger Jah­ren wird klar, daß ein Neuansatz angestrebt war, um die Defizite der modernen Wissenschaften einer philosophischen Therapie zu unterziehen. Das Motiv ist be­kannt: die moderne Wissenschaften haben zu ihren vorwissenschaftliehen Grundlagen soweit Abstand gewonnen, daß sie in einer vollkommen unzulässi­gen Idealisierung ihrer lebensweltlichen Basis nicht nur sinnentleert operieren, wie Husserl sagt, sondern auf diese sogar zerstörerisch zurückwirken, wie dann in der Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/ Adorno) argumentiert wird. Da­durch kommt es zu dem von Max Weber beklagten Zustand, daß der Sinn des wissenschaftlich-technischen Fortschritts uns trotz wachsender Leistungen der technischen Ingenieurskunst zunehmend entgleite. 1 1

Husserl hat die .. Lebenswelt als vergessenes Sinnfundament der Naturwissen­schaft" in den Bereich der kritischen Reflexion zurückgeholt. In einem bestimm­ten historischen Abstraktionsschritt der wissenschaftlichen Entwicklung, den Husserl zwischen Galilei und Descartes ansiedelt, wurde die Naturwissenschaft zur Betrachtungsweise ,more geometrico', welche die Idee einer Natur als in sich geschlossener Welt des Körperlichen bewirkt. Die Idee der Darstellbarkeil und Mathematisierbarkeit von Natur nach einer rationalen Methode wird erkauft durch eine Abstraktion von allem .. Geistigen, von allen in der menschlichen Pra­xis den Dingen zuwachsenden Kultureigenschaften. In dieser Abstraktion resul­tieren die puren körperlichen Dinge, die aber wie konkrete Realitäten genom­men und in ihrer Totalität als eine Welt thematisch werden." 12 In diesem Dualis­mus von wissenschaftlicher Beschreibung und der Wirklichkeit sieht Husserl den Grund für eine eigentümliche Problematik, die dazu führt. daß die Rationalität wie bei Kant begründet werden muß: wie eigentlich wird die Subjektivität psy-

10 Husserl: Die Krisis. op.cit., 5 .5 - Die Reduk­

tion bedeutet durch .Ausschluß aller trans­zendenten Setzungen", bei Husserl epoche genannt, die Etablierung der Erkenntniskri­t ik auf einer neuen Ebene, die nichts als vorgegeben voraussetzen darf; vgl. Edmund Husserl: Die Idee der Phänomenologie, Hamburg: Meiner ! 986, 5.29

II Zu technischen Utopien und den modernen Großplanungen vgl. Dirk van Laak: Weiße Elefanten. Anspruch und Scheitern techni­

scher Großprojekte im 20. Jahrhundert, Stuttgart: DVA ! 999

12 Husserl: Die Krisis, op.cit., 5 .65

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1 74 Technik und Lebensweit

chischen Seins (beispielsweise ,Gott' als Prinzip der Rationalität bei Descartes) der Welt vorausgesetzt?

Der Antwort auf diese komplexe Frage, die schließlich auch das Verhältnis von Philosophie und Psychologie bis hin zur modernen Kognitionsforschung betrifft, nähern wir uns mit folgender Vereinfachung: die Theorie, und hier ist vor allem die naturwissenschaftliche Theoriebildung gemeint, konstruiert sich ihren Gegen­stand, das heißt sie trägt mit ihrer vermeintlich ,objektiven' Untersuchung unbe­merkterweise ihre Vormeinungen an die Dinge heran. Demgegenüber will Hus­serl die Ebene der reinen Beschreibung erreichen, um zur direkten Erfahrung zu ge­langen, und in der wissenschaftlichen Tätigkeit aus der tatsächlichen Anschauung

zu schöpfen, um damit den rationalistischen Dualismus hinter sich zu lassen. Das heißt: so ideal sich die Wissenschaft auch gibt, sie findet doch stets unter Bezug auf diese unsere Lebenswelt statt. Seit Galilei aber, so Husserl, wird der vorwis­senschaftlich anschaulichen Natur eine idealisierte, d.h. mathematisierte Natur unterschoben. Husserl verlangt eine Rekontextualisierung dieser Entwicklung, um das more geometrico an seine eigenen materialen Bedingungen zu erinnern: die vorgeometrische Leistung der schlicht praktischen Zwecken dienenden Feld­meßkunst.

9.3. Arbeit an den Phänomenen

Wie kaum ein Text über Husserl zu erwähnen vergißt, hat uns dieser eher kom­plizierte Autor nicht nur seine 1 900/ 0 1 in zwei Bänden publizierten "Logischen Untersuchungen" hinterlassen, in denen er das methodische Prinzip einer korre­lativen, subjektive und objektive Perspektive vermittelnden Betrachtungsweise begründet, sondern auch ein Konvolut von etwa vierzigtausend Manuskriptsei­ten, die sich in seinem Nachlaß befinden. Diese Quantität an fehlgeleitetem wis­senschaftlichen Output verblaßt als Antwort vermutlich vor der Frage, unter der sie aufgeworfen wurde: wie läßt sich zu einer wirklichen Wahrnehmung zurück­finden, wie sich die Sprache der Wirklichkeit gerade dann wieder verstehen, wenn diese Wirklichkeit uns zunehmend verstellt ist? Husserl wollte zugunsten der Phänomene oder dessen, was sich zeigt, wenn die Vermittlung der Welt ausge­schaltet wird, zu einer von ihren Konstruktionsmomenten befreiten Wirklichkeit durchbrechen. Das Unbehagen an den Rationalisierungsleistungen der Moderne erzeugt zwar eine gewisse Konzentration auf die subjektive Erfahrung und auch auf kommunikative Aspekte durch eine "Arbeit an den Phänomenen", der Schritt von einer Kritik der Mediatisiertheit zu den Medien der Vermittlung wird jedoch nicht vollzogen.

Als eine verstehende Beschreibung von Bewußtseinsphänomenen jedoch sollte der phänomenologische Zugang - vermittelt über Martin Heidegger, Jean-

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Husserl, Heidegger, Horkheimer 175

Paul Sartre, Maurice Merleau-Ponty bis hin zu Jacques Derrida - zu einem der einflußreichsten geistes- und kulturwissenschaftlichen Ansatz im zwanzigsten Jahrhundert werden. Seine akademische Grenzen sprengende Resonanz gründet in dem Versprechen einer Reaktion darauf. daß der Mensch in seiner selbst er­zeugten Welt sich selbst nicht wiedererkennen kann. Die Hoffnung geht in die Richtung einer neuen Authentizität, und folgt damit einem mehrschichtigen Trend einer Entdeckung der ,wirklichen' Wirklichkeit: jener der Ökonomie hin­ter dem Geist bei Kar! Marx, einer der Biologie hinter der Geschichte bei Charles Darwin, der des Triebes hinter der Kultur bei Sigmund Freud. 1 3

In der phänomenologischen Erkenntnistheorie is t Bewußtsein immer das Be­wußtsein von etwas, in diesem Sinn hat das Sein eines Bewußtseinsgegenstandes immer nur Sinn und Bedeutung in subjektiv lebensweltlichen Bezügen. Dies drückt ein neues geisteswissenschaftliches Selbstbewußtsein aus, das gegenüber der naturwissenschaftlichen Erklärung das Projekt des Verstehens verfolgt, in einer Fortführung der wiederentdeckten Hermeneutik14 allerdings nicht mehr einge­schränkt auf das Verstehen von Texten allein, sondern der Welt und ihrer Wirk­lichkeiten überhaupt in einer fundamentalen Theorie des Verstehens: .. Ich lasse der Welt ihre Bücher . . . " wie Heidegger gegenüber Jaspers 1 ' geäußert hat. um sei­ne Absicht zu bekunden, jenseits allen literarischen Getues und phänomenologi­scher Phraseologie tiefer in die sogenannte Eigentlichkeil vorzudringen. Es ist kaum ein Zufall, daß die Frage nach der wirklichen Wirklichkeit gerade dann vi­rulent wird, wenn sich die Audiovisualität eines neuen Zeitalter gegenüber der gelehrten Bücherwelt bemerkbar macht, wenn sich in dieser Wirklichkeit also ei­ne eigensinnige und tendenziell eigenständige Medienwirklichkeit auszuformen beginnt.

Anders als dann bei Heidegger ist bei Husserl die Hinwendung zur perzeptiven Evidenz der Wahrnehmung ein philosophisches Schauen, welches die Abkehr vom Wort nicht im strikten Sinne exerziert, sondern durchaus mit den üblichen Mitteln der wissenschaftlichen Systematisierung zur Darstellung strebt - und an ihnen zerbricht. Frei nach Luthers ,sola scriptura sui ipses interpres' : Ein Text kann sich noch selbst auslegen, wenn er wie im Fall der B ibel ein Text mit Totalitäts­anspruch innerhalb einer geschlossenen Interpretationsgemeinschaft ist. Wie aber sollte ein Text, der erst aus dem Prozeß der Beschreibung von Bewußtseins­phänomenen entsteht, als sich ständig fortschreibender Text Ausdruck des philo-

13 Rüdiger Safranski: Ein Meister aus Deutsch­land. Heidegger und seine Zeit. München: Hanser 1 994, S . 1 34f

14 Zur Grundlegung der Hermeneutik als ver­stehender Wissenschaft vgl. Wilhelm

Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften ( 1 905-1 9 1 0) , Frankfurt: Suhrkamp 1 9 8 1

1 5 Zitiert nach Safranski: E i n Meister, op.cit ..

5. 1 57

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1 76 Technik und Lebensweit

sophischen Forschungsprozesses werden? Die methodischen Texte Husserls, die Regieanweisungen zur philosophischen Meditation sozusagen, befinden sich auf der Metaebene des Nachweises einer Notwendigkeit der Reflexion aufgrund der Tatsache, daß der Spielraum zwischen dem Schein und dem Sein philosophisch zu besetzen wäre. Aber erst der materiale Text, der auf die methodische Anwei­sung eigentlich folgen müßte, würde die Phänomenologie als Archäologie der Bewußtseinsphänomene ausweisen. Und hier wird es problematisch, denn in Er­mangelung eines Mediums der reinen Gegenwart kommt der Phänomenologe systematisch immer zu spät. Sein Totalitätsanspruch erhebender Text wird selbst zum Ausdruck des Bewußtseinsstroms, der beschrieben werden sollte; Rüdiger Safranski hat dafür eine passende Metapher aus der Literatur herangezogen:

"Die in diesem Strom treibenden Trümmer der Systematik erinnern an eine Episode aus Stanislaw Lems philosophischem Science-Fiction-Roman ,Solaris'. Forscher haben einen Planeten entdeckt, der ganz aus Gehirn besteht. Eine ein­zige organische Plasmamasse. Dieses einsam im Weltraum treibende Gehirn ar­beitet offenbar. An seiner Oberfläche wölbt es riesige Figuren, Wellen, Fontänen auf, bildet Strudel, Schlünde, eine Gestaltenfülle ohnegleichen. Die Forscher nehmen diese Vorgänge als Zeichen und versuchen sie zu lesen. Es entstehen rie­sige B ibliotheken, Systematiken, Namen und Begriffe werden erfunden, bis schließlich den Forschern die Einsicht dämmert - eine schreckliche Einsicht für den ordentlichen Kopf -, daß die Ereignisse an jedem Punkt dieses Gehirnozeans unwiederholbar und unvergleichlich sind, daß sie unter keinem Begriff zusam­menzufassen sind und daß es auch sinnlos ist, ihnen Namen zu geben, weil sie genau so nicht noch einmal geschehen und es deshalb auch keine Gelegenheit mehr gibt, sie identifizieren zu können. Alle Ordnungsbilder des Erkennens sind eine Zeichnung im Sand, die schon die nächste Welle auslöscht." , .

9.4. Heideggers Versuch, die Frage neu zu stellen

Husserl hatte sich zum Ziel gesetzt, auf dem Wege einer Entwicklung der Phäno­menologie als ,strenger', also methodisch eindeutiger Wissenschaft mehr reflexi­ve Klarheit in das Bewußtsein des Menschen von sich selbst und des menschli­chen Bewußtseins von der Welt zu bringen. Diese Welt ist nicht als Totalität ge­geben, sondern von lediglich partieller Relevanz: ihr Sein ist von einem konkreten Dasein abhängig, von einer Art menschlicher Bedeutungszuweisung. Das ist die systematische Bedeutung des Lebenswelt-Begriffs, mit dem der Zu­sammenhang von Mensch und Welt als durch das menschliche Bewußtsein kon­stituiert vorgestellt wird. Bewußtsein und Erfahrung bilden dann keinen un-

16 Safranski: Ein Meister, op.cit.. 5 . 1 0 I

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überwindbaren Gegensatz mehr, wenn alle wirklichen ebenso wie alle möglichen Welten nur in ihrer subjektiven Gegebenheit relevant sind.

Im Gegensatz zum gegenwärtigen Konstruktivismus, der Wahrnehmung, Be­obachtung, oder Erkenntnis als Elemente einer subjektiven Konstruktion von Wirklichkeit zu entmystifizieren sucht, geht es der Phänomenologie um die Art und Weise, wie ein (an sich unproblematischer) Bewußtseinsgegenstand auf das Bewußtsein als solches einwirkt. Es geht gewissermaßen um die Mediatisiertheil selbst - eine ungewohnt neue und in ihrem Kontext moderne Orientierung.

In einer Weiterentwicklung der Phänomenologie zur sogenannten Fundamen­

talontologie bei Martin Heidegger wird in Bezug auf die Frage nach der Wahrheit die von Husserl diagnostizierte Differenz zwischen den Dingen und ihrer subjek­tiv-lebensweltlichen Voraussetzung, zwischen Objektivismus und Transzenden­talismus, radikalisiert. Im Vordergrund steht dabei der Mensch in seiner Verkör­perung des ,Daseins', dessen Formen, in denen sich die Welt dem Menschen er­schließt. auf philosophisch eindringliche Weise analysiert werden. Wie sich dabei herausstellt, wird jenes ,Dasein', das den Lebensweit-Begriff ersetzt, defizitär vor­gestellt; und ähnlich der reflexiven Bewegung Husserls hin zu den Sachen selbst,

aber auch wieder davon abgehoben, führt Heidegger viele triviale und alltägliche Momente solchen ,Daseins' in das philosophische Denken ein, um daraus ein menschliches Erkennen und ein übergeordnetes, zeitenthobenes Sein begreifbar zu machen. Es gibt (wie schon bei Husserl) ein dem Erkennen vorgängiges Ver­stehen und Handeln, welches reflexiv bewußt gemacht werden kann. Erst in der Totalität aller seiner Bezüge - im Kontingenzschock, wie Safranski sagt - ergibt sich die Vorstellung eines ganzheitlichen Daseins, oder, in der Heideggerschen Dikti­on, der Eigentlichkeit.

Die Form dieser Analyse ist eher eigentümlich, und viel wurde über den Hei­deggerschen Ansatz geschrieben; gegenwärtig verblaßt freilich der eminente Ein­fluß, den dieser Philosoph auf den Diskurs der Philosophie des zwanzigsten Jahr­hunderts gehabt hat. Bei allem Abstand zur Terminologie und Diktion Heideggers bleibt ein Grundgedanke seiner Philosophie im kommunikations- und medien­theoretischen Diskurs der Gegenwart präsent: es ist das antihumanistische Den­ken in seiner nicht trivialen Form. Unter dem Titel einer Überwindung der Me­taphysik versuchte Heidegger nämlich, systematischen Abstand zu gewinnen von den bewußtseinsphilosophischen Prämissen der Phänomenologie, um das in sein Recht zu setzen, was wir hier etwas salopp formuliert den Eigensinn der Din­

ge nennen können - auch das, wie bei Husserl, bezogen auf ein vergessenes oder verdrängtes vorwissenschaftliches Verständnis. Ein weiteres Mal sollte hier die Sprache zentral werden, aber nicht als Vermittlerin zwischen Ich und Welt, und schon gar nicht als Mitteilungsmedium, sondern als jene Instanz, über die sich weder das Ich noch die Welt, sondern ein ,Anderes' erschließt, einem ästheti-

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sehen Versprechen ähnlich, und die Besinnung auf Poetisches (vor allem sprach­liche Kunstwerke) innerhalb einer nahezu durch und durch instrumentalisierten Welt ist charakteristisch für diese Philosophie. 1 7

Obwohl dem Sein in dieser Auffassung ein ,uneigentlich' Seiendes gegenü­bersteht, soll dieser Gedanke bei Heidegger nicht allein aus Gründen der zeitkri­tischen Diagnose entwickelt worden sein. Was in seinen Texten sich dennoch ausdrückt, ist die Sehnsucht nach einer alternativen Form zur technisch-wissen­schaftlichen Rationalität der Moderne. Wie schon in der Phänomenologie, so ver­spricht die Konstellation dieses philosophischen Ansatzes eine ,Wahrheit' auszu­drücken, die nicht nur den von politischen und wirtschaftlichen Krisen ihrer Zeit irritierten Menschen eine grundsätzliche Bestimmung, sondern auch angesichts einer vermeintlich zunehmenden Trivialisierung aller Erfahrungen die Rückkehr zu einer ursprünglichen Direktheil versprach. Eine sich durch Medien differen­zierende demokratische Öffentlichkeit muß mitgedacht werden, wenn bei Hei­degger von den Formen der ,Uneigentlichkeit' die Rede ist, so etwa in der Ana­lyse des ,Man' in dem Werk Sein und Zeit. 18

Erst durch die neu entstandene Medienwirklichkeit, die sich vor die Wirklich­keit schiebt, entsteht diese Empfänglichkeit für ein philosophisches Versprechen, der Welt ihre Wahrheit zurückzugeben, die sich bei Heidegger selbst in einer merkwürdigen Affinität zu allem Bodenständigen, Bäuerlichen, Provinziellen ausgedrückt hat. Die weit aufgerissene Kluft zwischen der zeitenthobenen Phy­sis ( Sein) und der kontingenten menschlichen Kulturleistung ( Seiendes ) wird selbst zum Thema, wobei die Illusion bereits zerstört ist, es könne eine Wahrheit jenseits der historisch ausgeprägten Formen des Daseins geben. Wenn Wahrheit kontingent ist, also ihre eigene Geschichte in der Zivilisationsentwicklung hat -eine von Giovanni Battista Vico bis Wilhelm Dilthey ausgearbeitete Position -dann gilt der Kampf einer Metaphysik der letzten Sinnbezüge, die vor aller Kon­tingenz der Welt eine letzte nichthintergehbare Konstante beansprucht. Was

17 Es ist darauf h inzuweisen, daß hier eine unübersehbare Parallele zu philosophischen Ansätzen wie dem des ,Nichtidentischen' bei

Adorno besteht, vgl. Theodor W. Adorno:

Negative Dialektik, Frankfurt: Suhrkamp

1 966. Was Heidegger faszinierend, aber auch politisch äußerst problematisch macht, ist die Alternative zur subjektiv angesetzten Emanzipationshoffnung, die in Fortsetzung des aufklärerischen Bildungsideals die ge· schichtliehen Subjekte mit der Hypothek ei·

ner völligen Selbstransparenz und dem Ideal

einer umfassenden Wahrheitsaneignung be­frachtet; wie dies vor allem angesichts der die Wirklichkeit auf neue Art bestimmenden

Medien zunehmend problematisch wird,

wurde vielfach konstatiert - vgl. beispiels·

weise Gianni Vattimo: ,.Die Grenzen der Wirklichkeitsauflösung", in: Vattimo I Welsch (Hg. ) : Medien-Welten Wirklichkei­ten, op.cit., S . I 5ff

18 Heidegger: Sein und Zeit, op.cit., S . l 27 f

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bleibt, ist nur noch die Beschreibung der Wirklichkeit in einem philosophisch kri­tischen Sinn oder unter einer Logik des Zerfalls.

9.5. Kritik der sekundären Welt

Wir erinnern uns an den Ausgangspunkt der phänomenologischen Infragestel­lung allen Wissens durch die erkenntnistheoretische Reduktion aufs Wesentli­che. Aus ihr folgt die Betonung der Gegenwart des reinen Phänomens in den Ge­stalten der subjektiven Wahrheit, als Motiv für die Deutung der objektiven Wirk­lichkeit. Was ist Wirklichkeit? Entweder Welt, die sich als Wirklichkeit zeigt, oder die vom Menschen als solche enthüllt wird. Wie steht es mit Technik und Kultur, die diese Bezüge überformen? Der Zustand der ,Uneigentlichkeit', in der sich die moderne Welt befindet, könnte mit Bezug auf Platons Höhlengleichnis daraufhin interpretiert werden, daß wir es nurmehr mit Abbildern und Repräsentationen zu tun haben statt mit Originalen und wirklichen Gegenständen. 1 9 Gelingt es noch, durch diesen Schleier zur eigentlichen Wirklichkeit durchzustoßen?

Wer die Idee dieser eigentlichen Wirklichkeit denjenigen zuträgt, die im Schein befangen sind, wird sich unbeliebt machen, wenn er nicht ein Gegenmo­dell anzubieten hat. Gegen den Schein der Schattenbilder an der Höhlenwand hatte Platon seine Absolutheit der Ideen gesetzt. Heidegger proklamiert nicht un­bedingt den Idealismus einer vom Menschen unabhängigen Wahrheit, sondern jene Eigentlichkeit, in der als eine Bewegung vom Menschen zur Welt und von der Welt zum Menschen das Sein durchscheint. D ies ist beispielsweise in der Kunst wie in großer Dichtung der Fall; und gerade daraus, daß Wahrheit hier nichts Absolutes bedeutet, sondern einen Deutungsbezug, in welchem die Welt offen und nicht bis ins Letzte determiniert erscheint, begründet sich die Attrakti­vität dieser Heideggerschen Gedankenfigur bis hinein in die poststrukturalisti­sche Theoriebildung.

Der Grundgedanke der Eigentlichkeits-Metaphorik aber bleibt der einer Kritik der sekundären Welt. Wie sehr diese Philosophie aus den Impulsen ihrer Zeit leb­te, der alles äußerlich Bestehende als zweitrangig und dekadent erscheinen mochte, zeigt das frühe Engagement des Philosophen für die Nationalsozialisten, in deren politischem Aufbruch Heidegger eine Eigentlichkeil des Seins aufkom­men sehen wollte.'0 Möglicherweise rächte sich hierin auch die politisch na ive

und grundlagentheoretisch falsche Ausblendung des Sozialen aus dieser Philoso-

1 9 Zu Heideggers Platon-lnterpretation vgl. Sa­franski: Ein Meister. op.cit., S .253[[

20 Zur Debatte vgl. Frank Hanmann: Denker

Denken Geschichte. op.cit.

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1 80 Technik und Lebensweit

phie. Die Analyse des ,Man' bei Heidegger stellt mit Ablehnung, ja nahezu mit Empörung fest, daß im zeitgenössischen Diskurs Kategorien der Urteilsbildung sich durchgesetzt haben, die als ,Öffentlichkeit' jene Bewegung zwischen Mensch und Welt stören, die Heidegger für die Herstellung von Eigentlichkeit für relevant erachtet: "Öffentlichkeit verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte als das Be­kannte und jedem Zugängliche aus. "21 Es ist die Öffentlichkeit - die ,Medien' wa­ren in den zwanziger Jahren noch nicht allgemeiner Sprachgebrauch - die stän­dig kontrolliert, auf welche Weise die Welt und das Dasein interpretiert werden. Und sie behält in allem Recht, wie Heidegger ironisch bemerkt - eben weil sie am Wesentlichen vorbeiziele und "auf die Sache" nicht eingehe; Öffentlichkeit be­deutet hier nicht die Publizität einer Idee oder eines Textes, sondern die demo­kratisch erzeugte öffentliche Meinung." Der Konsens aller als einem Ideal der Öf­fentlichkeit ist nicht Sache dieser Philosophie, die den Verdacht erhebt, die Öf­fentlichkeit verdunkle nur, indem sie alles der Allgleichung unterwirft, allen zugänglich macht und damit bloßes "Gerede" erzeugt.

Man wird dem auf Ebene der Diagnose durchaus zustimmen können, denn Politik beispielsweise oder auch Wirtschaft funktionieren wirklich nicht so, wie es in den Medien des öffentlichen Diskurses zur Darstellung kommt. Solch naive Lektüre, die letztlich viel zum Erfolg der Heideggerschen Philosophie beigetragen hat, greift freilich zu kurz. Der interessante Punkt ist nicht der, daß hier jemand den Schein entlarvt, der in einer Medienlandschaft oder einer von Öffentlichkeit dominierten Welt überall vorherrscht; sondern vielmehr, daß die realen Korn­munikationsverhältnisse der Gesellschaft hier schlicht ausgeblendet werden zu­gunsten einer ,fundamentalen' Gegenüberstellung von Mensch und Welt, von Dasein und Sein. Im Verhältnis des Menschen zu seiner Welt gibt es ein Telos, das für Heidegger Offenheit oder auch Weltoffenheit bedeutet, nicht aber Öffentlich­keit. Der elitäre Grundzug dieser Philosophie offenbart sich wohl an keiner an­deren Stelle so deutlich wie hier: Öffentlichkeit ist weder ein geeignetes Medium des Erkennens noch des rechten Fragens. Heideggers Begriff der Eigentlichkeil bil­det geradezu den Gegenbegriff zu dem der Öffentlichkeit. Er folgt dem Phantasma

21 Heidegger: Sein und Zeit, op.cit., S . 1 27 22 Der Publizität war Heidegger nicht abge­

neigt, obwohl er mit dem Buch als Aus­drucksform philosophischer Gedanken große Schwierigkeiten hatte; nicht nur in bezug auf sein eigenes Buch .Sein und Zeit", sondern auf die Unabgeschlossenheit der Philosophie als sich reflexiv artikulierender Tätigkeit. Seine in einem Brief von 1 923 geäußerte anti-bildungsbürgerliche Bemer-

kung: .Ich lasse der Welt ihre Bücher und li­terarisches Getue und hole mir die jungen Menschen . . . so daß sie die ganze Woche ,im Druck' sind . . . " (an Kar! Jaspers, zit. nach Safranski: Ein Meister, op.cit., 5 . 1 57) verdient allerdings eine Betrachtung unter Berücksichtigung der zehn Jahre später stattfindenden zentralen Bücherverbren­nungsaktion der Nationalsozialisten in Ber­lin.

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einer Authentizität, die sich in ihrer Sicht von der Welt von keiner Medienwirk­lichkeit beeinflussen lassen will, und entzieht sich letztlich einfach dem Zwang zur Mitteilbarkeit; es ist derselbe Fehler, den Heidegger in seiner Philosophie mit politisch gravierenden Implikationen bereits beim Ausschluß aller Kategorien des Sozialen gemacht hat. Sprache wird in der Folge substanzialistisch gefaßt, nicht kommunikativ. Heideggers philosophischer Intimus, Kar! Jaspers, sollte dieses Denken deshalb mit Attributen wie unfrei, diktatorisch und auch als ,.com­munikationslos" bezeichnen."

9.6. Zwischen Sein und Dasein: die Sprache

Aber bleiben wir noch einen Moment bei dieser Sache, denn das moralische Ur­teil einer kommunikationsfeindlichen, antihumanistischen Philosophie könnte doch vielleicht ein Potential bergen, das unter Umständen medienphilosophisch fruchtbar zu machen wäre. Wenn nicht, woraus ließe sich dann die nahezu un­gebrochene Popularität dieses Philosophen auch im medientheoretischen Dis­kurs der Gegenwart erklären? Fragen wir also nach Heideggers Sprachphiloso­phie und in diesem Zusammenhang auch nach der Technik, insofern sie eine Rol­le spielt für die Kommunikation.

Zunächst einmal scheint der Begriff der Kommunikation gar keine wesentli­che Rolle zu spielen, vor allem nicht im intersubjektiven Sinn, denn bei Heideg­ger spielt das Sich zeigen einer Sache eine ungleich höhere Rolle als das Sprechen

über Tatsachen oder Sachverhalte. Wie aus den Erörterungen zur Öffentlichkeit bereits hervorgeht, könnte man daher vermuten, daß das Hinsehen auf eine Sa­che für philosophisch bedeutsamer erachtet wird als das Sich verständigen über die­selbe Sache.'• Diese philosophisch elitäre und antidemokratische Auffassung von Wahrheit, die bei Heidegger recht offen zutage tritt, wird von einem anderen kommunikationstheoretisch relevanten Ansatz konterkariert, den eine Person vorbringt, die dem Philosophen intellektuell und emotional so nahestand, daß ihre Theorie durchaus als ein Gegenentwurf zu lesen ist." Bannah Arendt näm­lich setzt mit ihrer politischen Philosophie genau dort, wo Heidegger sich auf das Verhältnis allein zwischen Mensch und Welt konzentriert, auf die Kraft der In-

23 Karl Jaspers Gutachten über Heidegger. 22. 1 2 . 1 945, vgl. in Hugo Ott: Martin Hei­degger. Unterwegs zu seiner Biographie,

Frankfurt: Campus 1 988, 5 .3 1 6 24 Tatsächlich wird Sartre nach der Lektüre

Heideggers Kommunikation - .das Auftau­

chen des Anderen"- mit dem Blick beginnen

lassen, vgl. Jean Paul Sartre: Das Sein und

das Nichts. Versuch einer phänomenologi­schen Ontologie ( 1 943), Hamburg: Rowohlt

1 980, S.3 38ff und 5.478 25 Hannah Arendt: Vita Activa, oder Vom täti­

gen Leben, München: Piper 1 9 8 1

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tersubjektivität. "S ie knüpft an ein Konzept der Wahrheit als Unverborgenheit an, aber statt, wie Heidegger, das Wahrheitsgeschehen vor allem im Verhältnis des Menschen zu den Dingen abspielen zu lassen, entdeckt sie es zwischen den Menschen. "2' Anstelle der ominösen Lichtung des Seins, die bei Heidegger der Welt eine von den Zwängen der Tradition befreiende Offenheit geben soll, setzt Arendt die demokratisch erzeugte Öffentlichkeit. Dechiffrierte dort der Hohe­priester des Seins dessen Spuren im Seienden, so interpretiert hier die - wohl auch durch die politische Verfolgung sensibilisierte - Zeitdiagnostikerin das be­freiende Potential der Kantschen Publizität im durchaus politischen Sinn.27

Von Medien ist bei Heidegger wie gesagt nicht die Rede. Wie aber steht es um die Sprache in der Konstellation von Sein und Seiendem, von Mensch und Welt? Außer Zweifel steht, daß Heidegger der Sprache einige Aufmerksamkeit gewid­met hat: Sprechen ist dem Menschen natürlich, doch in seinem Sprechen ereig­

net sich Sprache auf eine Weise, die nicht restlos zu naturalisieren ist - worauf be­reits Humboldt aufmerksam gemacht hat. Erinnert sei an dessen These von der Gewalt, die Sprache auch gegen den Menschen ausübt, wobei die Beobachtung, daß der Mensch spricht, stets durch die Behauptung ergänzt werden kann, daß die Sprache ihn spreche: ,; So gedacht wäre der Mensch ein Versprechen der Spra­che."28 Als Sprechende gehören die Menschen zum Sprechen, "aber nicht nur so wie die Ursache zur Wirkung"; Heidegger ergänzt in seinem Nachdenken die Überlegungen Humboldts, neben der Vereinnahmung durch seine eigenwillige Terminologie, lediglich durch ein starkes Votum für die Verselbständigung der Sprache.2' Das seltsame Wort von der Sprache als dem "Haus des Seins" verdeut­licht die antikommunikative Sprachkonzeption, die sich ganz abgelöst hat von den phänomenologischen Wurzeln einer Analyse der Sozialität als "Mitteilungs­gemeinschaft" (Husserl) .

Die Konstellation eines durch "Dichten und Denken" reflektierten Gegenü­bers von menschlicher und gegenständlicher Natur objektiviert stattdessen Spra­che in einer Sphäre rekursiver Schleifen - gemäß Heideggers Wegformel: "Die Sprache als die Sprache zur Sprache bringen. " '0 - in welcher die Sprache selbst nicht als medial gefaßt begriffen wird, sondern strikt substanzialistisch: Sprache ist nicht Mitteilung, sondern "Entsprechen", was heißen soll, daß wir mit Spre­chen gar nichts tun, da ihm das Entsprechen vorgängig ist, oder das Denken als

26 Safranski: Ein Meister, op.cit., S.438 27 In seiner Aufarbeitung der J iegengebliebe·

nen Stränge dieser Diskussion stellt sich Jür­

gen Habermas hier explizit in die Nachfolge von Arendt, vgl. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände, Frank­fun: Suhrkamp 1 98 1

28 Heidegger: Die Sprache. in ders.: Unterwegs

zur Sprache, op.cit., S . l 4 29 Heidegger: Der Weg zur Sprache, in ders.:

Unterwegs zur Sprache, op.cit., S.2 50

30 ebd., S.242

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.. das eigentliche Handeln". Über ihre bloße Ausdrucksfunktion hinaus ist Spra­che .. die anfängliche Dimension, innerhalb deren das Menschenwesen über­haupt erst vermag, dem Sein und dessen Anspruch zu entsprechen und im Ent­sprechen dem Sein zu gehören. " > ' Entsagt man sich dieser enigmatischen Termi­nologie, dann bleibt mit der Beobachtung einer dem Sprechen vorgängigen Handlung des Denkens lediglich die Feststellung, daß hier sich in einsamer Re­flexion wohl .. etwas" ereignet (die Einkehr des Seins ins Seiende, indem das Den­ken sein Wesen zur Sprache bringt . . . ), keinesfalls aber Menschen kommunizie­ren. In den Erörterungen zu Sprache, Sprechen und Dichten spitzt der Philosoph die Rolle der Sprache derart zu, daß der Mensch .. den eigentlichen Aufenthalt seines Daseins in der Sprache hat, unabhängig davon, ob er es weiß oder nicht", und im strengen Sinn dann nicht die Sprache für den Menschen, sondern der Mensch für die Sprache da ist."

D ieser Gedanke wehrt sich gegen die Funktionalisierung von Sprache sogar schon in alltäglichen Mitteilungszwecken und gegen ihre vermeintliche Instru­mentalisierung durch die moderne Technik. Kultur ist immer schon Sprachver­lust, nur die Dichtung läßt noch hoffen. Deshalb ist es Heidegger auch nicht mög­lich, neben der Sprache als dem verbalen Code auch noch andere kulturelle Co­des zu akzeptieren. In ihrer näheren Bestimmung als Objekt wissenschaftlicher Untersuchung erfolgt eine unzulässige Ent-Auratisierung des Sprachlichen: eine Erfahrung in der Sprache zu machen und Sprache dabei ,sein zu lassen' - d.h. ei­ne dichterische Erfahrung zu machen -, ist von höherer Dignität als die wissen­schaftliche Erforschung von Sprache. Letztere zielt auf die Herstellung dessen, was ,Metasprache' genannt wird und ist für Heidegger als instrumentale Vorstel­lung von Sprache ein Verrat an ihrem Wesen: .. Die wissenschaftliche Philosophie. die auf eine Herstellung dieser Übersprache ausgeht, versteht sich folgerichtig als Metalinguistik. Das klingt wie Metaphysik, klingt nicht nur so, ist auch so; denn die Metalinguistik ist die Metaphysik der durchgängigen Technifizierung aller Sprachen zum allein funktionierenden interplanetarischen Informationsinstru­ment. Metasprache und Sputnik, Metalinguistik und Raketentechnik sind das Selbe:·n

Der Affekt gegen die Technifizierung greift als solcher freilich zu kurz. Gegen eine wissenschaftliche Erforschung der Sprache spricht sich Heidegger nicht grundsätzlich aus. wohl aber gegen den Anspruch, damit eine Verbesserung des

31 Martin Heidegger: Die Kehre, in ders.: Die Technik und die Kehre, Stuttgart: Neske

1 962. S.40 32 Heidegger: Das Wesen der Sprache, in ders.:

Unterwegs zur Sprache, op.cit., S . l 59; vgl. auch ebd., S . l 96 : .. Denn der Mensch ist nur

Mensch. insofern er dem Zuspruch der Spra­

che zugesagt, für die Sprache, sie zu spre­chen, gebraucht ist. "

33 ebd .. S . I 60

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Informationsinstrumentariums anzustreben. Was aber ist es, das ihn den durch die moderne Technik indizierten Sprachverlust eigens thematisieren läßt? An­ders gefragt: gibt uns dieser Ansatz Mittel an die Hand, an der ,communikations­losen' Form des sprachlich vermittelten Daseins der Gegenwart besser begreifen zu lernen, wie Technik und Erfahrung sich gegenseitig bedingen?

Die Antwort ist ambivalent. Wenn wir wissen wollen, ob das medientechni­sche Apriori des Denkens als Bedingung seiner Möglichkeit ausdrücklich ge­macht werden kann, werden wir mit dem Bescheid bedient, daß in der Sprache eine Erfahrung zu machen eine andere Dimension hat als mittels Sprache For­schung über etwas (auch über die Sprache selbst) zu betreiben. Heideggers an­tihumanistischer Ansatz beeindruckt in seiner Unnachgiebigkeit hinsichtlich des­sen, was er an der modernen Technik als "kein bloß menschliches Thn" analysiert hat.34 Das schürt eine Erwartungshaltung hinsichtlich des Zusammenfallens bei­der Bereiche, von Technik und Sprache, im Bereich der modernen Kommunika­tionstechnologien.

9.7. Sprachmaschi nen. Zerstörung der Sprache

Bis auf sporadische Bemerkungen hat der Philosoph diese modernen Kommuni­kationsverhältnisse aber ignoriert. Selbstverständlich ist ihm nicht entgangen, daß nicht nur Schreibmaschinen, sondern regelrechte "Sprachmaschinen" Ein­zug in unser Leben halten. Die in alle Bereich des Menschlichen vordringende Technik rührt an der Sprache, in der Denken und Wirklichkeit aufeinandertref­fen. Während wir vorerst nur die Erleichterungen wahrnehmen, die im mecha­nischen Umgang mit der Sprache durch die Schreibmaschine liegen, könnten wir durch die Illusion der technischen Kontrolle übersehen, daß die Maschine die Sprache zu kontrollieren beginnt. Sie wird damit zur besagten Sprachmaschine, und da Sprache bei Heidegger einen originären Seinsbezug besitzt, demgegenü­ber wir nicht souverän agieren können, sondern von dem wir im Gegenteil ab­hängig sind, unterwirft jene sich das menschliche Wesen.

Die mediale Bedrohung einer als ,Diskursmaschine' oder gar ,Denkmaschine' funktionierenden Sprachmaschine wird dann zur absoluten Bedrohung des menschlichen Daseins." In diesem Begriff der Sprachmaschine verdichtet Hei­degger alles Technische, welches den originären Seinsbezug verstellt. Nur auf den

34 Martin Heidegger: Die Frage nach der Tech­nik, in ders.: Die Technik und die Kehre, Stuttgart: Neske 1 962, S. 1 8

35 Der Heidegger-Übersetzer Heim interpretiert aus dieser Sicht den Personal Computer, der

in seiner meistgenutzten Funktion als Word·

processor zum heimlichen Thoughtprocessor

gerät, vgl. Michael Heim: The Metaphysics of Virtual Reality, Oxford Univ. Press 1 993

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Husserl, Heidegger, Horkheimer 1 85

ersten B lick scheint es merkwürdig, daß er auf die modernen technischen Medi­en vor allem an entlegenen Stellen seiner späten Publikationen eingeht. bei­spielsweise in den Erörterungen zu dem alemannischen Dialektdichter und Theologen Johann Peter Hebel, ein Zeitgenosse des Philosophen Hege!. Diesen Dichter sieht er in seiner sprachlichen Reinheit noch nicht berührt von einer technischen Rationalität, sodaß in seiner Sprache ein .. ursprünglicheres Wohnen des Menschen" durchscheint. Hier bricht die Ideologie des Autochthonen bei Heidegger voll durch: angesichts der geschichtlich gewachsenen Form von Spra­che (die er als Muttersprache bezeichnet) muß dieser gegenüber dem sprechen­den Menschen ein Vorrecht eingeräumt werden, welches die Subjektrolle im Sin­ne der Unterwerfung definiert: .. Eigentlich spricht die Sprache, nicht der Mensch. Der Mensch spricht erst, insofern er jeweils der Sprache ent-spricht."'• Wir ken­nen diese Diagnose bereits, doch hier gibt Heidegger seinen Beobachtungen eine neue Wendung. Das Fatale seiner Ansicht nach ist die Verkennung der Sprache in der Vorstellung als .. Instrument der Information" . Immer schneller und immer gewöhnlicher werden die Praktiken alltäglichen .. Redens und Schreibens". Schließlich steht die Bedrohung im Raum, daß .. mit der Konstruktion des E lek­tronenhirns" letztlich Sprachmaschinen tatsächlich verwirklicht würden.

Wie ist das gemeint? Heidegger kennt eine ungefährliche Form des Mediums, die er als Sprechmaschine bezeichnet: die Speicher- und Übertragungsmechanis­men, bzw. Medien als Verstärker menschlichen Sprechens. Die können seiner Exposition nach in Sprache nicht wirklich eingreifen. Anders jedoch die tatsäch­lich komputierende Maschine oder Sprachmaschine: sie regelt .. von ihren maschi­nellen Energien und Funktionen her bereits die Art unseres möglichen Ge­brauchs der Sprache. Die Sprachmaschine ist - und wird vor allem erst noch - ei­ne Weise, wie die moderne Technik über die Art und die Welt der Sprache als solcher verfügt." Diese eher unscheinbare Äußerung kann als Kritik der An­maßung gewertet werden, mit welcher in den fünfziger und sechziger Jahren der technische Diskurs den philosophischen zu ersetzen tendiert. Was Heidegger hier registriert hat, das ist der drohende Verlust der philosophischen Interpretations­hoheit durch den Einzug kybernetischer Modelle in den wissenschaftlichen Dis­kurs ." Es ist ein Rückzugsgefecht ohne viel Aussicht auf Erfolg; Realität und Ei­gentlichkeit klaffen zusehends auseinander. Was sich im übrigen nicht aufhalten

36 Martin Heidegger: Hebel. Der Hausfreund, ( 1 9 57), Pfullingen: Neske 1 99 1 , 5.26

37 Etwas präziser wurde in den sechziger Jah­

ren dann von Henri Lefebvre die Frage ge­stellt, ob die Philosophie eine Metasprache darstelle, diese Frage mir subtiler Anspielung auf Heidegger negativ beantwortet. und die

.. neuaufgekommene lnformationrheorie" jenseits ihrer szientifischen Anmaßung be­grüßt. da die Kybernetik das konstruktivisti­sche Moment der Theoriebildung transpa­rent mache. Vgl. Henri Lefebvre: Metaphilosophie. Prolegomena ( 1 96 5 ) , Frankfurt: 5uhrkamp 1 975, 5 .2 8 1 f

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läßt, kann nurmehr resignativ registriert werden: "Inzwischen erhält sich vor­dergründig immer noch der Anschein, als meistere der Mensch die Sprachma­schine. Aber die Wahrheit dürfte sein, daß die Sprachmaschine die Sprache in Betrieb nimmt und so das Wesen des Menschen meistert. "38

Die beanspruchte ,Tiefe' dieser Diagnose mag vortäuschen, daß dieser philo­sophische Ansatz sich mit den Medien auseinandersetze. Aber es handelt sich vielmehr um eine problematische Vermeidungsstrategie. Dadurch daß die Medi­en nur als Verstärker der menschlichen Sprache aufscheinen, die ihrerseits fälschlicherweise als ein Verständigungsmittel genommen werde, muß der Philo­soph nur behaupten, daß es eben noch "andere Verhältnisse als die gewöhnli­chen" gebe, um sich damit der Problematik zu entwinden, die darin besteht, sich tatsächlich mit einer Medienwirklichkeit auseinanderzusetzen, die aus mehr Ele­menten als nur der Sprache besteht. Bedeutung löst sich Andeutung auf. Was bleibt, ist eine Logik des Zerfalls, die einen vergangenen Zustand auf die Gegen­wart proj iziert, um dieser jene Auszeichnung abzusprechen, die sie für sich selbst gerade noch einmal in Anspruch nimmt." Heideggers "Zur Sprache bringen", das jetzt durch die Maschinen besorgt werden kann, birgt einen Fundamentalismus, der die Flucht nach vorn in einen informationstheoretischen Materialismus (Friedrich Kittler) erst andeutet: Maschinen besorgen dem Sein nur deshalb nicht die besseren Kommunikationen, weil dieses Sein gar nicht kommuniziert.

Heideggers Stichwort ist: Zerstörung des Wortes. Von hier aus entfaltet er seine subtile Maschinenstürmerei. In einer kurzen, wenig bekannten Passage über die Schreibmaschine setzte der Philosoph sich früher schon als im oben erwähnten Zusammenhang der Sprachmaschine mit dem auseinander, was er als Einbruch des Mechanismus in den Bereich des Wortes bezeichnet.'0 Dabei erfolgt zunächst eine Erinnerung an die medientechnologischen Brüche der Menschheitsent­wicklung. Aufschreiben löst die Äußerung von den Sprechenden selbst ab, und ohne die Schrift kann nur im ,oralen Setting' sprachlich gehandelt werden. Erst

38 Martin Heidegger: Hebel. Der Hausfreund, op.cit., S .28 - Wie Heidegger zitiert, bezeich· nete Hebel den Mond als Hausfreund, da er der ,.erste Kalendermacher unserer Erde" war und immer noch .. Generalnachtwäch· ter, wenn die anderen schlafen." Dies darf als verschlüsselte Aussage über Heideggers

eigene Wächterrolle genommen werden. Heidegger deutet weiters in seiner Betrach·

tung unmißverständlich eine Parallele an im Verhältnis von Sprache und Sein durch die Metapher Mondlicht und Sonnenlicht: .. Der Mond bringt das Licht in unsere Nächte.

Aber das Licht, das er bringt, hat er nicht

angezündet. Es ist nur der Widerschein, den der Mond zuvor empfangen hat - von seiner Sonne, deren Glanz zugleich die Erde be­

scheint." Ebd .. S . l 6 39 vgl. ebd .. S.26: .. Das einst Gesprochene un­

serer Sprache, ihr unerschöpfliches Alter­

tum, versinkt mehr und mehr in einer Ver­gessenheit."

40 Martin Heidegger: Parmenides, Vorlesung 1 942/43, zit. nach Friedrich Kittler: Film,

Grammophon, Typewriter, Berlin: Brink­mann, S.290ff

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mit der Verwendung von Schrift löst sich die sprachliche Äußerung von diesem physischen Kontext, um eine neue Kontextualität ganz eigener Art zu begrün­den. Die in einem bestimmten historischen Moment sich verselbständigenden Schriftzeichen reklamieren eine gewisse Autonomie gegenüber den Sprechen­den und ermöglichen so die Entstehung von Transzendenz." Die physische Wah­nehmungsverarbeitung erfolgt nun immer öfter mit dem Auge statt mit dem Ohr, doch geschrieben wird über die Jahrhunderte hinweg mit der Hand. Die Hand ist für Heidegger eine " Wesensauszeichnung des Menschen", und dementsprechend stellt die Handschrift einen wesentlicheren Bezug zum Wort her als die Maschi­ne. Als Handschrift ist die Schrift immer noch Menschenzeichen, wobei das ge­schriebene Wort die zentrale Bezugsstelle zwischen dem Sein und dem Men­schen darstellt. Durch den Einbruch der Maschinenzeichen "ereignet" sich die­sem Bezug "ein Wandel" : der Zusammenhang der Wortzeichen im "Zug der Schrift" verschwindet, sobald die Druckerpresse der Neuzeit Buchstaben setzt und das Gesetzte preßt. Dieses Setzen und Pressen vergewaltigt das Wesen des Schreibens, welches darin liegt, Seinsbezug herzustellen; mit der Maschinen­schrift wird die Schrift ihrem "Wesensursprung" entzogen.

Die Herrschaft der Maschinenzeichen über die Wortzeichen ist ein erster Schritt hinein in jene Zeichenlosigkeit, für welche dann die Schreibmaschine steht. Die Vorteile von Buchdruck und Maschinenschrift würden darüber hinwegtäu­schen, daß hier Technik sich aufdrängt - und gleichsam nötigt, noch im Verzicht und in der Umgehung der Maschine uns zu ihr zu verhalten. Heideggers Me­dienphilosophie reflektiert den Zerfall, nicht eines Zustandes, sondern eines Ver­hältnisses zwischen dem Menschen und den Zeichen, von einer Warte aus, die den privilegierten Weltbezug (wie er in der Dichtung zum Ausdruck kommt) ge­rade noch einmal erhaschen konnte. Es ist ein aristokratischer, jedenfalls elitärer Blick auf die Entwicklungen der Moderne, den ganze Generationen kulturpessi­mistischer Essayisten wie beispielsweise George Steiner übernehmen sollten.

Vollkommen deterministisch wird Heidegger nun dort, wo es um die Frage der menschlichen Beherrschung von Technik geht. Das Wesen der Technik (er nennt es das Gestell) wird als eine Gefahr im Sein exponiert, um dem Kulturpessimis­mus jene Unabänderlichkeit zu geben, die darin liegt, daß der Zugriff im mensch­lichen Dasein auf das Sein nicht umstandslos möglich ist. Was daraus folgt ist daß "sich die Technik niemals durch ein bloß auf sich gestelltes menschliches Tun meistern ( läßt ) , weder positiv noch negativ. Die Technik, deren Wesen das Sein

41 Hier sei nochmals auf die Analyse zu m "ent­körperlichten Wort'' von Ernest Gellner ver·

wiesen, vgl. Pflug, Schwert und Buch, op.cit., S.82f

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1 88 Technik und Lebensweit

selbst ist, läßt sich durch den Menschen niemals überwinden. Das hieße doch, der Mensch sei Herr des Seins.""

Der Mensch kann sich gegenüber der von ihm selbst entwickelten Apparatur anscheinend nicht länger behaupten. Die philosophische Resignation konterka­riert den neuen Herrschaftsdiskurs der Techniker und Ingenieure, die in den fün­fziger Jahren, als jene Philosophie die metaphysischen Aspekte der Technik zu begreifen suchte, sich bereits anschickten, die Welt medial zu vernetzen und in den Weltraum vorzudringen. Computer waren damals noch im buchstäblichen Sinn ungeheuerliche Maschinen, die sich einerseits als Denkprozessoren dazu anschickten, den Menschen als einzig denkendes Wesen im Kosmos von einer unerwarteten Richtung her als künstliche Intelligenz zu konkurrenzieren, deren weltweiter Bedarf andererseits jedoch noch in einstelligen Ziffern angegeben wurde. Vor den Gefahren der Maschine zu warnen gerät dabei zu einem Rück­zugsgefecht in die Gefilde einer Philosophie als einem Konservierungsunterneh­men von ausgezeichneten Texten.

9.8. Mediale Ersatzwirkl ichkeiten?

Wir hatten am Eingang dieses Kapitels davon gesprochen, daß diese rein textuell in sich bestimmte Welt gebrochen wird durch die neuen Diskurskanäle des draht­losen Funks und schließlich des Rundfunks aus den sogenannten Sendeanstal­ten. Dies geschieht natürlich nicht direkt, denn für Philosophie ist der Rundfunk vorerst noch kein VerbreitungskanaL Auch der Einbruch der Schreibmaschine in den heiligen Tempel des Wortes und der Sprache erzeugt zunächst keinen er­kennbaren Effekt im Werk, der es lohnte, daß Philosophen sich damit auseinan­dersetzen. Eine konkrete Analyse der Medien läßt noch auf sich warten, die Re­flexion findet bis in die fünfziger und sechziger Jahre hinein auf einer sehr ver­allgemeinerten Ebene der Frage nach der Technik statt, die im menschliche Dasein überhand nimmt.

Im Prozeß einer Rationalisierung, die als zunehmende Technisierung aller le­bensweltlichen Aspekte zum Ausdruck kommt, spielen die modernen Massen­medien im zeitgenössischen sozialphilosophischen Diskurs keine besondere neue Rolle, sondern dienen vor allem als Fortsetzung jener gesellschaftlichen Instan­zen, die sich in den Formen von Religion, von Kunst und von Wissenschaft seit jeher gegen die psychosoziale Realität richten sollten, um - nach einem Wort von Sigmund Freud - als .,Ersatzbefriedigungen" von der Welt und ihrem Elend ab-

42 Martin Heidcggcr: Die Kehre, in ders.: Die Technik und die Kehre. Stungart: Neske

1 962, $ .38

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zulenken." Diese Annahme einer Surrogatfunktion von Religion und Wissen­schaft, Kunst und Kultur ist spezifisch modern, doch in sich gebrochen, da sie statt einer Auseinandersetzung mit diesen sogenannten Ersatzwirklichkeiten die Möglichkeit der Rückkehr in die Residuen einer genuinen, authentischen Wirk­lichkeit suggeriert. Über mehrere Jahrzehnte hinweg wird dies auch das philoso­phische Paradigma einer Auseinandersetzung mit der sich aufdrängenden Me­dienwirklichkeit bleiben.

Auch die materialistische Kritik attestiert in ihren Thesen zur Kritik der Kul­turindustrie eine Logik des Zerfalls. Die aufgeklärte, von allen ethischen Beden­ken befreite technische Rationalität der Moderne wird als eine von Macht- und Herrschaftsansprüchen gezeichnete wahrgenommen, deren Hybris sich immer weiter verdichtet, bis ihre negative Spannung sich schließlich entlädt: .. Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. "44

Mit dem Forschungsprogramm des von Max Horkheimer ab den frühen dreißiger Jahren geleiteten Frankfurter Instituts für Sozialforschung zeichnete sich eine neue, interdisziplinäre Form der Sozialphilosophie ab, deren For­schungsgegenstand - der gesamtgesellschaftliche Lebensprozeß - sich im An­schluß an metaphysik- und vernunftkritische Denker nach ökonomischen, psy­choanalytischen und sozialen Faktoren differenziert erschließen sollte." Die Be­findlichkeit des Menschen in der modernen Gesellschaft verlangte Anfang der dreißiger Jahre nach einem neuen Forschungsparadigma, das erstmals auch An­sätze zur Massenkommunikationsforschung beinhaltete. D ie von Horkheimer im Zusammenhang mit einer umfassenden Gesellschaftstheorie projektierte .. sozio­logische und psychologische Durchforstung von Presse und Belletristik" sollte unter anderem eine explizite Alternative zu Heideggers .. Philosophie der einzel­menschlichen Existenz" bieten - um zwischen Marx und Freud ein Auf­klärungsprojekt weiterzuführen, das gegen verklärende Ideologien der bürgerli­chen Gesellschaft ebenso gerichtet ist wie gegen philosophische Schwermut, mit der Heidegger der Moderne begegnet." Wie auch in der Vorrede zur Dialektik der

Aufklärung dokumentiert, wird trotz aller gesellschaftlich manifest gewordenen

43 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kul­tur ( 1 930), in ders.: Kulturtheoretische Schriften. Frankfurt: Fischer 1 986. 5.207

44 Max Horkheimer. Theodor W. Adorno: Dia­

lektik der Aufklärung. Philosophische Frag­mente ( 1 944). Frankfurt: Fischer 1 997. 5.9

45 Roll Wiggershaus: Die Frankfurter Schule.

Geschichte, Theoretische Entwicklung, Poli­

tische Bedeuwng, München: Hanser 1 986 46 Max Horkheimer: Die gegenwärtige Lage

der Sozialphilosophie und die Aufgaben ei­nes Instituts für Sozialforschung ( 1 9 3 1 ) , in

ders.: Sozialphilosophische Studien, hg. von Werner Brede. Frankfurt: Fischer 1 98 1 , S.44

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1 90 Technik und Lebensweit

Irrationalität - die Arbeit an diesem Text steht unter dem Eindruck des National­sozialismus, sie erfolgte in den frühen vierziger Jahren im amerikanischen Exil -der Grundsatz nicht aufgegeben, "daß die Freiheit in der Gesellschaft vom auf­klärenden Denken unabtrennbar ist ."" Wie also über die Aufklärung aufklären? Dem Begriff der Aufklärung wird doch der grundsätzliche Verdacht entgegenge­bracht, er enthalte als theoretisches Konzept wie als historische Form, also auch in den bereits realisierten gesellschaftlichen Institutionen, schon den Keim zu je­nem Rückschritt, der sich überall ereigne. Die Autoren negieren die Möglichkeit eines alternativen Ausdrucks, die gesamte Kultur scheint von der Irrationalität bereits korrumpiert zu sein. Gerade die teils bizarre, kalkuliert verzauberte Spra­che Heideggers hat im Kollektiv des sozialwissenschaftlich inspirierten und mit empirischer Forschung befaßten Frankfurter Kreises Befremden hervorgerufen.'" Und so schreiben sie: "Bei der Selbstbestimmung über seine eigene Schuld sieht sich Denken daher nicht bloß des zustimmenden Gebrauchs der wissenschaftli­chen und alltäglichen, sondern ebensosehr jener oppositionellen Begriffssprache beraubt. Kein Ausdruck bietet sich mehr an, der nicht zum Einverständnis mit herrschenden Denkrichtungen hinstrebte, und was die abgegriffene Sprache nicht selbsttätig leistet, wird von den gesellschaftlichen Maschinerien präzis nachgeholt. "49

9.9. Kritik der Kulturindustrie

Keine leichte Situation: man schreibt gegen etwas an, kann aber den Standpunkt der kritischen Beschreibung nicht mehr genau angeben - ein performativer Wi­derspruch, die Kritik dreht sich irgendwie im Kreis. 5° Die Texte der Dialektik der

Aufklärung werden als philosophische Fragmente bezeichnet, was wichtig ist, denn schließlich ging diesem Text ein Jahrzehnt empirischer soziologischer For­schungsarbeit voraus, die Resignation war keineswegs spekulativer Natur. Nicht nur sollten Texte dieser Form ursprünglich umfassend angelegte Studien zur ge­sellschaftlichen Situation philosophisch zusammenfassend einleiten, die dunkle

47 Horkheimer, Adorno: Dialektik der Auf­klärung, op.cit., S .3

48 Besonders Theodor W. Adorno kritisierte bei einiger Sympathie für Heideggers Denken die Ausdrucksweise, die seine kreative Ver­

wendung des Deutschen ausgelöst hatte;

vgl.: Jargon der EigentlichkeiL Zur deut­

schen Ideologie, Frankfurt: Suhrkamp 1 964

49 Horkheimer, Adorno: Dialektik der Auf­

klärung, op.cit., S.2

50 .,Geleitet von Benjamins ironisch geworde­ner Hoffnung der Hoffnungslosen, wollen

sie von der paradox gewordenen Arbeit des Begriffs doch nicht lassen. " - Jürgen Haber­mas: Die Verschlingung von Mythos und

Aufklärung, in ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt: Suhrkamp 1 985, S . I 30

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Tonlage und das Resignative der Ausführungen verdankt sich noch einer weite­ren Engführung: die positiven Aspekte der behandelten Themen sollten ur­sprünglich durchaus noch ihren Platz im Text haben. Dies trifft vor allem auf das in unserem Zusammenhang wichtige Kapitel über die moderne Massenkultur zu, mit der unter der Bezeichnung einer "Kulturindustrie" auf den Punkt gebracht werden sollte, worum es hierbei tatsächlich geht: nä mlich um die für die Mas­senmedien zentral gewordene Inszenierung von Aufklärung als Massenbetrug. In ihrer bereits zitierten Vorrede erwähnen die Autoren, daß ihre Erörterungen dazu mehr noch als alle anderen fragmentarisch wären. Sie wollen zeigen, daß eine massenmedial induzierte allgemeine Rezipierbarkeit als Ideologie in Film und Radio ihren maßgebenden Ausdruck finde und die Regression der Aufklärung sich damit am besten zeige. Der in der vervielfältigten Ausgabe des Manuskripts nun folgende Satz ist in der später gedruckten Vers ion jedoch weggefallen: "Große Teile bedürfen noch der letzten Redaktion. Ihn ihnen werden auch die positiven Aspekte der Massenkultur zur Sprache kommen.""

Nur für seine radikale Artikulation der negativen Aspekte von Massenkultur ist der Text dann bekanntgeworden. Zentral ist ihm die Bestimmung von Kultur als "paradoxe Ware", die in ihrer Angleichung an "Reklame" ihr inhärente Wer­te wie das Glücksversprechen von Kunst an oberflächliche Zwecke verkauft hat, die wesentlich darin bestehen, für eine Angleichung aller zu sorgen, für eine Af­firmation des Bestehenden und eine Mimesis der Konsumenten an die Kultur­waren. Kunst sublimierte noch, Kulturindustrie aber unterdrückt. Letztere ent­spricht dem industriellen Produktionsprozeß, mit ihrem Versprechen kleiner Fluchten aus dem Alltag der entfremdeten Arbeit, um in ihren Produkten genau denselben Alltag wieder verklärt anzubieten. Rückblickend hielt Adorno in sei­nem Resume über Kulturindustrie fest, daß ihnen der Begriff Massenkultur diesem Prozeß nicht mehr angemessen erschien und deshalb in der Publikation durch ,Kulturindustrie' ersetzt wurde, "um von vornherein die Deutung auszuschalten, die den Anwälten der Sache genehm ist: daß es sich um etwas wie spontan aus den Massen selbst aufsteigende Kultur handele, um die gegenwärtige Gestalt von Volkskunst. ( . . . ) Das Wort Massenmedien, das für die Kulturindustrie sich einge­schliffen hat, verschiebt bereits den Akzent ins Harmlose. Weder geht es um die Massen an erster Stelle, noch um die Techniken der Kommunikation als solche, sondern um den Geist, der ihnen eingeblasen wird, die Stimme ihres Herrn. "52

51 Zit. nach Wigge rshaus: Die Frankfurter Schule. op.cit., 5 . 360

52 Theodor W. Adorno: Resume über Kulturin­dustrie. in ders.: Ohne Leitbild. Parva

Aesthetica, Frankfurt: Suhrkamp 1 967, 5.60[

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1 92 Technik und Lebensweit

Während eine ans alttestamentarische Bilderverbot anknüpfende moderne Ästhetik der Negativität, deren Verfechter Adorno bekanntlich war, die Zwänge und Widersprüche einer rationalisierten Gesellschaft zum Ausdruck bringen soll­te, zielt die Kulturindustrie mit ihrer Übertragung des Profitmotivs auf geistige Gebilde auf eine NiveJlierung nicht nur im Sinne ästhetischer Konsumierbarkeit, die von aller reflexiven Anstrengung befreit, sondern auch im Sinne einer damit verbundenen Infantilisierung der Konsumenten und einer Regression des Kul­turniveaus.

Sie mißbraucht also die reflexiven Mittel, welche die Aufklärung bereitgestellt hatte, und verspricht den Menschen statt Freiheit von Zwängen nicht viel mehr als, wie Adorno feststellt, "blendend weiße Zähne und die Freiheit von Achsel­schweiß" . Sie bildet damit eine zynische Form der gesellschaftlichen Integration: die Massen werden bei der Stange gehalten - mit aufgeklärten Mitteln, darin eben besteht die Dialektik, werden die Menschen um das Glück betrogen, das man ihnen vorschwindelt. Die Analyse bleibt nun aber nicht dabei stehen, den über Radio, Film und Fernsehen verbreiteten Hollywood-Produktionen ihre leicht nachweisbare Ideologie der Konsumgesellschaft ein weiteres Mal nachzu­sagen; sie erhebt vielmehr den Anspruch, jenes Kalkül transparent zu machen, das von den Produzenten in die Medienwirkung gesteckt wird, jene ,aufgeklärte' Nutzung der Technik von Herstellung und Distribution, die mit wissenschaftli­cher Präzision genau weiß, was sie tut.

Deshalb die vehemente Rede vom Massenbetrug, vom anti-aufklärerischen Gesamteffekt der Kulturindustrie: Die Technik kontrolliert nicht einfach mehr nur die Natur, als Zweck der Aufklärung (Befreiung von Naturzwang), sondern fesselt das Bewußtsein. Dazu gehört, daß alternative Nutzungen der Technik als solche bewußt verhindert werden: betrachtet man die Kulturindustrie von ihrer Hard­wareseite her, um sie als Prozeß technischer Notwendigkeiten zu erklären, dann unterschlägt diese ,Sachzwanglogik' neben ideologischen Motiven der Herrschaft bewußt auch technische Optionen, die darin lägen, eine freie Verfügung über die Herstellungs- und Verbreitungstechnologien zu gestatten. Technische Macht be­deutet immer noch die Macht der ökonomisch Stärksten. Sie sind es, die in den Menschen nicht viel mehr als bloße Empfänger von Botschaften sehen wollen.

"Der Schritt vom Telephon zum Radio hat die Rollen klar geschieden. Liberal ließ jenes den Teilnehmer noch die des Subjekts spielen. Demokratisch macht dieses alle gleichermaßen zu Hörern, um sie autoritär den unter sich gleichen Programmen der Stationen auszuliefern. Keine Apparatur der Replik hat sich entfaltet, und die privaten Sendungen werden zur Unfreiheit verhalten.""

53 Horkheimer. Adorno: Dialektik der Auf­

klärung. op.cit.. 5 . 1 291

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Husserl, Heidegger, Horkheimer 1 93

Statt einem Kommunikationsapparat hat sich ein Distributionsapparat durch­gesetzt, vor dem nur noch passive Rezeption möglich ist. Dies stellt eine indirek­te Antwort dar auf Bertolt Brechts Vorstellung eines allgemeinen Kommunikati­onsapparates, der die mediale Einbahnstraße des Broadcasting für den Gegenver­kehr öffnen würde . .. Der Rundfunk muß den Austausch ermöglichen", lautete seine Forderung in den frühen dreißiger Jahren . .. Der Rundfunk wäre der denk­bar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheu­res Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszu­senden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen. Der Rundfunk müßte demnach aus dem Lieferantenturn herausgehen und den Hörer als Lieferanten organisieren.""

Mit Brecht waren sich die Frankfurter Autoren vermutlich darin einig, daß diese Form der kommunikativen Vernetzung nicht aus technischen Gründen scheitert, sondern aus organisatorischen, da eine ökonomische Vormachtstellung medialer Produzenten in ihren Herstellungszentren vorläufig nur nach dem Bro­

adcasting-Prinzip aufrechterhalten werden kann. Aber diese Einsicht ist nur eine halbe Wahrheit. Objektiv falsch ist es, wenn Horkheimer und Adorno behaupten, es hätte sich keine Apparatur der Replik entfaltet. Wie Patrice Flichy in seiner Re­konstruktion der technischen Grundlagen der modernen Massenkommunikati­on deutlich macht, war die drahtlose Telegraphie - stimuliert durch ihren erfolg­reichen Einsatz im ersten Weltkrieg, und gestützt durch eine bald folgende Gerä­tefertigung auf industrieller Grundlage - schon sehr früh so weit, daß sich durch eine gesellschaftliche Akzeptanz und Anwendung der neuen Technik beispiels­weise in den USA ein öffentlicher kommunikativer Raum gebildet hatte, ..in dem sich Funkamateure frei bewegen konnten."" Auf dem Weg von der drahtlosen Telegraphie zum Radio sind weiters nicht nur technische Einschränkungen ent­scheidend, die einen allgemeinen Kommunikationsapparat verhindert haben, sondern soziale Entwicklungen, die eine häusliche Rezeptionssituation in der Pri­vatsphäre begünstigt haben. Dies ist nicht allein auf Herrschaft und Ausbeutung als abstrakte Kategorien der sozialen Analyse zurückzuführen. Das Telephon als One-to-one Austauschmedlum hatte seine technische Entwicklung von den ersten automatischen Telephonzentralen um 1 9 1 0 bis hin zur Entwicklung des Digital­systems unter Einsatz von Mikroprozessoren ab den siebziger Jahren zum Zeit­punkt jener Beschreibung gerade erst noch vor sich, während das Radio als Me-

54 Bertolt Brecht: Der Rundfunk als Komm uni· kationsapparat ( 1 932) . abgedruckt in: Dieter Prokop ( Hg. ) : Produktion. Massenkommu-

nikationsforschung Band I. Frankfurt: Fi­

scher 1 972, S. 3 l ff 55 Flichy: Tele, op.cit., S . l 80

Page 194: Medienphilosophie Hartmann

194 Technik und Lebensweit

dium sich tatsächlich bis zum heutigen Zeitpunkt kaum mehr grundlegend ver­ändern sollte.

Zusammenfassung Der E inbruch der Massenmedien in den phi losophi-

sehen Diskurs der Moderne verändert d iesen in seinen Grundlagen, auch wenn

vorerst keine explizite Auseinandersetzung mit der Mediensphäre erfolgt. M it

dem Entstehen ei ner spezifischen Medienwirkl ichkeit wird die Frage nach der

,wirklichen' Wirklichkeit neu gestel lt. So wil l sich Edmund H usserl wieder den

Dingen selbst zuwenden, befreit vom Bal last der in einer Kultur der Vernunft

ausgebildeten Wahrnehmungseinschränkungen. H inter der rationalen Fassa­

de der modernen Wissenschaft wird die Besinnung auf ihre Ursprünge in der

Lebenswelt verlangt.

Der Phi losoph Martin Heidegger geht noch weiter und versucht, die Frage

nach dem Sein zu stel len, welches von den Konstel lationen des Seienden ver­

deckt wird. Der techn isch-wissenschaftlichen Rational ität der Moderne wird

dabei ein poetischer Seinsbezug entgegengehalten, der die Sprache auf ganz

spezifische Weise achtet. Dabei geht es nicht um die wirklichen gesellschaftli­

chen Kommunikationsverhältnisse, sondern um ein abstraktes Gegenüber von

Mensch und Welt. Das aufklärerische Verlangen nach einer diskursiven Öffent­

l ichkeit tritt zurück hinter ein el itär ansetzendes Fragen. Mit den neuen Korn­

munikationsmedien beschäftigt sich dieses Fragen nurmehr, um ihnen eine

Zerstörung der Sprache anzulasten.

Demgegenüber versuchte der sozialwissenschaftliche Ansatz von Max Hork­

hei mer bereits in den frühen dreißiger Jahren, Kommunikationsforschung in

die zeitdiagnostischen Analysen einzubeziehen. Die politische Entwicklung

der dreißiger Jahre und die Emigration der Theoretiker um Horkheimer wirk­

te sich auch auf die Theoriebi ldung aus - die positiven Aspekte der medialen

Massenkultur (im Sinne ei ner Produktivkraftentwickl ung) wurden ausgeblen­

det, übrig blieb eine ebenso schonungslose wie resignative Aufklärung über

die Aufklärung selbst, ihre ,Dialektik' von befreienden und repressiven Mo­

menten. Letzteren wird besonders die neue Kulturind ustrie zugerechnet. Die

Hoffnung auf eine positive Kraft der modernen Aufklärung bleibt jedoch er­

ha lten.

Page 195: Medienphilosophie Hartmann

Abbildung 13 Die erste Fotografie, von Nicephore Niepce (1822)

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1 0. Kapitel - Das Tech nische als Kultur.

Der neue Blick bei Walter Benjamin

,.Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden . . . "

Sigmund Freud

10 . 1 . Affirmativer Charakter aller Kultur?

Das Wesen der K\lltur wurde von der Psychoanalyse, ohne dafür eine klare For­mel zu finden, als Summe der Leistungen und Einrichtungen bezeichnet, die den Menschen von der Natur abgrenzen und die Beziehungen der Menschen unter­einander regeln. Der Mensch vervollkommne im Laufe der Zivilisationsentwick­lung seine motorischen wie sensorischen Organe durch die Entwicklung von Werkzeugen. Motoren entgrenzen die Leistung von Muskeln in der Auseinan­dersetzung des Subjekts mit der Materie; physische Mängel werden durch künst­liche Mittel korrigiert und organische Grenzen durch neue Instrumente über­wunden. Sigmund Freud erwähnt auch die Kamera und das Grammophon, er spricht von diesen Entwicklungen als "Materialisationen des ihm [sc. dem Men­

schen - FH] gegebenen Vermögens der Erinnerung, seines Gedächtnisses." Die te­lematischen Medien schließlich ersetzen das ursprüngliche Privileg der Schrift, die Sprache des Abwesenden zu sein.

In der Summe allen Kulturerwerbs erfülle sich in einem unabgeschlossenen Prozeß der Märchenwunsch eines schwachen Tierwesens, Gottähnlichkeit zu er­reichen. Dieses Ideal ist allerdings längst nicht ein vollkommen erreichtes, sagt Freud: "Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht groß­artig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwach­sen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen . " ' Weder fühle der Mensch sich in seiner Gottähnlichkeit so recht glücklich, noch sind damit die Pro-

Sigmund Freud: .Das Unbehagen in der

Kultur" ( 1 930) . in ders.: Kulturtheoretische Schriften, op.cit.. 5.222

Page 197: Medienphilosophie Hartmann

Benjamin 1 97

bleme gelöst, die ein kulturelles Über-Ich auszeichnen: daß der für Kultur not­wendige Triebverzicht und die introjizierten Aggressionsneigungen stets wieder­auftauchen könnten und der kultivierte Mensch in ständiger "Angst vor dem Aufstand der Unterdrückten" lebt. Während die Freudsche Psychoanalyse an der Kultur ein subtiles Unbehagen diagnostiziert hat, sprachen die Gesellschaftskriti­ker Max Horkheimer, Theodor Adorno und Herbert Marcuse in verschiedenen Beiträgen der dreißiger Jahre vom "affirmativen Charakter aller Kultur". In ihrer Diskussion der gesellschaftlichen Rolle von der Populärkultur und ihren Medien wurden eben diese als Fetische betrachtet, "mittels derer die Massen bei der Stan­ge gehalten werden".' Die Feststellung, daß alle Kunst affirmativ werde, bedeu­tet hier, daß sie im besten Fall noch die idealistische Rechtfertigung "dessen, was ohnehin schon ist" darstellt, im schlimmsten Fall aber der gesellschaftlichen Re­pression zur Durchsetzung verhilft.

Kultur insgesamt wäre das Reservat des schönen Scheins, der scheinbaren Genüsse und damit eben jenes fiktive Glück, das die Menschen Arbeit und reales Elend überhaupt noch aushalten läßt. Für die Kulturpessimisten sind auch Spra­che und Denken davon betroffen, wobei sich die Analyse auf die Angleichung der Kulturprodukte und ihrer Produktionsbedingungen an das Mechanische, Ma­schinenhaftige kapriziert: "Denken verdinglicht sich zu einem selbsttätig ablau­fenden, automatischen Prozeß, der Maschine nacheifernd, die er selber hervor­bringt, damit sie ihn schließlich ersetzen kann."' Daß alles ins System integriert wird, hängt mit einem spezifischen Mangel an hinreichend kritischem Bewußt­sein zusammen - auch Effekt einer Gesellschaft im Übergang, die mit der Exi­stenz des bürgerlichen Individuums dessen differenziertere Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen hinter sich lassen: es gibt keine substanzielle Kunst mehr, nur noch eindimensional kanalisierte Kulturprodukte.• Die Rezeptionshaltung der Innerlichkeit und der Kontemplation ist nicht mehr zeitgemäß. Diese Prozesse sind nicht neutral, und sie werden von Faschismus und Nationalsozialismus aus­genutzt.

Von der Abschaffung des Individuums durch eine blinde Maschinerie ist in der Kritik der Kulturindustrie immer wieder die Rede. Die Autoren halten in ihrer Zeit-

2 Herben Marcuse: Über den affirmativen

Charakter der Kultur, in: Zeitschrift für Sozi­alforschung, Jg.Vl. 1 937. Heft I, S . 54.

Horkheimer. Adorno: Dialektik der Auf­

klärung, op.cit., S.26 4 .Today, persons merely appear to be per­

sons; both ,elites' and masses obey a mecha­

nism that leaves them only one single reac-

tion in any given situation. Those elements of their nature which have not yet been

canalized have no possibility of understan­dable expression.• - Max Horkheimer: Art

and Mass Culture, in: Studies in Philosophy and Social Science (Zeitschrift für Sozialfor­

schung), Jg.IX, 1 94 1 , No.2, 5.294 (zit. nach DTV-Reprint 1 980)

Page 198: Medienphilosophie Hartmann

198 Das Technische als Kultur

diagnose, die alle Indizien einer gesellschaftlichen Umbruchsituation sammelt, die Effekte der zweiten industriellen Revolution fest: dem "epochemachenden E inbruch der Maschine ins tägliche Leben." ' Neue oder andere Ausprägungen der Kultur, die sich verstärkt durch Medien (Kino, Radio) vermittelt werden re­lativ umstandslos unter dem Stichwort "Regression" subsumiert. Bei Horkheimer wird die irreversible Zerstörung des kommunikativen Zusammenhangs durch die Massenmedien dahingehend zugespitzt, daß die Menschen nur noch über Zei­chen gesteuert werden.• Totale Kommunikation, so Adorno, kommuniziert ei­gentlich gar nichts mehr, ja der hier indizierte "Verfall des Sprechens liegt in der objektiven Tendenz".' Die ideologiekritische Analyse beansprucht dennoch, die­se Illusionen zu zerstören. Die technische Entwicklung der Medien bedeutet in diesem Kontext zunächst aber nur eine Steigerung der Verblendungsmöglichkei­ten und damit eine Depotenzierung aufklärerisch-emanzipatorischer Hoffnun­gen, es sei denn, dieser Zusammenhang wird durch politisches Handeln ge­sprengt und Medientechnologie damit in andere Dienste genommen - mit dieser Einschätzung wurde Marcuse in den sechziger Jahren noch einmal zur Symbol­figur einer rebellischen Gegenkultur. Diese hatte damit aufgehört, den kulturel­len ,Sprachverlust' in einer Ästhetik des Verschwindens zu beschwören und neue Ausdrucksformen entwickelt, auf die sich im übrigen das aus der dialektischen Kulturkritik stammende Begriffsinstrumentarium nicht mehr umstandslos an­wenden läßt.

Dieses andere Sprechen, als Potential auch der medientechnischen Verände­rungen, wollten oder konnten die Autoren der Dialektik der Aufklärung nicht an­erkennen: "Die Kommunikation besorgt die Angleichung der Menschen durch ihre Vereinzelung". Wäre der mögliche Schritt über solche Vereinzelungstenden­zen hinaus zu zeigen gewesen, so hätte dies aus denselben begrifflichen Mitteln entwickelt werden müssen, mit denen die resignative Kritik der Kulturindustrie

selbst operiert. • Die historische Umkehr von Aufklärung in Massenbetrug mit Hilfe der Medien ist jedoch als Einbahnstraße dargestellt worden: "Keine Appa­ratur der Replik hat sich entfaltet." D ie Aufklärung zieht sich zurück in eine Ideo­logie der Massenmedien, die zum Ziel hat, soziale Kontrolle durch fortgeschritte­ne Technik zu realisieren.

Viiern Flusser. Kommunikologie, Schriften

Band 4, Mannheim: Ballmann 1 996, S.262 6 • Was wir ,Sinn' nennen, wird verschwin­

den" - Max Horkheimer im Spiegel-Ge­spräch. 1 970; vgl. Horkheimer. Gesammelte

Schriften Band 7, Frankfurt 1 985, 5 .355

7 Theodor W. Adorno: Prismen. Kulturkritik

und Gesellschaft ( 1 9 5 1 ) . Frankfurt 1 976. 5. 1 1 9

8 Jürgen Habermas legt den Finger auf genau diesen wunden Punkt. vgl. in ders.: Theorie des kommunikativen Handelns. op.cit., Band I , Kap. IV.2 .. bes. S.496f

Page 199: Medienphilosophie Hartmann

Benjamin 199

10.2. Das produ ktive Moment der Reproduzierbarkeit

Kultur ist in dieser Zeitdiagnose mit dem Stigma der mechanischen Reproduzier­barkeit gezeichnet, durch die ihre Produkte stereotyp in eine "traumlose Kunst fürs Volk" übersetzt werden. Demgegenüber hat Walter Benjamin das potentiell produktive Moment sowohl der technischen Reproduzierbarkeit wie auch der neuen Bilderschrzft hervorgehoben, die sich mit Fotografie, Film und Reklame kulturell durchsetzt. Benjamin war sich des Dilemmas bewußt, welches darin be­steht, daß aus der Veränderung der kulturellen Werkzeuge eine Krise des bür­gerlichen Kulturmodells folgt, daß die Medien wiederum nicht per se emanzipa­torischen Charakter haben, sondern erst politisierbar gemacht werden müssen . Benjamins Medienästhetik unterschiedet sich vom Kulturpessimismus Horkhei­mers und Adornos durch die systematische Stellung, die der Medientechnologie als Apriori der kulturellen Produktion eingeräumt wird, und sie bildet damit ihr Pendant, die jene der Kritischen Theorie wohl bewußten, später aber zensurier­ten "positiven Aspekte der Massenkultur" und damit die neue Medienwirklich­keit ernstnimmt. •

Ebenfalls Mitte der dreißiger Jahre und wie Marcuses Beitrag auch in Hork­heimers ,Zeitschrift für Sozialforschung' in einer durch Pierre Klossowski besorg­ten französischen Übersetzung wurde Walter Benjamins kontroversieller Essay über "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" publiziert . ' 0 Der Ansatz, den Benjamin hier entfaltet, ist nicht eindeutig kulturpessimistisch, im Gegenteil klingen progressive Töne an, die mit der gesellschaftlichen "Funk­tionsänderung" des Kunstwerks zu tun haben, da dieses durch die Vorausset­zungen der neuen Technologien nunmehr in die politische Praxis überführt wer­de. Die dunkle Seite dieser Praxis war im Deutschland Mitte der dreißiger Jahre auch nicht zu übersehen; der totalitäre Staat oder der Faschismus werden als je­ner Akteur identifiziert, der sich des Ausdrucks der Massen bedient und damit die

9 Vgl. oben Kap. 9,9. Hier ist Norbert Bolz zu­zustimmen, wenn er den Unterschied zwi­schen Adorno und Benjamin an diesem Punkt festmacht. Adornos Ästhetik leidet am Verfa11 der Aura. Benjamin thematisiert die medientechnische Bedingung des Aura­verfa11s: ,. Während also Benjamin Tech nik als Medium begreift. deutet sie Adorno als Inkognito des Geistes.'" - vgl. Theorie der neuen Medien, München: Raben I 990, 5 . 1 04. Von der ca. I 92 5 verfaßten erkennt­niskritischen Vorrede im Ursprung des deut­

schen Trauerspiels über die ironischen Apho-

rismen in der Einbahnstraße von 1 928 bis hin zum Passagenwerk lassen sich m.E. genug In­dizien dafür sammeln, daß Walter Benjamin entgegen mancher Interpretation keines­wegs dem apokalyptischen Lager der den ,.Verfa11 der Au ra'" beklagenden K u lturkritik zuzurechnen ist. Zur Diskussion der Proble­matik vgl. Jürgen Habermas: Walter Benja­

min. Bewußtmachende oder rettende Kritik

( I 972), in ders.: Philosophisch-politische Profile, Frankfurt: 5uhrkamp I 98 1 . 5.3 36-376

Page 200: Medienphilosophie Hartmann

200 Das Technische als Kultur

bewußte Ästhetisierung der Politik betreibt. Der Kommunismus (bzw. der Hu­manismus, wie es in der abgeschwächten französischen Erstpublikation heißt) antworte darauf mit einer "Politisierung der Kunst".

An dieser berühmten Wendung läßt sich Benjamins Grundthese entziffern: wenn das Ästhetische politisiert und damit gewissermaßen funktionalisiert wer­den kann, dann zeichnet sich gegenüber der traditionellen, auf kontemplative Rezeption gerichteten Funktionsrolle von Kunst eine gravierende Änderung ab; es gilt die Chance zu nutzen, diese Änderung im Sinne einer gesellschaftlichen Emanzipation fruchtbar zu machen. Dazu ist zu bemerken, daß Anfang bis Mit­te der dreißiger Jahre die gegen einen totalitären Staat gerichtete politische Hoff­nung noch einige Berechtigung hatte. Die Gestaltungsmöglichkeit ließ sich aus der materialistischen Position herleiten, deren Vorstellung eines gesellschaftli­chen Fortschritts auf zwei Grundthesen von Marx gebaut sind; sie lauten in frei­er, verkürzter Version: einerseits die unbeschränkte Entfaltung der technischen Produktivkräfte, und andererseits die Aufhebung der Entfremdung von den Pro­duktionsmitteln.

Über die Berechtigung einer Verbindung zwischen Ästhetik und Politik, wie sie sich bei Benjamin findet. ist viel geschrieben worden. Benjamin stand als frei­er Mitarbeiter des emigrierten Frankfurter Instituts für Sozialforschung im Konflikt mit unterschiedlichen Positionen. ' ' Die dialektischen Kulturpessimisten konnten schwer verwinden, daß in ihren Reihen ein Verfechter des technischen Fort­schritts sich artikuliert, und kamen in Versuchung, seine Aussagen nachträglich zurechtzurücken. Aber Benjamin bleibt ein Denker des technischen Fortschritts: unter Distanznahme zur brachialen marxistischen Diktion ist ihm doch recht zu geben, daß nach der ersten industriellen Revolution ( .,Umwälzung des Unter­baus") die zweite ( .,Umwälzung des Überbaus") etwas länger gebraucht hat. "um auf allem Kulturgebieten die Veränderungen der Produktionsbedingungen zur Geltung zu bringen. "" Und immer noch läßt sich mit Benjamin fragen: Hält die Technik ihr Versprechen? Läßt sie uns die Welt anders wahrnehmen als die über Form und Inhalt verklärende Kunst. und läßt sie damit neue Gestaltungsmög­lichkeiten zu? Die eher komplexe, aber letztlich positive Antwort ist auf das rela­tiv einfache Resultat einer medienästhetischen Reflexion gebaut, die in diesem

10 Walter Benjamin: L'll'uvre d 'art ii / 'epoque de sa reproduction mecanisee, in: Zeitschrift für

Sozialforschung, Jg.V, 1 936, Heft 1, S.40-68.

Zit. nach ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter

seiner technischen ReproduzierbarkeiL Drei

Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt:

Suhrkamp 1 979

1 1 Vgl. dazu Roll Wiggershaus: • Walter Ben ja· min, das Passagenwerk, das Institut und Adorno·. in ders.: Die Frankfurter Schule,

op.cit., S.2 1 7-246. Nach wie vor instruktiv

auch Hannah Arendt: Walter Benjamin, Bertolt Brecht. Zwei Essays, München 1 97 I

12 Walter Benjamin: Das Kunstwerk, op.cit., Vorwort

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Benjamin 201

Fall am Beispiel der surrealistischen Fotografie abzulesen wäre - sie bereitet "ei­ne heilsame E ntfremdung zwischen Umwelt und Mensch" vor. 1 ' Technik im all­gemeinen und die moderne Medientechnologie im speziellen gibt einen B lick frei, den Benjamin den politischen nennt. Er kehrt die Entfremdung durch Tech­nik gegen diese selbst. und zwar mit Mitteln, die sie selbst hervorbringt, also die durch technische Rationalisierung ermöglichte Vervielfältigung, oder auch durch dementsprechend ermöglichte Effekte wie die der Vergrößerung oder der Ver­kleinerung.

10.3. Die Begegnung von Mensch und Technik

Aus dieser Auffassung resultiert die Einsicht in die tatsächlichen Verhältnisse von neuen Technologien und tradierten Besitzstrukturen. Brecht hat sie für seine be­reits zitierte ,Radiotheorie' (s.o. Kap.9.9) fruchtbar gemacht, in der klar herausge­stellt wird, was für die Massenmedien der kommenden Jahrzehnte gelten sollte: die Tatsache, daß sie keine diskursiven Medien sind, keine wirklichen Kommu­nikationsapparate, begründet sich nicht aus der Technik als solcher, sondern aus Entscheidungen der Besitzer und Entwickler der Technologien. Brecht schwebte vor, die kulturelle Produktivkraft der Apparate voll zu entfalten: "Durch immer fortgesetzte, nie aufhörende Vorschläge zur besseren Verwendung der Apparate im Interesse der Allgemeinheit haben wir die gesellschaftliche Basis dieser Appa­rate zu diskutieren. " 14

Benjamin selbst diskutiert zunächst die theoretischen Defizite im Zusammen­hang mit der Industrialisierung der Reproduktionstechniken - so sei hinsichtlich der philosophischen Fragen die Entwicklung der Fotografie "jahrzehntelang un­beachtet geblieben. ( . . . ) Überaus rudimentär sind die Versuche, der Sache theo­retisch Herr zu werden . " 1 ' Obwohl Benjamin selbst nun keine systematische Theorie dazu geliefert hat, bleiben uns genug seiner Anmerkungen, um dem ein wenig nachzugehen, wie das mit ,der Sache' gemeint ist: die Begegnung von Mensch und Technik als eine Grunderfahrung der Moderne.

Es ist der Wahrnehmungsschock des reinen Seins, den die Fotokamera dem menschlichen B lick enthüllt. Zur Kamera spricht eine andere Natur als die zum menschlichen Auge: "an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durch­wirkten Raums ( tritt) ein unbewußt durchwirkter". Dies ist, gleichsam als Ver­größerung, eine der erwähnten medialen Funktionen des Apparats. Er läßt uns

l3 Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie, in: Literarische Welt, 1 9 3 1 , wieder i n ders.: Das Kunstwerk, op.cit., 5.45-64, hier 5.58

14 Bertolt Brecht: .,Der Rundfunk als Kommu­nikationsapparat" op.cit., 5 .32ff

15 Benjamin: Kleine Geschichte der Photogra­phie, op.cit., 5.47f

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202 Das Technische als Kultur

Strukturbeschaffenheilen erkennen, die dem menschlichen Auge nicht auffällig sind. Die Fotografie mit ihren Hilfsmitteln erschließt dem Menschen eine Ebene des Optisch-Unbewußten, durch die er erst über den Apparat erfährt. Die Kunst favorisiert das geniale Subjekt, den Autor; die moderne Medientechnik hingegen zaubert mit einer Magie des Unbewußten, sie kehrt den Anteil der nicht subjek­tiven Aspekte hervor. Technik kommt vor den Formen und vor den Inhalten erst recht, gerade was das innovative Potential von Kunst anbelangt.

Relativ klar wendet sich Benjamin gegen einen "Banausen begriff von Kunst", der diese jenseits aller Technik ansiedelt, der jedoch "mit dem provozierenden Er­scheinen der neuen Technik sein Ende gekommen fühlt ." ' • Die technische Re­produzierbarkeit aber hält ein bestimmtes Versprechen. Die mediale Apparatur enthüllt, wie der moderne Blick auf die Dinge und auf den Menschen selbst ein nüchterner wird. Es handelt sich dabei um eine Art Bereinigung von der falschen Substanzialität der Kunst, um die "Befreiung des Objekts von der Aura" ." D ieser Begriff der Aura - bei dem sämtliche Darstellungen zu Benjamins Ästhetik in ge­lehrte Ratlosigkeit verfallen - bedeutete in seiner Philosophie nichts weniger als ein Synonym der somnambulen Befangenheit bürgerlicher Immanenz, die we­niger in der Kunst selbst sich spiegelt als in einer bestimmten Betrachtungswei­se. Diese Aura der Objekte hält einer modernen Betrachtungsweise, zu welcher die Apparate uns zwingen, nicht länger stand.

In dem Text Kleine Geschichte der Photographie kommt dieser durch die Technik induzierte anthropologische Wahrnehmungsschock zur Darstellung, an dem zwei Facetten zu unterschieden sind: die eine ist die maschinelle Vervielfältigung der Abbildung selbst, die andere die Abbildung des Menschen durch einen me­dialen Apparat. Beide dienen Benjamin als Indiz für eine neue anthropologische Situation, die ihm politisch-reflexiv noch nicht entsprechend aufgearbeitet zu sein scheint. Im späteren Essay zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Repro­

duzierbarkeif wiederholt sich diese These: Verfall der Aura durch technische Re­produktion - und die Chance, die darin liegt. Der Topos vom ,Verfall der Aura' weist auf eine grundsätzliche Änderung der menschlichen Grundbefindlichkeit durch und mittels Technik; wenn Aura an dieser Stelle bestimmt wird als sonder­

bares Gespinst von Raum und Zeit, dann ist dies als jener Teil der transzendentalen Subjektivität (Kant) zu entziffern, der durch ästhetische Kategorien (also sinn­lich) bestimmt ist. Die erkenntnistheoretische - und nach wie vor offene - Frage

16 ebd .• S.48 17 ebd .. S .57 - Der Begriff .Aura" entstammt

dem 1 922 erschienenen Werk von Ludwig

Klages: Vom kosmogenischen Eros; auch der für Benjamins Theoriebildung markante Un-

terschied von gesellschaftlicher Traumzeit

und Wachzeit ist bei Klages angelegt. vgl. Vom Traumbewußtsein. 1 9 1 4 - dieser Zu­

sammenhang wird rekonstruiert in Wiggers­haus: Die Frankfurter Schule. op.cit., S.224ff

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Benjamin 203

ist dann, ob (und wie ) dies sich auch auf die logischen Kategorien auswirkt. Mit anderen Worten: ob eine mediale Technik so auf die Sinne einzuwirken imstan­de ist, daß sie ein anderes Denken und damit eine neue anthropologische Situa­tion zur Folge hat. Fraglos findet eine Veränderung also solche aber statt: "Inner­halb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseins­weise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahr­nehmung. " ''

1 0.4. Zur Recodierung der Codes

Implizierte der traditionelle Kunstbegriff eine elitäre Produktions- und Rezepti­onssituation (und es ist wichtig, hier beide Seiten zu betonen), so erschüttert die mediale Vervielfältigung die tradierten Werte und zerstört die exklusiven Struk­turen der Kunst; Benjamin spricht von einer Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe etwa durch den Film. "Die Reproduktionstechnik, so ließe sich allgemein formulieren, löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens ein massenweises. Und indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte. " ' •

D ie nächste Frage wäre dann die, wie sich die reproduktiven Techniken ge­sellschaftlich auswirken; hier deutet Benjamin schon in dem früheren Text die möglichen Vorzüge einer gesteigerten allgemeinen Verfügbarkeil an. Es ist ziem­lich offensichtlich, daß Benjamin die "fundamentale Krise und Erneuerung der Menschheit", die den gesellschaftlichen Kontext für die neuen Medientechnola­gien bildet, als politische Folie für seine ästhetische Reflexion nimmt. Mit der Ausbildung reproduktiver Techniken hat sich unsere Auffassung von Autorschaft ebenso wie die von großen Werken gewandelt. Dies beginnt bei der leichteren Rezipierbarkeit: eine Plastik oder Architektur lasse sich im Foto leichter erfassen als in der Wirklichkeit, wobei die Erklärung, die dies auf einen "Verfall des Kunst­sinns, auf ein Versagen der Zeitgenossen" schieben möchte, zu kurz greife.

Ausgehend von dieser Beobachtung, daß eine Recodierung des Codes die Re­

zipierbarkeit erleichtert, stellt Benjamin weiter fest, daß die Kunstwerke "nicht mehr als Hervorbringungen einzelner" anzusehen wären - vielmehr sind sie "kollektive Gebilde geworden, so mächtig, daß, sie zu assimilieren, geradezu an die Bedingung geknüpft ist, sie zu verkleinern. Im Endeffekt sind die mechani­schen Reproduktionsmethoden eine Verkleinerungstechnik und verhelfen dem Menschen zu jenem Grad von Herrschaft über die Werke, ohne welchen sie gar

18 Benjamin: Das Kunstwerk, op.cit., S . l 4 1 9 ebd., 5. 1 3

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nicht mehr zur Verwendung kommen."'0 Benjamin erkennt als einer der ersten Theoretiker die Existenz einer eigenen Medienwirklichkeit an, in der sich unab­hängig von der Intention einzelner Autoren die Codes einer kollektiven Rezepti­on entwickeln. Erst die künstlerische Konstruktion, die wie in den fotografischen Experimenten der Surrealisten mit dem Medium spielt, entlarvt diesen Effekt ei­ner ontologischen Verschiebung durch das Medium.

Mit Bezug auf ein Zitat von Bertolt Brecht drückt Benjamin dies so aus, daß je präziser die Wiedergabe der Realität durch den Apparat gelinge, desto weniger damit über die Realität ausgesagt wäre. Und umgekehrt gilt, daß das neue Spei­chermedium (gemeint ist hier die Tonfilmaufnahme) einen vormals ungekann­ten und auch undenkbaren Anblick bietet. So durchdringen sich Apparatur und Realität, um jene "illusionäre Natur" hervorzubringen, die keinerlei Abbildungs­charakter mehr hat. Das Bewußtsein dieser medialen Möglichkeiten bedeutet Immersion und läßt keine Hintertür offen. Anders als noch im Theater gibt es im Film den Beobachterposten nicht mehr, von dem aus das Geschehen als illu­sionär zu durchschauen wäre. Mit anderen Worten: aus der Medienwirklichkeit läßt sich nicht einfach mehr aussteigen. "Der apparatfreie Aspekt der Realität ist hier zu ihrem künstlichsten geworden und der Anblick der unmittelbaren Wirk­lichkeit zur blauen Blume im Land der Technik.""

Der Kunstwerk-Essay verstärkt also diese Argumentation, indem durch eine Gegenüberstellung von optischer und taktiler Rezeption eine neue ästhetische Kategorie eingeführt wird. Daß die optische Rezeption an der monolithischen Medienwirklichkeit der Gutenberg-Galaxis geschult ist, darauf wird McLuhan später mit eigenen Überlegungen reagieren, die den psychosozialen Effekt des Mediums ins Zentrum rücken. Taktilität ist jedenfalls hier bei Benjamin schon ei­ne von der traditionellen Ästhetik negierte Kategorie: "Die Aufgaben, welche in geschichtlichen Wendezeiten dem menschlichen Wahrnehmungsapparat gestellt werden, sind auf dem Wege der bloßen Optik, also der Kontemplation, gar nicht zu lösen. Sie werden allmählich nach Anleitung der taktilen Rezeption, durch Gewöhnung, bewältigt.""

In Folge dieser neuen Apperzeptionshaltung kommt es zu dem, was in der heutigen Terminologie als Forderung nach einer Media literacy zu bezeichnen wä­re: Benjamin nannte es noch die "Literarisierung aller Lebensverhältnisse. D ie neue Mediensituation erfordert eine Vermischung der Diskurse: notwendig wer­de die Beschriftung der Bilder, als Bestandteil der Aufnahme selbst, und ebenso ih­re Lektüre analog zu der des Textes. "Nicht der Schrift-, sondern der Photogra­phieunkundige wird, so hat man gesagt, der Analphabet der Zukunft sein."" Die

20 Benjamin: Kleine Geschichte der Photogra·

phie, op.cit., 5.6 1

21 Benjamin: Das Kunstwerk, op.cit., 5 . 3 1

22 ebd . . S.41

Page 205: Medienphilosophie Hartmann

Benjamin 205

Verfügung über den Apparat als Produktionsmittel ist dabei Bedingung einer neuartigen Literalität, die auf eine allgemeine Beherrschung der kulturellen Co­des abzielt, die den Werkcharakter der Kunst aufsprengen und "kollektive Gebil­de" erzeugen. Unter Bedingungen der industriellen Massenproduktion, die jetzt auch auf die kulturellen Verhältnisse übergreift, entsteht eine neue, kollektive Subjektivität. Der Einzelne sieht sich dabei einer technisch-medial induzierten Kontextualität ausgesetzt, in seiner Rolle als Objekt der Medien - "Jeder heutige Mensch kann einen Anspruch vorbringen, gefilmt zu werden." - ebenso wie in der des Subjekts - "Der Lesende ist jederzeit bereit, ein Schreibender zu wer­den. "24 Benjamin registriert deutlich, wie die Feedback-Kanäle der Medien sich öffnen, über die Leser-Briefkästen der Presse zunächst, weiters dann über die Verfügbarkeit der Apparate, erwähnt wird die immer kleiner werdende Kamera und das allgegenwärtige "Knipsen" .

Unter diesen Bedingungen ist eine kontemplative Kunstbetrachtung außer­halb eskapistischer Nischen nicht mehr möglich, die Untersuchung müsse nun aus dem Bereich ästhetischer Distinktion in den der sozialen Funktion gerückt werden. Dies öffnet den Blick dafür, wie "literarische Befugnis" zum Allgemein­gut wird, und die Funktion des Autors sich aufhebt: einerseits durch Veränderun­

gen in der Ausbildung, die nicht länger als spezialisierte Expertenkultur stattfinden kann, und andererseits durch den Verlust des Privilegiencharakters der betreffenden Techniken. Autor und Werk sind damit als soziale Konstruktionen entlarvt, de­ren Möglichkeit durch ganz bestimmte Zugangsregelungen bedingt ist. Technik wirkt allerdings nicht kausal, weder in der Affirmation noch in der Kritik und De­struktion dieser soziokulturellen Verhältnisse. Durch mehrere Verweise auf die revolutionäre ,Sovjetunion' macht Benjamin deutlich, daß eine Vollendung der Moderne nicht allein durch technische, sondern in notwendiger Ergänzung durch soziale Innovation zu bewerkstelligen ist. In einer Anmerkung des Kunst­

werk- Essays wird dies verdeutlicht. Benjamin grenzt sich darin von Aldous Huxley ab, dessen kulturkonservatives Lamento über die Informations- und B il ­derflut er nicht teilt. Huxleys These ist, daß es eine "natürliche Produktion" von Lese- und Bildstoff gebe, die durch den technischen Fortschritt - "technische Re­produzierbarkeit und die Rotationspresse", "Grammphon und Radio"- künstlich überhöht werde und so nicht das allgemeine Niveau, sondern nur die "Produkti­on von Abhub" vergrößere. Gegen den populären Kulturkritiker konstatiert Ben­jamin trocken: "Diese Betrachtungsweise ist offenkundig nicht fortschrittlich.""

23 Benjamin: Kleine Geschichte der Photogra­

phie, op.cit.. 5.64 24 Benjamin: Das Kunstwerk. op.cit., $.29 25 ebd .. S.29f (Anm.2 1 )

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206 Das Technische als Kultur

1 0.5. Veränderungen in der Diskursproduktion

Man darf annehmen, daß Benjamin gewissermaßen exzentrische Vorstellungen dessen hatte, was die Zukunft an medialer Entwicklung noch bringen würde. Sachte Andeutungen lassen bisweilen die Radikalität verkennen, mit der hier der mediale Einbruch zeitdiagnostisch festgehalten und auch auf die Frage der tex­wellen Darstellung übersetzt worden ist. Fast resignativ konstatiert Benjamin in einem frühen akademische Text: "Philosophische Lehre beruht auf historischer Kodifikation."'• Die Frage der Darstellung ergebe sich mit jeder Wendung im phi­losophischen Schrifttum, welches mit seinem letzten Mainstream, zuletzt der Sy­stemphilosophie des neunzehnten Jahrhunderts, die Alternative der philosophi­schen Form im Essay negiert habe. Im Geiste Ludwig Klages, jenem frühen Kri­tiker des Logozentrismus, dem Benjamin sich verbunden sah, wird diese alternative Form programmatischer Essayistik in einer impliziten Kritik von mehr oder weniger bewußten Kodifikationen der Gutenberg-Galaxis entworfen. Mit ihrer Beschwörung der gegen eine systematische Stringenz gerichteten Kon­figuration von Gedanken und der nichthierarchischen Konstellation von Ideen ist die Erkenntniskritische Vorrede zu Benjamins gescheiterter Habilitationsschrift nicht viel mehr als die unausgeführte Skizze einer Kritik der Linearität, aber im­merhin stellt sie einen signifikanten (wenn auch kaum wirkungsmächtigen) Aspekt philosophischer Selbstkritik dar, die darin besteht, die Rückfrage auf das Problem des Ausdrucks und der Darstellung überhaupt erst einmal einzuklagen.

Der Bruch mit dem literarischen Ausdruck zieht sich durch Benjamins Werk, das sich vom Prinzip der Montage, vom Cut and paste als Produktionsbedingung der audiovisuellen Medien, die er aus eigener Praxis kannte, beeindruckt zeigt." An seinem unvollendet gebliebenen Passagen-Werk" läßt sich dann leicht die Pro­grammatik erkennen, über die Methode der literarischen Montage, die auch als eine Reflexion des neuen Ausdrucksmediums Films zu sehen ist, Einsichten aus dem historischen Verlauf der Gesellschaftsentwicklung herauszupräparieren. D ie in diesem Textkonvolut versammelten Fragmente und Exzerpte sind mehr als ei­ne bloße Materialsammlung zum Thema ,Kultur und Gesellschaft im neunzehn­ten Jahrhundert' . Der Blick aufs vergangene Jahrhundert sollte noch im letzten literarischen Zitat eben jene Traumgestalt erkennen lassen, von der das industri­elle Zeitalter durchdrungen ist - um dabei die Ruinen der bürgerlichen Kultur

26 Walter Benjamin: Erkenntniskritische Vorre­de, in ders.: Ursprung des deutschen Trauer­

spiels ( 1 925) , hg. von Rolf Tiedemann,

Frankfurt: Suhrkamp I 978, 5.9 27 Walter Benjamin arbeitete für Zeitungen

und auch für den Rundfunk, vgl. seine um

1 930 entstandenen Radioessays: Aufklärung

für Kinder, Frankfurt: Suhrkamp 1 978

28 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, 2 Bände, Frankfurt: Suhrkamp 1 982

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Benjamin 207

und Gesellschaft antizipativ sichtbar werden zu lassen, die gerade in ihren Fun­damenten (und das heißt, in der Industrialisierung) angelegt sind. Durch eine neue Anschaulichkeit der Theorie, die als dialektische Darstellung unter ande­rem auch medientheoretische Versäumnisse der Philosophie korrigieren sollte, könnte Quantität in eine neue Qualität umschlagen.

Es ging darum, über die Frage der Darstellung hinaus die wissenschaftliche Wahrnehmungsweise insgesamt methodisch zu erweitern; das beinhaltet unter anderem auch, andere als die wachen Bewußtseinszustände ernst zu nehmen und für die Erkenntnis fruchtbar zu machen." Benjamin selbst demonstriert, wie die literarischen Produkte als antizipative ,Traumgestalten' entziffert werden können, die dem (gesellschaftlichen, kulturellen) Wachzustand vorausgehen . Das Bewußtwerden oder Bewußtmachen als Programmatik der Aufklärung hat hier allerdings schon dem quasi-natürlichen Topos vom Erwachen Platz gemacht. Von Einfluß auf diese Überlegungen Benjamins war Klages, der sich als Philosoph und Psychologe in seinem Münchner ,Seminar für Ausdruckskunde' unter an­derem stark mit Graphologie als einer der Formen beschäftigt hatte, in denen das Unterbewußte zum Ausdruck kommt. Kulturtechnik und Denken werden hier in einem ganz bestimmten Sinn zusammengedacht, um als Traumstimmung, wie Klages sagte, Aufschluß zu geben über die Krise oder das Unbehagen in der Kul­tur. Eine Verwerfung der Prozesse von Technisierung und Mechanisierung, wie sie Klages nahelegt, schien Benjamin wiederum eindeutig weniger interessant als die von der Kulturkritik verabsäumte Analyse ihrer inhärenten Möglichkeiten.

1 0.6. Das Ende der typographischen Kodifikationen

Für Benjamin ist es die Technik, die Aufschluß gibt über die neuen Erfahrungen der Moderne, indem sie das Aufsprengen der historischen Kodifikation provo­ziert. In seiner 1 928 erschienenen Aphorismensammlung Einbahnstraße gibt er unter dem Titel Vereidigter Bücherrevisor einen Abriß der kulturtechnischen Ent­wicklung. Ausgangspunkt ist dabei die Krise der Buchkultur: "Die Zeit steht, wie in Kontrapost zur Renaissance schlechthin, so insbesondere im Gegensatz zur Si­tuation, in der die Buchdruckerkunst erfunden wurde. " '0 Das Volksgut, zu dem das Buch seit Luther wurde, ist auf dieses als Form nicht mehr angewiesen: "Nun

2 9 Walter Benjamin: Über Haschisch. Frank­furt: Suhrkamp 1 972 - auch hier im An­

schluß an Ludwig Klages, der die Traum­stimmung u.a. assoziiert mit der Erfahrung

"an Orten von ungewohnter Fremdartig­

keit", mit Erschöpfungswständen, "sowie gemeinhin nach dem Genuß irgendwelcher

Narkotika", vgl. Vom Traumbewußtsein, zit.

nach Wiggershaus, Die Frankfurter Schule,

op.cit., 5.224

30 Walter Benjamin: Einbahnstraße, Berlin:

Rowohlt 1 928, S.28 (zit. nach dem Faksimi­

le der Erstausgabe, Berlin: Brinkmann&Bose 1 983)

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208 Das Technische als Kultur

deutet alles darauf hin, daß das Buch in dieser überkommenen Gestalt seinem Ende entgegengeht. " Indizien dafür werden der aktuellen Kunstproduktion ent­nommen, die mehr denn je mit Schriftbild und Schrifttum experimentiert, sowie der graphischen Spannung, die durch die Reklame erzeugt wird, indem sie das Schriftbild "auf die Straße hinausgezerrt und den brutalen Heteronomien des wirtschaftlichen Chaos unterstellt" hat.

Im gedruckten Buch fand Schrift ihr Asyl, führte eine Zeitlang ein autonomes Dasein. Film und Reklame jedoch verändern die Lektüregewohnheit, Schrift wird bereits in der Zeitung ebenso vertikal wie horizontal gelesen." Die Schrift macht sich in ihrer öffentlichen Verwendung daran, die zweidimensionale Schreibfläche zu sprengen, in die sie gepreßt worden ist; sie kehrt mit ihrer räum­lichen Präsenz zu einer ursprünglich haptischen Qualität, zur Dreidimensiona­lität zurück. Damit ändert sich auch die Stellung des Autors zum Text. Im ei­gentlichen Sinn kommuniziere besonders in der wissenschaftlichen Buchkultur nicht ein Autor mit einem Leser, sondern ein Zettelkasten mit dem anderen: "das Buch (ist) eine veraltete Vermittlung zwischen zwei verschiedenen Kartothek­systemen. "

Die Entwicklung der Schrift werde die Machtansprüche von Wissenschaft ebenso wie die von Wirtschaft zugunsten einer neuen Ästhetik distanzieren, die Benjamin als eine "internationale Wandelschrift" und als neue "Bilderschrift" an­gedeutet hat, wie sie im statistischen und technischen Diagramm sich bereits an­deute. Nur durch diesen Vorstoß in ihre "neue exzentrische Bildlichkeit" - diese scheint irgendwo angesiedelt zwischen Stephane Mallarmes symbolistischer Wortmagie und Otto Neuraths volksaufklärerischer Bildstatistik - könne die Schrift die kulturtechnischen Einschränkungen der Buchkultur überwinden und

"ihrer adäquaten Sachgehalte habhaft" werden." Daß dies nicht als ein natur­wüchsiger Prozeß anzusehen ist, sondern Technik die Poeten als Schriftkundige ebenso fordert, wie diese ihre Forderung nach adäquaten Ausdrucksmitteln an die zu Zeiten der mechanischen Schreibmaschine noch rudimentäre Medien­technik herantragen müssen, zeigt folgende hellsichtige Bemerkung: "Die Schreibmaschine wird dem Federhalter die Hand des Literaten erst dann ent­fremden, wenn die Genauigkeit typographischer Formungen unmittelba.r in die Konzeption seiner Bücher eingeht. Vermutlich wird man dann neue Systeme mit

3 1 Zwei Jahrzehnte später wird McLuhan eine Titelseite der New York Times als .Symboli· sehe Landschaft" lesen, als kollektives

Volkskultur des industriellen Menschen ( 1 95 I ) , Amsterdam: Verlag der Kunst, 1 996, $ . 1 2!1

Kunstwerk des industriellen Menschen; vgl. 32 vgl. Benjamin: Einbahnstraße, op.cit., $.29[ Marshall McLuhan: Die mechanische Braut.

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Benjamin 209

variablerer Schriftgestaltung benötigen. Sie werden die Innervalionen der befeh­lenden Finger an die Stelle der geläufigen Hand setzen. ""

Zu einem historischen Zeitpunkt, da mit dem Einbruch der Maschinen in die Lebenswelt die neuen Codes (Vilem Flusser) sich durchzusetzen beginnen, gibt es eine sehr breite kulturkritische Reaktion auf diesen Prozeß. Damit ist nicht nur die relativ spät auf den Plan getretene apokalyptische Kulturkritik der Dialektik

der Aufklärung gemeint, sondern viel früher schon die auf Voraussetzungen der aus der Romantik (Friedrich Schlegel) stammenden sogenannten ,Lebensphilo­sophie' aufbauenden Mythopoesie des frühen Ernst Bloch und auch Martin Hei­deggers, die in ihrer literarischen Ausprägung etwa durch Stefan George reprä­sentiert wird.34 Gesucht wird nach einer neuen ästhetischen Form, nach einer Re­flexion der bereits durch Medien veränderten neuen Praxis des Schreibens und des Produzierens von Texten, die die Form des Buches tendenziell distanzieren. Dabei ist festzuhalten, daß die Auflösung der typographischen Form in einer Ver­

bildlichung der Schrift und einer korrespondierenden VerschriftZiehung des Bildes kei­neswegs erst ein Effekt der elektronischen Medien ist. Es ist aber die technische Reproduziertheit der Sprache in den neuen Speicher- und Übertragungsmedien einerseits, die aufstrebende Werbeindustrie andererseits, die neue Lektüremög­lichkeiten eröffnen und auch auf der konstruktiven Ebene Spielereien mit Spra­che bzw. alternative Semiotisierungen von Schrift (vor allem als Druckschrift) ge­nerieren: Schriftbilder und Bildtexte, wie wir sie etwa von den russischen Futu­risten und Konstruktivisten der zwanziger Jahre kennen, eine Begriffsschrift, die sich der für Gedrucktes üblichen semantischen Decodierung radikal entzieht und die Botschaft eines transrationalen oder auch metalogischen Diskurses trägt."

So verweisen in mehr als bloß einem Sinne technische Reproduzierbarkeil und das ,Kunstwerk' aufeinander. Mit dem Einzug der medientechnischen Ap­parate brechen kulturelle Traditionszusammenhänge auf, was nichts anderes be­deutet, als daß Technik die Vernichtung der eben darauf gerichteten Werte exe­kutiert: Benjamins "Zertrümmerung der Aura" . Dies hat keinen tieferen Sinn als den, daß eine soziapolitisch sich transformierende Gesellschaft auch kulturelle Veränderungen erfährt, als eine Art Säkularisierung zunächst, die durch den ,de­mokratisierenden' Effekt der Verfügbarkeil hervorgerufen wird. Die materiale

33 ebd., S . 3 1 34 Man könnte dies auch als einen ästhetischen

Eskapismus bezeichnen, der die Entfrem­

dung der industriellen Moderne rückgängig machen sollte; dafür steht der archaisieren­de Ausdruck, der sogar im Schriftbild ge­

pflegt worden ist: so entwarf der nach der Jahrhundertwende einflußreiche Dichter

Stefan George eine eigene Schrifttype zum

Druck seiner Gedichte. Vgl. Helmut Glück:

Schrift und Schriftlichkeit, Stuttgan: Metzler

1 987, S.243

35 Vgl. die Beispiele, die in Glück: Schrift und

Schriftlichkeit, op.cit., S.2 39ff angeführt sind

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210 Das Technische als Kultur

Ebene der Kunstproduktion rückt durch neue Medien in den Vordergrund und wird stärker bewußt - nicht umsonst zitiert Benjamin im Kunstwerk-Essay als Motto Paul Valery: "In allen Künsten gibt es einen physischen Teil, der nicht län­ger so betrachtet und so behandelt werden kann wie vordem; er kann sich nicht länger den Einwirkungen der modernen Praxis entziehen. " Als Theoretiker un­tersuchte Benjamin die Manifestationen von Industrie und Kommerz vor allem in den Dokumenten der literarischen Überlieferung, wobei ihm weniger daran gelegen schien, einen Abschied zu zelebrieren, als daran, den Aufbruch in eine moderne Praxis zu konstatieren.

Die Beobachtung einer zivilisationsgeschichtlich relevanten medientechni­schen Ausweitung der menschlichen Sinne durch ,Prothesen', die sich auch bei Freud findet, wird hier sozialpolitisch kontextualisiert. Dies sollte aber nur ein Präludium sein für eine diagnostische Betrachtung der medialen Entwicklung, die mit der Prothesentheorie bricht, die - ähnlich wie schon in den wohlfeilen Thesen zum angeblichen Sprachverlust - einen reinen Zustand suggeriert, in dem Echtheit und Authentizität als epistemische Kategorien eines präindustriel­len Zeitalters beschworen werden. Nicht zuletzt dekonstruiert der Einbruch au­diovisueller Medien in den philologisch-philosophisch geprägten akademischen Diskurs die in diesem aufrechterhaltene Position des autonomen Subjekts, als Souverän der Wahrnehmung: "Eine Film- und besonders eine Tonfilmaufnahme bietet einen Anblick, der vorher nie und nirgends denkbar gewesen ist . " Für Ben­jamin stellt sie nämlich einen "Vorgang dar, dem kein einziger Standpunkt mehr zuzuordnen ist ( . . . ) " . '6

Hierbei klingen zwei Dinge an; das erste wäre die Melancholie anläßlich des Verlustes der menschlichen Perspektive angesichts der entwickelten Technik, als zweites zeichnet sich allerdings bereits eine medientheoretische Resonanz auf diese technische Entwicklung ab, die statt einer Repräsentation von Wirklichkeit die Produktion von Medienwirklichkeit anerkennt. Aber noch ein weiterer Ef­fekt dieses Perspektivenwechsels soll nicht unerwähnt bleiben. Benjamin wußte, daß mit der technischen Veränderung auch eine methodisch veränderte Situati­on eintritt, ebenso wie sich in der Diskursvermischung eine neuartige Interdiszi­plinarität ankündigt: "Es wird eine der revolutionären Funktionen des Films sein, die künstlerische und die wissenschaftliche Verwertung der Photographie, die vordem meist auseinander fielen, als identisch erkennbar zu machen."" Mit an­deren Worten: die kulturellen Veränderungen berühren nicht nur die medien­technischen Ausdrucksebene in einem spezifischen Sinn (Einführung der foto­grafischen Technik) , sondern sie redefinieren auch das, was diese an Begrün-

36 Benjamin: Das Kunstwerk, op.cit .. S . 3 1 3 7 ebd . . 5.35

Page 211: Medienphilosophie Hartmann

Benjamin 2 1 1

dungs- und Argumentationszusammenhängen traditionell an ,Techniken' ausge­bildet hat. '"

Zusammenfassung Walter Benjamin diagnostiziert eine gravierende Ver­

änderung im Med ium der Wahrnehmung, die nichts mehr läßt, wie es bis vor

kurzem noch war. Der Ästhetik des Kunstwerks folgt die Ästhetik des Massen­

mediums, das heißt was wir a ls Kultur begreifen, ist ebenso gesellschaftliche

wie technisch besti mmt. Die Ästhetik des Kunstwerks bedeutet Versenkung i m

Kunstritual, eine wiederholte Bestätigung des E inzelnen über die auratische

Magie der Einmal igkeit. Die neuen Medienspeicher stel len das ,Original ' der

Ku nst a ber in einen völ l ig neuen Zusammenhang. Daß die Ästhetik der Mas­

senmedien neben einer Demokratisierung des Zugangs zu Kunstwerken auch

Zerstreuung und Ablenkung heißt, zeigt das konsequente Aufgehen des E in­

zelnen im Gebilde des Kollektiven, in der Massenwahrnehmung.

Das Emanzipatorische an diesem Prozeß changiert zwischen Vergrößerung

und Verkleinerung: eine Maximierung der Möglichkeiten durch Technik, d ie

Unbewußtes entlarvt; aber auch Minimierung des Produktionsaufwandes und

der Formate, was der Distribution von Kulturprodukten zugute kommt. E in

dritter Effekt ist die Vervielfältigung, immer schon ein Tei l des Kunstwerks, der

jetzt durch Technik überhöht wird und ein demokratisierendes Potential bein­

haltet.

Nur oberflächl ich ist Benja mins B l ick auf diesen Prozeß einer grund legenden

Recodierung des kulturellen Codes resignativ. Unter dieser Oberfläche n immt

Benjamin diese Verä nderung ernst wie kaum ein anderer Phi losoph der Mo­

derne: mit allen Konsequenzen, die auch die intel lektuel le Produ ktionsweise

betreffen . Benja min diagnostiziert bereits das Ende des Buches zugunsten

neuer medialer Konstel lationen. Die Krise des bürgerlichen Ku lturmodells und

die Veränderung der kulturel len Werkzeuge bed ingen sich gegenseitig. Damit

ändert sich die phi losophische Ästhetik, die nicht reine Wissenschaft von der

Wahrnehmung sein kann, sondern politische, gesel lschaftl iche wie technische

Bedingungen beinhaltet. Kritisierte die Kritik der Kulturindustrie (Horkhei­

mer/Adorno) die Übertragung des Profitmotivs auf alle geistigen Gebi lde, so

sieht Benjamin die mögl iche Vergesel lschaftung der geistigen Produktionsmit­

tel a ls Cha nce zu einer neuen Kultur.

38 Zu der über die fotografische Apparatur hin­ausreichende Konstruktion des Sehens vgl.

Jonathan Crary: Techniken des Beobachters.

Über Sehen und Modernität im ! 9. Jahr­

hundert, Dresden: Verlag der Kunst 1 995

Page 212: Medienphilosophie Hartmann

Abbildung 14 Die amerikanische Fernsehfamilie (vierziger Jahre)

Page 213: Medienphilosophie Hartmann

1 1 . Kapitel - Von der Reproduktion zur Simulation.

Günther Anders Kulturapokalypse

.. Ich wünschte, daß mein Bild stets mit meinem (bekanntlich tiefen)

,Ich ' übereinstimmte; doch vom Gegenteil muß die Rede sein

Roland Barthes

1 1 . 1 . Menschen und Apparate, ein ungleiches Verhältnis

Die Unvergleichlichkeit der ersten Fotografien, wie Walter Benjamin angemerkt hat, bestünde darin, daß sie ein erstes Bild der Begegnung von Mensch und Ma­schine darstellen. Der Apparat, der sich zwischen die Face-to-face Situation schiebt, entleert gewissermaßen den ursprünglich auf einen anderen gerichteten Blick, nimmt ihm die Seele, beläßt das Antlitz, aber kehrt seinen Blick nach in­nen. Beim Betrachter früher Fotografien führte, so wird vermutet, die bisher un­gekannte Deutlichkeit der Abbildung des menschlichen Gesichts zu einer Scheu, allzulange hinzusehen. Eine Berührungsangst demnach, auf beiden Seiten, und doch: nicht voreinander, sondern eher wohl mit der apparativen FixiertheiL Der physiognomische Aspekt der Abbildung war ungewohnt in seiner Perfektion, und auch der Zwang zur Konzentration auf eine ungewohnt differenzierte Ober­fläche wirkte anscheinend irritierend. Aufgrund ihrer langen Belichtungsdauer mußten für die ersten fotografischen Aufnahmen die Modelle durch Kopf- und Gliederstützen fixiert werden; eine gewisse Eindringlichkeit kommt dem Bild auch dadurch zu, und Benjamin interpretiert, damit würden in diesen frühen Aufnahmen die Modelle gleichsam in das B ild hineinwachsen, und ihren Blick nach innen richten . '

Der Mensch gleicht sich in seinem Habitus dem Apparat an, ergibt sich dessen Zwang oder tritt zumindest hinter die Technik ein Stück weit zurück; seine Wahr­nehmung ändert sich historisch betrachtet ebenso, wie die wahrgenommenen

Vgl. Benjamin: Das Passagen-Werk, op.cit.,

S.832, sowie ders.: Kleine Geschichte der

Photographie, op.cit., 5.52

Page 214: Medienphilosophie Hartmann

214 Kulturapokalypse

Gegenstände dies tun, jedenfalls zeigt dies eine vorerst schwer auslotbare Verän­derlichkeit in der transzendentalen Apperzeption. Ab einem bestimmten geschicht­lichen Zeitpunkt ist der Mensch, ob er dem nun zustimmen mag oder nicht, ge­zwungen, die Wahrnehmung und deren Verarbeitung, also Aufnahme und Spei­cherung von Information, mit dem seelenlosen Apparat zu teilen. Neben dem menschlichen Auge dringt gleichsam als dessen Agent die Kamera in die Wirk­lichkeit ein, um an ihr Züge zu enthüllen, die vordem im Verborgenen geblieben sind. Zum Unbehagen an der Kultur gesellt sich ein Unbehagen an der Technik, deren Apparate den Menschen als Souverän der Wirklichkeitswahrnehmung entthronen. Das geht soweit, daß Authentizität und Zeugenschaft redefiniert, nämlich vom menschlichen Subjekt abgezogen und zur Sache der Apparatur wird: wie die Beliebtheit der Pressefotografie zeigen sollte, wird die Fotografie bald nicht mehr als Abbild von Gegenständen und Ereignissen der Welt gelten, sondern als deren ultimativer Beweis.'

Die Kamera als Medientechnik wird zur Metapher für die moderne Technik schlechthin, vor deren Glanz der Mensch beschämt in den Hintergrund rückt. Doch wie tief gehen jene Zwänge, tragen die Apparate doch auch eindeutig pro­duktive und damit befreiende Züge? Daß die technische Reproduzierbarkeit von Kunstwerken ein gesellschaftlich zu entfaltendes Potential beinhaltet, ist unter anderem eine Implikation der medientheoretischen Reflexionen Walter Benja­mins. Seine Zeitgenossen sahen das nicht unbedingt so: die zeitdiagnostische Kulturkritik nahm umso eher apokalyptische Züge an, je mehr sie sich mit den gesellschaftlichen Effekten der Reproduzierbarkeit oder mit der medialen ,Kul­turindustrie' befaßt hat. Dazu gehört Günther Anders, der nach seiner Studien­zeit bei Heidegger und im amerikanischen Exil akademisch nicht Fuß fassen konnte, sich daher weniger mit der Produktion von akademischen Texten als mit Prosa, Essayistik und polemischer Publizistik beschäftigt hat, ohne viel Scheu vor politischer Einmischung.'

2 "Phänomenologisch gesehen, hat in der Photographie das Bestätigungsvermögen den Vorrang vor der Fähigkeit zur Wiederga­

be." - Roland Barthes: Die helle Kammer,

Frankfurt: Suhrkamp 1 989, S.99 Günther Anders, Sohn des Psychologen Wil­

liam Stern ( .Anders" war das journalistische Pseudonym) studierte in den frühen zwanzi­

ger Jahren bei Cassirer, Panofsky, Husserl

und Heidegger. In der amerikanischen Emi­

gration ( 1 936) Fabriksarbeirer, Requisiteur. und Mirarbeiter von Horkheimers Zeitschrift

für Sozialforschung ( Rezensionen) . Remi­grierte 1 950 nach Wien, wo er 1 989 starb. Anders war u.a. im War Crimes Tribunal von

Benrand Russell und in der Ami-Atombe­

wegung tätig. Vgl. Konrad Liessmann: Günther Anders zur Einführung, Harnburg 1 988 - Zum Verdacht. hinter Anders über­treibendem Gestus stecke eine Verallgemei­nerung persönlicher Lebensprobleme. vgl.

Detlef Clemens: Günther Anders. Eine Stu­die über die Ursprünge seiner Philosophie, Frankfurt: Haag 1 996

Page 215: Medienphilosophie Hartmann

Anders 215

1 1 .2. Negative Anthropologie

Anders versuchte, einer durch die Einwirkungen von Technik und Medien sich transformierenden Kultur der Gegenwart Einsichten über den Zustand des Men­schen zu entlocken, genauer gesagt über die "Metamorphosen der Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution" .' Kulturpessimistisch in ihren Implikatio­nen, bilden Anders' Beobachtungen Elemente einer Physiognomie im Zeitalter der Simulation, die gerade in ihrer methodischen Übertreibung einige nach wie vor bedenkenswerte Wahrheiten über den unbewußt in seiner Medienwirklich­keit gefangenen Menschen produziert hat. Seine Perspektive war die einer nega­tiven Anthropologie im Zeitalter der zweiten (und dritten) industriellen Revolu­tion, da diese sich anschickt, "mit dem Furor der immer gleich laufenden Ma­schine" die Lebenswelt und das Leben selbst zu zerstören. Was andernorts als Kulturindustrie in ihren Produktionsmomenten analysiert worden ist, bezeich­net Anders als den industriellen Dionysos-Kult, die Angleichung an den Gott der Maschine, der seinen Sieg "dem Leib pausenlos einhämmert" .'

Die Technik der industriellen Produktion wirkt auf den Menschen restriktiv zurück, da es diesem nicht mehr gelingt, die ihm entlaufenen Geräte einzuholen: eine progrediente Technik erzeugt als Gegenbewegung die rückläufige anthropo­logische Situation, und bedingt die Antiquiertheil des Menschen. Indem er die Welt der Produktionen pausenlos beschleunigt, ist dieser Mensch nicht einmal mehr dem Freudschen Prothesengott gleichzusetzen, denn nicht an seinen Gliedern al­lein sondern wesentlich an der Seele erfährt er jene desaströsen Metamorphosen, deren Ursache der universale Industrialisierungsprozeß ist.

In der berühmten elften und abschließenden seiner Thesen über Feuerbach hat­te Kar! Marx einst geschrieben: "Die Philosophen haben die Welt nur verschie­den interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern." Günther Anders formu­lierte seine Antwort dazu - mit entsprechendem historischen Abstand und den Erfahrungen aus der industriellen Revolution - wie folgt: "Es genügt nicht, die Welt zu verändern. Das tun wir ohnehin. Und weitgehend geschieht dies sogar ohne unser Zutun. Wir haben diese Veränderung auch zu interpretieren. Und zwar, um diese zu verändern. Damit sich die Welt nicht weiter ohne uns verän­dere. Und nicht schließlich in eine Welt ohne uns. " •

4 Günther Anders: Die Antiquiertheil des Menschen. Band I: Über die Seele im Zeital­ter der zweiten industriellen Revolution ( 1 9 56) , zit. nach 5 . Auflage, München: Beck 1 9 80, 5 .235 ebd., S.84 - Band 2 der Antiquiertheil des Menschen ist untertitelt: "Über die Zer-

Störung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution" München : Beck 1 9 8 1 Vgl. Karl Marx: Thesen zu Feuerbach ( 1 84 5 ) , in: Kar! Marx, Friedrich Engels: Werke Band 3, Berlin: Dietz 1 98 1 , 5.7;

Page 216: Medienphilosophie Hartmann

216 Kulturapokalypse

Im Zeichen Nietzsches ist der Mensch zu einem Unzeitgemäßen geworden, dem die marxistische Bejahung einer Aneignung und Entfaltung der Produktiv­kräfte - also die moderne Absicherung seines Subjektstatus - keine wirkliche Op­tion mehr bietet. Das versetzt den philosophischen Kritiker in eine schwierige La­ge, denn seine Kritik der technischen Vernunft rückt ihn in die Nähe fruchtloser oder gar reaktionärer Maschinenstürmerei.' Anders geht es aber nicht um eine Kritik der Geräte bzw. der technischen Mittel, sondern um der des Makro-Geräts, wie er es nennt, das sich zur quasi-transzendentalen Kategorie entwickelt hat. Zum Zeitpunkt des drohenden Verschwindens von menschlichem Bewußtsein dieser Gegebenheit noch einmal habhaft zu werden - solch negative Anthropologie, weder ganz humanistisch noch rein spekulativ angelegt, formuliert als "das De­siderat der Philosophie" eine fundamentale Kritik der technischen Vernunft als eine Grenzbestimmung des Menschen bzw. aller seiner Vermögen zu einem Zeit­punkt, "da sein Produzieren alle Grenzen gesprengt zu haben scheint"!

Im Zuge seiner Erörterungen konstatiert Anders immer wieder die anschei­nend zwangsläufig scheiternde Synchronisierung zwischen der Welt des Menschen und der Welt seiner Geräte, die einmal als Nervosität der Modeme auftaucht, ein anderes Mal als Generationenproblem im Umgang mit der Technik, oder auch als These von der technisch induzierten Beschleunigung unserer Lebenswelt. Die Tatsache der fehlenden Sychronisiertheit wird als ein Gefälle zwischen den beiden Welten bezeichnet, wobei der Mensch als solcher in einem sisyphusartigen Zu­stand gefangengehalten wird: seine Seele ist stets "under construction", niemals fertig, seine Gegenwart holt den eigenen Vorschuß in die Zukunft nie ein. Da­durch stellt sich eine Unzufriedenheit des Menschen mit sich selbst gegenüber der Technik ein; es ist gleichsam eine kollektivierte Erfahrung dessen, was man einzeln erlebt, wenn man etwa die eigene Stimme vom Tonband hört. Ein Gefühl des Ungenügens, eine diffuse Forderung nach mehr Perfektion. Oder erinnern wir uns an die Bilder aus der Frühzeit der Fotografie. Das fotografierte Gesicht, das vor der Neuheit des Apparats sich nicht zum stimmigen Portrait eines Selbst mehr zusammenfügen will, wird zur Metapher des Zeitalters der Begegnung von Mensch und (Medien)Technik. Die Überwindung der kommunikativen Face-ta­

face Situation zugunsten der Konstellation Mensch-Maschine stellt den Philosophen vor nur zum Teil konzise Probleme; kurzum, er versucht, die vermeintliche Ab­bildung des Menschen als dessen Karikatur zu entlarven oder besser umgekehrt, den Menschen als jene Karikatur nachzuzeichnen, ·zu der Technik ihn macht.

Günther Anders: Die Antiquiertheit, Band 2,

op.cit., Motto 7 Zur Sozialgeschichte der Maschinenstürmer

vgl. Kirckpatrick Sale: Rebels against the Fu· 8

ture. The Luddites and their War on the ln·

dustrial Revolution. Lessons for the Compu· ter Age, Reading/Mass.: Addison-Wesley 1 995 Anders: Die Antiquiertheit, Band L op.cit., Einleitung, 5 . 1 8

Page 217: Medienphilosophie Hartmann

Anders 217

1 1 .3 . Die Scham des modernen Menschen

Anders versucht, den "tatsächlich noch formlosen und unprofilierten Gesichtern eine profilierte Physiognomie zu verleihen", und da die Karikatur nichts anderes als eine stilistische Übertreibung ist, erhob er die Übertreibung zur einzig mögli­chen Antwort im Zusammenhang mit jenem Gefälle, dem der Mensch sich unter Bedingungen der Industrialisierung ausgesetzt sieht. An einer Stelle nimmt An­ders in einem ganz bestimmten Sinne Bezug auf Benjamin. In der Art, wie die­ser den "Verfall der Aura" diskutiert - es geht bei Benjamin um eine Umkehrung des subjektiven Blicks durch das Objekt der Betrachtung' - in der Art dieser Um­kehrung des B licks also sieht Anders eine Vorwegnahme seiner These von der Scham des modernen Menschen vor der von ihm selbst geschaffenen Gerätewelt. Auf dem biologischen Wesen lastet dieser seltsam stumme Blick einer Geräte­welt, und es wird sich seines Makels bewußt, "geworden, statt gemacht zu sein" . 10

Fortan kennt es ein wesentliches Bestreben: diesen Makel zu überwinden und sich der hergestellten Welt so gut als irgend möglich anzugleichen. Die künstli­che Überformung des Körpers (Make-up, Mode, Fitness) ist die entsprechende Folge in der kulturellen Praxis. Doch das ändert nichts an der Tatsache, daß der Mensch sich selbst angesichts der von ihm hergestellten Produkte antiquiert er­scheint. Die Scham, die ihn deshalb befällt, nennt Anders eine "prometheische" 1 1 und auch die Kluft zwischen der genuinen und der bloß reproduzierten Wirk­lichkeit wird als "prometheisches Gefälle" bezeichnet - die menschliche Vorstel­lungskraft hält mit dem Potential der Maschinen nicht mehr mit: "Die Tatsache der täglich wachsenden A -synchronisiertheit des Menschen mit seiner Produktewelt, die Tatsache des von Tag zu Tag breiter werdenden Abstandes, nennen wir ,das pro­

metheische Gefälle'." 1 '

9 ,.Die Erfahrung der Aura beruht . . . auf der Übertragung einer in der menschlichen Ge·

seilschalt geläufigen Reaktionsform auf das

Verhältnis des Unbelebten oder der Natur

zum Menschen. Der Angesehene ... schlägt

den Blick auf. Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen zu belehnen, den Blick aufzuschlagen." Waller Benjamin: Über einige Motive bei Baudelai­

re, in: Studies in Philosophy and Social Science (Zeitschrift für Sozialforschung),

Jg.VIII, 1 939, No. l /2, 5.84 - Anders nimmt Bezug auf diese Stelle in: Die Antiquiertheit, Band I, op.cit., S .333 Anm.

10 Günther Anders: ,.Über prometheische

Scham", in ders.: Die Antiquiertheit, Band I ,

op.cit., 5.2 1 -95, hier 5.24 - Eine andere

Thematisierung dieses prekären Zusammen­

hangs findet sich im cyberfeministischen

Diskurs, vgl. Donna Haraway: Die Neuerfin­

dung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt: Campus 1 995; zur Gen­re-immanenten Kritik vgl. Marie-Luise An­

gerer: Body-Options. Körper, Spuren, Medi­en, Bilder, Wien 1 998

I I Griechisch rrpO!lEBEUS - Vorsichtiger, Vorbe­

dachter, Vorausdenkender 12 Anders: Die Antiquiertheit, Band I, op.cit.,

Einleitung, S . l 6

Page 218: Medienphilosophie Hartmann

218 Kultu rapokalypse

Natürlich klingt in diesem Theorem wiederum die marxistische Entfrem­dungsthese an. Aber Anders geht es nicht nur um die Differenz zwischen Pro­duktionsverhältnissen und Ideologien, sondern um eine neuartige ontologische Struktur, die sich im vielschichtigen Gefälle zwischen Herstellen und Vorstellen ausdrückt. Diese Asynchronisiertheit wird offensichtlich an der Tatsache des ver­nichtenden Einsatzes der Atombombe am Ende des zweiten Weltkrieges. Die Technik verleitet uns zu Handlungen, mit deren Konsequenzen wir dann kei­neswegs mehr zurechtkommen: das prometheische Gefälle oder die Tatsache, daß die Welt unserer Handlungen mit derjenigen unserer Moralvorstel lungen längst nicht mehr übereinstimmt, ist nach Anders der Grund für unsere "Apoka­lypse-Blindheit" und der dazugehörenden Unfähigkeit zur Angst, die aus der Un­fähigkeit zur Auseinandersetzung mit dem Makro-Gerät resultiert." Nun ver­schärft sich dieses Gefälle ja zusehends mit der fortschreitenden Modernisierung der Lebenswelt. Nicht nur verstehen Menschen die sie umgebende Technik ei­gentlich gar nicht mehr, sie verstehen auch sich selbst nicht mehr wirklich, da sie mit ihren Gefühlen und emotionalen Werten nicht mehr zu dieser technisierten Welt passen oder ihrer Entwicklung doch eher hilflos hinterherstolpern.

Der Fluchtpunkt solcher Gedanken ist dann die stets wiederholte Konfronta­tion des Gerätes, der geschaffenen Technologie, mit dem Körper des Menschen, mit seinem Leib - der, wie Freud sagte, mit den ihm angelegten Prothesen eben nicht unbedingt gut zurechtkommt. Aber es handelt sich dabei keinesfalls um ei­nen Defekt, dem man mit einer aktualisierten Ethik begegnen könnte, die ange­sichts der überhandnehmenden Technik ,den Menschen' in seiner Leiblichkeit restituiert. Angesichts der neuen Mediensituation geht es vielmehr um adäquate Analysekriterien, die der Rede von der Differenz zwischen Wirklichkeit und Re­produktion ihre rhetorische Beliebigkeit nehmen. Auch geht es nicht um den Versuch, die philosophisch altbekannte Differenz zwischen der Abstraktionslei­stung und der konkreten Wahrnehmung des Menschen einzuklagen. Diese mög­lichen Konsequenzen des hinsichtlich der Errungenschaften von Technik und Medien sehr skeptischen Ansatzes unterlaufen die Reichweite der Anders'schen Reflexionsbewegung, die bereits in einer Phase, da es noch relativ leicht gefallen sein mag, soziale Realität und Medienrealität strikt auseinanderzudividieren, das Totalitäre der medialen Phantomwelt auf den Punkt gebracht hat.

13 Günther Anders: .über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit". in

ders.: Die Antiquiertheit, Band I, op.cit. S.23 3ff

Page 219: Medienphilosophie Hartmann

Anders 219

1 1 .4. Postl iterarisches Analphabetentum in einer Welt vol ler Bi lder

Anders widmet sich zunächst der Analyse eines Schlüsselphänomens der Mo­derne, der hypertroph gewordenen Bildproduktion, die er als Ikonomanie be­zeichnet und an der er den Versuch einer Antwort auf die prometheische Scham entziffert. Der Ausgangspunkt ist auf einer deskriptiven Ebene banal kulturpes­simistisch: in der globalen Bilderflut von heute äußere sich ein post-literarisches Analphebetentum. Die Mittel der Reproduktionstechnik erzeugen Illustrationen und Weltbilder, die den Betrachter zur scheinbaren Teilnahme an der Welt einla­den. Wie schon in Kants Kritik der Urteilskraft, die das alttestamentarische Bilder­verbot für Zwecke der rationalen Aufklärung vereinnahmt, gelten bei Anders die Bilder als systematische Verdummungsgeräte, die den Menschen um so mehr zu sehen geben, je weniger diese selbst zu sagen haben. Ihre zweite Funktion hat die Ikonomanie darin, daß sie den Anschluß an die serielle Welt der Apparate schaf­fen, und der Mensch, indem er bildliehe Reproduktionen von sich selbst schafft, seine im Sinn der prometheischen Scham unerträgliche Einzigartigkeit korrigiert. Kein Mensch aber will sich selbst als Massenprodukt sehen, sodaß wir eigentlich einen "ikonomanischen Kompromiß" eingehen, indem "wir durch unsere Bilder an der Serienexistenz der Massenprodukte zwar teilnehmen, aber dennoch wir selbst bleiben" . ' "'

In einem weiteren Teil der Analysen zur Antiquiertheit, betitelt "Die Welt als Phantom und Matrize", finden sich in einem Exkurs über das Photographieren wei­tere Überlegungen zu dem mit diesem Zustand einer systematischen Überflutung mit Bildern verbundenen menschlichen Habitus." Zentrale These dabei ist die Er­zeugung einer medialen Hyperrealität in der durch Iteration, also wiederholte E ingabe der Vorgabe, das Wirkliche zum Abbild seiner Bilder wird. Die Realität wird in Entsprechung des Verhältnisses von Modell und reproduzierter Ware nach den medialen Bildern geformt, die man sich von ihr gemacht hat. D ies hat ein eigentümliches Verhältnis zum Realen zur Folge. Im Zuge der technischen Reproduzierbarkeil ergibt sich eine ökonomisch bedingte Verschiebung dessen, was real ist - als massenhaft reproduzierte Ware ist die Reproduktion ,wirklicher' als das ihr zugrundeliegende Modell . Wie schon in der neuzeitlichen Episteme der Naturwissenschaften vorbereitet, in der alles experimentell wiederholbar sein muß, verflüchtigen sich unter diesen Verhältnissen zunehmend die Singula­ritäten: "das nur Einmalige ist nicht". Die Tätigkeit des Fotografierens ist für An-

14 Anders: Die Antiquienheit, Band I , op.cit., Über prometheische Scham, S . 59

1 5 Anders: . . D ie Welt a l s Phantom und Matrize. Philosophische Betrachtungen über Rund·

funk und Fernsehen", in ders.: Die Anti­quiertheiL op.cit. , Band I, 5.97-2 1 1 , hier S . 1 79ff

Page 220: Medienphilosophie Hartmann

220 Kulturapokalypse

ders nun eine geradezu paradigmatische Reaktion auf diesen Imperativ einer neuartigen Produktions-Ontologie, die nur noch das Serielle "wirklich sein läßt". Die irritierende Einmaligkeit tritt besonders an historischen Gegenständen her­vor, die als tatsächliche Originale, "als einzige Exemplare in der Serienwelt her­umstehen. "

Aber auch dafür hat die Welt der medialen Obsessionen eine Lösung ent­wickelt. Das Fotografieren nämlich bedeute die adäquate Reaktion auf diese Irri­tation, eine Tätigkeit, mit der sich Touristen vor einer Sehenswürdigkeit, diese fo­tografisch aufnehmend, zu wahren Magiern des Serien-Universums verwandeln. George Berkeleys Gleichung von Sein und Wahrnehmung - "esse est percipi" -

wird ersetzt durch ein vehementes "Esse est haberi", Sein ist Haben. Das Aufge­nommene bezeugt seine Wirklichkeit durch das Bild, das von ihm gemacht wur­de. Der tiefere Sinn der fotografischen Aufnahme ist die ontologische Verschie­bung, mit der Nachbilder das eigentlich Wirkliche werden: dem touristisch Rei­senden geht es konsequent nicht mehr darum, "dort zu sein", sondern um den mit Urlaubsfotos erbrachten Nachweis, "dort gewesen zu sein" . 16 Diese Geste des Fotografierens vereinige mit dem Reproduzieren und dem Erwerben zwei Hauptaktivitäten von heute, während die Aufnahme davon zeugt, wie die künst­lichen Modelle von Welt die wirkliche Welt prägen; die ,einmalige' Sehenswür­digkeit zieht ihre Existenzberechtigung wesentlich nur noch daraus, fotografiert zu werden.

Damit ist der Grundgedanke jener Phänomenologie der Massenmedien aus­gedrückt, den Günther Anders mit seinen Erörterungen über Die Welt als Phantom

und Matrize vorgelegt hat. Das restriktiv interpretierte Schlüsselphänomen: die Hinwendung zum Bild, wird durch entsprechende Analysen zu Rundfunk und Fernsehen ergänzt. 1 7 Mit ihrer Einführung und breiten Durchsetzung scheint der Triumph der Apparatewelt perfekt. Das Schlimme daran ist nicht die Tatsache, daß sich Menschen ihr angleichen, sondern daß sie dies nicht bemerken und die Sachzwänge der Technik nicht durchschauen. Sie sind wenig mehr als schwache Glieder im Gerätesystem. Sie nehmen Technik immer noch so wahr, wie sie zu Zeiten der ersten industriellen Revolution eingesetzt worden ist: als Mittel für be­stimmte transparente Zwecke. Aber dies ist nicht mehr der Fall, denn die moder-

16 Susan Sontag hat in ihren Essays: über Fo· tografie, Frankfurt: Fischer 1 978, nicht klar­gemacht, ob ihre frappierend ähnlichen Re­flexionen auf Günther Anders zurückzu­führen sind. Bei Viiern Flusser sollte dieser Gedanke ebenfalls ohne Bezug auf Anders wieder auftauchen (vgl. unten Kap. 1 3 ) .

1 7 Als ,empirische' Basis dieser Analysen weist Anders einige Minuten ( ! ) Fernsehen aus dem Jahr 1 948 ( ! ) aus, was natürlich wieder seinem übertreibenden Gestus zugerechnet

werden kann. Vgl. Liessmann: Anders zur Einführung, op.cit .. 5.52

Page 221: Medienphilosophie Hartmann

Anders 221

ne mediale Technik hat einen eigentümlichen Aufforderungscharakter ange­nommen. Spezifische gesellschaftliche Verhältnisse produzieren zunächst Ma­schinen, deren Ensemble seinerseits dann eine gravierende Veränderung jener Verhältnisse bewirkt. An ihren gesellschaftlichen Effekten wäre Technik kritisch zu messen, dazu fehlen aber weitgehend die Ansätze.

1 1 .5. Medialität als Existenzform

Einer ihrer nachhaltigsten Effekte ist die Medialität als eine aus der Industrialisie­rung stammende Existenzform." In einer Verschlingung von Wortspielerei und Zeitdiagnose, die so charakteristisch für die Beobachtungen von Anders ist, stellt er denn fest, daß es heute statt Arbeit nurmehr Mit-Arbeit gibt, dem Betrieb gleichgeschaltete Aktivitäten. Die Mitarbeit beginnt vor der Maschine, deren Lo­gik und deren Rhythmus der Arbeiter folgen muß, und endet nicht zuletzt in je­nem Konformismus des gleichgeschalteten, moralbefreiten Mit-Tuns, der zu den katastrophalen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im zwanzigsten Jahrhun­dert geführt hat. Der mediale Mensch ist ein radikal verwandelter, dem das Telos seines Handeins abhanden gekommen ist, weil es ihm einfach nicht mehr vor­stellbar ist, und es macht keinerlei Sinn, gegen diesen Prozeß ex post ein roman­tisches, teleologisches, vorindustrielles Menschenbild einzuklagen:

.,Von den frühen platonischen Dialogen an bis zu Heideggers Analyse des ,Be­wandtnis-charakters' war ja menschliches Tun und Machen als Verfolgen eines in der Aktion zu verwirklichenden Eidos beschrieben worden. Dieses Eidos des zu Machenden (oder des im Tun zu Erreichenden) ist im medialen Tun also ,ab­montiert'; die Tätigkeit geht eidoslos vor sich. - Und wenn Aristoteles das menschliche Tätigsein in zwei Klassen einteilte: in diejenigen, die ein Telos ver­folgen (wie Kochen) und diejenigen, die es auf nichts als sich selbst absehen, ihr Telos also in sich selbst tragen (wie Spazierengehen) , dann hat die Ziel- und Ei­dos-Demontage der heutigen Arbeit, und analoge des heutigen Tuns, diese Un­terscheidung hinfällig gemacht, weil die Arbeit vor der Maschine oder das gleich­geschaltete Mit-Tun so wenig auf ein Ziel losgeht und sowenig an einem Ziel an­kommt wie das Spazierengehen.""

Dieses Peripatetische der Maschinenlogik bezeichnet die Wahrheit einer Zer­streuung, die es auf Seite des Menschen auf eine .,desorganisierte Betriebsam­keit'' mit halbierten Seelen und einer Pluralität von Einzelfunktionen angelegt

18 Anders: .. über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit", in ders.: Die Antiquiertheit. Band I. op.cil.. S .23 3-324. hier S.286ff ( § 1 8 )

1 9 ebd .. 5.292[

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222 Kulturapoka lypse

hat.'0 Die Maschine erfordert eine Durchbrechung des subjektiv auf ein be­stimmtes Ziel gerichteten Zeitpfeils zugunsten zyklischer Wiederholungen inner­halb des Arbeitsprozesses. In der Konfrontation mit der Künstlichkeit der Me­dienwelt, die den Menschen dazu drängt, sich in einen reproduktiven Seinszu­stand zu begeben, dominiert das Prinzip der Iteration; hier schlägt die philosophische Analyse den Bogen von prekärer Maschinenstürmerei zurück zu einer begrifflichen Bestimmung eines Seinszustandes, in dem .. computing ma­chines" oder die .. kybernetischen Apparate"" als black boxes eine entscheidende Rolle im Produktionsprozeß gesellschaftlicher Wirklichkeit übernehmen. Als De­fizit wird identifiziert, was anderswo dann der .. Hyperrealismus der Simulation" ge­nannt werden sollte, um in der Immanenz der Codes abermals das vielzitierte Ende der Metaphysik zu beschwören.

Die philosophische Theorie tritt nun gewiß nicht an, um angesichts der dia­gnostizierten Differenzen eine spezifische Synchronisierungsleistung zu vollbrin­gen. Keine ,humanistische' Vermittlung ist angesagt, da diese bereits von der Technik viel besser besorgt worden ist: im TV sind Bilder und Abgebildetes syn­chron. Ein Fernsehbild ist ein übertragenes Bild von etwas einem Ort, an dem ich nicht bin, und ich kann es aus der Ferne dennoch sehen. Daß die Television uns doch unzweifelhaft Bilder liefere, gerade das sei aber die Täuschung, entgegnet Anders einem fiktiven Zwischenrufer seiner Überlegungen. Bei der Synchroni­zität und Simultaneität der Fernsehübertragung geraten die philosophischen Ka­tegorien durcheinander; statt Bild und Gegenstand, statt dem Gegenstand und dessen Zeichen gibt es eine leere Form, die Anders Phantom nennt - McLuhan wird wenig später für die Behauptung berühmt. nicht sein Inhalt, sondern das Medium selbst sei die Botschaft . .. Bloße Bilder sind es nicht, die wir empfangen. Wirklich gegenwärtig beim Wirklichen sind wir aber gleichfalls nicht. Die Frage: ,Sind wir anwesend oder abwesend?' ist tatsächlich gegenstandslos. ""

Anders widerspricht damit der Deutung einer philosophischen Ästhetik, die meint. es mit bloßen Bildern oder mit Repräsentationen zu tun zu haben und die Medienphänomene als ästhetischen Schein abhandelt. Schon beim Rundfunk -

20 Anders: Die Antiquiertheit, Band 1. op.cit., Die Welt als Phantom und Matrize. 5 . 1 3 8

2 1 Anders: Die Antiquiert heil. B a n d 1 . op.cit.. Über prometheische Scham, S.27

22 Anders: Die Antiquiertheit, Band I, op.cit . . Die Welt als Phantom und Matrize. S . l 3 1 . Womit bereits die Logik der Simulation er­klärt wäre. wobei dieser Begriff freilich schon a u f die spezifische Semi-Realität com· putergestützter Datenmanipulation abge-

stellt ist: vgl. Jean Baudrillard: Der symboli­sche Ta usch und der Tod, München: Mat­thes & Seitz 1 982 - Vgl. dazu auch folgende zitative Rückkopplungsschleife: .. Die Hyper­realität der Simulation absorbiert das Reale und macht die Fragen nach wahr und falsch, Wirklichkeit und Schein gegenstands­los. " Norbert Bolz: Eine kurze Geschichte des Scheins. München: Fink 1 99 1 . 5 . 1 1 1

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Anders 223

als Beispiel wird die Übertragung eines Fußballmatches genannt - stellt sich dem­gegenüber eine ontologische Zweideutigkeit heraus, die es weder gestattet, Bild gegen Abgebildetes, noch Schein gegen Sein auszuspielen. Anders nennt diesen Pseudo-Realismus der medienproduzierten Wirklichkeit ihre Phantomhaftigkeit ­

sie ist offenbar wirklich und scheinbar zugleich. Jenseits des ästhetischen Scheins der Kunst, dessen Verhä ltnis zur Wirklich­

keit noch relativ klar zu bestimmen ist, bemächtigt sich die Medienrealität des Wirklichen in einer Form, die Fiktionen real und Wirkliches phantomhaft wer­den läßt. Ihr Ziel ist nicht länger der ästhetische Genuß, sondern der Zwang zur Idolatrie. Überprüfen wir diese These anhand eines Beispiels, auf das sich Anders bezieht. 1 938 inszenierte Orson Welles das Hörspiel "Der Krieg der Welten", wo­bei eine Fiktion (nach dem 1 895 publizierten utopischen Roman von H.G. Wells über die Landung von Marsbewohnern auf der Erde) im Stil der objektiven Re­portage gesendet wurde und damit eine kleinere Massenpanik ausgelöst haben soll." Sein und Schein wird durcheinandergebracht, in der gespielten Authenti­zität der Rundfunkübertragung verliert sich der spezifisch ästhetische Scheincha­rakter in der ,Realität' des Phantoms.

Nun bringt es die ontologische Zweideutigkeit von Hör- und Fernsehspielen mit sich, daß zwischen Ernst und Scherz, zwischen Wirklichkeit und Fiktion im­mer schwerer zu unterscheiden ist. Im Fall dieses Hörspiels, als Beginn einer lan­gen Reihe pseudo-authentischer Medieninszenierungen, spielt der Rundfunk sich selbst, ohne daß sich dabei jedoch ein Prinzip der n·ansparenz einstellen würde. Wobei nicht klar ist, ob diese intendiert war oder nicht; Anders jedenfalls negiert am medialen Prinzip jede Möglichkeit einer subversiven Lesart.24 D ie Auf­klärung im Sinne einer Bezugnahme auf eine objektive Wirklichkeit (der kriti­sche Standpunkt: ,das ist doch nur eine Inszenierung . . . ') wird angeblich verun­möglicht, da die Wahrheit gezwungen ist, im Gewand der Lüge daherzukommen

23 Anders: Die Antiquiertheit, Band I , op.cit.,

Die Welt als Phantom und Matrize, S. l 43f ­

So will es zumindest der Mythos. den An­

ders hier unkritisch übernimmt. Daß Welles

Hörspiel ta tsächlich eine Massenpanik in

New York und New Jersey ausgelöst hätte, diese Meldung ist ihrerseits ja Teil der Me­dienrealität. die als solche vermutlich in Dif­

ferenz zur historischen Wahrheit steht. Die Menschen haben das Artifizielle der Me­dienprodukte immer schon besser durch­schaut, als die intellektuelle Kritik das wahr­haben wollte. Mit anderen Worten: jene

Panik ist wahrscheinlich eine Übertreibung,

die ganz zum Stil der aufgeregten Wachen­schauberichte jener Zeit gehört, wodurch

noch das Banalste zum berichtenswerten Er­

eignis gemacht wurde. Das Beispiel paßt also

eher stilistisch in die Argumentation von

Anders. der im philosophischen Sinn hier wohl eine peririo principii beansprucht.

24 Wie die Medienkultur in ihrem komplexen

Spiel von Referenzen und Selbstreferenzen

ihre eigenen subversiven Decodierungsan­leitungen entwickelt, zeigt Douglas Rush­kaff: Media Virus. Hidden Agendas in Popu­lar Culture, New York: Ballantine 1 994

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224 Kulturapokalypse

und nichts mehr sich dem Zwang zur Inszenierung entziehen kann. Dies gilt be­sonders für die Reformatierung der Welt im Mikrokosmos des Fernsehens. "Die Absicht der Bildlieferung, ja die Lieferung des ganzen Weltbildes, besteht eben darin, das Wirkliche abzudecken, und zwar mit Hilfe des angeblich Wirklichen selbst; also die Welt unter ihrem Bilde zum Verschwinden zu bringen. "25

Ein Paradox: wir müssen für wahr nehmen, was als Wahrheit für uns inszeniert wird. Dieser totalitäre Aspekt - wir haben ihn bereits in der ,Kritik der Kulturin­dustrie' von Horkheimer und Adorno kennengelernt - beruht laut Anders auf zwei Voraussetzungen. Erstens auf einer Verwandlung der Rezeption ästheti­schen Scheins in die Passivität des bloßen Medienkonsums, oder die Identifizie­rung von Freiheitsberaubung mit Glück: "Schon das ,Gesamtkunstwerk' des 19. Jahrhunderts hatte auf den Horror vacui spekuliert und Werke geliefert, die sich des Menschen total bemächtigen, die alle seine Sinne zugleich überfielen." Neue­re Medientechnologien treiben dieses Prinzip weiter, wobei bestehende Kultur­produkte nivelliert werden (z.B. klassische Musik, die zur Begleitung von Carto­ons eingesetzt wird) und sämtliche ästhetisch ausdifferenzierten Momente sich durch die ,Sendung' völlig indifferent auf der Oberfläche des Konsums anbieten: "Normal ist heute die Simultan-Lieferung völlig disparater Elemente". Zweitens und in Zusammenhang mit dieser Übersteigerung des additiven Kunstgenusses zur si­multanen Überwältigung der Sinne stellt Anders fest, daß nicht die kulturkritisch oft bemängelte Standardisierung des modernen Massenmenschen das Grundübel ist, sondern die Zerlegung des Individuums in eine Mehrzahl von Funktionen -daß, wie er es ausdrückt, das Individuum in ein Divisum verwandelt wird, zerlegt in eine Mehrzahl von Funktionen."

Anders hat damit die Auflösung des Subjektstatus durch das Makro-Gerät, wie er es nennt, erkannt, nur wurde diese Erkenntnis nicht wie bei McLuhan, Fou­cault oder Flusser medienphilosophisch produktiv eingelöst, obwohl Anders zunächst noch einen Schritt weitergeht. Dies tut er, indem er im Zusammenhang mit der Antiquiertheit der Maschinen prognostiziert, daß die Entwicklung der Apparate auf einen Universalapparat hinausläuft, der alle möglichen Funktionen in sich integriert.

"Der Triumph der Apparatewelt besteht darin, daß er den Unterschied zwi­schen technischen und gesellschaftlichen Gebilden hinfällig und die Unterschei­dung zwischen den beiden gegenstandslos gemacht hat. Der Apparat eines Be­triebes, der, um zu funktionieren, die Leistung jeder Arbeitsgruppe auf die der anderen abstimmen muß, und der zahllose physische Apparate - vom Telephon bis zur Hollerithmaschine - als eigene Apparatewelt in sich enthält, ist in einem

25 Anders: Die Antiquiertheit, Band I. op.cit., Die Welt als Phantom und Matrize, S . 1 5 31

2 6 ebd., 5. 1 401

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Anders 225

genau so wörtlichen Sinne .Apparat' wie jenes physisch-technische Ding, das ge­wöhnlich diesen Namen trägt; nein, er ist das, da das Ideal des Apparates um so vollständiger verwirklicht ist, je mehr Energien und Leistungen ein Gebilde in sich vereinigt, sogar in höherem Grade. ( . . . ) Damit ist aber, wie phantastisch die­se Folgerung auch klingen mag, gesagt, daß die Apparate grundsätzlich auf einen ,Idealzustand' lossteuern, auf einen Zustand, in dem nur noch ein einziger und lückenloser, also der Apparat existiert: derjenige Apparat, der alle Apparate in sich ,aufhebt', derjenige Apparat, in dem ,alles klappt' .""

Dies wurde 1 9 60 notiert, mehr als zwei Jahrzehnte nachdem Alan Turing sei­ne mathematisch-logischen Überlegungen eines Unversalrechners veröffentlicht hatte, und in dessen Folge er dann als ,Architekt' an Frühformen des Computers, Geräten wie COLOSSUS, ACE und MADAM mitgewirkt hatte." Ob Anders die Forschungen zur Entwicklung des Computers in einem mehr als allgemeinen Sinn gekannt hat, bleibt unklar. Es läßt sich aber sagen, daß seine Technikphilo­sophie versucht, das Prinzip des Computers zu denken, wobei dies für sein theo­retische Prinzip (die Universelle Turing-Maschine) ebenso gilt wie für die in den vierziger Jahren tatsächlich gebauten Datenverarbeitungsgeräte, die nach vorab­gespeicherten Universalalgorithmen funktionierten.'• Er sah darin nicht das Ent­stehen einer hyperrealen Welt, sondern den Ausdruck einer destruktiven Ten ­denz der Rückwirkung von Technik auf die menschliche Lebenswelt, indem sie sich dieser gegenüber verselbständigt. Menschen stehen nur noch als Verbrau­cher am Ende einer Produktionskette, in der das industrielle Prinzip zu sich selbst gefunden hat: "in dem man damit begann, das Prinzip des Maschinellen zu ite-

27 Anders: .Die Antiquiertheil der Maschinen". in ders : Die AntiquiertheiL Band 2. od.cit., S . l l Of

28 Alan Turing: On computable numbers, with an application to the Entscheidungsproblem. 1 937 - vgl. dazu Alan Hodges: Alan Tu ring. Enigma. Wien: Springer 1 994; über die CO·

LOSSUS-Maschine. welche während des Zweiten Weltkrieges die Codes der deut· sehen ENIGMA-Chiffriermaschine berech­nete, ist aus Gründen militärtechnischer Ge­heimhaltung nicht viel bekannt geworden. Die ACE oder Automatie Computing Engine so­wie MADAM oder Manchester Automatie Digi­

tal Machine wurde in den Nachkriegsjahren entwickelt.

29 I n den USA wurde unter der Leitung von John W. Mauchly, J. Prosper Ecken und u.a. John von Neumann der Röhrenrechner ENIAC oder Electronic Numerica! Imegrator

and Computer zur Bewältigung großer Da­tenmengen entwickelt: die ENIAC konnte an einem Tag 30 Millionen beliebige rechne­rische Elementa roperationen durchführen, was der Tagesleistung von 7 5000 Menschen entspricht. Die Progra mmierung erfolgte ex­tern, bis John von Neumann mit dem Nach­

folgermodell EDVAC als speicherprogra m­

miertem Universalrechner den Grundstein der modernen Computerarchitektur legte; vgl. John von Neumann: First Draft of a Re­port on the EDVAC. 1 944 - .Der Übergang von der Rechenmaschine zum Computer fand Ende der 40er Jahre statt. als zwei For­schungen zu einer neuen Synthese ver­schmolzen: die Arbeiten von Mauchly und Ecken an ihrem elektronischen Rechner und die logisch -mathematischen Forschun­gen John von Neumanns." - vgl. Flichy: Te­le, op.cit., S .238f

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226 Kulturapokalypse

rieren, das heißt: Maschinen, oder mindestens Maschinen teile, maschinell herzustel­

len ." '0

Erst in dem historischen Moment, da der Einsatz von Universalapparaten im Produktionsprozeß zur Regel geworden ist, indem also die Iteration sich ständig potenziert, sehen wir uns im Industriekosmos gefangen und erstarren als menschliche Wesen vor der Mega-Maschine oder dem Totalitarismus der Ding­welt. Als dritte industrielle Revolution wird bezeichnet, was ( im Lichte des ame­rikanischen Atombombeneinsatzes in Japan) das mögliche Endprodukt dieser Mega-Maschine sein könnte: die Menschheit habe sich ein ultimatives Produkti­onsmittel geschaffen, welches imstande wäre, ihren eigenen Untergang zu pro­duzieren. Da nun die Technik als Subjekt der Geschichte auftritt. bedeutet der E intritt ins Atomzeitalter auch den in die Posthistorie, in die Nachgeschichte."

1 1 .6. Vom Verschwinden des Ausdrucks

Jegliche lebensweltliche Kohärenz scheint verloren. Anders spricht von einem Verschwinden des Ausdrucks in unserer Epoche, was er an der Ausdruckslosig­keit der Maschinen abliest. die ihren Ursprung ebenso verschweigen wie ihre Be­wandtnis. Die moderne Maschine, die nichts Mechanisches mehr an sich hat, gilt als das Paradigma eines Zeitalters der Ausdruckslosigkeit, einer Epoche, in wel­cher der Ausdruck als solcher antiquiert ist." Unter Bedingungen der Übersinn­lichkeit von Technik - Baudrillard wird vom coolen Universum der Digitalität und dem alles absorbierenden Simulationsprinzip sprechen - gelten freilich die ästhetischen Kriterien der menschlichen Sinne nicht mehr, wenn - erinnert sei an Orson Welles Hörspiel - schon der .fiktive Vorgang' medialer Darstellung uns zu ,wirklichen Teilnehmern' am unwirklichen Prozeß macht. Indem wir das Phantomhafte akzeptieren, und zwar nicht als ein Substitut (das wir für wahr

nehmen), sondern als eigene Realität (nur noch die mediale Welt nehmen wir wahr) , arbeiten wir die Wirklichkeit in seinem Sinne um. Die medial erzeugte Welt ist deshalb zugleich Phantom (weder unmittelbare Realität noch deren Ab­bild) und Matrize (d.h. die Welt wird danach geformt, das konstruierte Pseudo­Abbild wird zum Vorbild der neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit ) .

30 Anders: Die Antiquiertheit. Band 2, op.cit.,

Einleitung S. l 5

3 1 Anders: .. D i e Antiquiertheil der Geschichte", in ders.: Die Antiquiertheil Band 2, op.cit., S.27 l ff

32 Vgl. Methodologische Nachgedanken: .. Fast keiner heutigen Maschine sieht man - ein

Gang durchs CERN ist mir, da er völlig

nichtssagend war, unvergeßlich - ihren sie

definierenden Effekt an. Die Bewandtnis bleibt für uns deshalb unsich tbar. weil Tech­nik so kompliziert geworden ist, daß ihr die Sinnlichkeit nicht mehr gewachsen ist ( . . . ) . "

- ebd .. S.423

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Anders 227

Anders nimmt damit einen exklusiven, nicht unproblematischen Standpunkt außerhalb des Verblendungszusammenhangs ein. Wie würde er nun erklären, daß wir aber durchaus Bescheid wissen, welche Manipulationsmöglichkeiten die immer raffinierter werdenden Medientechniken bieten? Die Lüge, sei sie bewußt oder unbewußt, gehört als existenzielles Prinzip zu den Medien. Wahrheit und Lüge werden vom Standpunkt der Rezeption ununterscheidbar: immer wenn ein Bild des Wirklichen gemacht wird, ist dieses niemals objektiv, da es das Moment seiner Inszeniertheil konsensuell überdeckt. Schon für das Medium der Photo­graphie, welches ja Authentizität suggeriert, gilt: es ist "als solches derart glaub­würdig, derart ,objektiv', daß es mehr Unwahrheit absorbieren, mehr Lügen lei­sten kann als irgend ein anderes Medium vor ihm."3 3 Es stellt sich aber eher als Stärke der Anders'schen Analyse heraus, daß sie uns zeigt, wie sich in der Me­dialität der Prozeß von Produktion und der von Rezeption vermischt und dabei jene Differenz einzieht, die noch eine naive Aufklärung ermöglichen würde, et­wa durch den Fingerzeig auf das wirkliche Sein hinter dem medialen Schein.

Medienrealität und Realität sind letztlich nicht strikt auseinanderzuhalten, wodurch der kritische Standpunkt, von dem aus eine desillusionierende, auf­klärende Haltung einzunehmen wäre, selbst problematisch geworden ist. Die medialen Botschaften nämlich sind "verbrämte Urteile", das heißt die Sendun­gen löschen den Unterschied zwischen Erleben und Benachrichtigtsein einfach aus. Kein Medium bildet, wie inzwischen klar geworden sein dürfte, seinen Ge­genstand einfach ab, sondern konstruiert ihn neu. Es zwingt uns dann dazu, die­sen neuen Gegenstand zu akzeptieren; er erscheint als Faktum, wobei Anders auf den etymologischen Wortsinn zielt, und damit bedeutet Faktum das Gemachte, das unser Verhalten bestimmt. Wir sind an Mauthner erinnert, der schon die Aus­wirkungen der Sprache an der Realität gemessen hat: real sind nicht die Begrif­fe, sondern ihre weltlichen Folgen (s.o. Kap.5) .

Anders hebt mit der zivilisatorischen Selbstdestruktion nahezu undenkbare, aber durchaus möglich gewordene Folgen hervor. Die vorausgreifende Interpre­tation dieses Prozesses nennt er prognostische Hermeneutik. Wie bei Mauthner ge­zeigt wurde, daß der Wortaberglauben reale Folgen zeitigt, die ideologiekritische Behandlung provozieren, so zeigt Anders, daß es die Einbeziehung des medial konstruierten Gegenstandes in unsere praktischen Dispositionen ist, die ihn auch real machen: "Der Daseinsgrund der Nachricht besteht darin, dem Adressaten die Mög­lichkeit zu geben, sich nach ihr zu richten. " 34

Die Medien, die alles andere tun als uns die Welt zu vermitteln, werden damit zum Paradigma eines tendenziell unabgrenzbaren Geschehens. Es ist aber auch

33 Anders: Die Antiquiertheit, Band I, op.cit., 5. 1 66

34 ebd., 5.256

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228 Kulturapokalypse

Sache der Technik, diese Unabgrenzbarkeit durch ihre eigene Selbstüberbietung stets neu zu belegen, indem Grenzen gesucht und bewußt überschritten werden. Dies funktioniert meist als blinde Praxis, in der Anders als ein kritischer Zwi­schenrufer auftritt, um diese Prozesse möglicherweise noch auf eine reflexive Ebene zu heben. "Eine Kritik der Grenzen des Menschen, also nicht nur der seiner Vernunft, sondern der Grenzen aller seiner Vermögen (der seiner Phantasie, seines Fühlens, seines Verantwortens usf. ) , scheint mir heute, da sein Produzieren alle Grenzen gesprengt zu haben scheint, und da diese spezielle Grenzsprengung die noch immer bestehenden Grenzen der anderen Vermögen um so deutlicher sichtbar gemacht hat, geradezu das Desiderat der Philosophie geworden zu sein. "" Ihm gilt es, jene Kapazitäten des menschlichen Gemüts auszuloten, die in der Kantschen Analyse der Vernunft außen vor bleiben mußten: der Überschwang jedes in seine spezifische Grenzen verwiesenen Vermögens, sei es die Vernunft, sei es die Phantasie oder die Einbildungskraft - hilflos theoretische Grenzbestim­mungen, die jetzt auf technischem und auf politischem Weg transzendiert wer­den. ••

Das Desaster der Bombe ist hier ein Weg, da es die Grenzen unserer Vorstel­lungskraft sprengt und von der Blindheit für die Technikfolgen zeugt, die Anders unsere Apokalypse-Blindheit nennt. Ein anderer Weg ist die Raumfahrt, die in den sechziger Jahren mit der erfolgreichen Mondlandung der Amerikaner nahezu hysterische mediale Reaktionen hervorrief. Bombe und Rakete stehen als Pro­dukte des Makro-Geräts in einer gewissen assoziativen Nähe, und werden von Anders etwas plakativ psychoanalytisch als ein Kollektivphallus-Kult dechiffriert ­die Sexualsymbolik der Rakete, mit der Anders aufwartet, ist wohl keine überra­schende Erkenntnis - wobei die Identifizierung als das eigentliche Problem auf ei­ner nationalen, westlichen, oder gleich globalen Ebene in psychoanalytischen Kategorien weitergesponnen wird: schließlich vollendet sich erst vor dem Fern­sehschirm dieses Erzeugnis einer ,planetarischen Technik' (Heidegger), worin sich eine durchaus ambivalente Teilnahme manifestiert, die darin liegt, gleichzei­tig angstdiktierte und enthusiastische Identifikationsweisen - Sexualrecht und Sexualtabu - anzunehmen. "Wenn die Millionen, die vor den Fernsehschirmen

35 Anders: Die Antiquiertheit, Band I, S. l 8 36 Auch der Grenzbegriff selbst ist im medialen

Zeitalter w problematisieren. Hellsichtig nimmt Anders exakt zehn Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer Bezug auf diese Form der Grenzziehung, die vor der media­len Realität und damit alsbald vor der Wirk­lichkeit bekanntl ich nicht mehr bestehen konnte - die Antiquiertheil der Grenze:

"Was gilt, ist, daß im Zeitalter der Elektronik

dem Begriff der ,Grenze' kaum mehr etwas entspricht. Die Berliner Mauer war, schon als sie gebaut wurde, das obsoleteste Bau­werk des zwanzigsten Jahrhunderts." - Vgl. Günther Anders: .Die Antiquiertheil der Grenze·. in: Die Antiqu iertheit, Band 2, S.208f

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Anders 229

sitzen, zu Augenzeugen der Erektion des Nationalphallus werden, dann identifi­zieren sie sich nicht mit einem ihnen von einer Übermacht auferlegten Verbot, sondern mit dieser Übermacht selbst, mit dem enormen Organ und dessen enor­mer Leistung. Und statt vor Angst und Repression zu zittern, erleben sie eine un­geheure sexualprotzerische Steigerung ihres Selbstbewußtseins. Stolz und en­thusiastisch können sie nun ausrufen: ,Seiner! Unser! Meiner! ' . " 37

Die Raumfahrt und die vor drei Jahrzehnten geglückte Mondlandung vervoll­kommnen sich als technische Leistung erst durch ihr mediales Pendant. Die Me­dien finden ihre Bestimmung darin, nicht bloßes Anhängset sondern selbst pro­duktives Element der gesamten Maschinerie zu sein. Ihre Ergänzung zum Pro­dukt einer durch kosmonautische Technologie erzeugten Entgrenzung'• ist das neue Selbstbild der Erde. Der Mond an sich hat für uns keinen Wert, er ist wert­los und uninteressant. Interessant ist erstens die Tatsache, ihn mit technischen Mittel zu erreichen, allerdings um deren Überlegenheit im Kontext der Kalten Krieges zu demonstrieren. Interessant ist zweitens die Perspektive, die uns eine am Mond postierte Fernsehkamera ermöglicht hat: die Erde begegnet sich selbst. "wie sich bisher nur der im Spiegel sich reflektierende Mensch hatte begegnen können."

Die Erde ist erst dann endgültig nicht mehr Maß aller Dinge, wenn der exter­ne Beobachtungsstandpunkt anders als bloß imaginär oder reflexiv, sondern physisch tatsächlich eingenommen werden kann. Und dies wiederum in schön­ster ontologischer Zweideutigkeit. denn nicht nur die Astronauten am Mond nahmen dies für sich wahr, sondern auch ihre Videokamera, deren Bilder überall in der westlichen Welt übertragen wurden. Anders behauptet: "zum ersten Mal ist es geschehen - und das ist ein geschichtliches Ereignis völlig neuer Art - daß die Erde, vor einem Spiegel stehend, reflexiv wurde, daß sie zum Selbstbewußt­sein erwachte, mindestens zur Selbstwahrnehmung. Da sie sich von außen sah, als Objekt, also so, wie sie weit von ihr entfernten Wesen erscheinen würde, war diese erste Selbstwahrnehmung mit totaler Befremdlichkeit des Wahrgenomme­nen verbunden . " '•

Bekanntlich schrieb Anders, der sich am Anfang seiner Karriere mit einer "Phänomenologie des Zuhörens" vergeblich zu habilitieren versucht hatte, spä­ter nicht mehr mit akademischem Anspruch, also mit der Absicht, periphere Be­obachtungen und sekundäre Reflexionen in einen Kontext bestehender wissen-

37 Günther Anders: Der Blick vom Mond. Re· Ilexionen über Weltraumflüge. München: Beck 1 994, S . l 04

38 Vgl. die indirekte Anknüpfung an dieses Theorem bei Paul Virilio: Fluchtgeschwin· digkeit. München: Hanser 1 996

39 Anders: Blick vom Mond, op.cit., S.90

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230 Kulturapokalypse

schaftlieber Äußerungen eines Sachgebiets einzugliedern.'0 Dennoch drängen sich immer wieder Bezüge auf. Wie schon zuvor die mit der Metapher des Kol­lektivphallus erfolgte Anknüpfung an die Freudsche Psychoanalyse, ist in der Diskussion des ,Blicks vom Mond' die interpretative Parallele zu Jacques Lacans Ich-Entwicklung über ein sogenanntes ,Spiegelstadium' augenfällig. Hier bildet sich das frühkindliche Selbst unter Bedingungen aus, die von der Unmöglichkeit geprägt sind, ein fragmentiertes Selbst zu ertragen. Das Selbstbild im Spiegel ist genau die entscheidende Synthese: das bin ich in meiner organische Ganzheit. diese im Spiegel repräsentierte Integrität des Selbst wird als Heilsbotschaft aufge­nommen, das heile symbolische Bild-Ich prägt fortan das imaginäre Ich-Bild.41 Der Blick vom Mond als durch die Kamera inszeniertes Spiegelstadium der Menschheit: .,Was ihr als ,sie selbst' vor Augen hing, unterschied sich von ihr sel­ber so, wie sich das ,Mich' vom ,Ich' unterscheidet, von dem Ich, das zum ersten Male mit sich selbst konfrontiert ist."•' Der Blick vom Mond erschafft aber kein neues Kollektivsubjekt, sondern ist ein medial erzeugtes Phantom, in dem die Fragmente der westlichen Kultur nur zu scheinbarer Konsistenz zusammenge­fügt werden. Er bedeutet letztlich auch die Resignation hinsichtlich eines me­dienkritischen Modells, das durch .,richtige" Informationen die universale Ideo­logie zu durchbrechen trachtet.

Anders' Fazit sieht entsprechend düster aus. Der mediale Mensch der Gegen­wart lebt in der Unmittelbarkeit des Hier und Jetzt. verfügt aber nicht über den möglichen Vorteil eines Bewußtseins über diesen Zustand der Unmittelbarkeit, da er sich der vorgegebenen medialen Praxis blind ergibt. Statt daß die Nachrich­ten ihm über die Welt ,draußen' berichten, bleibt ihm als Medienkonsument nur das Richten nach Nachrichten. Sein Handeln und sein Aussehen wird durch die Fernsehserie vorbestimmt. Das Fernsehen treibt diesen Zynismus der Medien­realität auf eine vorläufige Spitze, wie es im Kontinuum seiner Seriensendungen bestätigt. da das Wirkliche erst über diese seine Abbildung wirklich wird, und die Wirklichkeit der B ilder zum Substitut für die genuine Welterfahrung geworden ist. Seine eigene Technik hat den modernen medialen Menschen zurückgewor-

40 Anders bezeichnete seine Arbeiten als Gele­genheitsphilosophie, " . . . weil ich nicht den ge­

ringsten Wen darauf lege, ob mich Berufs­

philosophen zu den Ihren zählen oder nicht . . . " vgl. Anders: Methodologische

Nachgedanken, in ders.: Die AntiquiertheiL Band 2, op.cit., S.4I 8

41 Jacques Lacan: Spiegelstadium als Bilder der

Ich-Funktion, in ders.: Schriften I. Frank-

furt: Suhrkamp 1 975, S.63ff - Zur Interpre­

tation und Kritik dieser "analytischen Sug­

gestion" vgl. Peter Sloterdijk: Blasen.

Sphären I, Exkurs 9 : Von wo an Lacan sich irrt, S .543ff

42 Anders: Blick vom Mond. op.cit., S.90

Page 231: Medienphilosophie Hartmann

Anders 231

fen in die platonische Höhle, wo er gefangen gehalten wird in der undurch­schauten Nicht-Identität mit sich selbst.

Das weltweite Fernsehen ist letztlich kein Medium im Sinne einer Vermitt­lung, sondern eine paradoxe Maschine zur Produktion von Wirkl ichkeitsanalo­gien, die wirklicher als die Wirklichkeit zu sein beanspruchen. Daß die Medien­wirklichkeit auch in einem positiven Sinn auf die gesellschaftspolitische Wirk­lichkeit zurückwirken kann, gestand Günther Anders zuletzt aber doch noch ein. In der Antiquiertheil des Menschen hieß es unter dem Titel .,Die ins Haus gelieferte Welt" zuerst. daß der Rundfunk sowie das Fernsehen Mittel für sich selbst sind, ohne für ernsthafte Zwecke eingesetzt werden zu können, weil die Phantombil­der schließlich prinzipiellen Lügencharakter hätten . .,Was uns prägt und ent­prägt. was und formt und entformt, sind eben nicht nur die durch die ,Mittel' vermittelten Gegenstände, sondern die Mittel selbst, die Geräte selbst: die nicht nur Objekte möglicher Verwendung sind, sondern durch ihre festliegende Struk­tur und Funktion ihre Verwendung bereits festlegen und damit auch den Stil un­serer Beschäftigung und unseres Lebens, kurz: uns.""

Das darf dahingehend paraphrasiert werden, daß das Medium selbst die Bot­schaft ist. Zwei Medienereignisse waren es allerdings, die zur teilweisen Revision dieser radikal pessimistischen (und bei McLuhan dann ähnlich wieder zu fin­denden) These geführt haben: die Fernsehberichterstattung über den Vietnam­krieg und die Fernsehserie über den Holocaust.44 Zeigen solche Bilder, die in der Wirklichkeit aufklärend wirken, die Bewußtseinsbildung und politische Hand­lungsfolgen zeitigen, zeigen sie nicht. daß das Medium doch eine Botschaft hat? Sind die Fernsehbilder aus Vietnam - dem ersten ,Medienkrieg' - die zu öffentli­chen Protesten in den USA geführt und damit zum Kriegsabbruch beigetragen haben, nicht Mittel zum Zweck? Anders ringt sich im Vorwort zu den Neuaufla­gen der Antiquiertheil zuletzt denn doch eine ermutigende Ergänzung seiner apo­kalyptischen Thesen ab: .,Unterdessen hat sich nämlich herausgestellt, daß Fern­sehbilder doch in gewissen Situationen die Wirklichkeit, deren wir sonst über­haupt nicht teilhaftig würden, ins Haus liefern und uns erschüttern und zu geschichtlich wichtigen Schritten motivieren können. Wahrgenommene Bilder sind zwar schlechter als wahrgenommene Realität, aber sie sind doch besser als nichts. " Die Stoßrichtung dieser Revision ist klar: besser die Medienwirklichkeit als gar keine Teilhabe an der Wirklichkeit. Aber sie ist ebenso problematisch, da sie den Dualismus von medialer und wirklicher Realität weiter aufrechterhält. Es steht jedoch zu bezweifeln, ob diese wirkliche Realität angesichts ihrer medialen Verstell ung tatsächlich noch evoziert werden darf - ganz zu schweigen davon, ob

43 Anders: Die Antiquiertheit. Band I . op.cil., S . ! OO

44 Vgl. dazu eher skeptisch Konrad Liessma nn: Anders zur Einführung. op.cil., 5.68

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232 Kulturapokalypse

sie als eine authentische Wirklichkeit überhaupt (noch?) wahrgenommen wer­den kann.

Zusammenfassung Mit woh l kalkul ierten Übertreibungen versucht der

,Gelegenheitsphilosoph' Günther Anders der neuen Medienwi rklichkeit ihre

Wahrheit zu entlocken: daß sie ein Bi ld des Menschen zeichnet, welches diesen

als vol lkommen antiqiuert erscheinen läßt. Diese als negative Anthropologie

a ngelegte Phi losophie des technischen Zeitalters, nach welcher der Mensch

nicht bestimmt festgelegt ist, steht im Zeichen der phi losophischen Frage nach

der kategorialen Grundbefindl ichkeit des Menschen: wie strukturieren Medi­

en die akustischen, visuellen etc. Wahrnehmungen der Menschen, wie bedin­

gen sie das, was als Erkenntnis gi lt?

Solche Negativität fragt abermals nach der Grenze, und ihre grundlegende

These ist das Verschwinden des Menschen als Subjekt der Geschichte h inter sei­

nen ganzen technischen Tri umphen: das moderne Herstel len überlagert das

mensch liche Vorstel l en. Ihr zugrunde liegt eine rad i kale Neubewertung der Ei­

gendynamik unserer Technik; der Mensch stel lt sich wohl eine bedürfnissti l len­

de Weit her, die dann aber über seine Bedürfnisse weit hinausreicht, denn sie

ist weltverändernd zugleich.

Anders diagnostiziert als negativen Prozeß eine umfassende " lkonomanie"

der gegenwärtigen Medienkultur, die sich zum Substitut der Wi rklichkeitsweit

auswächst: das Wirkliche wird erst dann wirklich, wenn man es a bgebi ldet hat.

Die Abbildung wird dann wieder zum Vorbild der Wirklichkeitsgestaltung -

die Weit als Phantom und Matrize. Gleichzeitig schwindet die menschli che Ur­

teilskraft, denn die Nachrichten in den Massenmedien übertragen keine Infor­

mationen, sondern sind bereits vorgefaßte Urteile, ihre Rezipienten können

über die gebotenen Informationen nicht verfügen. Damit wird a m Fernsehen

ersichtlich, daß es nicht Wirklichkeit abbildet, sondern seine eigene Wirklich­

keit ausbi ldet. Da sie diesen Zusammenhang nicht durchschauen, werden die

Menschen in der Medienkultur wie in einer Art platonischen Höhle gefangen­

geha lten, i n einer Medienwirklichkeit, die sie mit der Wirklichkeit zu verwech­seln gezwungen sind.

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Exkurs 2 Zur Krise des bürgerlichen Kulturbegriffs. Alles Spektakel?

Die von der Aufklärung abstrakt eingeklagte Reflexivität einer Kultur der Ver­nunft nimmt die Form einer massenmedialen Selbstbespiegelung an, der moder­ne Mensch unterliegt einer massenhaften Selbstinszenierung, Kultur und Gesell­schaft verkommen zum Spektakel. Wenn Günther Anders die alles umfassende Ikonemanie der Mediengesellschaft kritisiert, wenn Horkheimer und Adorno in ihrer Kritik der Kulturindustrie befürchten, daß diese alles zum verkäuflichen Produkt werden läßt, dann sind dies zwar erste Versuche, auf die neuen Phä ­nomene der Massenkommunikation im zwanzigsten Jahrhundert philosophisch zu reagieren. Aber diese Versuche bleiben insgeheim einem tradierten Kultur­modell verpflichtet, in dem privilegierte Kommunikation stattfindet, die zudem ein elitäres Gefälle aufweist: von der abstrakten Bildung zum konkreten Bild, vom Buch zu Foto und Film, von der Elite zur Masse.

Das heißt, daß mit dem Abstraktionsgrad der Codierung stets auch eine impli­zite Wertung verbunden wird. Es ist es eine durchaus puritanische Denkfigur, die hier zum Zug kommt. In seiner Verteidigung des alttestamentarischen Bilderver­bots zwecks Hebung der Moralität verteidigte bereits Immanuel Kant jene Nega­tivität, die am besten noch vom Schriftgelehrtenturn verkörpert wird, während das gemeine Volk mit "Bildern und kindischem Apparat" bei der Stange gehalten wird. Interessant ist, was er in seiner Critik der Urtheilskraft daraus schließt: "Da­her haben auch Regierungen gerne erlaubt, die Religion mit dem letzteren Zu­behör reichlich versorgen zu lassen, und so dem Untertan die Mühe, zugleich aber auch das Vermögen zu benehmen gesucht, seine Seelenkräfte über die Schranken auszudehnen, die man ihm willkürlich setzen, und wodurch man ihn, als bloß passiv, leichter behandeln kann. "45 Aufklärung ist dagegen ebenso negativ, wie wahre Sittlichkeit oder die ,unerforschliche Idee der Freiheit' nie zu positiver Darstellung finden könnten. Diese Denkfigur erhält sich bei den apokalyptischen Kritikern der Massenkultur bis heute. Gerade weil an sie teils ebenso platt wie medienwirksam angeknüpft wird••, fällt auf, daß sie nicht einfach zu kurz greift, sondern auf mindestens drei unausgewiesene Voraussetzungen gebaut ist:

45 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe Band X, op.cit., S.20 I f - vgl. ebd.: "Vielleicht gibt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden, als das Ge­bot: Du sollst dir kein Bildnis machen ( . . . )

Eben dasselbe gilt auch von der Vorstellung des moralischen Gesetzes und der Anlage zur Moralität in u ns."

46 Vgl. etwa Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Un-

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234 Alles Spektakel?

.,. sie unterstellt im Fluchtpunkt gelungener Vermittlung eine universale, nicht kontextgebundene Form der idealen Kommunikation;

.,. sie unterstellt eine abstrakte, ahistorische und unveränderliche Kulturtechnik, ohne die Limitierungen der typographischen Kultur selbst zu bedenken;

.,. sie setzt eine funktionierende Bildungssozialisation voraus, nach der sich kul­turelle Eliten reproduzieren und die daher Vorbildcharakter für die Gesamt­heit einer Kultur hat.

Wenn nun besonders Bilder als Sündenfall wider die Negativität wahrer Auf­klärung gelten, so fällt weiters auf, daß während sich die reale Kulturentwick­lung besonders mit den neuen Massenmedien in Richtung einer ikonischen Kommunikation bewegt - von Otto Neurath bis Marshall McLuhan wurde die in­tegrierende Kraft des Ikonischen in der gesellschaftlichen Kommunikation be­tont - beklagt eine bestimmte Schicht der Schriftgelehrten (nicht Forscher und Ingenieure, sondern gerade Geisteswissenschaftler) den Bedeutungsverlust ihres eingeübten Referenzrahmens. Die Massenkultur bedeutet auch in diesem Sinn eine Krise des bürgerlichen Kulturmodells: die Rolle bestimmter traditioneller Mediatoren wird tendenziell obsolet, die akademischen Intellektuellen fühlen sich in ihrer Funktion bedroht. Kulturelle Kommunikation wandelt ihr Gesicht: seit dem Buchdruck lassen sich die Medien aber nicht nur als Ursache, sondern viel­mehr als Ausdruck dieser kulturellen Wandlungen interpretieren. Die Kritik dreht sich anscheinend aber weniger um die neuen Medien als um das Problem der Vermittlung selbst, wobei ganz im Sinne einer Veruntreuung der Verdacht erhoben wird, es sei das Medium, welches diese Vermittlung korrumpiert - nicht so übrigens bei Benjamin, der schon eher den Blick auf das Medium selbst frei­gibt.

Medien sind der Gesellschaft nichts Äußerliches, sondern Teil einer sich aus­differenzierenden Kultur. Rückblickend auf verschiedene Formen einer Kritik der Massenkultur schrieb Umberto Eco in den sechziger Jahren, daß in jener apo­kalyptischen, vor allem über Nietzsche und Ortega y Gasset vermittelten Kritik Züge einer "aristokratischen Unduldsamkeit" abzulesen wären, die sich nicht ge­gen die Massenkultur, sondern gegen die Masse richtet und in welcher "im Grun­de das Heimweh nach einer Epoche [rumort], in der die Werte der Kultur das Erbteil und der Besitz einer einzelnen Klasse waren und noch nicht jedermann offenstanden. "" Das kritische Mißtrauen gegen die Massenkultur nahm Eco von

terhaltungsindustrie, Frankfurt: Fischer 1 985

47 Vgl. .Massenkultur und .Kultur-Niveaus··. in Umberto Eco: Apokalyptiker und lnte-

griene. Zur kritiksehen Kritik der Massen­kultur, Frankfurt: Fischer 1 984, $ . 3 9

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Alles Spektake l? 235

seiner Kritik übrigens aus, da es sich - bei Adorno etwa - gegen eine bestimmte Form intellektueller Herrschaft richte. Diese Kritik hat aber doch ein wichtiges Moment, indem sie an der Kulturkritik ein Herrschaftsmotiv entlarvt: die Selbst­erhaltung einer intellektuellen Klasse . .. Der Aufstieg der unteren Klassen zur ( formal) aktiven Teilnahme am öffentlichen Leben und die Erweiterung sowohl des Informationsflusses als auch der Informationsbestände haben die neue an­thropologische Situation der ,Medienzivilisation' hervorgebracht."" Bekanntlich hatte Eco in diesem Zusammenhang nicht zu einer Theoriebildung aufgerufen, sondern zur Bildung einer semiotischen Guerilla, die sich weniger als machtlose und passive Rezipienten von Botschaften sieht. sondern die rezeptionsseitige In­terpretationsmacht betont. An den Remdierungen der Massenkultur läßt sich nämlich ablesen, daß die Interpretation von medialen Botschaften nach einem Code funktioniert, der nicht unbedingt der Code der Kommunizierenden ist.

Gerade damit hat sich die avantgardistische Kunst dieses Jahrhunderts be­schäftigt. So ist es denn kein Zufall, wenn ebenfalls in den sechziger Jahren Guy Debord als Vertreter der ,Situationisten' mit einer Analyse auftritt, die diesen Zu­sammenhang zwischen Sozialbeziehungen und der Manipulation symbolischer Repräsentationen zu klären beansprucht. Mit künstlerischen und theoretischen Mitteln wurde hier versucht. Widerstand gegen die wachsende Hyperrealität des Sozialen zu üben. Unsere Gesellschaft des Spektakels, so Debord, bildet produkti­onsseitig eine verzerrende Dublette alles Realen aus, die sich von den realen So­zialbeziehungen längst entfernt hat:

" 1 . The whole life of those societies in which modern conditions of production prevail presents itself as an immense accumulation of spectacles. All that once was directly lived has become mere representation. ( . . . ) 4. The spectacle is not a collection of images; rather, it is a social relationship between people that is me­diated by images. ( . . . ) 1 9 . The spectacle is heir to all the weakness of the project of Western philosophy, which was an attempt to understand activity by means of the categories of vision. ( . . . ) 2 1 . The spectacle is the bad dream of modern society in chains, expressing nothing more than its wish for sleep. The spectacle is the guardian for that sleep. "49

Die Lebenswelt ist nach dieser These aufgesplittet in eine Ebene des Realen und eine Ebene der Bilder, wobei letztere die Vermittlung der ersten und damit die Organisation des Sozialen übernommen hat. Es geht also mehr um die Funk­tion und den gesellschaftlichen Effekt der Bilder als um diese selbst. Dagegen wird

48 ebd .. Einleitung. 5 . 3 3

49 Guy Debord: La sociciui du spectacle ( 1 967). zit . nach der amerikanischen Ausgabe: The

Society of the Spectacle, New York: Zone 1 994. hier S . 12 bzw. S . 1 71 - Text online:

hup:!lwww.Jwthingness.org

Page 236: Medienphilosophie Hartmann

236 Alles Spektakel?

nun zum Widerstand aufgerufen, indem die Aufmerksamkeit auf die symboli­sche Ebene der Repräsentationen verlagert wird.

Debord stellte einen Trend zum ..integrierten Spektakel" fest. und hätte die ge­genwärtige Entwicklung virtueller Welten in einer digitalen Kultur sicher als den ultimativen Beweis seiner Thesen betrachtet. Das Spektakel steht als eine wuch­tige Metapher für einen inhaltsleeren Zustand unserer Gesellschaft. für die voll­kommene Entfremdung, für die eindimensionale Geschlossenheit, für die mas­senmediale Dauerveranstaltung ohne Feedbackmöglichkeit. Debords Analyse stellt sich in die Tradition marxistischer Entfremdungskritik, die sich allerdings ins Defätistische wendet. Sein Problem ist nämlich, ein Subjekt der Geschichte zu identifizieren, das unter diesen Bedingungen noch handlungsfähig bleibt. Einer­seits liegt die Hoffnung in der Kunst; die das Spektakel durchbrechende aktioni­stische Intervention, die Situationistische Taktik des detournement - einer radika­len Subversion der Medienprodukte - könnte helfen, die Scheinbotschaften der Medien zu entlarven. Allein, für welche Adressaten sollte diese Alternative kom­muniziert werden? Andererseits sieht Debord eine subversive Negation, ja sogar Kriminalität als Anschlag auf die Gesellschaft: .,A new General Ludd . . . leading in an onslaught on the machinery of permitted consumption. "'0 Wer denkt da nicht sogleich an Computerhacking - aber reicht dies als Tätigkeit, das System des Spektakels einstürzen zu lassen? Auch die Richtung, in die der Widerstand" ge­hen sollte, befriedigt uns nicht ganz: zur Eigentlichkeil des wirklichen Lebens, zur Aufhebung aller Entfremdung? Wenn aber, wie wir inzwischen erfahren konnten, die Medienwirklichkeit nun keine Einbahnstraße mehr ist, wenn also mit der Sendehoheit des Rundfunkprinzips zugunsten neuer medialer Organisa­tionsformen gebrochen wird, dann war der Schlaf einer Gesellschaft des Spekta­kels vielleicht doch nicht ganz so tief und ihre Vision nicht ganz so umfassend.

50 Vgl. These 1 1 5 : .Signs of a new and growing tendency roward negation proliferate in the more economically advanced counrries. • -ebd., 5 .85

5 1 Thomas Pynchon: ls i t O.K. ro Be a Luddite? The New York Times Book Review, 28: 1 0 . 1 984, http://www.nertime.org/nettime. wJarchi­

ve/ 1 99601 /msgOOOI 7./ztm/

Page 237: Medienphilosophie Hartmann

Abbildung 15 Quentin Fiore: ,An Eye for an Ear' ( 1967)

Page 238: Medienphilosophie Hartmann

1 2. Kapitel - Vom Auge zum Ohr.

l nnis, Mcluhan und die technischen Dispositive der

Kommunikation

.,2500 Jahre lang haben die Philosophen der westlichen Welt jede Technologie

aus der Behandlung von Materie-Form-Problemen ausgeklammert."

Marshall McLuhan

1 2 . 1 . Perspektivenwechsel

Der zweite Weltkrieg bringt nicht nur eine neue Erfahrung der "Kosten" des technischen Fortschritts mit sich, wie sie in der Mitte der vierziger Jahre publi­zierten Dialektik der Aufklärung thematisiert worden sind. D iese Epoche zeitigt auch entscheidende medientechnische Neuerungen, unter anderem bedingt durch die "Anwendung von Wahrnehmungsgeräten zu kriegerischen Zwecken" . In der Folge kommt es zur Veränderung der Wahrnehmungsgewohnheiten -zweifellos sorgt der Krieg für eine neue "Logistik der Wahrnehmung"' und eine Beschleunigung von technischen Entwicklungen, es wäre jedoch vermessen, den Krieg zum alleinigen Vater medientechnischer Neuerungen zu machen. Vom Ra­dio über das Fernsehen bis hin zum Internet eröffnete der Krieg zwar immer neue technische und industrielle Perspektiven, aber das Aufkommen einzelner Medien kann damit nicht erklärt werden: diese setzten sich jeweils nicht auf ei­ner technologischen, sondern - frei nach Flusser - auf einer kommunikalogischen

Ebene durch, indem die gesellschaftliche Aneignung eine für bestimmte Zwecke entwickelte Technik einer anderen Nutzung zuführt.'

Gleichzeitig ist es wichtig darauf hinzuweisen, daß dies keine intentionalen Prozesse sind, sondern ebensogut als Ergebnisse einer anonymen Technikge­schichte dargestellt werden können. Es geht, mit anderen Worten, nicht länger um bewußt agierende Subjekte, vor allem wenn man die kulturelle Entwicklung über längere Zeitspannen hinweg betrachtet. Diese ,strukturale' Sichtweise setzt

Paul Virilio: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung. München: Hanser 1 986

Vgl. in Bezug auf das Radio Flichy: Tele. op.cit . . 5 . 1 8 1 und passim

Page 239: Medienphilosophie Hartmann

lnnis, Mcluhan 239

zu einem Zeitpunkt ein, da die Krise der westlichen Zivilisation unübersehbar einhergeht mit einer Depotenzierung des autonomen, humanistischen Subjekts. Es ist kein Zufall, daß solch ein Perspektivenwechsel mit dem auf der Ebene ei­ner geographisch erweiterten Wahrnehmungswelt zusammenfällt. Der Krieg transzendiert als mediales Ereignis der Kriegsberichterstattung auch die Grenzen einer nationalen Aufmerksamkeitsökonomie, die sich fortan um die Triade Nor­damerika, Europa, und Japan neu konstituiert. Jahrzehnte später wird man vom Globalisierungsprozeß sprechen, aber nicht nur durch diese politische und öko­nomische Erweiterung wird Europa relativiert.

Im Forschungsdiskurs zeichnet sich schon in den vierziger Jahren eine Wahr­nehmungsverschiebung ab, die in der ambivalenten Abkehr von eurozentristi­schen Denktraditionen manifest wird. Im Zusammenhang mit Wirtschaftsge­schichte und politischer Ökonomie kommt es zum Versuch einer postkolonialen Theoriebildung, so zum Beispiel in der medientheoretisch wirkungsmächtigen ,Toronto School of Communication', die gerade im Diskurs über Technologie fruchtbare neue Impulse liefert.' Diese finden sich in kondensierter Form im berühmten Slogan McLuhans: .. The Medium is the Message."' Was damit gesagt sein soll und wie dieses Theorem zu kontextualisieren ist, wird uns im folgenden beschäftigen, wobei wir uns zunächst den im Schatten von McLuhan etwas ver­bJaßten Theorien des kanadischen Wirtschaftshistorikers Harold Adams Innis zu­wenden wollen . '

Während also mit Ausbruch des zweiten Weltkrieges der Humanismus end­gültig in die Krise gerät, hebt in den Geistes- und Sozialwissenschaften eine große Reflexion nicht nur darüber an, wie so etwas wie die Greuel des Nationalsozia­lismus in einer zivilisierten Gesellschaft geschehen konnten, sondern auch darü­ber, was eine Zivilisation überhaupt ausmacht. Im medienphilosophischen Zu­sammenhang interessiert uns daran jener bereits erwähnte Perspektivenwechsel. der sich gegen die subjektzentrierte Auffassung von Geschichte stellt: Es ist näm­lich nicht nur der Geist, es sind auch die Technologien, die die Kultur einer Ge­sellschaft historisch prägen, und hier vor allem die Medientechnologie der Korn-

Arthur Kroker: Technologies and the Cana­

dian Mind. lnnis/McLuhan/Grant, New York: St.Martin's Press 1 984

4 Ursprünglich die Überschrift des ersten Ka­pitels in Marshall McLuhan: Understanding

Media. The Extensions of Man. Toronto:

McGraw-Hill 1 964 (im folgenden zit. nach Reprint London: Routledge 1 994)

Innis publizierte neben wirtschaftshistori­schen mehrere medientheoretisch relevante Werke:

Empire and Communcations, Oxford 1 9 50,

The Bias of Communication. Toronto 1 9 5 1 , Changing Concepts o f Time. Toronto 1 9 52, The Strategy of Culture, Toronto 1 9 52. Teile

davon finden sich in der deutschen Textaus­

wahl: Karlheinz Barck (Hg. ) : Harald A. lnnis

- Kreuzwege der Kommunikation. Wien: Springer 1 997

Page 240: Medienphilosophie Hartmann

240 Vom Auge zum Ohr

munikation und des Transports. Die Geschichte des Transportwesens und des Gü­terverkehrs ist ein wesentlicher Teil dieses gesellschaftsprägenden Aspektes, der als Technological turn der Kulturtheorie ins Zentrum der Theorie von Innis tritt.•

Harold Adams Innis beginnt als Wirtschaftshistoriker, und analysiert zwischen 1 92 0 und 1 940 unter anderem die Geschichte der kanadische Eisenbahn, des Pelzhandels und der Kabeljaufischerei. Dann konzentrierte er sich auf den Ein­fluß und die Effekte von Kommunikationsmedien auf die Formen der sozialen Organisation. Waren zunächst die Handelswege, die "trade-routes of the external world" Objekt der wissenschaftlichen Forschung, so wurden alsbald auch die "trade-routes of the mind" einbezogen, als technologisch fundierte Kulturgeschich­te. Es geht dabei um die Rolle der Verteilung von Wissen in Zeit und Raum. Me­dien werden als materielle Träger der Kommunikation verstanden, welche die so­ziale Welt formbildend und verhaltenssteuernd prägen. Sie sind die Dispositive der Kommunikation und der gesellschaftlichen Reproduktion, sowohl auf kultu­reller Ebene als auch in der Psyche der Einzelnen. Innis faßt seinen Ansatz mit folgenden Worten zusammen:

"Ich habe mich . . . um die Entwicklung der These bemüht, daß die Zivilisation in ihren verschiedenen Stadien von unterschiedlichen Kommunikationsmedien beherrscht worden ist, wie z.B. Ton, Papyrus, Pergament, und dem zunächst aus Stofflappen und später aus Holz erzeugten Papier. Jedes dieser Medien ist für die jeweilige Schriftart von großer Bedeutung, und daher auch für die jeweilige Form des Bildungsmonopols, das immer wieder entsteht und die Voraussetzungen für kreatives Denken zerstört, um dann von einem neuen Medium abgelöst zu wer­den, das wiederum seine eigene Art von Bildungsmonopol nach sich zieht. "'

Ihn interessiert die Materialität der Kommunikationsmedien, genaugenom­men die Art der Datenträger, und welche Effekte ihr Einsatz in der sozialen Or­ganisation bewirkt. Innis initiiert damit eine Art Herrschaftstheorie der Kommu­nikation, indem er die konstitutive Funktion der Kommunikationsmedien einer Gesellschaft für deren gemeinschaftsbildende Konstruktion und deren gemein­schaftserhaltenden Institutionen untersucht. Dabei identifiziert er - vor a llem in seinem Werk Empire and Communications - zentrifugale und zentripetale Kräfte, oder zerstreuende bzw. zentralisierende Tendenzen der verwendeten Kommuni­kationsmedien.

Vgl. die Hinweise von Barck in der Einlei­tung zu: Kreuzwege der Kommunikation, op.cit. - Eine gute Einführung zu Innis gibt der Artikel von !an Angus: Orality in the twilight of humanism: a critique of the com­munication theory of Harold lnnis, in: Con­tinuum. The Australian Journal of

Media&Cultu re, Vol.7/ l , 1 993 - Online: http:!lka/i.murdoch.edu.au/-cntinuum/7. 1 17. / .h

tml

Harold A. Innis: Die Presse, ein vernachläs­sigter Faktor in der Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts ( 1 9 52) , in: Kreuzwege der Kommunikation, op.cit., 5 .234

Page 241: Medienphilosophie Hartmann

12.2. E ine Medientheorie der Zivi l isation

lnnis, McLuhan 241

Die beiden Tendenzen materialisieren sich in zweierlei medialen Formen. Da gibt es feste und beständige Medien, wie etwa Stein und die daraus errichteten Ge­bäude - sie beherrschen die Zeit. An einer Stelle in The Bias ofCommunication be­zeichnet Innis die Architektur in diesem Sinn, Victor Hugo zitierend, als die sechs Jahrtausende lang herrschende .,großartige Handschrift der Menschheit", die mit dem Einzug der Druckerpresse in unsere Zivilisation ihre Vormachtstellung end­gültig verloren hatte. Neben diesen beständigen und damit zentralisierenden Me­dien gibt es, die Druckerpresse weist ja schon darauf hin, leicht bewegliche Korn­munikationsmedien (bzw. Datenträger) wie etwa das Papier; sie sind zwar flüch­tig, dafür aber beweglich und transportierbar, womit sie raumbeherrschend wirken.

Diese zwei grundsätzlichen Formen der zeitlich oder räumlich integrierend wirkenden Kräfte, die nie ganz rein vorkommen, im Idealfall aber ausgewogen sind, sieht Innis in einer Zivilisation am Werk. Er beurteilt dann eine Zivilisation danach, ob es ihr gelingt, ihren Bestand durch ein Gleichgewicht von Raum- und Zeitbegriffen zu sichern . .,Eine Zivilisation müssen wir sowohl bezüglich ihres Territoriums als auch ihrer Dauer beurteilen. Der spezifische Charakter eines je­den Kommunikationsmittels neigt dazu, eine Tendenz in der jeweiligen Kultur zu schaffen, die die Überbetonung entweder zeitlicher oder räumlicher Vorstel­lungen begünstigt, und nur in seltenen Intervallen geschieht es, daß diese Ten­denzen durch ein weiteres Medium ausgeglichen werden und Stabilität erreicht wird. "'

Durch den Zusammenhang von Medien und Zivilisationsentwicklung eröff­nen sich neue historische Perspektiven. Zumindest für eine epochenübergreifen­de Rekonstruktion der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung wirkt dieser machttheoretische Ansatz einer Medienarchäologie recht apart .

.,Dem Rückhalt, den die sumerische Kultur im Ton fand, stand die Verwen­dung von Stein in Babyion gegenüber, und es folgte eine lange Epoche relativer Stabilität in der Regierungszeit der Kassiten. Durch die Stärke der mündlichen Überlieferung in Griechenland, die die Durchschlagskraft schriftlicher Medien in Zaum hielt, entstand ein Zeitalter kulturellen Schaffens, das niemals seinesglei­chen gefunden hat. Der Gebrauch der Papyrusrolle und des Alphabets in der Ver­waltung des römischen Reiches wurde durch die Verwendung des Pergamentko­dexes in der Kirche ausgeglichen, und dieses Gleichgewicht wurde im Byzantini­schen Reich bis 145 3 aufrechterhalten. ,Kirche und Armee sorgen durch die

Harold lnnis: Ein Plädoyer fü r die Zeit, in: The Bias of Communication, op.cit.. 5.6 I ff -

deutsch in: Kreuzwege der Kommunikation. op.cit., S . I 22

Page 242: Medienphilosophie Hartmann

242 Vom Auge zum Ohr

Macht der Disziplin und durch hierarchische Abstufung für Ordnung.' ( Metter­nich ) Andererseits machte sich in der westlichen Reichshälfte die einseitige Aus­richtung des Pergamentkodexes an der absoluten Dominanz der Kirche bemerk­bar, wodurch die Konkurrenz durch das neue Medium Papier heraufbeschworen wurde. Nach Einführung des Papiers und der Druckerpresse wurde das geistliche Monopol in den modernen Staaten durch auf eigenem Boden gewachsene Mo­nopole abgelöst. Einem zeitlichen Monopol folgte ein räumliches. Eine knappe Übersicht über die herausragendsten Probleme der Zeit mag uns. vielleicht dabei helfen, die Grenzen unserer Zivilisation deutlicher zu erkennen."•

Was in der deutschen Übersetzung von Innis als ,Tendenzen' bezeichnet wird, heißt im Original "bias", bedeutet also auch Überhang oder Verzerrung, analog zur Verwendung dieses Begriffs in der empirischen Sozialforschung. Für Innis läßt sich diese Verzerrung der Stabilität einer Gesellschaft an ihren hauptsächli­chen Kommunikationsmitteln ablesen. Nach diesen Kriterien soll die westliche Zivilisation zu beurteilen und die Ursachen für ihre Krise zu ergründen sein. Funktionierende Herrschaft erstreckt sich gleichzeitig über Raum und Zeit; daher ist sie auf die Koexistenz verschiedener Kommunikationsmittel angewiesen: auf solche, die raumorientiert sind ebenso wie auf solche, die zeitorientiert sind. Nur die ausgewogene Kontrolle über jeden dieser beiden Aspekte wirkt stabilisierend auf ein Sozialgefüge. Überwiegt einer der Aspekte, kommt es zu einer Verschie­bung im Gefüge der sozialen Ordnung und zu einem MachtwechseL Zeitbeherr­schende Steinarchitektur im Zentrum der gesellschaftlichen Kommunikation deutet auf monarchische Herrschaftsform, Zentralisierung, Dauer. Raumorien­tierte Medien bedeuten hingegen Verteilung, Verbreitung, Beteiligung und wei­sen tendenziell in Richtung Demokratie. Das erklärt den Bias der Kommunikati­on.

12.3. Die technischen Dispositive

In diesem Sinn, behauptet Innis in Empire & Communications, ist der Übergang vom Stein zum Papyrus ein Schritt mit wichtigen kulturellen und politischen lm­plikationen gewesen. Setzte die ägyptische Zivilisation lange vor unserer Zeit­rechnung mit dem Bau der Pyramiden, als Grundlage des Prestiges eines absolu­ten Monarchen, auf Stein als Kommunikationsmittel, so ging mit dem Übergang zu einer demokratischeren Staatsform eine Schwerpunktverlagerung hin zum Papyrus einher. Innis beschreibt weiters die Entwicklung immer höherer Ab­straktionsgrade durch die Anwendungen, die das Alphabet ermöglicht hat. Aus Gründen einer kulturtechnischen Arbeitsökonomie im Alltagsgebrauch - wer

9 ebd., S. l 22f

Page 243: Medienphilosophie Hartmann

lnnis, Mcluhan 243

weniger und einfachere Zeichen verwendet, schreibt schneller - verschwanden die Bilderschriften. Bedingt durch das Medium (z.B. Tontafeln, in die mit einem Griffel eine Keilschrift gedrückt wird ) wird das Piktogramm durch abstraktere Formen abgelöst und es tritt das Wort an die Stelle des Bildes. 10 Das Alphabet und die Schrift helfen so beim Entstehen von Transzendenz und somit der Religion, die ihren auf Basis der kodifizierten Schrift tradierten Herrschaftsanspruch bis in die Gegenwart verteidigt. Das Alphabet, die abstrakte Zeichenmaschine, steht als Bedingung der Möglichkeit für die spätere Ausbildung der griechischen Natur­philosophie, für das Nachdenken über Natur als ein abstrakt gewordenes Ganzes. 1 1

Wir verstehen a n dieser Stelle ohne größere Probleme, was Innis mit den Ma­

terialitäten der Kommunikation oder auch den .. Trade routes ofthe mind" gemeint hat. Die Charakteristika eines Mediums werden physisch-materialistisch gefaßt, wobei zwar die Beispiele eingängig wirken, aber auch etwas spekulativ und sim­plifizierend großzügig. Wir haben eher Probleme, zwischen Medium und Me­dienfunktionen, sowie zwischen diesen Funktionen und spezifischen Kultur­techniken zu unterscheiden. Manchmal werden die Begriffe Medium, Kommu­nikationsmittel. und Datenträger oder materielle Träger der Kommunikation geradezu synonym verwendet. Dieser Problematik wird man bei McLuhan wie­der begegnen, allerdings in anderer Form, aber auch dort ist alles Medium bzw. kann zu einem solchen werden. Es gibt allerdings einen gravierenden Unter­schied, denn der Begriff des Mediums, den Innis verwendet, hat intrinsischen Charakter.ll Während Innis auf der Materialität beharrt, die ein Medium aus­macht, bestimmen nach McLuhan die Verwendungsformen bzw. bestimmten sei­ne psychosozialen Effekte in einer Kultur das, was ihre Kommunikationsmedien sind. Deshalb hat für McLuhan das Medium keinen eigenen ,Inhalt', außer ei­nem wieder älteren Medium (Theater im Radio, Buch im Film, Film im Fernse­hen, etc. ) , das Medium ist a lso ein Umweltprodukt. Bei Innis hingegen kommt der materiale Eigensinn des Mediums stark zur Geltung, weil er in dieser seiner Materialität den wahren Grund für die Effekte sieht, die es in einer Kulturform

10 Harold lnnis: Die Medien in den Reichen des

Altertums, in: Empire & Communications,

op.cit., S . l 5ff - deutsch in: Kreuzwege der Kommunikation, op.cit., S .56 und S.63. Da­

zu in der Tradition von Innis ausführlicher:

Derrick de Kerckhove: Schriftgeburten. Vom Alphabet zum Computer, München: Fink 1 99 5

1 1 Vgl. dazu .. Die Ankunft des Anderen" in Gellner: Pflug, Schwert und Buch, op.cit., S .80ff - Vgl. weiters mit Bezug auf lnnis die

Ausführungen von Martin Burckhardt: Un­

ter Strom. Der Autor und die elektromagne­

tische Schrift, in: Sybille Krämer (Hg. ) : Me­dien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvor­

stellungen und neue Medien, Frankfurt:

Suhrkamp 1 998, S .27-54, hier S .30f

12 Darauf macht Ian Angus aufmerksam: Orali­

ty in the twilight of humanism, l.cit., bes. Anm. l 9

Page 244: Medienphilosophie Hartmann

244 Vom Auge zum Ohr

erzielen kann. Aber dieser Unterschied wird dadurch relativiert, daß McLuhan davon gewußt hat und ihn für seine Zwecke produktiv hielt. Er schreibt über Innis:

"2500 Jahre lang haben die Philosophen der westlichen Welt jede Technolo­gie aus der Behandlung von Materie-Form-Problemen ausgeklammert. Innis hat viel Zeit seines Lebens darauf verwandt, um die Aufmerksamkeit auf die psychi­schen und sozialen Folgen von Technologien zu lenken. Er konnte noch nicht se­hen, daß unsere Philosophie systematisch die techne aus ihren Meditationen aus­schließt. ( . . . ) Von Plato bis heute hat es in der westlichen Welt keine nennens­werte Theorie des durch technologischen Wandel verursachten psychischen Wandels gegeben.""

Hauptaugenmerk wird nun auf das environmental technological conditioning ge­legt, also auf all jene Auswirkungen der (Kultur) Technik, die wir kaum bemer­ken, während wir sie anwenden. In dieser Form denkt Innis nicht einfach nur über die Bedingungen kulturellen Wandels nach, sondern über Formen der Macht. Sie erschließen sich eben nicht über die medial dargebotenen Inhalte; diese Archäologie der technischen Kommunikationsmedien folgt eher der Eigen­logik des Mediums, indem es sich auf die Effekte konzentriert, die das Medium in der Psyche einzelner Personen ebenso zeitigt wie in der Formierung des ,Gei­stes' einer ganzen Gesellschaft. Diese Auffassung bricht natürlich radikal mit der geschichtsphilosophischen Vorstellung frei handelnder Subjekte.

"War die durch Innis begonnene Umschaltung der Medientheorie von Begrif­fen des Transports auf solche der TransFORMation sozialer und psychischer Ver­hältnisse die eine (McLuhan faszinierende) Seite seiner epochengeschichtlichen Unterscheidung von vorschriftliehen oralen Kulturen, von Schriftkulturen und der Kultur des Buchzeitalters, so war die dazu komplementäre andere Seite eine nicht-subjekzentrierte Auffassung der Geschichte." '•

Aus den technologischen Errungenschaften einer Gesellschaft wird ihr mate­rieller Aufbau und ihre soziale Struktur erschlossen, aber auch die blinden Flecken ihrer Selbstwahrnehmung, in diesem Fall die der Buchkultur und der Druckindustrie. Man muß den "technologischen Wandel der Kommunikation", den Innis" so stark betont hat, ernstnehmen, um zu erkennen, daß das Verhält-

13 McLuhan in: Letters ol Marshall McLuhan,

Toronto 1 987., S.429 bzw. 5.458. zit. nach: Kreuzwege der Kommunikation, op.cit., 5 .5 . Vgl . auch von McLuhan: . . Media and Cultu­ral Change", Vorwort zur Neuauflage von Innis: The Bias ol Communication ( 1 964),

deutsch in: Medien verstehen. Der McLu­han-Reader, Mannheim: Bollmann 1 997, 5.77-83

14 Karlheinz Barck: Harold Adams Innis - Ar­

chäologe der Medienwissenschaft, in: Kreuzwege der Kommunikation, op.cit .. 5. 1 2

1 5 Vgl. Innis: Changing Concepts ol Time, op.cit., Vorwort, zit. in Kreuzwege der Kom­

munikation, op.cit . . 5. 1 3

Page 245: Medienphilosophie Hartmann

lnnis, Mcluhan 245

nis von Medien und Wirklichkeit nicht nur in dem Sinn besteht, daß die in einer Kultur verwendeten Medien deren Realität formen und transformieren, sondern daß sie darin selbst ihre eigene Realität konstituieren. Wenn wir von einer Me­dienwirklichkeit sprechen, dann zieht diese Rede aus genau dieser medienar­chäologisch konzipierten Kulturtheorie ihre Berechtigung.

12.4. E in neuer Kommunikationsbegriff

Innis kommt von der politischen Ökonomie und der Analyse von Rohstoffres­sourcen (Staple economy) zur Analyse der technischen Dispositive einer Gesell­schaft, die das Leben der Menschen in ihr bestimmen. Transport und Kommuni­kation sind hier ganz wesentliche Faktoren, da sie Bedingungen für den kultu­rellen Wandel darstellen. Ganz neu ist diese Perspektive freilich nicht. Bereits Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hatte Kar! Marx in einem nicht ganz unbe­kannten Dokument festgehalten, wie sehr die Machtinteressen der Bourgeoisie dazu führen, daß einerseits alle Produktionsinstrumente verbessert werden, an­dererseits die .,Kommunikationen" erleichtert und durch den .,allseitigen Ver­kehr" neue Abhängigkeiten .. auch in der geistigen Produktion" geschaffen wer­den . ' • Es wäre übertrieben zu behaupten, daß hiermit schon eine Analyse der Kommunikationsmedien in ihrer gesellschaftlichen Funktion vorliegt. Aber Marx hatte in seinem weniger analytischen denn zeitdiagnostischen Text auf die Rolle von Innovationen im Produktionsprozeß und auf die Handelsfreiheit, zwei wesentliche Merkmale industriellen Fortschritts, hingewiesen. Die Marxsche Theorie sah in der Beherrschung von Produktions- und Verkehrsmitteln wesent­liche Mittel für soziale Innovation. Allerdings wird dabei nur eine der Funktio­nen der Kommunikation für den Markt angesprochen, und weder diese selbst als Ware erkannt, noch in ihrer Funktion als soziales Regulativ erfaßt.

Aber wir können eben nicht unter Aspekten eines gegenwärtigen Medienbe­griffs jene Diagnose des neunzehnten Jahrhunderts bewerten, der Kommunikati­

on den physischen Transport der Waren von einem Ort zum anderen bedeutet hat, wie sie noch in unserer Kultur im Zeichen des ,Information-Highways' als Metapher durch die Köpfe geistert. Kommunikation wird dabei im mechanisti­schen Rahmen verstanden, wobei etwas ,übertragen' wird - das gilt bis hin zum naiven Kommunikationsmodell, das diesen komplexen Prozeß aus Gründen der

16 Kar! Marx, Friedrich Engels: Manifest der

Kommunistischen Partei. London 1 848. Zit. nach Ausgabe Stuttgart: Reclam 1 998, S .23f - Vgl. dazu die Analyse im Lichte der gegen· wärtigen Medienkultur von Slavoj Zizek:

The Spectre is Still Roaming Around! An in­

troduction to the ! 50th anniversary edition of the Communist Manifesto, Zagreb: Arkzin 1 998

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mathematischen Berechenbarkeit auf die Übertragung einer Botschaft von ei­nem Sender durch einen Kanal zu einem Empfänger reduziert ." Doch ist dies eben nur ein Teil der Bedeutungsdimension des Kommunikationsbegriffs, den auch Innis mit seiner Betonung der raumbindenden Macht (space-biased) der vi­suell ausgerichteten Lese- und Buchkultur anstrengt.

Innis dachte und schrieb an genau jener Grenze, die uns mittlerweile vom Kommunikationsbegriff des neunzehnten Jahrhunderts trennt - McLuhan un­terscheidet sich vor allem hierin grundlegend von Innis, da er einen postmoder­nen, utopisch konnotierten Kommunikations- und Medienbegriff eingeführt hat. Medien verstehen heißt, sich McLuhan in diesem Sinn zu erschließen: hier erst wird der mechanistische Rahmen des Informations- und Kommunikations­begriffes definitiv verlassen. Man wird feststellen können, daß Innis Texte von ei­ner gewissen Melancholie durchzogen sind . Dies ist deshalb der Falt weil er im Grunde konservativ argumentiert, und das heißt bis zu einem gewissen Grade eurozentristisch, gefangen in einer Spannung zwischen dem kulturellen Erbe der europäischen Vergangenheit und dem expandierenden Reich der amerikani­schen Herrschaft. ' " Hier wird ersichtlich, daß Innis den kulturellen Wandel mit ei­ner gewissen konservativen Besorgnis diagnostiziert. Er sieht die abendländische Kultur in Gefahr, da sie sich zusehr auf raumbeherrschende mediale Faktoren konzentriert. Dies erzeugt ein Ungleichgewicht und damit eine selbstdestruktive Tendenz innerhalb einer Kultur. Wir sollten daher die Oralität in unserer Kultur wiederentdecken bzw. ausweiten, um über diesen zeitbeherrschenden Faktor wieder zu höherer zivilisatorischer Stabilität zu gelangen. Ian Angus schließt hieraus, daß Innis' Theoriebildung nicht nur von diagnostischen, sondern auch von therapeutischen Absichten getragen wird ." "Wir können wohl davon ausge­hen, daß der Gebrauch eines bestimmten Kommunikationsmediums über einen langen Zeitraum hinweg in gewisser Weise die Gestalt des zu übermittelnden Wissens prägt. Auch stellen wir fest, daß der überall vorhandene Einfluß dieses Mediums irgendwann eine Kultur schafft, in der Leben und Veränderungen zu-

17 • The basis of all contemporary Western theories of communication - the Shannon­Weaver model - is a characteristic example

of left-hemisphere linear bias. lt ignores the

surrounding environment as a kind of pipe­line model of a hardware container for soft­

ware content." - Vgl. Explorations in Visual and Acoustic Space: Hidden Effects, in: Marshall

McLuhan I Bruce R. Powers: The Global Vii­lage. Transformations in World Life in the 2 1 st Century, New York: Oxford Univ. Press 1 989, $.75

18 Kroker bezeichnet lnnis' St i l als .trapped between the cultural legacy of its European past and the expanding ,space' of American

Empire· - vgl. Kroker: Technology and the

Canadian Mind, op.cit., 5 .95 19 .It is the diagnostic and therapeutic intenti­

on originating in the crisis of civilisation that motivates the contemporary development of

the theory of media of communication." An­gus: Orality, l.cit.

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lnn is, Mcluhan 247

nehmend schwieriger werden, und daß schließlich ein neues Kommunikations­mittel auftreten muß, dessen Vorzüge eklatant genug sind, um die Entstehung ei­ner neuen Kultur herbeizuführen. "'0

Ein Kommunikationsmittel ist immer auch mit einem Bildungsmonopol ver­bunden, bzw. dient als Regulativ im Zugang zum gesellschaftlichen Wissen. Das bedeutet konservative Macht, aber mit der Mechanisierung des Wissens und ei­ner systematischen Nutzung der Monopole im Kommunikationswesen durch be­stimmte Individuen und gesellschaftliche Gruppen schlägt ihre Fortschrittlichkeit in Rückschritt um: Verflachung des Kulturniveaus, zunehmende Täuschungs­möglichkeiten durch gesteigerte AbbildbarkeiL Neue Medien haben eine zu­gleich destruktive wie konstruktive Seite. Irrnis weiß außerdem um die ökono­mische Bedeutung der Wissensverbreitung in einer Gesellschaft und sieht den engen Zusammenhang zwischen Medien und Politik. Nach diesen Aspekten wer­den nun die weltpolitischen Geschehnisse analysiert.

Weil Irrnis im Grunde kulturpessimistisch argumentiert, und mehrfach die Mechnisierung oder die mechanisierte Kommunikation kritisiert, stellt sich das Ergebnis dieser Analyse aber in sich gebrochen dar. Er konstatiert die stabilisie­rende Rolle des Buches .. als ein Produkt anhaltender geistiger Anstrengung" in der Entwicklung der westlichen Zivilisation, die offensichtlich gefährdet ist: .. Die westliche Gemeinschaft ist durch die Zermalmungseffekte der maschinellen In­dustrialisierung des Kommunikationswesens zersetzt worden ."" Gleichzeitig hat die Buchkultur aber auch ein Bildungsmonopol erzeugt, das gesellschaftlichen Fortschritt (im sozialutopischen Sinne) verhindert: .. Dieses Monopol akzentuier­te Individualismus und somit Instabilität und ließ durch Schlagworte wie Demo­kratie, Pressefreiheit und Redefreiheit Trugbilder entstehen. Die katastrophalen Auswirkungen dieses auf dem Auge basierenden Kommunikationsmonopols trieben die Entstehung einer bei der Informationübertragung auf das Ohr ge­richteten Konkurrenz voran, des Radios und der Vertonung von Film und Fern­sehen nämlich. Gedrucktes Material büßte gegenüber Rundfunkübertragungen und dem Lautsprecher an Wirkungskraft ein.""

Vor allem in Bias of Communication wird die für unsere moderne Kultur cha­rakteristische .. Flucht aus der Schriftlichkeit" mit Zentralisierungstendenzen in Verbindung gebracht. Das stimmt, wenn man an die Sendezentralen und an das Rundfunkprinzip denkt. Dennoch setzt hier die Kritik an. Ausgehend von einer Analyse des Transports und der Staple economy eines Landes, konzentriert sich In-

20 Harold lnnis: Tendenzen der Kornmunikati­

on ( 1 949), in: Kreuzwege der Kommunika­tion, op.cit., S.96

21 Harold A. lnnis: Ein Plädoyer für die Zeit

( 1 9 5 1 ), in: Kreuzwege der Kommunikation, op.cit., S . l 35 f

2 2 ebd., 5 . 1 37

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nis auf die beherrschende Technologie einer Kultur, im zwanzigsten Jahrhundert kann deren unbewußte Funktion für die Gesellschaft jedoch nicht länger in Begriffen des Transports gefaßt werden. Die Elektrizität und der Einsatz des Tele­graphen haben das Kommunikationswesen der Gesellschaft grundsätzlich geän­dert. McLuhan hat die Instantaneität der modernen Kommunikation erkannt, während bei Innis durch seine theoretische Fixiertheit auf die raumbeherrschen­den Medien der Gutenberg-Galaxis, wie McLuhan sagen wird, dieselbe "techno­logische Blindheit", die er an der Kultur kritisiert, sich auch in der eigenen Ana­lyse niederschlägt. Gerade in seinen Bemerkungen zum Radio habe es Innis un­terlassen, die strukturellen Prinzipien seiner Theoriebildung konsequent anzu­wenden. "Plötzlich verschiebt er die Hörwelt des Radios in den visuellen Bereich, indem er dem Ohr all die zentralisierenden Kräfte des Auges und der visuellen Kultur zuschreibt. Hier ließ sich Innis von der allgemeinen Auffassung seiner Zeit in die Irre führen."" Innis wäre also seiner eigenen Methode untreu geworden und habe daher das neue elektrische Muster der Kultur, das dezentralisierend und separatistisch wirkt, nicht mehr herausarbeiten können. Es scheint, wie wenn der überaus interessante und wichtige medienarchäologische Ansatz von Innis in seiner Betonung von Raum und Zeit zu kurz greift, um die Logik der neuen Me­dien zu verstehen.

1 2.5. Zur Logik des Mediums: zwei Theoreme

Vollzogen und generalisiert wird der von Innis ausgearbeitete Ansatz dann von Herbert Marshall McLuhan, und zwar in genau dem Sinne, daß es um ein Ver­stehen der Medienlogik und ihrer Rolle in der Gesellschaft und der sozialen Psy­che geht. Zwei Theoreme McLuhans sind es vor allem, die für diesen neuen Dis­kurs stehen, der sich um einen neuen Medien- und Kommunikationsbegriff dreht.24

23 McLuhan Reader, op.cit., S.82 24 Das erste Theorem wurde erarbeitet in

Marshall McLuhan: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographie Man, Toronto: Univ. of Toronto Press 1 962; das zweite in

ders.: Understanding Media. The Extensions

of Man, Toronto: McGraw-Hill 1 964 - Diese

beiden ,mythischen' Monographien haben eine mondäne und dazu nicht schlecht do­tierte Entstehungsgeschichte: erstere ent­stand aus einem 1 952 ausgeschriebenen Forschungsprojekt zu ,Veränderungen in

den Sprach- und Verhaltensmustern und die neuen Kommunikationsmedien' der Ford­Foundation, um das sich McLuhan gemein­

sam mit dem Anthropologen Edmund Car­penter erfolgreich beworben hatte; letztere

war ursprünglich ein Projektbericht, den McLuhan 1 960 für die National Association

of Educational Broadcasters erstellt hatte, und der Erstellung eines Medien-Lehrplan in Highschools dienlich sein sollte. Vgl. das Vorwort der Herausgeber in: Der McLuhan­Reader, op.cit., S . l 4f und ! 8f

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Erstens ist das die Feststellung vom Ende der Gutenberg-Galaxis und damit der am typographischen Paradigma orientierten gesellschaftlichen Reproduktion. McLuhans literaturwissenschaftliche Untersuchungen der fünfziger Jahre ver­dichten die Annahme, daß Sprache, Texte und Bilder einer Kultur kein unver­rückbares, sondern ein historisch kontingentes Gefüge bilden. Die D urchsetzung des Fernsehens als neues Informations- und Unterhaltungsmedium in genau je­ner Zeit ruft große Verunsicherungen und einen Kulturpessimismus hervor, auf den McLuhan scheinbar mit perfektem Timing reagiert und es deshalb zu hoher persönlicher Popularität bringt. Am Fernsehen hat er seine These zwar nicht ganz gebildet, dieses Medium scheint sie aber perfekt zu bestätigen: die Behauptung, daß nach dem typographischen und mechanischen Zeitalter der letzten fünf­hundert Jahre wir uns jetzt in ein elektrisches Zeitalter hineinbewegen, in dem es zu neuen Formen und Strukturen der menschlichen Interdependenz kommt. Will man das neue Medium Fernsehen also verstehen, dann darf man nicht sei­ne Inhalte analysieren, sondern muß sich mit der Logik des Mediums selbst be­schäftigen und dazu die Effekte erforschen, die es in der Gesellschaft zeitigt." Zweitens daher das Theorem mit der Grundaussage, daß das Medium selbst schon die Botschaft ist.

Die Theorie von Innis, daß Kommunikation an bestimmte materielle Medien gebunden ist, die sich im Laufe der Kulturgeschichte verändert haben, wird da­mit in eine Philosophie des Medienzeitalters transponiert. Der Auszug aus der Gutenberg-Galaxis, der ja schon mit dem Radio begonnen hat, führt zu neuen Formen der oralen Tradierung, damit zu einer vorindustriellen Logik, zu einer Stammeskultur, deren Terrain der gesamte Globus ist - Global Village.

Es ist wichtig zu fragen, warum McLuhan hier in einem Atemzug mit Innis als ein Theoretiker vorgeführt wird, der einen therapeutischen Diskurs verfolgt. McLuhan war tatsächlich ambivalent in seiner Diagnose und wurde durch eine popularisierte Rezeption als unkritischer Prophet der neuen Medien verstanden. Er selbst sah sich da eher als eine konservative Kassandra, aber auch mit aufklä­rerischem Anspruch. Er wollte das genauer kennenlernen, was die literarische Kultur zerstört. McLuhan war ein (durch seine Mutter inspirierter) passionierter Leser der englischen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts, und gerade in The Gutenberg Galaxy schwingt eine bildungsaristokratische Attitüde kräftig mit. Die Erforschung der neuen elektronischen Umwelt wird immer mitgetragen von ei­nem Schuß kulturpessimistischer Kritik der Mechanisierung, die den Ausgangs­punkt von McLuhans Medienphilosophie bildet: ,. , Tis all in pieces, all coherence go-

25 Auch die oben behandelte Analyse von Günther Anders entspricht dieser Forde­rung; sie illustriert den Unterschied zwi-

sehen einem kommunikationswissenschaft­lieh und einem medienphilosophisch orien· tierten Ansatz.

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ne, alljust supply and all relation ." (John Donne) ." Sie ist letztlich ein faszinieren­des B eispiel dafür, daß die einmal diagnostizierte Auflösung der epistemischen Konstellation rund um die zentrale Medientechnik von Schrift/Druck jedoch nicht im Kulturpessimismus steckenbleiben muß. McLuhan hatte seine Hoff­nung darin gesetzt, daß die Isolierung des visuellen Sinnes und die damit ver­bundene Abstraktion von der Bandbreite menschlicher Erfahrungssinne nicht einen unüberwindlichen letzten Schritt der zivilisatorischen Entwicklung dar­stelle.

1 2.6. Kulturzerfa ll, Literatur und Popularkultur

In den frühen dreißiger Jahren studierte der Kanadier McLuhan Literaturwis­senschaften im britischen Cambridge. Dort gab es die Schule des New Criticism, die rund um Ivor A. Richards und Frank R. Leavis und die Zeitschrift Scrutiny Litera­turwissenschaften als konservative Politik betrieb. In jener Zeit herrschte noch der koloniale Geist des neunzehnten Jahrhunderts, nach dem auch die English Studies den Zweck erfüllen sollten, die kulturelle Homogenität des britischen Em­pire zu wahren. Das Englische sollte auch über die ästhetische Ebene vermittelt werden, und so verstand die Literaturkritik sich als eine Art moralischer Setzung, die in einem zu wahrenden Kanon hervorragender Werke und Autoren mündet. Paradoxerweise nahmen aber auch die für die gegenwärtige Kommunikations­wissenschaft immer wichtiger werdenden Cultural Studies unter anderem hier ihren Ausgangspunkt.27 Die Literaturkritik diente der Verteidigung der morali­schen Werte einer höheren Kultur gegenüber einer Massenkultur mit ihren kommerziellen Formen, von denen kultureller und moralischer Zerfall droht. Manifestartige Traktate der Wächter jenes humanistischen Bildungskanons soll­ten diesen Tendenzen gegensteuern und durch die Verteidigung ethisch überle­gener Konzepte die Kultur retten.'•

Man muß den Gegner kennen, um ihn bekämpfen zu können. Es kam daher in der Auseinandersetzung mit dem, was jenen literarischen Kanon gefährden könnte, zu einer Anwendung literaturkritischer Untersuchungsmethoden auf die Produkte der Massenkultur. Damit taucht nicht nur Massenkultur (Radio, Film, Belletristik, Boulevardpresse) als ein neues Untersuchungsobjekt der wissen­schaftlichen Analyse auf - unabhängig davon hat dies Max Horkheimer im so­zialwissenschaftlichen Kontext 1 9 3 1 eingefordert -, sondern ebenso eine neue

26 McLuhan: The Gutenberg Galaxy, op.cit., 5 .258

27 Vgl . zu diesem Zusammenhang Christina Lutter, Markus Reisenleitner: Cultural Stu-

dies. Eine Einführung, Wien: Turia+Kant 1 998, S. l 8ff

28 Frank R. Leavis: Mass Civilization and Mi­noriry Culture, Cambridge 1 930

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Art und Weise, damit zu verfahren. Da die Kulturprodukte im ethischen Sinn und in ihrer bildenden Funktion gesehen werden, geht es schließlich darum. den qualitativen Effekt beim Leser als einen Effekt des Textes vorzustellen . Dabei ste­hen formale Kriterien im Vordergrund, noch vor al lem Inhalt.

All dies gehört zu den wesentl ichen Inspirationsquellen für McLuhans eigenes Schaffen, vor a llem aber der in Cambridge erlernte .. Umgang mit Literatur auf der Grundlage von Wahrnehmungs- und Kommunikationsmodellen" .'9 Und weiter: McLuhan studierte in den frühen dreißiger Jahre moderne englische Literatur, was für ihn ein ästhetischer Schock gewesen sein muß. Es geht hierbei um eine neue Ästhetik, die mit der Linearität tendenziell bricht. Als Beispiel seien nur Ez­ra Pound genannt, weiters James Joyce und T.S . Eliot, von deren Arbeiten McLu­han fasziniert war. In Pounds literarischer Methode entdeckte McLuhan die Be­deutung des Ideogramms. wenn auf engstem Raum mit höchstmöglicher lyri­scher Intensität ein in sich ruhender Ausdruck gesucht wird. So hat Pound beispielsweise in seinen Cantos die literarische Schriftzeile im chinesischen Schriftzeichen .. Richtigstellung der Begriffe" verdichtet. '" Das chinesische Ideo­gramm zeigt in seiner mehrschichtigen Konzentration eine Möglichkeit, die mul­tiperspektivische Realität des Medialen anders als in alphabetisch codierten Text­systemen zu sehen. Dieses Faible des Dichters sollte die Medientheorie, aber auch den Stil McLuhans nachhaltig beeinflussen. Es sensibilisiert ihn nicht zuletzt da­hingehend, das punkthaft aufgebaute Mosaik des Fernsehbilds als Paradigma ei­nes neuen kulturellen Codes ernstzunehmen, der mit der tradierten konzeptio­nellen Form von Linearität bricht.

Abbildung 16 Das chinesische cheng-1ning

29 Vgl. Jürgen Reuss. Rainer Höltschl: Mecha­nische Braut und elektronisches Schreiben. Zur Entstehung und Gestalt von Marshall Mcluhans erstem Buch. in: Marshall McLu-

han: Die mechanische Braut. Volkskultur des industriellen Menschen ( 1 9 5 1 ) . Amster­dam: Verl. Der Kunst 1 996, 5 .23311

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1 2.7. Industrielle Volkskultur

Nach seinem Studium arbeitete McLuhan fast zwei Jahrzehnte lang an einem ei­genartigen Werk, in dem all diese Einflüsse synthetisiert werden sollten. Er nennt das 1 9 5 1 erschienene Werk "The Mechanical Bride" und verspricht eine Analyse der Volkskultur des industriellen Menschen. Es beginnt mit der Abbildung einer Titelseite der New York Times und mit folgenden provokanten Fragen:

"Was ist hier Partitur? Warum ist eine Nachrichtenseite ein Problem der Or­chestrierung? Auf welche Weise ist die jazzige Ragtime-Diskontinuität von Zei­tungsartikeln mit anderen modernen Kunstformen verbunden? Können Sie sich etwas Effektiveres vorstellen als diesen Kubismus der Titelseite, um eine Bericht­erstattung von China bis Peru bei gleichzeitiger Bildschärfe zu erreichen? Dach­ten Sie nie, daß eine Zeitungsseite eine symbolistische Landschaft ist?"'1

Dem folgt ein knapper, zweiseitiger Essay zur Presse in ihrer Funktion für den ,.industriellen Menschen", dem weitere Themen zur Mediensituation, zum ame­rikanischen Way of Life, zu Werbung, Filmplakaten, Groschenromanen etc. fol­gen. Was aber sollte das? McLuhan bricht ganz offensichtlich mit der äußeren Form einer wissenschaftlichen Analyse. Er selbst betrachtete es als ein literari­sches Werk, als "eine neue Form von Science Fiction, mit der Personage aus An­zeigen und Comics als Protagonisten", so schriebt er an seine Mutter, und er meint weiter: "Da es eher mein Ding ist, die Gemeinschaft in Aktion zu zeigen, als etwas zu beweisen, kann man es tatsächlich als eine neue Romanform anse­hen.""

Tatsächlich tritt McLuhan aber mit dem Gestus des besorgten Kulturkritikers auf, der die Effekte einer neuen Medienkultur in all ihren Überlagerungen ernst­nimmt, vor den Folgen warnt und als distanzierter Beobachter die Stimme der Vernunft einklagt. McLuhan präsentiert sich hier noch ganz als ein Mensch der Gutenberg-Galaxis, als ein Verteidiger der Buchkultur. Manipulation, Ausbeu­tung und Kontrolle des "kollektiven öffentlichen Denkens" durch Werbung und Medien werden im Vorwort angeprangert, und eine neue Aufklärung eingefor­dert: "Warum nicht die Öffentlichkeit darin unterstützen, das Drama bewußt wahrzunehmen, das unbewußt auf sie einwirken soll?"" Er gibt auch der Hoff­nung Ausdruck, daß sich durch die Bewußtmachung etwas entwickelt, was spä-

30 Vgl. Ezra Pound: Uzura-Cantos XLV und LI, hg. von Eva Hesse, Zürich: Arche 1 985, Canto LI, Vers 69, dazu die Erläuterung 5.98: .Für Pound ist der Begriff cheng-ming das sprachliche Gegenstück der klaren Linie in der Malerei. • Pound war dabei beeinflußt von dem Sinologen und Kunthistoriker Er·

nesto Fenollosa, dessen Nachlaß er bearbei· tet hat, vgl. dazu Reuss I Höltschl, l.cit., 5.243

31 McLuhan: Die mechanische Braut, op.cit., S . 1 2f

32 McLuhan 1 9 52, zit. in Reuss I Höltschl, l.cit., 5 .238

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ter eine Kommunikationsguerilla genannt werden wird - daß sich aus der Ana­lyse der mechanischen Einwirkungen von Medien .. viele individuelle Strategien von selbst ergeben" .

Gleichzeitig gibt McLuhan, der diesen durch rationale Distanz gekennzeich­neten neutralen Beobachterstatus in der Folge nicht durchhalten konnte, einen Hinweis auf die Methode, die er in weiteren Arbeiten durchaus beibehalten soll­te: Er bezieht sich auf Edgar Allan Poe, aus dessen A Descent into the Maelström

( 1 84 1 ) er zitiert. Poe beschreibt einen Seemann, der in einen Wasserwirbel hin­abgezogen wird, und der im Moment des Untergangs und während er um sein Leben kämpft eine Art Vergnügen darin suchte, Spekulationen über die Ge­schwindigkeit anzustellen, mit denen die ihn umgebenden Gegenstände ins Zen­trum des Malstroms hinunterwirbelten. Diese distanzierte Beobachtung ließ den Seemann einen Weg finden, den Strudel zu verstehen, womit er sich aus seiner bedrohlichen Situation retten kann.

Abbildung 17 McLuhan surfing

McLuhan sieht sich offenbar in einer ganz ähnlichen Situation wie jener See­mann . .. Seine Haltung", schreibt er in dem Collagen-Werk The Medium is the Mas­

sage, wo er dieses Zitat abermals verwendet, .. bietet eine mögliche Taktik, wie wir unsere unangenehme Lage, unseren elektrisch strukturierten Wirbel begreifen können."" Zwischen den beiden Zeitpunkten der Verwendung dieses Zitats liegt die Publikation von The Gutenberg Galaxy und Understanding Media, und auch ei­ne Abkehr von der Kritik der Mechanisierung in der Moderne zugunsren einer Erforschung der elektronischen Umwelt des postmodernen Menschen. Im Über-

33 McLuhan: Die mechanische Braut. op.cit., $ .7

34 Marshall McLuhan, Quentin Fiore: The Me­dium is the Massage ( 1 967) , zit. nach der

deutschen Ausgabe: Das Medium ist Massa­

ge, Frankfurt: Ullstein 1 984, $. 1 50

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gang von der Drucktechnologie und einer veralteten Medienwelt der Zeitungs­kultur, von der mechanischen Braut des industriellen Menschen zu seiner elek­tronischen Braut, dem Fernsehen, liegt die Entdeckung der neuen Medienwirk­lichkeit die sich in der Auflösung der Buchkultur als bestimmender Form zu er­kennen gibt. Die Haltung McLuhans ist aber dieselbe, und besonders in den Interviews" gibt er immer wieder zu erkennen, daß seine Analysen dem dekla­rierten Zweck dienen, die Effekte der Medien zu studieren und damit aufzu­klären, indem die unbewußten Prozesse der gesellschaftlichen Medieneinwir­kung dechiffriert werden.

Der Ausgangspunkt ist hier der immer wieder thematisierte Einbruch der Druckerpresse in die orale Kultur, die das Visuelle gegenüber allen anderen Sin­nen monopolisiert. Das Mechanische steht von nun an gegen das Organische -An Eye for an Ear - auch als Grundbedingung für die Industrialisierung.'• In den frühen fünfziger Jahren war dabei noch die Rede von mechanischen Einwirkungen

der Medien auf die Gesellschaft, in den sechziger Jahren wandelte sich dies in die Rede von der elektrischen Strukturierung. Es gibt dafür eine plausible Erklärung: " [McLuhans] Schwierigkeiten bei der Wahl der richtigen Terminologie zeigen, wie stark mechanische und elektronische Medien Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre vor dem entscheidenden Schritt in der Halbleitertechnologie, der Entwick­lung der Transistortechnik 1 947 I 1 948, noch ineinander verwickelt erscheinen. Erst das Informationszeitalter, das die in der mechanistischen Ära produzierte Spezialisierung sogar in den von Computern gesteuerten Maschinen selbst auf­hebt, macht deren unterschiedlichen Charakter deutlich. "37

1 2.8. Narziß als Kybernetiker

In Understanding Media hat McLuhan dann diesen Schritt für seine Analyse be­wußt gemacht, indem er das kybernetische Prinzip a ls neues Paradigma der sich selbst organisierenden Systeme übernimmt.'• Dies wird deutlich an seiner Ana-

35 Vgl. die Audiozitate unter http://www.web· corp.com/sounds!mcquote.htm

36 An der Grenze zwischen mündlicher und

schriftlicher Überlieferung handwerklicher

Kunst erscheint beispielsweise Joseph Mo­xon: Mechanick Exercises on the Whole Art of Printing, Landen 1 6831 1 684; vgl. in McLu­

han: The Gutenberg Galaxy, op.cit., 5 .255. Moxons Werk ermöglichte es vor al lem den Autoren, sich die Kunst der Druckvorberei­tung anzueignen, vgl. Eisenstein: Die Druckerpresse, op.cit . . S . 93f. 5 . 1 29

37 Reuss I Höltschl, l .cit., 5.240 38 Es ist nicht bekannt, ob McLuhan von jenen

Konferenzen wußte, die von der Macy­

Foundation zwischen Ende der vierziger

und Anfang der fünfziger Jahre in den USA durchgeführt worden sind, und in denen als eine Art Think Tank das Anwendungspoten­

tial des kybernetischen Ansatzes ausgelotet

wurde. Vgl. dazu Steve J. Heims: The Cyber­netics Group, Cambridge/Mass.: MIT Press 1 99 1

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lyse des antiken Narziß-Mythos, den er auf eine bemerkenswerte Art nicht psy­choanalytisch diskutiert. Er verweist auf die gemeinsame etymologische Wurzel von Narziß und Narkose", um aus dieser Verwandtschaft den Mythos direkt auf eine Gegebenheit menschlicher Erfahrung zu beziehen. Narziß wird von seiner eigenen Abbildung, die er für einen anderen hält, betäubt. Deswegen hört er die lockenden Worte der Nymphe Echo nicht, die um seine Liebe wirbt. Aber nicht seine Selbstverliebtheit hält die Nymphe Echo von einer erfüllten Liebe mit Nar­ziß ab, sondern seine Betäubtheit. die aus der Verliebtheit in das Medium oder den Apparat der Spiegelung stammt. Narziß ist der moderne Gadget Lover. Indem er sich der Ausweitung seiner selbst ergibt und anpaßt, wird er zum geschlosse ­nen System . .,The youth Narcissus mistook his own reflection in the water for an other person. This extension of bimself by the mirror numbed his perceptions un­til he became the servomechanism of his own extended or repeated image. The nymph Echo tried to win his Iove with fragments of his own speech, but in vain. He was numb. He had adapted to this extension of bimself and had become a clo­sed system. "'0

Die Pointe dieser Erzählung ist für McLuhan die, daß die Menschen von ihrer eigenen Entfremdung fasziniert sind - von all dem, was ihr Selbst erweitert, was aber nicht sie selbst sind. Es sind die Ausweitungen unserer selbst, unsere tech­nische Kultur, die uns betäubt. Durch die Blockierung der Wahrnehmung ist kei­ne Selbsterkenntnis mehr möglich. Genau darum geht es McLuhan jedoch, um die Beschneidung der menschlichen Autonomie durch das System der Technik. Es ist die Denkfigur einer anthropozentrischen Medientheorie, die hier mit Be­zügen auf die organische Physiologie des Zentralnervensystems entfaltet wird . Zum Selbstschutz bei Streß oder Überreizung ,amputiert' das Nervensystem den störenden Sinn, es schaltet ihn ab oder betäubt ihn. Die elektronischen Techno­lagien sind eine Analogie zum menschlichen Nervensystem, als Ausweitung des Menschen (extensions ofman ) . Und nun vermutet McLuhan, daß es gut möglich wäre, daß die sukzessive Mechanisierung menschlicher Körperorgane seit der Er­findung des Buchdrucks eine zu gewaltsame und überreizte Erfahrung geworden wäre: es kommt dann zu einer kulturzerstörerischen Amputation des Menschen von der Apparatur:"

39 Vgl. griech. vapKaUl - erlahmen, erstarren; ihren Namen erhält die Narzisse wegen ihres

betäubenden Geruches. 40 McLuhan: Understanding Media, op.cit. 5 .41 41 • With the arrival of electric technology, man

extended, or set outside himself. a live mo·

del of the cent ral nervaus system itself. ( . . . )

lt could weil be that the successive mecha­nizations of the various physical argans sin­

ce the Invention of printing have made too violent and superstimulated a social experi­

ence for thc central nervaus system to endu­

re." - Vgl. Mcluhan; Understanding Media, op.cit. 5.43

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Welche Therapie oder welches Gegenmittel wären auf die Gesellschaft anzu­wenden? Nun, der Grund für die destruktiven kulturellen Tendenzen liegt in der Eigenart des typographischen Zeitalters, einen einzelnen Sinn zu isolieren, indem die Buchkultur sich ganz auf das Auge konzentriert. Das, was wir in der westli­chen Welt Bewußtsein nennen, verzichtet auf die Erfahrung all der anderen Sin­ne. "The phonetically written word sacrifices worlds of meaning and perception that were secured by forms like the hieroglyph and the Chinese ideogram."42 Die­se Kritik vor der Folie kulturell reichhaltigerer Ausdrucksformen gilt der Verein­seitigung durch Abstraktion auf Ebene der Codierung, die wiederum höhere De­codierungsleistung erfordert. Ist die Rückkehr zum Ikonischen, wie schon bei Ot­to Neurath vorgeschlagen, ein Weg aus der Krise? Es bedeutete für McLuhan tatsächlich eine inkludierende Form kulturellen Ausdrucks, während die typo­graphische Kultur aufgrund der abverlangten abstrakten Decodierungsleistun­gen ( die wiederum Bildungsinstitutionen notwendig machen) tendenziell exklu­dierende Formen entwickelt hat.43

Dabei geht es schließlich nicht nur darum, daß der Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts ab und zu ins Kino geht. Die Zeichen des Abrückens von der abstrakten Buchkultur häufen sich. Am Fernsehen war unschwer jene nicht ver­bale Konfiguration der Formen zu erkennen, die auch in der naturwissenschaftli­chen Forschung den Begriff der Ursache abzulösen begann.•• Das Buchdruckzeit­alter bringt die Perspektive hervor und damit eine visuelle Wahrnehmungstheo­rie, die sich in der gesamten neuzeitlichen Wissenschaft niederschlägt . ., Bereits in dem frühen Essay mit dem programmatischen Titel Kultur ohne Schrift skizzier­te McLuhan die Möglichkeit, zum "unbenutzten Esperanto" der im mehrfachen Sinn des Wortes grenzüberschreitenden Bilderschrift zurückzukehren.•• Das Er­gebnis unserer Technologie, so spekuliert er, könnte gut das Erwachen aus dem historisch konditionierten Alptraum der Vergangenheit sein: der alphabetisierte

42 ebd .. 5.83 43 Vgl. McLuhan in Bezug auf den Film: .We

return to the inclusive form of the icon.· ­ebd., 5. 1 2

44 • Today our science and method strive not towards a point of view but to discover how not to have a point of view, the method not of closure and perspective but the open ,field' and the suspended judgement. Such is now the only viable method under electric conditions of simultaneous information mo­vement and total human interdependence." - McLuhan: The Gutenberg Galaxy. op.cit., 5.276

45 Vgl. dazu neben dem bereits erwähnten Ka­pitel 7 .Die Wandlungen des Buchs der Na­tur" in Eisenstein: Die Druckerpresse. op.cit.. die Arbeit von Michael Giesecke: Der Buch­druck in der frühen Neuzeit. Eine histori­sche Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechno­Jogien. Frankfurt: Suhrkamp 1 998

46 Erschien 1 95 3 in der ersten Nummer der von McLuhan und Carpenter herausgegebe­nen Zeitschrift Explorations. deutsch in: Der McLuhan-Reader, op.cit., 5.68-76

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Mensch wäre dann nicht viel mehr als eine Episode gewesen. Der Druckerpresse fehle nämlich ein Grundmerkmal von Kommunikation, und das ist die Instanta­neität. Daher kommt auch diese Kultur irgendwann an einen Punkt - und das deckt sich mit der Theorie von Irrnis - an dem sie gezwungen ist, neue Wahr­nehmungstechniken und neue Urteilsformen zu entwickeln, und schließlich neue Formen der ,Lesbarkeit' zu schaffen. Mcluhan sieht darin eine bisher un­vorstellbare kulturelle Bereicherung, die überdies Kommunikation zu einer Wahrheit zurückführt, die von den Strukturen der Buchkultur hartnäckig ne­giert wurde: die Erfüllung einer ,.Grundanforderung jedes Kommunikationssy­stems, zirkulär und mit der Möglichkeit zur Selbstkorrektur ausgestattet zu sein. "•'

Solche Zirkularität sieht Mcluhan im Narziß-Mythos auch thematisiert, doch sie hat hier eine zwischen positiv und negativ schillernd konnotierte Seite. Statt der Feedback-Möglichkeiten der instantanen Kommunikation ist der Mensch, verliebt in seine Apparatewelt, zu deren Servomechanismus herabgesunken. Er dient der Maschinenwelt nurmehr zu Befruchtungszwecken, ist das Sexualorgan einer technisierten Welt. Gibt es eine Möglichkeit, Narziß wieder zum wahren Kybernetiker zu machen, und ihn als Steuermann einzusetzen?

1 2.9 Technologischer Humanismus

Die Absicht ist gegeben. Mcluhan bezeichnet als Programm seines Buches Un­

derstanding Media das aufklärerische Versprechen, alle Medien und die damit ver­bundenen Konflikte einem besseren Verstehen zuzuführen und die Konflikte und Probleme dadurch abzubauen, daß die menschliche Autonomie wieder er­höht werde.•• Schließlich entstammt es einem Forschungskontext, der einen Me­dienlehrplan für Highschool-Studenten vorbereiten helfen sollte.

Die Erforschung der Bedeutung der ,Magischen Kanäle' gestaltet sich keines­wegs einfach, und ist schon gar nicht reduzierbar auf eine einfache Prothesen­theorie, die Medien als einfache technische Ausweitungen der menschlichen Or­gane sieht - wie der Untertitel The Extensions of Man suggeriert. Wir haben uns mit dem Wechsel im zugrundeliegenden Kommunikationsbegriff bereits beschäftigt. Es geht nicht mehr darum, wie im industriellen Zeitalter die menschlichen Kräf­te so zu erweitern, wie Maschinen die Muskeln verstärken. Es geht im elektroni­

schen Zeitalter vielmehr darum, das menschliche Zentralnervensystem auf glo-

47 ebd., S. 7 5

48 "The presem book, in seeking to understand any media, the con!licts !rom which they spring, and the even greater conflicts to

which they give rise, holds out the promise o! reducing these conflicts by an increase o! human autonomy. · - Vgl . McLuhan: Under­standing Media, op.cit. 5.5 1

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balem Niveau zu implementieren. Und es ist diese Ausweitung, deren sich unse­re Kultur nicht bewußt ist. Kultur und Technik schaffen eine quasi-organische Umwelt, die uns genauso bestimmt wie die natürliche. "Umwelten sind keine passiven Hüllen", schreibt McLuhan in The Medium is the Massage, "sondern akti­ve Vorgänge, die unsichtbar bleiben. Die Grundregeln, die durchgängige Struk­tur und die u mfassenden Muster der Umwelten entziehen sich einer oberflächli­chen Wahrnehmung."" Eine unterschwellige Grammatik der Technologie be­stimmt die menschliche Kultur.

Schon die Technik der Mechanisierung verdeckt aber die Tatsache, daß sie ei­ne Ausweitung des Menschen ist, die der Mensch nicht mehr als die seine wahr­nimmt. Das ist mit dem oben diskutierten Phänomen der Amputation gemeint. Hierin trifft sich McLuhan mit Heidegger, der es für nötig hält, nicht nach der Technik sondern nach dem Wesen der Technik zu fragen. Die Aufklärung hat aber keine Chance, in nüchterner Betrachtung und mit strikter Argumentation diese Frage zu beantworten. Es ist eine spezifische Macht der Technik, so McLuhan, ih­re eigene Nachfrage zu schaffen: will sie sich als Mittel der Befriedigung mensch­licher Bedürfnisse durchsetzen, wird die Mythologisierung von Technik (das be­deutet auch die Betäubung, der Narziß unterliegt) unvermeidbar.'0 McLuhans Stil macht also durchaus Sinn, obwohl oder gerade weil er dafür bis heute als eher unwissenschaftlich gilt.

Medien täuschen über ihre eigene Medienwirklichkeit, sie machen sie in ih­rer Praxis nicht bewußt. Medien sind, indem sie Informationen speichern und abrufbar machen, Übertragungsagenten oder Übersetzer von Erfahrungen in an­dere Formen." McLuhan identifiziert ihre Grundfunktion darin, immer größere Speicherkapazitäten zur Verfügung zu stellen und dadurch die Kommunikation zu beschleunigen, da der Zugriff auf größere Datenmengen stets optimiert wer­den muß, um noch zu funktionieren. Das bedingt die Begrenztheit von Biblio­theken in ihrer Funktion für die Gegenwartsgesellschaft. .. Wir sind jetzt gezwun­gen, neue Techniken der Wahrnehmung und der Beurteilung zu entwickeln, neue Wege, um die Sprachen unserer Umwelt mit ihrer Vielfalt an Kulturen und Wissenszweigen lesbar zu machen.""

49 McLuhan, Fiore: The Medium is the Massa­

ge, op.cit.. 5 .68 50 Vgl. McLu han: Understanding Media, op.cit.

S.67f - Zur Unvermeidbarkeil der Mytholo­gisierung von Technik vgl. Michael Giesecke: Geschichte. Gegenwart und Zukunft sozialer Informationsverarbeitung, in: Manfred Faßler ( Hg. ) : Alle möglichen Welten, Mün­chen: Fink 1 999, 5. 1 8 5-205, hier 5. 1 87

5 1 .. . . . media, or the extensions o f man, are

,make happen' agents, but not ,make aware' agems." ( . . . ) .. All media a re active meta­phors in their power ro translate experience imo new forms." - Vgl. McLuhan: Under­standing Media, op.cit. 5.48 bzw. 5 .57

52 McLuhan: Kultur ohne Schrift, in: Der McLuhan-Reader, op.cit .. 5 .75

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Aber wie läßt sich dann der Begriffshorizont noch klären, wie die kritische Aufgabe abstecken? McLuhan arbeitete a ls Grenzgänger zwischen der medialen Äußerung und der wissenschaftlichen Argumentation, zwischen mythologi­schen und propositionalen Aussagen, zwischen Literatur und audiovisuellem Diskurs - als nomadisierender Grenzgänger. Die Kunst gilt als ein Leitbild für die­sen Paradigmenwechsel, da sie neue Sprachen und neue Techniken entwickelt, um eine Situation neu zu betrachten und andere, ungewohnte Perspektiven auf­zuzeigen. Die unsichtbare Umwelt, die das Medium erzeugt, sichtbar machen, bedeutet Arbeit an der Grenzlinie. Anscheinend brauchen wir, ganz im klassi­schen Sinn von Kritik, Grenzbestimmungen, um theoretisch produktiv arbeiten zu können. Jede Grenze provoziert aber auch die Grenzgänge.

Und genau hier zeichnet sich ein Wahrheitsmoment der Medien ab. Sie ge­stalten jede Lebensform um, mit der sie in Berührung kommen. Sie tun dies nicht durch Inhalte, sondern allein schon durch ihr Vorhandensein. Ein Medium hat stets nur ein anderes, älteres Medium zum Inhalt, und diese Paarung ist es, die die Wirkungsweise beider verschleiert. Das verfilmte Buch ist weder Film noch Buch, sondern ein Bastard aus beiden. Es gibt keine ,reine' Form, das ist die Illu­sion einer versöhnenden Ästhetik. Die Literatur von Eliot oder Joyce verwendet Formen des Jazz oder des Films, wie Künstler als die wahren Grenzgänger es sind, die die Kraft des einen Mediums im anderen zur Entfaltung bringen. Hier­in liegt Hoffnung, da gerade die Hybridisierung von Medien es ist, die uns aus der narzißtischen Narkose zu reißen vermag: .. The hybrid or the meeting of two me­dia is a moment of truth and revelation from which new form is born. For the parallel between two media holds us on the frontiers between forms that snap us out of the Narcissus-narcosis. The moment of the meeting of media is a moment of freedom and release from the ordinary trance and numbness imposed by them on our senses. ""

Der Moment von Freiheit und Wahrheit zielt auf einen Zustand der durch­technisierten Gesellschaft, die nichtsdestoweniger ihre poetischen Qualitäten hat. Die Wahrnehmung der menschlichen Sinne ist zufällig, selektiv und histo­risch kontingent. Ihre Ergänzung und Ersetzung durch den technischen Apparat ist, ganz ähnlich hatte es auch Benjamin gesehen, eine Erweiterung des mensch­lichen Potentials, und keine Einschränkung. Der technische mediale Apparat nähert sich den kognitiven menschlichen Fähigkeiten an, wodurch die Grenze zwischen Biologie und Technologie zunehmend verwischt wird ." Mit anderen Worten ist die Emanzipation nicht als Loslösung von der Herrschaft der Technik

53 McLuhan: Understanding Media, op.cit. S .55 54 Aktuelle Reflexionen zu diesem Thema vgl.

bei Kevin Kelly: Out of Control. The New

Biology of Machines, Reading, Mass. etc.: Addison-Wesley 1 994

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260 Vom Auge zum Ohr

oder als deren Negation zu sehen, aber auch nicht als eine bedingungslose Hin­gabe. Technik und Gesellschaft werden in einem besonderen Ergänzungsverhält­nis gesehen: ein erweiterter Einsatz von Technik gibt den Menschen ein sinnli­ches Vermögen zurück, das ihr restringierter Einsatz ihnen genommen hat. Ar­thur Kroker nannte diese Haltung treffend einen technologischen Humanismus."

Der Hintergrund dazu ist katholisch, im buchstäblichen wie übertragenen Sinn des Wortes. McLuhan, der als Kritiker der Mechanisierung aufgetreten war, begreift die neuen elektronischen Medien als gegen die Mechanisierung gerich­tete Agenten, welche der Zerstückelung des Gemeinwesens, der Vereinzelung der Menschen durch neue, technisch induzierte Formen der Kollektivität Einhalt gebieten könnten. "In the electric age, we wear all mankind as our skin." '6 McLu­hans Glaube an die katholische Kirche bildet jenes unteilbare Ganze, "das sein Denken und seine Existenz formte und inspirierte."" Es steht zu vermuten, daß er die evolutionistische Spekulation von Teilhard de Chardin gekannt hat. Das Traktat des Jesuiten zur Stellung des Menschen im Kosmos erschien 1 955 , worin die "Planetisation" des Menschen beschrieben wird, als eine Frühform dessen vielleicht, was heute mit weniger spirituellen Konnotationen unter Globalisie­rung rubriziert. Chardin vertritt offensiv eine das Natürliche ablösende Künst­lichkeit, welche die ästhetischen Qualitäten der Raum-Zeit relativiert und schließ­lich einer sogenannten Noosphäre zum Durchbruch verhilft - jener ,universellen Zukünftigkeit', die entgegen den in den fünfziger Jahren populär werdenden Vor­stellungen von der Entropie den Geist als Telos der natürlichen Entwicklung setzt. Chardin präsentiert interessante Gedanken einer neuen, auf Vernetzungsparadig­men beruhenden Kollektivität, als eine Sicht auf weltumspannende Geistigkeit, mit der die Erde durch den Menschen als Projekt "ihre Seele" findet.'" Wichtig an dieser Sicht ist, daß Technik die biologischen Phänomene steigert und nicht ab­schwächt: sie tut dies, indem sie mit der Herrschaft der Mechanisierung bricht.

55 Kroker: Technology and the Canadian Mind, op.cit .. S.54ff - In unnachahmlicher Art und

Weise formulierte McLuhan das, was in den

neunziger Jahren empirisch überprüfbar

wurde, Ende der sechziger Jahre so: .,In ei­ner Art zusammenfassender Beobachtung könnte man sagen, der Computer sei das

LSD der Geschäftswelt, der ihre Einstellung

und ihre Ziele transformiert." Vgl. in: Der McLuhan-Reader. op.cit .. S . J 66

56 McLuhan: Understanding Media, op.cit. S.47

57 Vgl. Kerckhove: Schriftgeburten, op.cit., S. l 05, dazu auch Kroker: Technology and

the Canadian Mind, op.cit .. S.6 I f

58 .Le Phenomene humain", Paris 1 9 5 5

(posthum publiziert); deutsch: Pierre Teil­

hard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, München: Beck 1 994, hier S. 1 84 - Chardins zentrale theologische Metapher von der

Menschwerdung wird bei Vilc:'m Flusser wie­

der aufgegriffen, vgl. ders.: Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung. Schriften

Band 3, Mannheim: Bollmann, bes. S . l 6 1 ff

Page 261: Medienphilosophie Hartmann

12 . 10 D ie Zukunft der Sprache

lnnis, Mcluhan 261

Die neuen Interdependenzen, die McLuhan an den Medien zu entziffern sucht, tragen nicht zufällig eine gegenreformatorische Konnotation. Medien stiften Weltanschauungen, und so ist die Durchsetzung des Buchdrucks eng verbunden mit der Entstehung der evangelischen Kirche, die seit Luther die göttliche Bot­schaft allein durch die Schrift zu verbreiten trachtet. 59 Durch den Protestantismus wird die Bedeutung des Gesprächs für den Glauben zugunsten der Schrift abge­schwächt - die rationale und monomediale Orientierung, die sich über das typo­graphische Medium in der westlichen Welt niederschlägt, bricht sich an der Tak­tilität der neuen Medien. Als bekennender Katholik brachte McLuhan die Dispo­sition mit, in diese Taktilität seine Hoffnungen auf neue Formen der menschli­chen Gemeinschaft zu setzen.'0

Aus dieser Perspektive tritt etwas klarer hervor, wie McLuhan den mit neuen Medien verbundenen grundlegenden Wandel der abendländischen Werte sieht. Gibt es einen guten Grund, diese auf einer bestimmten Kulturtechnik basieren­den Werte zu verabsolutieren?" McLuhan sieht den kommunikativen Gewinn, der in den neuen Medien steckt. Ihre partizipative Qualität zeigt sich an den For­men, die mit den elektrischen Kommunikationsmitteln favorisiert werden - das gesprochene Wort, intuitiv erfaßbare Bilder, irrationale Taktilität. Diese Taktilität der neuen Medien deutet auf ihre unbewußte Wirkungsebene, und der Einsatz des Begriffs zielt in Richtung einer Aufwertung nicht verbaler Formen der Infor­mationsverarbeitung. Das ist der Sinn der Extensions of Man, der Ausweitung der menschlichen Sinne auf Grundlage der kommunikationstechnischen Nutzung der Elektrizität: ,.Electricity points the way to an extension of the process of con­sciousness itself, on a world scale, and without any verbalization whatever. Such a state of awareness may have been the preverbal condition of men.""

59 .. Die lutherische Reformation hat die ratio­nale Informationsverarbeitung und die mo­nomediale interaktionsfreie Kommunikation

seit der frühen Neuzeit legitimiert und un­

terstützt." - Giesecke: Soziale Informations­verarbeitung. l.cit., 5. 1 96

60 .. Insofern als der Glaube, wie McLuhan ihn

beschreibt, eine Angelegenheit des Hörens

ist, war die Vorherrschaft visueller Formen

in der Kommunikation und insbesondere

die umfassende Artikulation der Bedeutung in visualisierten Worten in der gedruckten Sprache eine reale Gefahr für diesen Glau­ben. Denn s ie ermöglichte es, den Text mit-

tels Erläuterungen zu beherrschen, indem

das Hören und die Wahrnehmung des ,Her­zens' konsequent ausgeblendet werden. " ­

Kerckhove: Schriftgeburten, op.cit., S . l l 3 61 .. Es gibt keinen Grund, Werte, die (nur) in

einem Teil Europas in den letzten 500 Jah­ren das Miteinander derjenigen Schichten

regulierten. die durch gedruckte Bücher ge­

bildet wurden, für alle Zeiten zum Gradmes­

ser zu machen." - Giesecke: Soziale Infor­

mationsverarbeitung, l.cit., S . l 88 62 McLuhan: Understanding Media, op.cit. S.80

- Auf Elektrizität gebaut ist auch das neue

Utopia der allumfassenden Megamaschine

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262 Vom Auge zum Ohr

Immer wieder erfolgt der Hinweis, daß in unserer Kultur die Formen der sprachlichen Informationsverarbeitung über typographische Medien an ihre Grenzen stoßen. In Understanding Media heißt es im Kapitel über Fotografie, daß die meisten wissenschaftlichen Disziplinen von Anfang an durch das Fehlen adä­quater nonverbaler Mittel der Informationsübertragung behindert worden sind. Es ist zu bedenken, daß etwa physikalische Disziplinen ohne Fotografie heute undenkbar wären, die Anerkennung des Bildes als wissenschaftliche Quelle aber erst jüngeren Datums ist. Auffallend ist, daß der vermeintliche Fortschritt in manchen Disziplinen ja mit der Entwicklung von Verfahren zusammenfällt, bis­lang ungesehene Dinge sichtbar zu machen.

Die Zukunft der Sprache steht tatsächlich auf dem Spiel - aber die Grenzen meiner Sprache bilden längst nicht mehr die Grenzen meiner Welt. Elektronische Technologien sind auf den verbalen Code nicht mehr angewiesen, ebensowenig wie der digitale Rechner Zahlen braucht. Die taktile Wirkung neuer Medien be­steht in einer gewissen Sprachlosigkeit neuer und anderer Codierungen. Man kann und wird möglicherweise, sagt McLuhan, auf Sprache und das Übersetzen von einem in den anderen Code einmal verzichten. Das wäre nur die logische Konsequenz einer Ko-Evolution von Kultur und Medien, die ihr Ziel eines kos­mischen Bewußtseins über den Weg der technologischen Entwicklung bereits er­kennen läßt. Das Umgehen von Sprache durch Technik als Pfingstwunder (Pen­

tecostal condition of universal understanding and unity) - McLuhans technologisch be­gründete Eschatologie•• sieht einen völlig neuen epistemischen Raum kollektiven Bewußtseins von Lebewesen und Maschinen, wobei die Elektrizität bereits die Richtung vorgab, daß nämlich solches Bewußtsein nicht mit Verbalisierungslei­stungen zu verwechseln sei. McLuhan trifft sich in der Mystik mit Mauthner und auch mit Wittgenstein, und in der nicht-alphabetischen Einstellung mit Heideg­ger und in der Suche nach einem Ausweg zur Nicht-Sprache mit Flusser.

1 2. 1 1 . Am Ende des cartesianischen Projekts

Die elektronisch reorganisierte Gesellschaft "droht" uns mit einer Befreiung in Richtung einer neuen Einbildungskraft, wie es McLuhan am Ende vom Under­

standing Media formuliert.•• Der Mensch, bislang der Bildung und Ausbildung in­nerhalb eines geschlossenen Weltbildes verhaftet, mutiert dabei zum nomadi-

bei Lewis Mumlord: The Myth of the Machi­

ne, 2 Bde .. New York 1 964. 1 970

63 Vgl. dazu Erik Davis: TechGnosis: myth, ma­gic and mysticisrn i n the age of information,

New York: Harmony Books 1 998, bes. S .253lf

64 .. We are suddenly threatened with a Iiberati­on that taxes our inner resources of self-em­ployment and imaginative participation in society. " McLuhan: Understandins Media, op.cit. $ .358

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lnn is, Mcluhan 263

sehen Informationssammler, und seine künftige Aufgabe wird allein im Lernen und Wissen bestehen. Arbeit und Beschäftigung erscheinen dann grundsätzlich transformiert und werden zu einer Form des bezahlten Lernens. Eine neue In­formationsökonomie sorgt dafür, daß Mehrwert nicht mehr durch Arbeit und Güterproduktion, sondern direkt durch die Informationsbewegung erzeugt wird. Die Technik der Elektrizität stellt die bisherige Ordnung der Dinge auf den Kopf - organische Strukturen ersetzen das mechanische Weltbild, bis zu einem Punkt, da innerhalb der Informationssysteme jedes materielle Ding sich verflüssigt, und jederzeit als Ware abgerufen werden kann."

McLuhan war nicht ohne gute Gründe überzeugt davon, daß das logisch-li­neare Weltbild und damit das cartesianische Projekt an sein Ende gelangt sei. Das Maschinendenken wird durch eine neue Organizität abgelöst, die Prozesse der Mechanisierung durch die der Automatisation, Linearität durch kybernetische Schleifen. Mit Albert Einsteins Relativitätstheorie verliert im zwanzigsten Jahr­hundert die bisherige Grundlage einer philosophischen Erkenntnistheorie an Re­levanz. Das Dilemma der Philosophie ist es, daß sie es verabsäumt hat, ihre refle­xiven Mittel zur Bewußtmachung spezifischer Medieneffekte wie der Linearität einzusetzen. Sie unterliegt im Gegenteil selbst diesen Effekten. So tanzte sie das geistige Ballett nach der Choreographie Gutenbergs: ,.Philosophy was as naive as science in its unconscious acceptance of the assumptions or dynamics of typo­graphy. "''

Ausdruck der dominierenden Philosophie der Moderne ist der Cartesianis­mus, mit seinen starren Regeln der Unterscheidung zwischen den res extensa und den res cogitans, zwischen der von mechanischen Gesetzen beherrschten Materie und dem Bewußtsein eines rationalen Geistes. Als eine Geste des Vermeidens von Gefühlen und vom Unbewußten - und damit. wenn man so will, der stän­digen Präsenz des Virtuellen - führt der Cartesianismus zu Schwierigkeiten, wenn es zwischen bewegter Materie und bewußtem Geist um die symbolische Realität einer Medienwirklichkeit geht und damit um Vermittlungsformen, die nicht sou­veräner subjektiver Natur sind. In der Folge ist Philosophie zusehr darin befan­gen, die Rolle des bewußten Subjektes zu bestimmen, als daß sie die Angst er­kennen ließe, die hinter diesen textuellen Konstruktionen von Eindeutigkeit und Kontinuität steckt: die Angst vor der Zufälligkeit und der Komplexität des Rea-

65 Vgl. ebd., 5 .58 - Bis Ende der achtziger Jah­re gab es große Schwierigkeiten, McLuhans Vision zu verstehen, was sich noch in der veralteten deu tschen Übersetzung nieder­schlägt. Das Internet als neues Basismedium und die Informationsgesellschaft als poli­tisch-ökonomisches Projekt haben nicht nur

neue Vora ussetzungen zwn Verständnis vie­ler apokrypher Thesen McLuhans geschaf­fen, sondern lassen seine Vision nachträglich als wahrhafte Prognose erscheinen.

66 Mcluhan: The Gutenberg Galaxy, op.cit.. $.246

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264 Vom Auge zum Ohr

Jen, in der das Subjekt seine anspruchsvolle Stifterfunktion für die Ordnung der Dinge übernehmen soll.•'

Als akademische Disziplin verfährt die Philosophie traditionellerweise so, als gäbe es keine nennenswerte Transformation auf Ebene der Kulturtechnik. Sie widmet sich dem Ausdruck des reinen Geistes, ohne groß nach den technischen Bedingungen seiner Möglichkeit zu fragen. Ihre eigene mediale Bedingtheit re­flektiert sie ebensowenig, wie ihr die Bindung ihres Ausdruckspotentials an die Beschränktheit der Buchkultur bewußt wird. Sie mag zwar Sprache und Schrift thematisieren, tut dies aber so, als wäre die Analyse unbeeinflußt von den Wir­kungen von phonetischem Alphabet, typographischem Druck und elektroni­scher Telekommunikation zu leisten. Diese Vermeidungsstrategie bringt die Phi­losophie im zwanzigsten Jahrhundert in eine Krise.

McLuhan sieht dafür in Heidegger das schlagendste Beispiel. Dieser gebraucht die Sprachtotalität auf eine ähnlich unbewußte Weise, wie das Alphabet und ähnliche kulturtechnische Mittel die unbewußte Quelle früherer philosophischer und religiöser Annahmen gewesen sind . Heideggers Anticartesianismus, seinen Versuch einer Überwindung der abendländischen Metaphysik dechiffriert McLu­han als eine poetische, und das heißt hier: nicht-alphabetische Einstellung zu Sprache und Philosophie, die er auf die den Philosophen bereits umgebende elek­tronische Technologie zurückführt. "Heidegger surf-boards along the electronic wave as triumphantly as Descartes rode on the mechanical wave. "••

Wir begeistern uns für Heideggers sprachphilosophische Erkundungen aus demselben Grund, der auf unsere naive Immersion in den metaphysischen Or­ganizismus unserer elektronischen Umwelt (metaphysical organicism of our eledro­nic milieu) zurückzuführen ist. Wie schon Descartes, so opferte Heidegger, um die spezifische Diskursqualität seines Philosophierens durchhalten zu können, eine bestimmte Dimension der möglichen Einsicht in die unterbewußt wirkenden Be­dingungen der medialen Technologien, die dem abendländischen Rationalismus zunächst klare und eindeutige Vernunfterkenntnis geliefert hatten, um in der Folge Erfahrung in Sprache aufgehen zu lassen. Wahrscheinlich war Heidegger der letzte Philosoph, der eine Sprachtotalität als Grundlage seiner durch etymo­logische Konjekturen mystifizierten Reflexion voraussetzen konnte.

1 2 . 1 2 . Kybernation

Die neuen sinnlichen Interdependenzen der elektronischen Umwelt erzeugen mediale Verhältnisse, die nach anderen reflexiven Mitteln verlangen. Auch wenn

67 Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt: Suhrkamp 1 98 L S.23

68 McLuhan: The Gutenberg Galaxy. op.cit., S.248

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lnnis, Mcluhan 265

die meisten unserer Aussagen noch als Dokumente in die medialen Speicher ein­gehen: Die Zerlegung der Wirklichkeit in die Diskontinuität der typographischen Momente kann auf der kulturellen Ausdrucksebene keine uneingeschränkte Geltung mehr beanspruchen - womit sich auch eine philologische Annäherung an die Bruchstücke der kulturellen Überlieferung relativiert. Mit der äußeren Form der Buchkultur transzendiert die kulturelle Moderne ihre eigene Grundla­ge, indem sie (aus cartesianischer Sicht) zunächst einmal jene Irrationalitäten produziert, die McLuhan als neue Transaktionen zwischen dem Ich und der Welt entziffert hat. Der Medienphilosoph sammelte entscheidende Indizien für die Transformation der kulturellen Sinnesorganisation, die mediale Immersion auch ohne unbedingt physische Integration gestattet. Seit der griechischen Antike, die sich über das phonetische Alphabet in einem fiktiven euklidischen Raum einge­richtet hat, blieb Philosophie kulturtheoretisch unterbestimmt, da die Präferen­zen einer visuellen Kultur sukzessive irrige Vorstellungen eines definitiven Inhalts

hervorgerufen hat.o• Die Auswirkung der schieren Präsenz von Gedrucktem in al­len Lebensbereichen der abendländischen Kultur auf die Sprache, die Erfahrung und das Verhalten der Menschen in ihr ist auf der reflexiven Ebene kaum be­wußt. Der Aufklärung gelang es zwar, ..lichte segmentäre Momente eines carte­sianischen Bewußtseins" ( McLuhan) zu produzieren, sie übersah aber die Zwi­schenwelt der Sinne und des Unbewußten, welche die von der modernen Ratio­nalität vernachlässigten Erfahrungswerte aufgehoben hat. McLuhan hat für eine Medienphilosophie auf Grundlage einer Theorie des Kulturwandels plädiert, die diesen Prozeß in jenem Moment bewußt macht, da sich seine Brüchigkeit nicht mehr länger leugnen läßt.

Auf die Gefahr hin, sein Argument überzustrapazieren, widmen wir uns ab­schließend noch einmal der Form, in der McLuhan es am Ende von Understan­

ding Media resümiert. Er nennt dieses letzte Kapitel schlicht . . Automation" - und skizziert darin die kommende Informationsgesellschaft.70 Der Bruch zwischen In­dustriegesellschaft und Informationsgesellschaft besteht darin, daß erstere dem mechanischen Prinzip folgt, letztere dem kybernetischen. Metaphorisch für er­stere steht die Maschine, für letztere die Automation (automation, cybernation) .

Dabei handelt e s sich bei der Automation nicht u m eine einfache Erweiterung der

69 • We have seen how the alphabet involved

the Greeks in a fictional ,Euclidian Space.'

The effect of the phonetic alphabet in trans­

lating the audile-tactile world into a visual world, was both in physics and in Iiterature to create the fallcy of ,content ' . " - ebd., 5 .252

70 McLuhan: Understanding media, op.cit.,

5.346-359. Alvin Tofflers Buch .The Future Shock", in dem auch von der Informations­

gesellschaft die Rede sein sollte, wurde erst ein Jahr später publiziert ( 1 96 5 )

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266 Vom Auge zum Ohr

mechanischen Prinzipien, sondern sie bedeutet die Eroberung der mechanischen Welt durch den instantanen Charakter der Elektrizität.

Industriegesellschaft Informationsgesellschaft

Charakteristikum Maschine Servomechanismus

Prinzip Mechanik Elektrizität

Symbolfigur Gutenberg Marconi

Leitmedium Buchdruck Fernsehen

Modus Statik. Ruhe Geschwindigkeit

Wenschöpfung Produktion Information

Tätigkeiten arbeiten. produzieren aktivieren, synchronisieren

Rohstoffe Energie, Arbeit Wissen, Lernen

Methode analyt. Differenzierung organische Einheit

Sinnliche Ausrichtung visuell auditiv/taktil

Psychosozialer Effekt differenzierend integrierend

Das kybernetische Prinzip, welches die Informations- oder Wissensgesellschaft bestimmt, verflüssigt alle Werte des mechanistischen Weltbildes im Zentralbegriff der Kommunikation. Sie bedeutete einst Transport und meint jetzt Transforma­tion. In diesem Sinn bezieht sich McLuhan auch auf die Entwicklungsingenieu­re, die mit der Automation zu tun haben und diese zugleich als Denk- und Hand­lungsfarm wahrnehmen. Der grundlegende Unterschied bestehe darin, daß in der Entwicklung einer Maschine in Richtung Automation die Rückkopplung oder die Einführung von Informationsschleifen vorgesehen ist. Das bedeutet ein Ende der Linearität im Sinne einer mechanischen Abfolge oder eines Flusses von A nach B zugunsten eines "Dialogs" - McLuhan verwendet diesen Begriff syno­nym mit Feedback - zwischen dem Mechanismus und seiner Umwelt. Wir spre­chen aber auch vom Ende einer Linearität, welche die westliche Kultur mit dem Alphabet und dem euklidischen Raum bestimmt hat.

Die Handlungsform ist also an Folgewirkungen oder an Effekten orientiert. Das beeinflußt die Denkform insofern, als daß Kausalzusammenhänge und suk­zessive Abfolgen nicht länger das dominierende Erklärungsmuster bilden. Nicht mechanisches Ineinandergreifen, sondern synchronisierende Aktivitäten bestim­men das postmoderne Weltbild, in dem sich auch Arbeit und Wohlstand als Fak­toren nicht der Produktion, sondern der Information herausstellen. Die Elektri­zität bedingt als Basis-Medium des Informationszeitalters eine Gleichzeitigkeit

Page 267: Medienphilosophie Hartmann

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gegenseitiger Abhängigkeiten, die den Wirtschaftsmarkt einerseits, die Gesell­schaftsorganisation andererseits nachhaltig restrukturieren.71

Dies alles spitzt sich auf den Punkt zu, der uns erklärt, warum McLuhan in je­ner kulturapokalyptischen Position, die den heimlichen Ausgangspunkt seiner Theoriebildung bildete, nicht verharren konnte. Unter Bedingungen der Elektri­zität nämlich genügt die mechanische Verrichtung von einzeln fragmentierten Tätigkeiten nicht mehr, verlangt wird eine Vielzahl synchronisierter Handlungen in einer Welt voller Querverbindungen. Das ist die organische Qualität, von der McLuhan im Gegensatz zur mechanischen Aufteilung spricht. .. Automation af­fects not just production, but every phase of consumption and marketing; for the consumer becomes the producer in the automatic circuit, quite as much as the reader of the mosaic telegraph press makes his own news, or just is his own news. ( . . . ) Energy and production now tend to fuse with information and learning. Marketing and consumption tend to become one with learning, enlightenment, and the intake of information. ""

Die Instantaneität des Kommunikationsprozesses führt zu einer neuen an­thropologischen Situation, die zusammen mit einer Erweiterung der beiden me­dialen Grundfunktionen - Speichern von Daten und Beschleunigen von Infor­mation - den postmechanischen Menschen auf neue Art und Weise fordert. Das Zeitalter der Information fordert den gleichzeitigen Einsatz aller Sinne, was größtmögliche Freiheit unter Bedingungen intensivster Teilnahme bedeutet, ganz so, wie es immer schon ein Privileg der Künstler war. Dieses Zusammenzie­hen unserer Existenz im Kybernetischen birgt ein Erkenntnispotential, wie es unter mechanischen Bedingungen im Zeitalter der Aufklärung nicht möglich war. D ie Beschleunigung von Kommunikation - nichts anderes als eine Radika­lisierung ihres eigenen Prinzips, und das heißt eine Verkürzung der Feedback­schleifen - zwingt und zur Echtzeitreflexion, zum Aufbruch in die Nachge­schichte, wie Flusser sagen wird . Früher kam die Reflexion um jene entschei­dende Differenz zu spät. die sich aus dem mechanistisch-linearen Prinzip der Kommunikation ergab. Unter Bedingungen der Instantaneität gilt dies nicht mehr; man darf sich das wie den Zeitraffer in der filmischen Aufzeichnung vor­stellen, der Prozesse sichtbar macht. Und dies versteht McLuhan nun tatsächlich nicht als Chance auf. sondern als eine dem Medienzeitalter inhärente Pflicht zur Er­

kenntnis:

71 Bereits Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wurde mit der durch die transatlantischen

Kabelverlegungen ermöglichte Echtzeitkom­munikation über große Entfernungen solche Instantaneität eingeführt. Zur relativ jungen

Geschichte der Kommunikationsinfrastruk-

tur zwischen Kabel und Satellit vgl. Arthur

C.Ciarke: How the World was One. Beyond the Global Village, London: Gollancz I 992

72 Mcluhan: Understanding media, op.cit., 5. 349!

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268 Vom Auge zum Ohr

"At no period in human culture have men understood the psychic mecha­nisms involved in invention and technology. Today it is the instant speed of elec­tric information that, for the first time, permits easy recognition of the patterns and the formal contours of change and development. The entire world, past and present, now reveals itself to us like a growing plant in an accelerated movie."73

Zusammenfassung Das moderne Subjekt ist wohl in der Lage, sein eigenes

B i ld zu inszenieren, hat dafür aber die Fähigkeit verloren, den Rahmen dieses

B i ldes überhaupt noch wahrzunehmen. Der Zusammenhang zwischen der Kul­

tur und ihren Kommun ikationsmedien erregt zu einem Zeitpunkt die Auf­

merksamkeit der Theoretiker, da diese einerseits die Krise des europäisch auf­

geklärten Humanismus erfahren, u nd andererseits die technische Entwicklung

und der Einsatz von audiovisuellen Medien so weit gediehen sind, daß sie nach

neuen Interpretationsmustern verlangen. Die epistemische Konstel lation von

Sprache, Schrift und Druck wird durch neue Medien wie das Fernsehen relati­

viert. Da stellt sich die Frage, wie Technologien auf Denken und Wahrnehmen

wirken. Marshall Mcluhan ist Kassandra und Visionär dieses Prozesses zu­

g leich.

Ausgehend von Harold l nnis und der vor einem wirtschaftsgeschichtlichen Hin­

tergrund entwickelten tech nischen Medienarchäologie läßt sich nach den Aus­

wirkungen der (Kultur)Technik fragen, die wir nicht bemerken, während wir

sie gesel lschaftl ich anwenden (d .h. ,environmental tech nological conditio­

n i ng'). ln der technolog isch fundierten Kulturgeschichte werden Medien als

materielle Träger der Kommunikation verstanden, welche die soziale Weit

formbildend und verhaltenssteuerend prägen. Medien im weitesten S inn gel­

ten n icht nur als Träger von Inhalten, sondern als Dispositive der gesellschaftli­

chen Kommunikation und der kulturel len Produktion. Dieser Ansatz führt zu

Mcluhans Theorem vom Medium, das als solches schon die Botschaft ist und

nicht nur ein (womögl ich neutraler) Überbringer von Inhalten.

Jeder technischen Innovation l iegen psychische Mechanismen zugrunde, die

von den betroffenen Menschen nicht versta nden werden. Erst die elektrische

Kultur, wie Mcluhan sagt, entwickelt aufgrund ihrer instantanen Art der

Informationsbewegung die Möglichkeit, die Form ei ner mit der technischen

Entwicklung verbundenen kulturellen Innovation zu erkennen und quasi in

Echtzeit zu reflektieren. Das Medienzeitalter ist aufgrund sei ner elektrischen

Organisation, die Querverbindungen oder Vernetzungen erla ubt, eine Augen­

blickswelt geworden, in der die Linearität und die sukzessive Abfolge des me-

73 ebd., 5 .352

Page 269: Medienphilosophie Hartmann

lnnis, Mcluhan 269

chanischen Zeitalter mit seinen Kausalzusammenhängen zum Anachronismus

wird. Das zwa nzigste Jahrhundert bricht mit der Herrschaft der Mechanisie­

rung. Kulturtechniken verändern den Menschen, führen aber auch zur Er­

kenntnis der anthropologischen Situation. E ine Analyse der Medien läßt u ns

begreifen, was eine Kulturtechnik menschheitsgeschichtlich leistet. U nterm

Druck der neuen, taktilen Medien wird die soziale Regu lationsfunktion der

Schrift- und Druckkultur a bgeschwächt, sodaß wir die unbewußte, mechan isti­

sche Struktur der Gutenberg-Galaxis nach ihrem Ende besser erkennen kön­

nen. Wenn wir werden, was wir wahrnehmen, dann wird in der vernetzten

, Kultur ohne Schrift' ein kosmischer Mensch entstehen: unter E insatz a l ler sei­

ner s innl ichen Fähigkeiten unmittelbar und intensiv ins Geschehen involviert ­

ein Privileg, das früher nur Künstlern zukam. Mcluhan, der Apokalypti ker, läßt

sich durchaus a ls Alternative zur apoka lyptischen Kulturkritik lesen, die immer

nur eine Logi k des Zerfal ls gelten läßt.

Page 270: Medienphilosophie Hartmann

Exkurs 3 Herrschaft der Mechanisierung

Eine Geschichte des Transportwesens oder der Güterindustrie, wie Innis als Wirt­schaftshistoriker sie angeht, löst eine bestimmte Betrachtungsperspektive ab oder ergänzt sie zumindest: diejenige nämlich, daß technische Innovationen jeweils auf große Erfinderpersönlichkeiten zurückgehen, oder Politik und Wirtschaft auf ihre subjektiven Macher. Gerade der technische Fortschritt jedoch folgt nicht dem Muster des plötzlichen epistemologischen Bruches, sondern resultiert im Gegenteil aus der alltäglichen Kleinarbeit innerhalb einer Gemeinschaft von Ent­wicklungsingenieuren, wobei der Stand des offiziell anerkannten Wissens oft hinter dem tatsächlich aktiven Wissen zurückbleibt." Die Abhängigkeit von be­stimmten epistemischen Konstellationen und bestimmten materialen Grundla­gen, welche die vielen kleinen Schritte des technischen Erfolges zu teils illu­sionären Konzepten des Fortschritts vereinen, ist zu offensichtlich, a ls daß sich die Vaterfigur des Erfinders bis in alle Ewigkeit feiern ließe.

Sein Pendant hat dieser Perspektivenwechsel zu den Materialitäten im zwan­zigsten Jahrhundert in der Thematisierung des kulturellen Unterbewußten oder jener unterschwelligen Strategien, die das Alltägliche ebenso betreffen wie her­ausragende, innovative Kulturleistungen. Es kommt nicht nur in der Theorie, sondern auch im künstlerischen Ausdruck zu einer bewußten Hervorhebung der Konstruktionsmomente.7' Hier sei auch die Ebene des Kunstgewerblichen ange­sprochen, des Handwerks als Art and Crafts, das mit der Hervorhebung von Schlichtheit und Eleganz aus Funktionalität stilprägend für die Moderne wird. Dem Monumentalen und den Ewigkeilswerten einer überladenen Bürgergesell­schaft wird eine Schlichtheit der Ausführung vor allem dort entgegengestellt, wo Kunst und moderner Produktionsalltag sich berühren, wie in Architektur und Möbelgestaltung oder in der visuellen Kommunikation (die durch Neuerungen wie dem Druckplakat, und natürlich Fotografie und Film einen Aufschwung er­fährt) .

Schablonenhafte Schlichtheit und einfache Konstruktionsprinzipien sind eine Voraussetzung der maschinellen Fertigung. In der Kunst werden durch techni-

74 Vgl. die Kritik an der Übertragung des Kuhn­

schen Ansatzes auf die Technikgeschichte

bei Flichy: Tele. op.cit., S.206f; Vgl. dazu weiters die Konzeption einer transpersona-

len Subjektivität bei Pierre Levy: Die kollek­

tive Intelligenz, Mannheim: Ballmann 1 997 75 Exemplarisch für diese Haltung seien die

Schriften und Werke von Wassily Kandinsky

( 1 866- 1 944) genannt.

Page 271: Medienphilosophie Hartmann

Herrschaft der Mechanisierung 271

sehe Reproduzierbarkeil beeinflußte neue Bewegungsformen, Fragmentierung und Mechanisierung thematisiert (Marcel Duchamp, Ferdinand Leger, Kurt Schwitters, Paul Klee ) . Die Kamera hebt, nach einem Wort Walter Benjamins, das Optisch-Unbewußte auf die Ebene kulturellen Ausdrucks (Eadweard Muy­bridge ) . In der Architektur setzt sich die von Adolf Laos"' geforderte Befreiung vom Ornamentalen durch (Walter Gropius, Le Corbusier) .

"Wir stehen vor einem großen Abfallhaufen von Worten und falsch verwen­deten Symbolen und daneben einem riesigen Speicher voll neuer Entdeckungen, Erfindungen und Möglichkeiten, die alle ein besseres Leben versprechen . "'' Den Phänomenen der technischen Ernüchterung in Kunst und Technik widmet sich die dokumentarische Analyse von Sigfried Giedion, dem Maschinenbauinge­nieur und Architekturtheoretiker, der Modelle, Werksarchive, Kataloge und Werbebroschüren des neunzehnten und zwanzigsten als historische Dokumente behandelt und seine Recherche unter anderem auf die Sammlungen vor allem der amerikanischen Patentämter aufgebaut hat, "um dem Einflu ß der Mechani­sierung auf unsere Lebensform nachzugehen." Ähnlich wie nun die Kunstge­schichtsschreibung beginnt, eine "Kunst ohne Namen" anzuerkennen - eine Kunst jenseits des kreativen Genies -, und wie der frühe McLuhan das Mechani­sche als das Befruchtende einer Ästhetik der Moderne jenseits gestaltender sub­jektiver Akte untersucht hat, treten die anonymen Massenprodukte ins Zentrum des Interesses einer Rekonstruktion der "anonymen Geschichte", die -, wie schon Walter Benjamin es angestrebt hatte - "Fragmente von Dingen des Alltags" zusammensetzen, "um den Gefühlsinhalt einer Epoche mitzuteilen ."'• Ein Histo­riker der anonymen Geschichte erreicht dies dadurch, daß er die Fragmente sei­ner Recherche möglichst simultan präsentiert, um in ihrer spezifischen Konstel­lation neue Erkenntnis aufblitzen zu lassen.

Giedion hatte 1 94 1 ein Werk zur zeitgenössischen Architektur79 publiziert, mit dem er nach seinen eigenen Worten zu zeigen versucht hatte, wie seine Zeit auf dem Gebiet der Architektur zum Bewußtsein ihrer selbst gelangt ist . Der mecha­nisierten Zivilisation droht allerdings die Gefahr, ihr Gedächtnis bezüglich der sie formenden Dinge insgesamt zu verlieren. Eine Rekonstruktion der Moderne ver­langt nach einer Erinnerung an die zentralen Produktionsprinzipien, welche die Gegenwart prägen. Sigfried Giedion hat vorgeschlagen, diese Rekonstruktion un­ter dem Titel einer "Herrschaft der Mechanisierung" vorzunehmen, die 1 948 pu-

76 Adolf Laos: Ornament und Verbrechen, Wien 1 906

77 Sigfried Giedion: Mechanization Takes Com­mand, Oxford Univ. Press 1 948, dt.: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag

zu r anonymen Geschichte, Frankfurt 1 982, S.770

78 ebd., 5. 1 9 79 Sigfried Giedion: Space, Time and Architec­

ture, Cambridge, Mass. 1 94 1

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272 Herrschaft der Mechanisierung

Abbildung 18 Gestaltung des schwarzen Pfeils,

Paul Klee (1925)

bliziert wurde. Als kunsttheoretisch geschulter Architekturtheoretiker - er war Generalsekretär des dem Bauhaus nahe stehenden CIAM ( Kongress für Neues Bauen) - stellte der Autor angesichts der neuen Produktionsrealitäten die Frage danach, wie die menschlichen Bedürfnisse sich gegen den Imperativ der Technik behaupten lassen. Im Alltag wird der Mensch von den technischen Mitteln über­wältigt, die moderne Physik und auch die Kunst weisen aber schon in die Rich­tung der Endes der mechanistischen Auffassung.

Ähnlich wie die Kunstgeschichtsschreibung beginnt, eine "Kunst ohne Na­men" zu beschreiben, wird hier der Prozeß der Mechanisierung als Ästhetik und Ideologie der rationalen Moderne jenseits subjektiver gestaltender Akte unter­sucht. Es gilt, wie Giedion mit Bezug auf seinen Lehrer, den Schweizer Kunsthi­storiker Heinrich Wölfflin formuliert, methodisch "kleine Dinge zu nehmen und sie in große Dimensionen zu übertragen. "80 Die anonyme Massenproduktion schreibt ihre eigene Geschichte, die sich über Fragmente der Alltagskultur (auch aus Arbeitsprozeß und Lebensstil) zusammensetzen läßt.

Giedion ist einer der ersten Kulturhistoriker, der seine theoretische Aufmerk­samkeit auf menschliche Tätigkeiten der Reproduktion bezogen hat. "Es sind äußerlich bescheidene Dinge, um die es hier geht, Dinge, die gewöhnlich nicht ernstgenommen werden, jedenfalls nicht in historischer Beziehung. Aber so we­nig wie in der Malerei kommt es in der Geschichte auf die Größe des Gegenstan­des an. Auch in einem Kaffeelöffel spiegelt sich die Sonne ."8 1 Dies mündet kei­neswegs in einer Verherrlichung des Alltäglichen, sondern einer Darstellung und

80 Giedion: Herrschaft der Mechanisierung, op.cit., 5.783

81 ebd., 5. 1 9

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Herrschaft der Mechanisierung 273

Analyse der Mechanisierung bestimmter Prozesse der gesellschaftlichen Repro­duktion - wobei Alltagstätigkeiten wie Waschen, Kochen, Wohnen mit den da­hinterliegenden Produktionsroutinen der Fabriken der Lebensmittelindustrie, der Möbelfertigung etc. in Bezug zu setzen sind.

Es ist dies eine gänzlich neue Perspektive, die Giedion anband eines Quellen­studiums von Patentschriften und sonstigem Archivmaterial auf die moderne Le­benswelt anlegt, die vom bereits mehrfach thematisierten Aufeinandertreffen von Mensch und Technik geprägt ist. Die Frage, die er stellt, ist nur scheinbar na­iv : "Was geschieht, wenn die Mechanisierung auf eine organische Substanz wie das Brot trifft, das wie das Türschloß oder der Bauer zu den Menschheitssymbo­len gehört? Wie verändert die Mechanisierung die Struktur des Brotes und den Geschmack des Konsumenten? Wann ist diese Mechanisierung eingetreten? Wie hängen Geschmackssinn und Produktion zusammen? Wie weit kann die Mecha­nisierung gehen, wenn sie auf einen so komplizierten Organismus wie das Tier trifft? Und wie vollzieht sich die Eliminierung eines komplizierten Handwerks, wie es das des Metzgers ist?""'

Das industrielle Zeitalter setzt die umfassende Rationalisierung als Mechani­sierung des Organischen durch. Tatsächlich ist die entscheidende Frage die, in­wieweit sich die organische Substanz diesem Prozeß unterordnen läßt. Dieser Gefühlsinhalt der modernen Epoche, das ist die Rationalisierung, die besonders um die Jahrhundertwende alle Bereiche des Lebens zu affizieren beginnt. Giedi­ons Grundthese ist die, daß sich die mechanistische Denkweise in einem unbe­wußten Parallelismus in verschiedenen Bereichen durchsetzt. Was ursprünglich zusammengehört hat, wird im industriellen Produktionsprozeß in möglichst kleinste Einheiten zerlegt, um anschließend wieder zusammengesetzt zu wer­den. Die Kunst reagiert darauf mit Ironie und Verfremdung (man denke an Max Ernsts Collagen oder an die biomechanischen Portraits von Francis Picabia ) , aus der Surrea lismus und Dadaismus entstanden sind.

Bei der Spurensicherung in der Frage nach den Quellen der Mechanisierung nimmt Giedion seinen Ausgangspunkt im Grenzbereich von Wissenschaft und Kunst, wo es darum geht, organische Bewegung in graphischer Form sichtbar zu machen. Der französische Physiologe Etienne Marey hatte in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts erfolgreich Experimente durchgeführt, die Reak­tionen eines Froschbeins aufzuzeichnen, das wiederholten elektrischen Reizen ausgesetzt war. Mit dem dazu entwickelten Aufzeichnungsapparat - dem Spyg­mographen - war es ihm auch gelungen, den menschlichen Pulsschlag in Form und Frequenz auf einem rauchgeschwärzten Zylindern aufzuzeichnen, später be-

82 ebd., S . 2 3 f

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274 Herrschaft der Mechanisierung

Abbildung 19 Etienne J. Marey, Aufzeichnung von Muskelbewegung (Rekationen eines

Forschbeins, ca. 1868)

diente er sich der Fotografie. Marey hat sich in seiner Darstellung organischer Be­wegung in graphischer Form explizit auf Descartes berufen. Zu seinem Konzept gehört, daß die organische Bewegung von ihrem Subjekt abgelöst und als selb­ständige in Raum und Zeit präzise sichtbar gemacht wird. Die den Forscher faszi­nierende Form der Aufzeichnung einer Muskelbewegung nach Reizungen durch elektrischen Strom bezeichnete dieser als .,Sprache der Phänomene selbst"." Ma­rey entwickelte in der Folge ein fotografisches Gewehr, das durch Betätigung des Abzugs die auf dem Zylinder montierten Fotoplatten bewegte und so die Phasen eines Vogelflugs festhalten konnte. Schließlich kam es durch eine ausgeklügelte experimentelle Anordnung zu einer dreidimensionalen Bewegungsaufzeich­nung, die Eadweard Muybridges zur selben Zeit entstandene sequentielle Bewe­gungsaufzeichnungen um den physiologischen Moment schlagen sollten, die wir heute reale Virtualitäten nennen: nicht allein die Sichtbarmachung dessen, was der Wahrnehmung des menschlichen Auges normalerweise entgeht. sondern von Realitäten, deren Wirklichkeit mit einer spezifischen Kontextualisierung zu­sammenhängt.

Das chronofotografische Verfahren von Marey. die zeitsensitive Fotografie, macht durch die Kamera Bewegungen sichtbar, die dem menschlichen Auge ver­borgen bleiben. D ie Agenten der Industrialisierung machten sich solche Techni­ken zunutze, indem sie Bewegungsvorgänge innerhalb des Produktionsprozesses durch diese Aufzeichnungsmethoden analysierten. Dies diente den Zwecken der wissenschaftlichen Betriebsführung, wie sie der amerikanische Betriebsingenieur

83 ttienne J. Marey: La Methode graphique dans le sciences experimentales, Paris 1 885;

zit nach Giedion: Herrschaft der Mechanisie· rung, op.cit., 5.40

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Herrschaft der Mechanisierung 275

Abbildung 20

Etienne J. Marey, Le vol des oiseaux (ca . /890)

Frederick W Taylor (und später Frank B. Gilbreth) propagiert hatte, und zu de­nen die visuelle Darstellung von mechanisch verrichteten Arbeitsvorgängen ge­hört. Durch präzise Beobachtung werden überflüssige Bewegungen im Prozeß der Arbeitsverrichtung rationalisiert. Bei diesen von der Stoppuhr begleiteten Be­wegungsstudien kommt es zu den erschreckenden Abstraktionen, die zu den be­sten industriellen Arbeitsmethoden durch Steigerung der mechanischen Lei­stungsfähigkeit führen sollten. Die wissenschaftliche Betriebsführung oder der Taylorismus - gleichbedeutend mit der totalen Mechanisierung des menschlichen Körpers, der Angleichung an die Maschine - wurde zur zentralen Metapher der industriellen Gesellschaft. 84 Sie geht zusammen mit der Einführung der Assembly line, die auf die Mechanisierung der Metzgerei in den Schlachthäusern Chicagos zurückgeht, und Henry Fords Fließbandproduktion von Autos. Alles folgt diesem Muster des Zerlegens des Produktionsprozesses in disponible Teile und neue Zu­sammensetzung.

Angelpunkt der Mechanisierung ist der maschinelle Produktionsvorgang selbst und die tendenzielle Ersetzung der menschlichen Hand durch die Maschi­ne. Der Rationalisierungsprozeß versucht, den menschlichen Eingriff in Arbeits­raurinen zu standardisieren und in der Assembly line letztlich als verlangsamen­den Störfaktor ganz auszuschalten: mit dem Ziel der vollautomatischen Produk­tion oder Line production, "Menschlich und technisch ist das Problem des Fließ-

84 Frederick W. Taylor: Shop Management, 1 903, und Principle of Scientific Manage­ment, 1 9 1 I . Henry Ford: My Life and Work,

New York 1 9 1 2 - zit. nach Giedion: Herr­schaft der Mechanisierung, op.cit.

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276 Herrschaft der Mechanisierung

bandes gelöst, wenn der Arbeiter keine Bewegung der Maschine mehr zu erset­zen hat und nur als Beobachter und Prüfer die Produktion beaufsichtigt . ""' Der Mensch dient nurmehr zu Bewegungsabläufen, die von der Maschine noch nicht bewältigt werden können - Taylorisrnus und Pardismus sind die beiden Zentralbe­griffe der entfalteten Industriegesellschaft, Resultate eines längeren Prozesses mit dem Ziel, automatisierte Produktionseinheiten zu schaffen, in denen der Mensch nur die Rolle eines Beobachters spielt.

Giedion verfolgt die Reflexion dieses Prozesses in der modernen Kunst, in der die zergliederte Darstellung von Bewegung eine wichtige Rolle spielt, beispiels­weise in Marcel Duchamps berühmten Akt, die Treppe herabsteigend ( 1 9 1 2 ) . Aber er fragt wie gesagt nach dem Widerstandspotential des Organischen in diesem Prozeß, und trägt viele Indizien zusammen, die auf ein Ende mechanistischer Entwicklungen schließen lassen. So läßt sich beispielsweise die Brotproduktion nicht im erwünschten Ausmaß mechanisieren; Mehl in der Massenproduktion und automatisierte Backöfen ändern schließlich das, was man bisher unter Brot verstanden hat. "Die Vollmechanisierung mit ihrer komplizierten Apparatur hat seine Struktur verändert und aus ihm ein Gebilde gemacht, das weder Brot noch Kuchen zu nennen ist."•• Giedion stellt fest, daß es der Mechanisierung zwar nicht gelungen ist, sich ein organisches Produkt wie das Brot zu unterwerfen, wohl aber, daß sie ein neues Produkt hergestellt und über eine Veränderung des Publikumsgeschmacks eine künstliche Akzeptanz für dieses erzeugt hat.

Get Sliced Wonder Bread Abbildung 21

-Doublv Fresh Today! Amerikanisches Wonderbread, Werbung ( 1944)

85 Giedion: Herrschaft der Mechanisierung, op.cit., S. l O l

86 ebd., 5.229

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Herrschaft der Mechanisierung 277

Dagegen setzt Giedion auf den Widerstand gegen die Künstlichkeit, den er in Ländern mit hohem Lebensstandard am Werk sieht; gegen die Diktatur der Pro­duktion hat eine Besinnung auf das Natürliche und organisch Gewachsene ein­gesetzt. Er sieht den Höhepunkt der reinen Mechanisierung überschritten und endet seine Dokumentation zur anonymen Geschichte der Mechanisierung mit einer manifestartigen Aufforderung zur Versöhnung mit dem Organischen. Sein Bilderbuch reflektiert die Magie der industriellen Gebrauchsgegenstände, des da­mit verbundenen Designs und Lebensstils, thematisiert aber gerade den ästheti­schen Bruch mit dieser Epoche, die aus diesem Blick wie eine gespenstische Welt irregeleiteter Instinkte erscheint.

Page 278: Medienphilosophie Hartmann

m pr'e . so wie da r; ZNS si e proze ssi e r t ha t , und diE ·o t;rammiert . Er i s t de� s ; s t em in unser�r gene tis� > e n . Di e 1'/el t hat fuer uns j ene :F' ormen , d i e i n

sei t Beginn 'd e s Lebens auf Er.den angele gt · sind.

'uer , da ss wi r ' &� ·ltl elt· ni cht a l.le

' �le l t riimm·t nur j ene For�J� n , , di e unse r em Lebens!

\vi r ha ben be gonnen di e s em Lebensprogramm

te. ganze S eri e v o n S chnippchen zu schia ge n .

l A ppara t e erfund en , di e a ehnl i ches l e i s t e n w i e .

�l i r koennen d i e von uebera ll a nkommenden Re i ze (E komputi eren. W i r koennen a ndere , al terna ti ve i'/ah .. J·.i tensche und G e d a nken erzeugen. �!ir koennen , a usse

1 W e l t , a uc h in a nderen W e l t en leben. Wir koennen 'f '1 ' · da kann mehre re B edeutungen haben. Da s eben ges

ja mons tro e s , aber es gi bt dafuer b e s chwi chti ge

. r tu e ller Raum s i nd solche B e s c hoeni gungen . 1Jnd 9.

Ma n nehm e eine F'orm , i rgende i ne , und zw;�r

kuli erbi'\ren Algori thmus . M a n fuettere d i e s e l!"orm

. e n Plotter . Di e derart ers i ch tli ch gewordene For

·e gli ch m i t Pa r t i keln. Und si ehe da , es e n t s tehen

n i st ebenso w i rkli ch wi e die des ZNS ( a l s o di e

l i n g t , die F ormen ebenso di c h,t zu fuellen \�i e di'

Da s i s t e i ne schoene Hexenkue che� : Wi r l<O

m e n und tun d i e s m i ndes t e ns e b endo gut wi e es d e

beruehmten s e chs •:ea ge g e ta n ha t . vli r si nd d i e He

da s er·1aubt uns , da wi r nun ei nma l Go tt uebertr

rkli chkei t ueber alle 'l.'i s c hk<H lten und I rnmanuelka

, 11a s a nsta endi g , tue c hti g , gewi ssenha f t i n F'orm·

d um·T�rkl i c h i s t , (zum Bei spi e l , tra eum e r :i. s c h ,·

i l

Abbildung 22 Viiern Flusser: Vom Stand der Dinge (Typoskriptseite)

Page 279: Medienphilosophie Hartmann

1 3. Kapitel - Pendel n von Punkt zu Punkt.

Flussers diskursive Epistemologie

13 . 1 . Ende der Geschichte

" Die menschliche Kommunikation ist ein Kunstgriff

dessen Absicht es ist, uns die brutale Sinnlosigkeit eines

zum Tode verurteilten Lebens vergessen zu lassen. "

Viiern Flusser

Freiheit. Unsere Kultur hat kein Bild von der Wirklichkeit mehr, sondern schafft sich, als Produkt einer lange dauernden wissenschaftlich-technischen Revoluti­on, ihr eigenes Imaginäres. Ihre Bilder sind nicht mehr dazu da, Wirkliches ab­zubilden. Damit vollendet sie eine epochale kulturgeschichtliche Bewegung der Abstraktion, die das Potential hat, den Menschen von seinem Subjektstatus zu befreien. Und sie betreibt damit. wie Viiern Flusser sagt. eine post-historische Magie

- den Eintritt in die "Nachgeschichte" . Das, was dem Menschen diese Freiheit gibt, ist der mediale Apparat. der keine Vermittlung mehr versucht und keine Abbilder des Wirklichen mehr erzeugt. Unser theoretischer Begriff vom Medium ist ein von der Technik geprägter, und diese Dominanz der Technologie läßt uns die Herausforderung nicht begreifen, die in diesem Bruch und in der gleichzeitigen Neubegründung liegen. Flusser macht sich daher an das Projekt einer Kommuni­

kologie, um zu ergründen, was es mit dieser Kultur auf sich hat. deren technische Disposition zur Sprachlosigkeit strebt; die Diagnose lautet. "daß ein Aufgeben des Sprechens und alphabetischen Schreibens im Bereich des Denkbaren liegt" '

An der Schwelle zwischen alter und neuer Kultur, zwischen dem prozessua­len Denken und einem solchen, das in Richtung einer Transzendierung der ästhetischen Kategorien von Raum und Zeit weist, ergibt sich eine theoretische

Viiern Flusser: Alphanumerische Gesell­schaft. Die Zukunft des Buchstabenlesens, in: Die Revolution der Bilder. Der Flusser-

Reader zu Kommunikation, Medien und Design, Mannheim: Ballmann 1 995, 5 .52

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280 Diskursive Epistemologie

Herausforderung. Ähnlich wie bereits McLuhans retrospektiver Blick auf die Gut­enberg-Galaxis im Übergang zum Global Village, soll in der Kommunikologie die menschheitsgeschichtliche Entwicklung unter Aspekten der Rolle des jeweils do­minierenden kulturellen Codes rekonstruiert werden. Flusser verabschiedet sich jedoch von allen Anlehnungen an eine Prothesentheorie der Medien, welche die technische Simulation von Muskeln und Nerven analysiert. Ähnlich wie schon bei Günther Anders wird bei Flusser der Prozeß der industriellen Revolution in­sofern differenziert, als die Auswirkungen von telematischen Medien wie Foto­grafie und Telegraph sich in der Lebenswelt erst jetzt nachhaltig bemerkbar ma­chen. In einer ersten Phase hat die industrielle Revolution die Arbeit oder das tra­ditionelle Verhältnis zwischen Menschen und Dingen verwandelt, und in einer zweiten Phase die intersubjektiven Verhältnisse oder die Kommunikation . Unter postmodernen Gegebenheiten ist die kommunikative Existenz keine dialogische mehr. Die zweite Revolution bedeutet einen "Umsturz der Codes", oder eine Re­volution der Kommunikationsverhältnisse: "Da das lineare Alphabet und der Dialog die Strukturen sind, in welchen die historische Existenz sich ereignet, be­deutet die Kommunikationsrevolution das Ende der ,Geschichte' im exakten Sinn des Wortes. "' Code bedeutet hier schlicht ein Ordnungsprinzip für Symbole in der Kommunikation. Kultur ist ein Gewebe aus Codes, nichts anderes als eine historisch veränderliche Art und Weise, Symbole zu manipulieren.

Wird diese Entwicklung nun begrüßt oder verdammt? Da mehrere Möglich­keiten offenstehen, und da Flusser auch vor der Option eines aufkommenden postindustriellen Faschismus warnt - einer Passivierung statt einer Aktivierung der Menschen in Fortsetzung der massenkulturellen Entwicklung -, da also die Situation eine offene ist, wird die kommunikationstheoretische Reflexion ( unbe­einflußt vom Establishment der professionellen Kommunikatoren wohlgemerkt) zur wichtigsten Herausforderung einer Gegenwart, in der die Welt neue B edeu­tungen generiert und das menschliche Dasein in ihr andere Formen annimmt. "Darum bildet die Theorie der Kommunikation eine Art Brennpunkt der theore­tischen Überlegungen hinsichtlich unserer kulturellen Lage. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß ihr jene Rolle zukommt, die früher die Philosophie spielte."'

Die dramatische Vision einer Nachgeschichte, die apokalyptischen Untertöne vom Ende der westlichen Tradition, die wuchtige Rhetorik von Umsturz und Re­volution, die Radikalität der Verabschiedung vom etablierten kulturwissen­schaftlichen Diskurs - all diese Indizien weisen eher auf eine rhetorische Taktik

Viiern Flusser: Vorlesungen zur Kommuni­kologie. in ders.: Kommunikologie. Schrif­ten Band 4, 5.236

ebd . . 5.242

Page 281: Medienphilosophie Hartmann

Flusser 281

a ls auf eine ernstzunehmende Analyse und rufen Mißtrauen bis Ablehnung her­vor. Worauf will Flusser hinaus? Ist er ein Theoretiker oder bloß Provokateur? Soll seine Diagnose vom Ende der Textwelt, wie behauptet wurde•, eine Me­dientheologie vorbereiten?

1 3.2. Telematische Gesellschaft

Wenn wir Flusser verorten wollen, dann ist zum einen zu bemerken, daß er zu einem Zeitpunkt geschrieben hat, da viele der gegenwärtigen Selbstverständlich­keiten im medialen Bereich sich erst als vage Möglichkeiten abgezeichnet haben. Unter Bedingungen von Mainframe-Computern mit Zeileneditoren, während da und dort ein Wordprocessor aufgetaucht sein mag, war sehr viel mehr an Phan­tasie nötig, um den Technologiesprung zu erkennen, der sich hier abzeichnete. Noch war das Internet einer kleinen akademischen Elite vorbehalten. Aber trotz dem, daß die Schwelle zur Computervernetzung noch nicht wirklich überschrit­ten war. hat Flusser das Prinzip des Paradigmenwechsels von alphabetisierten zum komputierenden Denken erfaßt.

Wir wollen dies an einem Beispiel illustrieren. Wie erinnerlich, nannten die Autoren der Dialektik der Aufklärung das Telefon als Beispiel für den letzten Ap­parat. der den Menschen noch die Subjektrolle zugestanden hatte (s.o. Kap.9.9.).

Flusser geht es keineswegs um die Rettung dieser Subjektrolle, aber auch er betont in seiner Kleinen Philosophie der Telefonie den .. paläotechnischen", weil dia­logischen Charakter dieses Apparats, der das ganze zwanzigste Jahrhundert be­gleitet hat. ohne sich prinzipiell zu verändern - die einzige Modifikation seiner Funktion war die Automatisierung.' Flusser betrachtet die Technik phänomeno­logisch, wir kommen auf seine Methode gleich noch zurück, und für die Phäno­menologie ist jeder Gegenstand im Verhältnis zu einer Intentionalität gegeben (d.h. Bewußtsein ist nicht an sich gegeben, sondern immer nur Bewußtsein von

etwas) . Demnach ist das Telefon eine Verbindung zwischen Personen und je nach Verwendungsabsicht ein passives oder ein aktives Werkzeug.

Aber es geht nicht darum, dieses ,Werkzeug' allein vom Standpunkt des An­rufers oder des Angerufenen zu betrachten. Flusser macht deutlich, welche an­dere Ebene es noch gibt: .,Die materiellen oder immateriellen Drähte hinter dem

4 Elisabeth Neswald: Medien-Theologie. Das Werk Viiern Flussers. Wien: Böhlau 1 998 -

Angesichts der spärlichen Sekundärliteratur zu Flusser ist diese Darstellung zwar bemer· kenswen, beschränkt sich aber im wesentli· chen darauf, Flusser einen performativen

Selbstwiderspruch nachzuweisen und sich

über seine .Medienvisionen" und die .diffu·

se Religiosität" zu mokieren. Vgl. dazu Flichy: Tele, op.cit.. bes. S . l 97ff: Der mühsame Weg zur Automatisierung

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282 Diskursive Epistemologie

Telefon eröffnen einen Parameter der Wahl."• Damit die Verbindung zwischen wählenden und angewählten Personen funktioniert, das ist soweit banal. braucht es eine Infrastruktur und einen Modus, wie diese zu nutzen ist. Dieser Modus wird möglich, und das ist jetzt weit weniger banal. durch die Telefon­nummer und das heißt mittels eines Codes, der keinerlei Redundanzen aufweist.

Damit kündigt das Telefonsystem den nach-alphabetischen Zustand bereits an. Der alphabetische Code wird hier als mit der auf eindeutige Rechenoperationen basierenden Automatisierung eliminiert.' Weiter: die vollends kybernetische Ge­sellschaft wäre nur mittels solcher Eindeutigkeit strukturiert. "Der Telefoncode ist einer der wenigen nichtredundanten linearen Codes, über die wir verfügen. Ein anderer ist der Code der Bankschecks. Eine der Tendenzen der kommunikalogi­schen Revolution geht auf die Eliminierung jeder Redundanz aus, also auf die to­tale Information.''• Da menschliche Kommunikation grundsätzlich durch eine hohe Redundanz ausgezeichnet ist, gilt dies als ein unheilvolles Vorzeichen jenes postindustriellen Faschismus, den Flusser durchaus als eine Möglichkeit sieht. Zumindest eine restriktive kybernetische Gesellschaft, in der ausstrahlende und zentral geschaltete Medien dominieren, ist vorstellbar. Demgegenüber steht die Kraft der dialogischen Nutzung, als Versprechen des Apparats hinsichtlich der Befriedigung eines existenziellen Wunsches nach Kommunikation.

Medienphilosophie ist die theoretische Analyse dieser Differenz. Flusser bean­sprucht, von einer beschreibenden Reflexion der Medien ausgehend die Bedin­gungen der Möglichkeit von künftigen dialogischen Medien auszuloten. Dieser Begriff des Dialogischen ist sehr stark mit einer Utopie des politischen Lebens un­ter Bedingungen einer uneingeschränkten Publizität verbunden. Unter dialogi­schen Medien werden nicht solche verstanden, die das Zwiegespräch fördern, sondern damit ist gemeint, daß sie alle Elemente des zirkulären Dialogs zulassen, wie Veröffentlichung, Austausch, Informationssuche.

Nun bemerkt Flusser bereits beim Telefon, trotz dessen archaischen Charak­ters, Parameter für "Dialoge eines nicht-traditionellen Typs ( . . . ). Wir erlernen am Telefon, Telepräsenz anstelle von Face-ta-face zu erleben. Das Telefon als Lehr-

6 Viiern Flusser: Kleine Philosophie der Telefo­

nie, in: Der Flusser-Reader, op.cit., S.67 7 Diese vielfach feststellbare Tendenz ist übri­

gens die wirkliche Ursache für die verbreite­te, die Folgen der technischen Innovationen

banalisiernde These vom ,Sprachverlust'. Weder haben die Menschen nach Ein­führung der Schrift oder des Drucks aufge­

hört zu sprechen, noch werden sie in der te­

lematischen Gesellschaft ohne die Sprache auskommen. Daß sie aber sicherlich anders 8

sprechen werden, liegt ganz in der Natur der Sache. Die Gefahr. daß jeder Notationstyp

verschwindet, der nicht einer ,berechenba­

ren' Eindeutigkeit entspricht, kann auch mit

dem Hinweis relativiert werden, daß fast alle Rechenleistung dahin geht, eben solche un­eindeutige Notationen auf der Benutzer­

oberfläche zu simulieren. In der Welt des Di­gitalen gibt es keine Eigentlichkeil mehr, auch nicht auf der Ebene der Maschinencodes. Der Flusser-Reader. op.cit., S.68

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Fl usser 283

mittel fü r Tele-präsenz und die Vorsilbe ,tele-' beim Telefon haben pädagogische Bedeutung. ''• Im Vorfeld der telemarisehen Gesellschaft lernen wir in diesem Sinn, mit einer anderen Wirklichkeit zu leben. Hierin steckt nun eine gewisse Dialektik, wie Flusser bemerkt, da ein Medium diejenigen, die durch es kommu­nizieren, gleichzeitig verbindet und trennt. An einer weiteren Reflexion des Prä­fix ,tele-' ist dies zu verdeutlichen. Wie beim Teleskop oder bei Television handelt es sich darum, Entferntes uns näher zu bringen. Mit dem Fernsehen wird uns, nach einem Wort von Günther Anders, die Welt ins Haus geliefert. Dieser Näher­bringen des Fernen hat freilich seine Tücken, da es uns isoliert, nicht nur von der Wirklichkeit, sondern auch von den Mitmenschen. Wir sind von den anderen ab­geschirmt, während wir nur aufdringliche Schatten aus der Ferne konsumieren, deren Wirklichkeitsstatus, wie ebenfalls Anders detailliert dargelegt hat, im on­tologischen Sinn unklar bleibt. Flusser bezeichnet deshalb das Fernsehen als Ent­täuschung. Das Telemarisehe (Fernsehen, Fernhören, Fernspüren) bedeutet eine neue anthropologische Zivilisation, die nicht mit dem Maßstab der unmittelba­ren Kommunikation zu messen ist - laut Flusser ohnehin eine Illusion, daß es so etwas wie Unmittelbarkeit in der Kommunikation (vgl. oben zur Sprache der Engel, Kap.3.2.) geben könnte. Man kann sagen, daß wir den Sinn für die Wirklichkeit verlieren, aber auch, daß wir mit einer anderen Wirklichkeit zu leben beginnen. '0

Das Fernsehen als Programme ausstrahlendes Medium ist, wie wir wissen, uni-direktional geschaltet, wobei die Geräte keine Kommunikationsinstrumente sind, sondern bloße Empfänger für Endpunkte eines Strahls . .. Wäre das Fernse­hen ein Netz - wie es das Telefon ist -, dann könnten wir darin fernstehende Leu­te als unsere Nächsten erkennen und anerkennen: mit ihnen reden. " Wie schon Bertolt Brecht bezüglich des Radios, bemerkt Flusser am Fernsehen politische und ökonomische Motive dieser restriktiven Schaltung . .. Das Zeug kann umge­schaltet werden! " Die .. Umschaltung vom Bündel zu Netz, von verantwortungs­losen Terminal zum verantwortungsvollen Knoten, und das Umbauen aller Kanäle von eindeutigen zu reversiblen" ist die politische Voraussetzung zur Er­richtung einer telemarisehen Gesellschaft." Ihre Grundstruktur, wie schon am Telefonnetz erkennbar, wäre das rhizomarische Modell sich immer weiter ver­zweigender Netze.

ebd .. 5 .73 . Schriften Band I , Mannheim: BoBmann IO Vgl. .. Vom Fernsehen und der Vorsilbe ,tele'". 1 993, 5 .2 1 4-22 1 , hier 5.2 1 6

in: Vilem Flusser: Lob der Oberflächlichkeit. 1 1 ebd., S.2 1 9f Für eine Phänomenologie der Medien,

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284 Diskursive Epistemologie

1 3.3. Sprachphänomenologische Provokation

Mit dieser einleitenden Darstellung ist auch schon Flussers Methode skizziert, mit der er Medien analysiert. Er kontextualisiert seine Thesen kaum, d.h. sie werden nicht in Beziehung zu bereits bestehenden Theorien aus dem akademischen Kontext gesetzt. Parallelen, in Bezug auf das Fernsehen etwa zu Günther Anders oder McLuhan, lassen sich unschwer erkennen, sie zu rekonstruieren wäre je­doch fruchtlos. Dies deshalb, weil Flusser zum einen unter Bedingungen einer verschärften .,Kulturrevolution" der technoimaginären Codes schreibt, vor der die meisten klassischen philosophischen Fragen verblassen." Zum anderen, weil er seinen Text nicht in Verbindung mit anderen Texten treten lassen will, sondern eine genuine Phänomenologie der Medien anstrebt: .. Husserl angewandt an Telema­tik. ""

Mit seinen sprachphänomenologischen Auffächerungen bewegt sich Flusser damit - man kann fast sagen: zwischen Heideggers etymologischen Konjekturen und Anders methodischen Übertreibungen - im Reich der provokanten Meta­phern, ohne aber metaphorische Texte schreiben zu wollen. Dies rührt daher, daß er beansprucht, die Phänomene beim Wort zu nehmen, sie aber eben nur beim Wort nehmen zu können (was Mauthner begeistert hätte) . Über die Expli­kation der Begrifflichkeit zur Menschwerdung, seinem zentralen, unvollendeten Essay, sagt er, daß diese nicht metaphorisch zu verstehen wäre, sondern der Text versuche zu zeigen, .,daß man die Phänomene ernst nehmen, sie sozusagen beim Wort nehmen soll (zudem man sie kommen läßt) und daß sich dann das meiste elegante Gerede als eine Metapher herausstellt. " 14 Die meisten Begriffe sind dann (noch) von einer Konnotation der menschlichen biologischen Bedingtheit getra­gen, was nicht verwunderlich ist. da der Mensch der telematischen Gesellschaft sich daran macht, sich genau davon abzulösen. Während Flusser davon spricht, thematisiert er immer wieder den Kampf des In-Worte-Fassens. Einmal fällt die aufschlußreiche Wendung: .,Was dabei zu Worte kam (und leider eben nicht zu Bild) . . . " 15 Flusser philosophiert aus der Perspektive eines nicht metaphorischen, sondern bildliehen Philosophierens, unter Bedingungen, da sich die Konstellati­on von Text, Schrift und Bild grundsätzlich in Veränderung befindet. Das Philo­sophieren jenseits seiner Unterwerfung durch eine akademische Disziplin ist ihm ein wortloses: .,Man philosophiert wortlos, um hinter diese Worte zu kommen, um sozusagen die Worte beim Wort zu nehmen. " 16 Die Konnotation des mysti­schen Sehens ist wohl nicht unbeabsichtigt.

12 Flusser: Kommunikologie, op.cit., S.242 13 Viiern Flusser: Vom Subjekt zum Projekt.

Menschwerdung, Schriften Band 3, Düssel­dorf: Bellmann 1 994, S.279

14 ebd., S. l 86f 1 5 ebd., S . 1 1 7 1 6 ebd., 5 . 1 89

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Flusser 285

Die klassische Fragestellung der Philosophie hat Flusser dennoch beibehalten: Wie nehmen wir unter Bedingungen "digitalen Scheins" die erkenntnistheoreti­sche Frage wieder auf, welche die Philosophie stets intensiv beschäftigt hat - ob es denn Gewißheit geben kann, oder etwas, das nicht trügt? Die Philosophie ope­riert wesentlich unter Bedingungen des B ilderverbots (s.o. Exkurs 2). Bilder sind die traditionelle Metapher für den trügerischen Schein, sie verstellen uns den B lick auf das wirkliche Sein. Der philosophische Diskurs der abendländischen n-adition ist linear gebaut, "aus Buchstaben auf Zeilen. " " Auch Flusser weiß, daß B ildern die Tendenz eigen ist, "den Weg zu dem durch sie Vermittelten zu ver­sperren. " 18 Aber es geht nicht länger nur um einfache B ilder - darum dreht sich ja der ganze Ansatz -, denn mit dem Einzug der Kamera in unsere Kultur hat sich ihre Stellung grundlegend geändert. Wir werden darauf gleich noch zurückkom­men. Vorerst nur soviel: erlaubte schon die Fotokamera ein körniges, also punkt­förmiges Zusammensetzen von Welt, so ist das errechnete Bild des Computers de­finitiv ein Ausdruck des nicht mehr linearen Denkens. Beim Anblick solcher B il ­der, sagt Flusser, müßte ein philosophisch geübter Betrachter geradezu explodieren und dazu übergehen, statt wie früher in Texten zu philosophieren, es nun mit B ildern zu versuchen. Wir erinnern uns an Leibniz' Aufforderung: Rechnen wirf

"Als dann numerisierte Bilder auf Computerschirmen erschienen, ( . . . ) waren auf Algorithmen beruhende Bilder im Nichts (im elektromagnetischen Feld) zu sehen, also exakt das, was man eine ,Idee' nennt. Alle Vorwürfe, die seit Platon und den Propheten gegen das Bildermachen erhoben wurden, zerschellen ange­sichts der synthetischen Bilder. Numerische Bilder projizieren ist genau das, was mit Philosophieren gemeint ist. Man kann und soll nicht weiter in Worten philo­sophieren, wenn es jetzt einen Code gibt, der bildlich darstellt, wofür die Worte nicht mehr kompetent sind. Worüber man nicht sprechen kann, darüber muß man nicht mehr schweigen, sondern davon kann man nunmehr synthetische B ilder machen. " "

Flusser reagiert mit dieser ,Einsicht' auf eine Entwicklung, d i e mit Vannevar Bushs Versuch begonnen hatte, eine umfassende "logische Maschine" als Intelli·

gence Amplification zu etablieren.'0 Diese Maschine sollte symbolverarbeitend sein

17 ebd.; dieses Beharren auf der Materialität des Diskurses praktiziert jenen "glücklichen Positivismus", den Foucault als Pendant zur

"gelehrten Ungeniertheit"

seiner genealogi­schen Diskurskritik deklariert hat. Vgl. Mi­

chel Foucault: Die Ordnung des Diskurses.

Frankfurt: Fischer 1 997, S.43f - Zum Ein­fluß Foucaults vgl. Flussers biographische

Skizze: http:llwww.equivalence.com/laborlflus­bio.htm

1 8 Der Flusser-Reader, op.cit . . 5 . 1 42

19 Flusser: "Menschwerdung", in ders.: Vom

Subjekt zum Projekt, op.cit., 5 . 1 90 20 Vannevar Bush: As we my think, 1 945 - vgl.

dazu weiter unten, Exkurs 4, Fußnote 57

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286 Diskursive Epistemologie

und damit über die Reproduktion und Speicherung von Schriftzeichen hinaus­gehen. Bush stellte sich dies in den vierziger Jahren auf Basis eines Mikrofilm­speichers vor, setzte aber seine Hoffnung in die technische Weiterentwicklung. D iese folgte in den sechziger Jahren ein, als Douglas Engelbart mit der Bitmapping

genannten revolutionären Visualisierung digitaler Muster am Computerbild­schirm, der über die Maus interaktiv gemacht wurde, vorstellig wurde." Diese Entwicklung bricht mit der Vorstellung von der die physischen menschlichen Anlagen als Prothese erweiternden Maschine. Der Computer wird zum Medium, indem das neue Interface den Informationsraum in einer Weise öffnet, die auf Schreibgeräte und Druckerpresse nicht mehr angewiesen ist. sondern, wie Bush es visioniert hat. nach der Art und Weise, wie der menschliche Geist assoziiert.

1 3.4. Hand/Schrift

Den in Schrift versus Bild metaphorisch gewordenen Dualismus von Sein und Schein aufzugeben markiert gleichsam den Übergang von der Philosophie zur Medienphilosophie. Ähnlich wie Sprachphilosophie am Ende des achtzehnten Jahrhunderts ein Philosophieren nicht nur über die Sprache, sondern mit der Sprache war, ist Medienphilosophie ein Philosophieren mit den Medien. Der Lu­xus eines exklusiven Beobachterstandpunkts über allen Dingen ist nicht mehr zu legitimieren. Am Horizont erscheint nicht die Versöhnung von Theorie und Pra­xis (hier Bücher, dort das Leben), wohl aber die Aufhebung dieser D ifferenz in einem immersiven Zustand, der im emphatischen Sinn mediale ,Zeichensetzung' involviert.

Philosophie hantiert mit Begriffen, und dieses Begreifen hat durchaus hapti­sche Quellen und daraus dauernde Qualitäten. Bildhaftes Philosophieren, wie Flusser es vorschwebt, erinnert sich an solche Qualitäten der kreisenden Hand, die versucht, die Welt zu begreifen. Sie optimiert die technischen Mittel. bei­spielsweise durch die Kamera, die uns hilft, Probleme zu umkreisen. Für Flusser ist dies die technische Hand, die etwas Neues hergestellt hat. Aber das ist nur ei­ne Seite der Medaille . Der Mensch hat schließlich zwei Hände, von der die eine (die philosophische) nicht weiß, was die andere (die technische) tut. Erst wenn beide Hände zur Deckung zu bringen wären - mittels einer die Technologie er­gänzenden Kommunikologie - könnten wir die neue Dimension auch begreifen

21 Engelbarts Forschungspapiere vom .Aug­

mentation Research Center at the Stanford Research Institute" sind Online zugänglich: h 1/p :/ lsloa n.st a nfo rd.ed u lmousesi tel Engel ba rtPa­pers/Coments.html - vgl. auch: The Personal Computing History Page - http://www.hi·

stech.rwth·aachen.de/www/quellen.ittml. Vgl.

dazu auch Steven Johnson: Interface Cultu­re. Wie neue Technologien Kreativität und Kommunikation verändern, Stuttgart: Klett­Cotta 1 999

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Flusser 287

und daher bildlich philosophieren. Daß der Einbruch des Technoimaginären eine neue anthropologische Dimension bedeutet, wurde bereits gesagt. Den Unter­schied zur bisherigen Medienkultur illustriert Flusser auch mit dieser Metapher von den Händen, die unter Bedingungen der telematischen Gesellschaft, in der die Arbeit automatisiert ist, "müßig baumeln" . Flusser provoziert damit ein Bild jüdisch-christlicher Nächstenliebe, denn Hände, die müßig baumeln, und sich an nichts mehr halten können, "weil ihnen kein Ding angemessen ist " , tun gut dar­an, "einander zu fassen, um sich ein an der anderen halten zu können. "11 So wür­de die telemarisehe Gesellschaft nicht nur die heimliche Mechanik der Massen­mediengesellschaft auf einer technischen Ebene transzendieren, sondern auch die in der Moderne problematisch gewordene Solidarität wiederherstellen.

Aber hier sind wir eher im Reich der spekulativen Metaphern gelandet, denn für eine fundierte Aussage über die Zukunft der Telematik reicht der sprachphä ­nomenologische Ansatz nicht aus, hier bedarf es schon der Empirie, der sozial­wissenschaftlichen Analyse des Netzgeschehens und der technokulturellen Ord­nungen. Was Flusser leistet, ist eine philosophische Richtungsweisung, als Ver­such eines Schreibens, das über die Schrift hinausschreibt. Er sagt in seiner biographischen Skizze, er bewege sich "auf den Fäden der Sprache, die Maschen des Auswegs zur Nicht-Sprache suchend." Seine Randgänge hat er explizit ge­macht. Es gibt demnach mindestens drei Formen, sich zum Schreiben zu verhal­ten. ( l ) Die erste ist die des elitären Kulturkritikers, der meint, daß Schreiben noch Sinn macht ( dies trifft vor allem auf die amerikanischen Beschwörer des Untergangs der Zivilisation zu - wie George Steiner, Alan Bloom, oder Neil Post­man) . ( 2 ) Eine zweite Verhaltensform ist die, in den Kindergarten zurückzugehen - Flusser meint damit: vor die schulische alphabetische Konditionierung im Den­ken zurück. Ein absichtlicher Rückfall, der spielerische Umgang mit symboli­schen Welten ist das Ziel. Die in solchem Zustand agierende Person ist etwa der Computerkünstler, die mit der Maschine Unvorhergesehenes machen. "Sie trip­peln auf Fingerspitzen zurück zum Universum der Bilder."ll Mit der bildliehen Darstellung von Begriffen nähern sie sich dem an, was der Konstruktion einer al­ternativen Wirklichkeit gleicht.

22 Vgl. in Flusser: Lob der Oberflächlichkeit, op.cit., S .220f - Handel und Handlung sind zemrale Begriffe der .Menschwerdung", vgl. das Fragment .. Vorderhand" in Flusser: Vom Subjekt zum Projekt, op.cil., S . l 97ff

23 Flusser: .. Das Abstraktionsspiel", in: Lob der Oberflächlichkeit, op.cit., S .2 l ; vgl. a u ch .. Kunst und Computer", ebd .. S.259ff

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288 Diskursive Epistemologie

( 3 ) Für die dritte Form gibt sich Flusser selbst als Rollenmodell an, es ist die, zu schreiben, obwohl man einerseits weiß, daß es keinen Sinn mehr hat, aber an­dererseits auch keine andere Möglichkeit hat.

Flusser hatte den Essay mit der Frage Hat Schreiben Zukunft? in den achtziger Jahren auch als Diskette herausgegeben, damit der Leser aktiv in den Text ein­greifen und so "die Nachträge den ursprünglichen Vortrag immer mehr über­decken. "24 Ein richtiger Gedanke wurde hier technisch naiv umgesetzt. Flusser begründet in einem Nachwort den Mißerfolg seines Essay damit, daß er zwei Ausbruchsversuche aus der Schrift sehe: zurück zu den Bildern oder vorwärts zu den Zahlen, Imagination oder Kalkulation. Mittlerweile aber habe er eingesehen:

"Zahlen lassen sich zu Bildern komputieren. Man kann aus dem textuellen Schriftdenken in eingebildete Kalkulationen auszubrechen versuchen. Gelänge dies, dann wäre das rechnerische und imaginative Denken im textuellen aufge­hoben. Schriftsteller hätten dann Mathematiker und B ildermacher verschluckt, verdaut und sich dadurch selbst auf eine neue Denkebene gehoben. "25

Hier scheint Flusser aber etwas Wichtiges übersehen zu haben. Imaginieren und Kalkulieren fallen im Komputieren tatsächlich zusammen. Das ist aber nicht die einzig relevante Ebene in der Frage zur Zukunft der Schrift. Es geht vor allem auch um Entstehungsbedingungen und Distributionsregeln von (Schrift - ) Dis­kursen, die sich unter Bedingungen einer Telematisierung der Kultur verändern. Sie tun dies in dem Sinne, in dem sich der Bezug vom Schreibenden zur Schrift nicht nur durch das Schreibwerkzeug ändert, sondern - wie in Flussers Wendung von der Vorschrift zur Nachschrift anklingt - der Bezug zwischen Schreibenden, Geschriebenem und Lesern. Das Interessante am Prozeß der medialen Vernet­zung ist es ja gerade, daß sie die These vom Verschwinden des Autors bestens il­lustriert.

Michel Foucault hat diese Frage untersucht. Der klassische Bezugsrahmen von einem Autor zum Text relativiert sich in der telematischen "Öffnung eines Raumes, in dem das schreibende Subjekt immer wieder verschwindet." Natürlich hat Schreiben Zukunft. Aber es gibt sicher noch andere Formen des Schreibens als die der Buchkultur, die eine ganz bestimmte Form für die Existenz, die Funk­tion und die D istribution eines bestimmten Diskurses in der Gesellschaft ist. In bestimmten wissenschaftlichen Disziplinen, deren Fortschritt nicht sosehr an die Produktion monographischer Texte gebunden war, ist dies seit langem offen­sichtlich. Foucault beschreibt einen Prozeß, der sich im Übergang zur vernetzten Wissensgesellschaft nur noch verstärkt: "Zu einer Umkehrung kam es im 1 7. oder

24 Flusser: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? 25 ebd., Nachwort zur zweiten Auflage ( 1 989).

Göttingen 1 987. zit. nach Ausgabe Frank- 5. 1 43

furt: Fischer 1 992

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im 1 8 . Jahrhundert; man begann, wissenschaftliche Texte um ihrer selbst willen zu akzeptieren, in der Anonymität einer feststehenden oder immer neu beweis­baren Wahrheit; ihre Zugehörigkeit zu einem systematischen Ganzen sicherte sie ab, nicht der Rückverweis auf eine Person, die sie geschaffen hatte. Die Funkti­on Autor verwischt sich, der Name des Erfinders dient höchstens noch dazu, ei­nem Theorem, einem Satz, einem bemerkenswerten Effekt, einer Eigenschaft, ei­nem Körper, einer Menge von Elementen, einem Krankheitssyndrom einen Na­men zu geben. "'•

Seltsamerweise bleibt Flusser aber stets bei der Verwendung des Singular, wenn er vom Schreibenden spricht. Er war präokkupiert mit dem Verhältnis des Einzelnen zum Apparat, mit dem singulären statt dem sozialen Prozessieren von Informationen.27 Der Aufbruch in die Nachschrift aber ist kein singuläres Unter­nehmen . Die Publikation des Textes über Die Schrift als Diskette konnte als Expe­riment deshalb nicht funktionieren, weil sie den linearen Kommunikationsfluß von einem Autor zu seinen Leser nicht wirklich zu durchbrechen gedachte. Die Nachschrift ist kein Meisterdiskurs, sondern viel wahrscheinlicher ein kollabora­tives Textfiltern (dazu s.u. Kap.l4) .

1 3.5. Einbi lden - Erzählen - Informieren

Dringen wir nach diesen Vorbereitungen jetzt zum Kern der Flussersehen Hypo­these vor, wie er sie in seiner über alle veröffentlichten Texte verstreuten Kom­munikologie ausgebreitet hat. Sie besteht darin, daß mit der Öffnung des Informa­tionsraumes (Cyberspace) die Existenz von Medienwirklichkeit als jene andere Wirklichkeit manifest geworden ist, mit der sich die menschliche Existenz neu definiert. Verfolgen wir zuerst die menschheitsgeschichtliche Rekonstruktion der Medienwirklichkeit, um daran anschließend auf die Frage nach dem neuen an­thropologischen Status zurückzukommen.

In einer gerafften Fassung stellt sich das Bild der Menschheitsentwicklung et­wa so dar: "Zuerst trat man von der Lebenswelt zurück, um sie sich einzubilden. Dann trat man von der Einbildung zurück, um sie zu beschreiben. Dann trat man von der linearen Schriftkritik zurück, um sie zu analysieren. Und schließlich pro­j iziert man aus der Analyse dank einer neuen Einbildungskraft synthetische Bil­der. "'•

26 Michel Foucault: • Was ist ein Autor?" in ders.: Botschaften der Macht, op.cit., S.40

27 Vgl. vor allem den Text: .Schreiben für elek· Ironisches Publizieren·. der auf einen Vor­trag am Kernforschungszentrum Karlsruhe

zurückgeht, in Flusser: Lob der Oberfläch­lichkeit, op.cit., S. l 02- 1 1 0

28 Flusser: .Eine neue Einbildungskraft". in: Der Flusser-Reader, op.cit .. 5 . ! 49

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Wir wollen diese Abfolge von Gesten, wie Flusser sie nennt, auf ihre Zuspit­zung zu einer Krise der Linearität hin einzeln untersuchen. Sie stellen sich als be­stimmte Eingriffe in die Welt dar, die sich ihrerseits wieder auf den Status des Menschseins auswirken. Am Anfang stand die Geste des Bildermachens. Sie will erklärt werden. Menschen kommunizieren aufgrund ihrer physischen Gegeben­heiten auf einer visuellen oder auf einer akustischen Ebene. Die Kommunikatio­nen in einer oralen Kultur dienen dem raschen und unkomplizierten Informati­onsaustausch, aber sie sind auch flüchtig und störanfällig. Daher kommt es be­reits in den prähistorischen Kulturen zur Einbildung, also dazu, durch das mehr oder weniger mühevolle Ritzen von Steinen sich Bilder zu machen und damit Kommunikationen von längerer Dauer zu schaffen. Dieses Bildermachen oder die Imagination, wie Flusser auch sagt, folgt einem vor-alphabetischen, zweidi­mensionalen Code. Sie stellen Szenen in Raum und Zeit dar, die sich aus späte­rer Sicht zwar deuten oder sogar entschlüsseln, nicht aber eindeutig lesen lassen. Da diese Bilder prinzipiell subjektive Abstraktionen von Phänomenen symboli­sieren, kommt es zu einer Tradierung von bestimmten Deutungen, woraus sich in weiterer Folge die Kanonisierungen der Religion entwickeln.

Die Erfindung der alphabetischen Schrift stellt den nächsten grundlegenden Entwicklungsschritt dar. Schreiben ist, wie wir wissen, linear und nicht mehr sze­nisch. Die Buchstaben lassen sich flexibel einsetzen, um alles Mögliche zu be­schreiben. Die lineare Abfolge von Symbolen wird gelesen, nicht gedeutet. Schrift ist eine Entwicklung, und dieser Begriff will wörtlich verstanden sein:

"Die Erfindung der Schrift besteht nämlich nicht so sehr in der Erfindung neuer Symbole, sondern im Aufrollen des B ildes in Linien ( ,Zeilen' ) . " 29 Die kulturellen Folgen sind beachtlich, denn mit der Schrift und ihrem Übergang von den Sze­nen zu Prozessen entsteht in der Antike das historische Bewußtsein, mit ihm das lineare Fortschrittsdenken. In der Philosophie nannte man das den Übergang vom Mythos zum Logos, der seinerseits Grundlage für Theorie und Wissenschaft darstellt. Die Zweidimensionalität der oralen Kultur verdichtet sich dabei zur Ein­dimensionalität der Schriftkultur. Die sogenannte Erfindung des Buchdrucks ist nichts anderes als eine Mechanisierung repetetiver Prozesse innerhalb dieser Schriftkultur, die sich nun zur Buchkultur ausweitet.

Der nach-alphabetische Code bricht mit dieser Linearität, indem er die Eindi­mensionalität der Schrift zur Nulldimensionalität des technischen Bildes ver­dichtet. Technische Bilder sind solche, in denen das Abgebildete recodiert und seine einzelnen Momente anschließend rekombiniert werden. Von den traditio­nellen B ildern unterschieden sich Technobilder darin, daß sie statt von Menschen

29 Vgl. dazu Flusser: ,.Die kodifizierte Welt", in: Lob der Oberflächlichkeit. op.cit., S.63fL

hier 5.67 - auch in: Der Flusser-Reader, op.cit., 5 . 3 3

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F lusser 291

von Apparaten ,gemacht' sind und daß ihr Code für den Menschen nicht direkt erkennbar ist - Technobilder haben etwa einen maschinenlesbaren Source-Code, woraus der Apparat erst eine für das menschliche Wahrnehmungsvermögen re­zipierbare Form generiert. Wir müssen aber nicht gleich an den Computer den­ken, denn die Technobilder gibt es schon auf einer analogen Ebene, etwa mit der Fotografie. Flusser hält es für einen verheerenden Irrtum anzunehmen, Techno­bilder wären direkt lesbar, und ebenso, sie ließen sich aus der Hardware selbst er­schließen. "Technobilder sind Flächen, die mit Symbolen bedeckt sind, welche Symbole linearer Texte bedeuten. ( . . . ) Was ein B ild zu einem Technobild macht, ist nicht, daß es technisch erzeugt wurde - zum Beispiel, daß die Aufnahmen der Mondoberfläche von raffinierten Apparaten aufgenommen wurden -, sondern daß es nicht Szenen, sondern Begriffe bedeutet - nicht die Mondoberfläche, son­dern Begriffe astronomischer Texte, welche Bilder bedeuten, die sich die Autoren dieser Texte von der Mondoberfläche zu machen versuchten. "'0

Weil unsere Welt aus solchen Technobildern besteht, die wir zu lesen glauben, deren programmierte Struktur wir in Wirklichkeit aber nicht erkennen können, nennt Flusser sie eine programmierte, eine kodifizierte Welt. Die Fotografie bei­spielsweise bildet nicht ein Objekt ab, sondern enthält eine Reihe von Begriffen, die sich der Fotograf von dem Objekt macht, und weiters unterliegt der ver­meintlich abbildenden Kamera ein sie strukturierender Text, in diesem Fall etwa chemische Formeln. Hier sind also viele Vermittlungsebenen eingebaut, die letzt­lich eine zunehmende Entfremdung des Menschen von der Welt bewirken. Nicht wir greifen in diese Welt ein, sondern diese Welt greift in unsere Existenz ein -weil wir begonnen haben, das Manipulieren von Zeichen den Maschinen zu überlassen, die zuerst noch von wenigen, dann durch sich selbst programmiert werden, um wiederum die menschliche Welt zu programmieren. Flusser nennt das auch Informieren, oder den Prozeß des In-Form-bringens - für die Informati­on gilt, daß sie auf verschiedenen Ebenen Bedeutungen prägt (prägen also in dem Sinne, wie schon die Arbeit Gegenstände informiert) . Die einzelnen Symbo­le, aus denen Technobilder zusammengesetzt sind, haben keine Dimension mehr. Vor uns erscheint ein Mosaik aus zusammengesetzten Punkten, ganz so wie beim Bitmapping, oder dem Gitternetz von hell/dunkel: eine Bildschirmpixel wird er­leuchtet oder nicht, das ihm zugrundeliegende Bit hat den Wert 1 oder 0.

Fassen wir diese dreistufige Abfolge der Zivilisationsentwicklung in einer Übersicht zusammen, so ergibt sich folgendes:

30 Flusser: Kommunikologie, op.cit., S. l 3 9 bzw. 1 40

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Gesellschaftlicher vor-alphabetisch alphabetisch nach-alphabetisch Code

Denkform kreisend (Mythos) linear (Logos) punktuell (Mosaik)

Mediale Form symbolisierende lineare Prozesse Zustände Szenen

Kulturtechnik Deuten Lesen/Schreiben Komputieren

Grundgeste Einbilden Erzählen Informieren

Gesellschaftsform Magische Kultur lndustriegesellscha ft Wissensgesellschaft

Ästhetik zweidimensional eindimensional nulldimensional

1 3.6. Krise der Linearität

Wenn wir tendenziell nicht mehr die Programmierer, sondern Programmierte sind, dann stürzt unsere Kultur in eine Krise. Flusser argumentiert insofern kul­turpessimistisch, als er darauf hinweist. daß wir nicht wissen können, für welche Bedeutung die uns umgebenden Technobilder programmieren. Wenn wir nicht enden wollen wie die sprichwörtlichen Werbefachleute, die ihren eigenen Zynis­mus nicht mehr durchschauen, dann müssen wir wieder programmierende Fähigkeiten entwickeln. Die Entwicklung der Schrift bedeutete den Verlust des Glaubens an die magische Kraft des Bildes. Deshalb hat schon das Zeitalter der Schrift- und Druckkultur eine kritische Haltung entwickelt, die schließlich in der Aufklärung mündete. Hier sind Begriffe dominierend, und mit ihnen Erklärun­gen, Theorien, Ideologien - all das, was Lyotard die ,große Erzählung' der Mo­derne genannt hat. Die Rekodierung der Welt durch das Technoimaginäre be­deutet, daß dieser Glaube an den Text distanziert und damit eine grundlegende Krise der Werte ausgelöst wird. Wir schreiten aus der linearen Welt der Er­klärungen hinaus in die technoimaginäre Welt der Modelle: "Das ist eine ,Krise', weil nämlich mit dem Überschreiten der Texte alte Programme wie zum Beispiel Politik, Philosophie, Wissenschaft außer Kraft gesetzt werden, ohne von neuen Programmen ersetzt zu werden.""

Mithin ist das prozessuelle, historische, kritische Denken nicht als das Ende der Zivilisationsentwicklung anzusehen. Wir wissen nur nicht genau, was nach­kommt. und wie wir uns in dieser neuen Einbildungskraft - die eine kulturelle Chance darstellt - bewegen sollen. Hier verläßt Flusser den Kulturpessimismus, denn er stellt durchaus die Möglichkeit in Aussicht, dies zu tun: indem der Pro-

3 1 Flusser: Lob der Oberflächlichkeit. op.cit..

S.70

Page 293: Medienphilosophie Hartmann

Flusser 293

zeß kommunikationstheoretisch bewußt gemacht und aus dem Jenseits der Schrift eine neue Einbildungskraft synthetischer Bilder entworfen wird. Es ist je­doch keineswegs so einfach, wie Neswald meint, Flusser würde hier den Com­puter vorstellen als "ein Gerät, das den mangelhaften Zustand der Welt schlagar­tig aufhebt und eine neue Welt entstehen läßt" ." Vielmehr sieht er einen Prozeß der Rekodierung in Gang gesetzt, der das Alphabet als E lement der zentralen Kul­turtechnik distanziert. Dazu abermals ein Blick auf die Kulturentwicklung mit der Frage, warum überhaupt das Alphabet erfunden worden ist.

Indem der Mensch in archaischer Frühzeit begonnen hat, Bi lder zu machen, entstand mit der Einbildungskraft jene "einzigartige Fähigkeit, von der gegen­ständlichen Welt in die eigene Subjektivität zurückzutreten, Subjekt einer objek­tiven Welt zu werden."" Flusser nennt dies an anderer Stelle auch die Fähigkeit zur ,Ek-sistenz', man könnte auch sagen: zum Heraustreten aus der Naturverfal ­lenheil und das langsame Erarbeiten einer zweiten Natur. Das B ildermachen ver­dankt sich möglicherweise einer Notwendigkeit, sich gegen die Natur durchzu­setzen. Man hält die eigenen Anschauungen fest, um besser handeln zu können und diesen im Bild steckenden ,Handlungsentwurf' auch tradieren zu können. In dieser Geste des Bildermachens tritt der Mensch vom Gegenstand zurück, wird zu dessen Subjekt. Die Gegenstände sind nicht mehr manifest, sondern werden zu Erscheinungen, die wir anschauen.34

Was wir dabei sehen sind szenisch angeordnete Piktogramme, also B ilder, die konnotativ und damit undeutlich codiert sind. Die Entwicklung der Schrift ist nun aus der Notwendigkeit intersubjektiver Kommunikation abzuleiten, da die­se ab einer gewissen Komplexitätsstufe Uneindeutigkeiten vermeiden muß. D ie Schrift ist eine Kritik der Einbildung, indem sie an die Stelle des deutbaren (kon­notativen) einen deutlich lesbaren ( denotativen) Code setzt. An die Stelle der Pik­togramme tritt eine Aufreihung phonetischer Buchstaben. Das ist ein kultur­technischer Abstraktionsschritt von der Flächenstruktur zur linear angeordneten Zeile, was ein noch weiterer Schritt zurück von der Gegenstandswelt oder noch größere Entfremdung bedeutet. Viele Indizien weisen auf die Plausibilität dieser These hin. Es entstehen denotative Schriftsprachen gegenüber den undeutlichen, konnotativen lokalen Dialekten." Auch kann das alttestamentarische B ilderver­bot als ein Imperativ einer Schriftkultur interpretiert werden, die sich gegenüber einer mythischen Welt der Idolatrie durchzusetzen hatte.

Die aus dem phonetischen Alphabet zusammengesetzte Schrift findet ihre Er­gänzung durch ideographische Symbole, den Zahlen. Buchstaben und Zahlen zu­sammen ergeben den alphanumerischen Code, der unsere Gesellschaft be-

32 Neswald: Medien· Theologie. op.cit., 5 . 1 28 33 Der Flusser-Reader, op.cit., 5 . 1 42

34 Vilem Flusser: Krise der Linearität. Bern: Benteli 1 992

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herrscht. Seit der Renaissance und besonders mit den Ansätzen von Descartes, Leibniz und Newton wurde dem formal-kalkulatorischen Denken, das sich par­allel zum diskursiv-historischen Denken entwickelt, zunehmend mehr Raum ge­währt. Neben die literarischen Texte, die die Welt erklären, traten die Algorith­men. Die Berechnung erlaubt mehr Gewißheit und eine höhere Präzision. Ihr Nachteil, die Welt mit Zahlen punktuell zu codieren, und damit Leerräume (In­tervalle) zu erzeugen, wird durch die Entwicklung der kalkulatorischen Metho­de zunehmend entschärft. So erlaubt die Differenzialrechnung die Darstellung ei­nes Prozesses in Zahlen.

Die damit ermöglichte programmierenden Einbildung deutet auf einen neuen Code und eine neue Form der Weltwahrnehmung. "Die okzidentale Kultur ist ein Diskurs, dessen wichtigste Informationen in einem alphanumerischen Code verschlüsselt sind, und dieser Code ist daran, von anders strukturierten Codes verdrängt zu werden." '• Dieser neue Code hat zunächst nur indirekt mit dem di­gitalen Code des Computerzeitalters zu tun. Flusser nennt als Beispiel dafür, wie die historische Codierung durch eine komputatorische ersetzt wird, die Fotoka­mera. Auf analogem Weg zerlegt sie in ihrer gekörnten ,Abbildung' die Welt in Punktsymbole, um sie in der Fotografie wieder zu einem Bild, das aus kalkulier­ten Bits besteht, zusammenzusetzen. Was wir wahrnehmen, sind prozessierte Daten. Es handelt sich zwar um ein "getrübtes Kalkulieren", aber die Welt wird in einem Punkt-Intervall-Code prozessiert - in diesem fotografischen Blick auf die Welt kommt das nicht mehr lineare Denken zum Zug.n

Wir sehen, daß die Geräte, die ein programmiertes Bildermachen erlauben, nicht unbedingt digitale Computer sein müssen. Freilich kommt die neue Einbil­dungskraft beim synthetischen Computerbild am besten zur Geltung. Wenn Wirklichkeit das ist, was wir als solche prozessieren, dann wird das ungetrübte Programmieren mittels digitaler Hochgeschwindigkeits-Prozessoren auch eine vollkommenere Veränderung der Wirklichkeit zulassen. Während wir mit dieser anderen Wirklichkeit zu leben lernen, wird es zunehmend sinnlos, zwischen pro­duzierten und reproduktiven Bildern noch zu unterscheiden. Die Krise der Li­nearität ist dann eigentlich als eine seit längerer Zeit andauernde Kritik der Li­nearität anzusehen, als ein weiterer Schritt in eine Richtung, die mit der Kritik des B ildermachens begonnen hat. Die neue Einbildungskraft des ,komputatori­schen Bewußtseins', in der wir uns laut Flusser erst noch üben müssen, hat ein

35 Zu den Prozessen der Objektivierung von Sprache vgl. die Studie Jack Goody I !an

Watt I Kathleen Gough: Entstehung und Folgen der Schriftkultur ( 1 968). Frankfurt:

Suhrkamp 1 997

36 ebd., 5 .7 37 ebd., S.26!; vgl. auch Flusser: Lob der Ober­

flächlichkeit, op.cit . . S.278f

Page 295: Medienphilosophie Hartmann

Flusser 295

hohes emanzipatorisches Potential. Unter dieser Voraussetzung gelingt Flusser schließlich noch eine überraschende kommunikationswissenschaftliche Refor­mulierung des postmodernen Theorems vom ,Tod des Subjekts'.

1 3.7. Vom Subjekt zum Projekt

Wir komputieren, setzen zusammen. Der Ausbruch aus der Linearität schafft ei­ne virtuelle Gegenständlichkeit. Im neunzehnten Jahrhundert verlor sich mit Fa­raday und Maxwell der Glaube an letzte materielle Partikel - an die Stelle des Äthers als physischer Substanz trat das neue Erklärungskonzept vom elektroma­gnetischen Feld, und damit eine neue Ontologie." Diese Änderung des Weltbil­des hat Auswirkungen, die sich durch alle philosophisch-wissenschaftlichen Dis­kussionen des zwanzigsten Jahrhunderts ziehen. Wir wissen (obwohl wir es manchmal nicht glauben), daß die Welt nicht aus solider Gegenständlichkeit be­steht. sondern daß ihre Gegenstände eine Wahrnehmungskonstruktion sind. Wenn die Objekte dergestalt verschwimmen, dann hat das auch Auswirkungen auf unsere Selbstwahrnehmung als Subjekte.

Flusser drückt dies so aus: .,Wir bilden uns nicht mehr ein, daß wir irgendei­nen soliden Kern in uns bergen ( irgendeine .Identität', ein .Ich', einen ,Geist' oder eine , Seele' ) , sondern eher, das wir in ein kollektives psychisches Feld ge­taucht sind, aus dem wir wie provisorische Blasen auftauchen, welche Informa­tionen erwerben, prozessieren, weitergeben, um wieder unterzutauchen." '• In einem ähnlichen Sinn bilden wir uns auch nicht mehr ein, daß wir Wirklichkeit wahrnehmen, sondern daß wir diese vielmehr konstruieren, oder das Wahrgenom­mene zu Wirklichkeit .,prozessieren", wie Flusser sagt. Wir verändern also nichts Vorgegebenes - sind keine Subjekte, die sich an Objekten abarbeiten - sondern tendieren dahin, gegebene Möglichkeiten zu verwirklichen. Statt Veränderung von Wirklichkeit die Verwirklichung von Möglichkeit. In diesem Sinn versteht Flusser die Menschwerdung als eine Bewegung vom Subjekt zum Projekt . .,Wir sind nicht mehr Subjekte einer gegebenen objektiven Welt, sondern Projekte von alternativen Welten. ""0

Es sei nochmals daran erinnert, daß Flusser nicht blind fortschrittsoptimistisch argumentiert und durchaus die Möglichkeit einer zentralistischen Technokratie sieht, die starren Formen einer faschistischen Schaltung. Er zeigt aber auch die

38 James Clark Maxwell: A Dynamical Theory

of the Electromagnetic Field ( 1 864) . zit.

nach Zajonc: Die gemeinsame Geschich�e

von Licht und Bewußtsein, op.cit., bes.

S . l 7 5ff

39 Flusser: Krise der Linearität. op.cit., $ .32

40 Flusser: Lob der Oberflächlichkeit, op.cit., S.283

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Möglichkeit des vernetzten Dialoges auf, in dem sich die Menschen realisieren und so ihrem "absurden Leben" kommunikativ Sinn verleihen.

Kommunizieren heißt hier aber nicht einfach ,miteinander sprechen', son­dern vollendetes Durchkalkulieren. Die Krise führt zu neuem Entwerfen - von Aufrichtigkeit, Häusern und Städten, Familien und Kindern, Körper und Sex, Technik und Arbeit, wie Flusser im Detail ausführt - um "das Durchkalkulierte zu alternativem Konkreten rück-komputieren" zu können.•• Ja, Flusser geht so­weit zu behaupten, daß wir im unabgeschlossenen Prozeß der Menschwerdung um diese künstliche Geste gar nicht herumkommen werden, die widernatürliche Einstellung ( Subjekte von Objekten zu sein und damit anders in der Welt zu sein als andere Lebewesen) immer weiter zu treiben, bis das Künstliche vom Natürli­chen nicht mehr zu unterscheiden ist. Unter Bedingungen perfekter Komputati­on wäre jenes alternative Konkrete geschaffen, das die Differenz zwischen me­dialer oder komputierter Wirklichkeit und wirklicher Wirklichkeit sinnlos er­scheinen läßt. "Daher wird die Unterscheidung zwischen B ild und Ding, zwischen Fiktion und Realität immer unoperationaler."42

Die Frage ist nur, ob es bis dahin nicht graduelle Unterschiede gibt, die sich gravierend auswirken. Flusser hat ein negative Anthropologie des medialen Zeit­alters verfaßt, die selbst ein Projekt mit offenem Ende geblieben ist. Es ist der un­glaubliche Versuch, die philosophische Spekulation mit dem Argument der tech­nischen Perfektion zu radikalisieren, um sie beide zu überbieten. Am Ende steht eine visionäre Poesie, die im Künstlichen wie im Natürlichen nur punktuelle Zu­sammensetzungen �rkennen kann, mit differierenden Abständen zwischen die­sen Punkten. Die Erkenntnismethode, die immer nach etwas sucht, das nicht trügt, gerät hier ins Taumeln: sie kann keinen Standpunkt einnehmen, wie die traditionelle Epistemologie es tut, weil sie von den unbegrenzten Möglichkeit weiß, solche Standpunkte einzunehmen; also inszeniert sie ein spielerisches "Springen von Punkt zu Punkt" Y Was sich daraus ergibt, ist nichts weiter als ein Gefüge von Abhängigkeiten, oder die Notwendigkeit von Kommunikationen, da sich auf keinem Standpunkt verharren läßt. Unter diesen Voraussetzungen ist die Neuformulierung einer Kultur, die sich überlebt hat, ein Spiel mit den Möglich­keiten. Ihre Aufhebung im Zustand der Nachgeschichte bedeutet - frei nach Hege! - ein Negieren und Aufbewahren zugleich: als Erhöhung, Archivierung und An­nullierung in einer neuen Medialität.

Was wir im neunzehnten Jahrhundert mit der Sprache und zwanzigsten mit den neuen Medien erkannt haben, ist die Medienwirklichkeit, die mit dem kon­kurriert, was unter Wirklichkeit zu verstehen ist. Diese Differenz wird nun also

41 Flusser: Vom Subjekt zum Projekt, op.cit., 5.7- 1 60, hier 5 . 1 2 2

4 2 ebd., S . l 9 4 3 ebd., 5.263

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Flusser 297

tendenziell eingezogen. Wir haben den Sinn für Wirklichkeit verloren, weil wir lernen mußten, daß diese Wirklichkeit eine Konstruktion ist. Sollten wir uns der Rolle als Konstrukteure nicht bewußt werden und uns in ihr üben, dann aller­dings droht der Technofaschismus.

Zusammenfassung Jede Sprache ist an sich schon eine Abstraktion von der

Wirklich keit. Da wir diese progra mmierte Struktur in Wirkl ichkeit aber nicht

wahrnehmen und nur indirekt erkennen können, nennt Flusser unsere Weit ei­

ne kod ifizierte. Die Menschheit hat sich mittels ,Kultur' eine künstliche Hül le

geschaffen, die zwischen Mensch und Weit vermittelt und g leichzeitig d ie

Menschen von der We it abschirmt. Menschen existieren, das heißt s ie stehen

,außerhalb' der Naturverfa l lenheit, und sie kommunizieren, um über diese Exi­

stenz zu meditieren - sie ste l len Versuche an, den Abgrund zwischen sich selbst

und der Weit künstlich zu überbrücken.

Dabei entsta nden cha rakteristische Codes, allen voran die der menschlichen

Sprache, nach denen menschliches Dasein vorprogrammiert (und damit auf ei­

ne best immte Art , informiert') ist. Die kodifizierte Weit speichert die Informa­

tionen anders als die traditionel le Weit der alphanumerischen Codes. Das be­

deutet eine Krise der jah rhundertelang ausgebildeten Linea rität, die mit der

Fotokamera beginnt und deren Effekt kommunikationstheoretisch untersucht

werden muß - den sprachwissenschaftl ichen Ansatz auf eine Ebene transpo­

n ierend, die dem E inbruch des Technoimaginären gerecht wird und die als me­

dienphi losoph isch zu bezeichnen wäre. Flusser skizziert dazu das komuptie­

rende Denken, dessen Anspruch einer neuen Einbi ldungskraft die Kultur vor

die neue Aufga be stellt, die Weit a ls Mögl ichkeitsfeld zu verändern. ln der ge­

genwärtigen Situation ist nicht klar, ob die Menschen mit der Entwicklung der

Medien ihren Sinn für Wirkl ichkeit verloren haben oder ob sie nicht viel leicht

schon beginnen, mit einer anderen Wirklichkeit zu leben. Menschen wären

dann n icht länger Subjekte ei ner gegebenen objektiven Weit, sondern Projek­

te von a lternativen Weiten.

Damit stel lt sich der Übergang in eine telematische Gesel lschaft nicht als eine

Kulturapoka lypse dar, sondern als die Hera usforderung, ihn a ls technisch/so­

ziales Projekt einer kollektiven Herstel lung von Autonomie zu gesta lten. Dies

wird vorerst eingelöst, indem eine neue Anthropo logie verfaßt wird - unter

medienphi losophischen Aspekten. Es ist dies vor al lem die Auseinanderset­

zung m it den Technobildern, an denen es zu verstehen g i lt, wie sie hergestellt

wurden und wie man von ihnen programm iert wird. ln einer Weit, i n der wir

uns nicht mehr historisch, sondern komputatorisch befinden, macht die huma-

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298 Diskursive Epistemologie

I nistische Perspektive a ls Grundlage der Kulturwissenschaften keinen Sinn

mehr. Kommunikationstheorie bedeutet in diesem Sinn auch die Radikal isie­

rung des Forschungsansatzes, um Tendenzen eines diskursiven Totalitarismus

entgegenzuwirken - a ls Kommunikolog ie untersucht sie die Potentiale des

Netzdia Iogs.

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Exkurs 4 Wunschmaschinen, Rhizomanie und die M E M EX

Im Zuge der politischen Protestbewegungen und der Gegenkultur der sechziger Jahre kann die Rhetorik vom ,Tod des Subjekts' als Ende eines gesellschaftspoli­tischen Entwurfs gedeutet werden, bei dem es darum ging, das Konzept der bür­gerlichen Subjektivität fortzuschreiben. Freud hatte gezeigt, daß das Subjekt einer bürgerlichen Gesellschaft Triebkräften unterworfen ist, die ihm selbst nicht bewußt sind und daß die moderne Subjektivität im Prozeß der Aufklärung über das, was uns bewegt, wiederholten narzißtischen Kränkungen ausgesetzt war.

Eine demographische Explosion einerseits, eine zunehmende Differenzierung und damit eine erhöhte Komplexität der gesellschaftlichen Verhältnisse anderer­seits beanspruchen die Beziehungen von Individuen und der Gesellschaft. Konn­te Freud einzelne bürgerliche Subjekte noch einer Talking eure unterziehen, um sie in den Gesellschaftsprozeß zu reintegrieren, so muß die Postmoderne Freud und seinen Ansatz am Einzelsubjekt hinter sich lassen. Die jahrzehntelange Debatte nach Freud - mit ihren Höhepunkten in den dreißiger und in den sech­ziger Jahren - war von der zentralen Frage geprägt, ob sich Psychoanalyse und Marxismus verbinden lassen, ob also das psychoanalytisch entwickelte Instru­mentarium auf die spätkapitalistische Gesellschaft mit dem Ziel übertragen wer­den kann, ihre repressiven Formen zu sprengen. In diesen Diskurs fallen in den siebziger Jahren zwei abschließende und mit der Psychoanalyse abrechnende Texte ein, die auf ihre Art mit der diskursiven Linearität brechen sollten. In der französischen wie der deutschen Subkultur eine regelrechte Rhizomanie auslö­send, sind sie bis heute für das prägend, was man den ,Netzdiskurs' nennen kann: Programmatische Bilanz für Wunschmaschinen ( 1 972) und Rhizome ( 1 976 ) von Gil­les Deleuze und Felix Guattari. Der erste Essay bildete den Appendix zum Anti­Ödipus, der zweite die Einleitung zu Mille Plateaux.••

Es geht darin um das Zentralthema des zwanzigsten Jahrhunderts, um das Verhältnis von Individuen, Gesellschaft und Technologie. Der Text über die Wunschmaschinen zitiert beispielsweise The Navigator, ein Film mit Buster Kea­ton, in dem dieser gegen die technischen Tücken einer Schiffskombüse ankämp­fen muß.•' Wie in allen seinen Filmen zeige sich hier das Scheitern des Unter-

44 Gilles Deleuze. Felix Guauari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I ( 1 972). Frankfurt: Suhrkamp 1 977; dies.: Rhizom ( 1 976), Berlin: Merve 1 977; dies.: Ta usend

Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie ( 1 9 80). Berlin: Merve 1 992

45 Deleuze I Guattari: Allli-Ödipus. op.cit.. S . 5 1 4

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300 Wunschmaschinen

nehmens, Massenmaschinen an individuelle Zwecke anzupassen. Die Situation steht metaphorisch für die Unmöglichkeit, das Problem der Moderne mit einer Forderung nach der Aneignung der Produktivkräfte lösen zu wollen. Denn es gibt kategoriale Unterschiede zwischen einer technisch-gesellschaftlichen Ma­schine und dem, was Deleuze und Guattari eine ,Wunschmaschine' nennen. Sie kritisieren damit die geradezu systematische Verhinderung, den Wunsch auf die Welt zu richten, indem er strategisch auf individuelle Konstellationen zurück­verwiesen wird. Wie bei Ödipus, der mythologischen Figur unserer Zivilisation, die deshalb auch in der Freudschen Theoriebildung nicht zufällig im Zentrum steht, wenn es darum geht, den Komplex der Ersatzbefriedigungen zu ergrün­den. Deshalb der Anti-Ödipus: gegen diese Figur gerichtet, d ie meint aufs Ganze zu gehen und deren heimlicher Wunsch doch aufs Intimste (die Mutter) gerich­tet bleibt, deren Wunscherfüllung mithin zu tragischem Scheitern verurteilt ist. Gegen diesen ödipalen Apparat, der Repression und Regression erzeugt, richtet sich die Rekursionsbewegungen formierende Wunschmaschine als Metapher des Anti-Ödipus, die definiert wäre durch "ihr Vermögen zu unendlichen, allseits in alle Richtungen sich erstreckenden Konnexionen. "46 Dieser Grundgedanke nochmals in anderen Worten: wenn die lineare Zielgerichtetheit einer Kultur oh­nehin ins Nichts führt, die Wunschbefriedigung nur vorgaukelt und in einer frag­mentalisierten Existenz entschärft wird, dann erzeugt genau dies den subversi­ven (anti-ödipalen) Wunsch nach transversalen Verbindungen: "Unaufhörlich bewirkt der Wunsch die Verkopplung der stetigen Ströme mit den wesentlich fragmentarischen und fragmentisierten Partialobjekten. Der Wunsch läßt fließen, fließt und trennt. "47

Von daher kommt es zu einer ,Erklärung' des Verhältnisses von Gesellschaft und Technologie, in einem Diskurs, der beherrscht ist von der Binarität ,Wunsch versus Bedarf'. Die kapitalistische Kultur, deren Bestreben es ist, jeden Effekt des Widerstandes in der Produktion zu brechen und als Konsumgesellschaft die ,Pro­duktion der Produktion' (d.h. des Warenfetisch) voranzutreiben, läßt nur eine solche Subjektivität zu, die jeden Wunsch letztlich dramatisch verfehlt (die ödi­pale Existenz) . Diese Gesamtheit wird grob gesagt als kapitalistische Maschine be­zeichnet, die sich in der Neuzeit mit dem fatalen Effekt etabliert hat, einen frag­mentarischen Code zu produzieren. Sie ist, "im Gegensatz zu den vorhergehen­den Gesellschaftsmaschinen, unfähig, einen Code bereitzustellen, der das gesam­te gesellschaftliche Feld umfaßt" und setzt daher auf die "Axiomatik abstrakter Quantitäten" wie dem Geld.

Defizitäre Codierung, Axiomatisierung, und schließlich, als Zentralbegriff, De­territorialisierung: wo Subjektivität nurmehr kraft Repression existiert, gibt es kei-

46 ebd .. 5.503 47 ebd .. S. l l

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Wunschmaschinen 301

ne wirkliche Existenz: nurmehr das Es, das überall existiert ( in Produktionsstät­ten beispielsweise) , bloß nicht mehr im Individuum. Das Resultat sind instabile Subjektivitäten, wie sie sich im Schizophrenen manifestieren, und gegen die die kapitalistische Maschine mit einer Reterritorialisierungsbewegung angeht (d.h. mit den Institutionen der Bürokratie und des Polizeiapparats, aus denen sich ei­ne Kontrollgesellschaft formiert) . Die Reterritorialisierung ist eine Kompensation, die Fluchtlinien verdeckt und blockiert, während die Deterritorialisierung die Fluchtlinien subversiv aufzeigt: sie ist "die Bewegung, durch die ,man' das Terri­torium verläßt. "48 Solche Formulierungen erlaubten eine postrevolutionäre, an­archo-kommunistische Befreiungsrhetorik gegenüber dem entwickelten ,Verein­nahmungsapparat', die gerade nach dem Scheitern überzogener systemverän­dernder Ansprüche der 60-er Revolte auf offene Ohren traf.

Wir haben hier eine zeitdiagnostische Analyse vor uns, die auf hohem Ab­straktionsniveau und in eigenwilliger Terminologie ein ziemlich apokalyptisches Bild der Gegenwart zeichnet. Warum wurde gerade dies so populär? "Da Wün­sche in der Differenz zu dem, was ist, ihre Kraft entfalten" - schreibt Hartmut Winkler, allerdings ohne direkten Bezug auf Deleuze und Guattari, aber es trifft die Sache - "sind sie die einzige Instanz, die dem Tatsächlichen und seiner dro­henden Totalisierung entgegentreten kann. Wenn die Geschichte also stillgestellt erscheint und die Bewegung allein der ,Emergenz' der Technik überantwortet, so sollten zumindest die Wünsche auf diese Lösung nicht einschwenken."••

Doch das ist es noch nicht ganz, was den Effekt erklärt - Deleuze und Guatta­ri nämlich schlagen durchaus eine Strategie der freizusetzenden Strukturen vor, und mit dem ,Rhizom' ein Denkbild, das vorgibt, wie die angesprochene ,Ver­koppelung der Ströme' funktionieren könnte. Rhizom ist der botanische Aus­druck für einen untergründig verzweigten Wurzelwerk, wobei Wurzel und Trieb nicht unterscheidbar sind; es wird hier zur Metapher für ein strategisches Projekt gemacht. 5 ° Mit dieser biologischen Konnotation steht der Ausdruck für das orga­nisch Gewachsene ("Weisheit der Pflanzen" ) , für wuchernden Wuchs und Verä­stelung, Ausbreitung, Verdichtung ( "Knollen" ) , und unsystematische Differen-

48 Deleuze I Guattari: Tausend Plateaus, op.cit.,

5.703 49 Hartmut Winkler: Docuverse. Zur Medien­

theorie der Computer, o.O.: Boer 1 997, S .338

50 In Weiterentwicklung der Differenz-Konzep­

tion bei Gilles Deleuze: Differenz und Wie­

derholung ( I 969). München: Fink 1 992;

Deleuze I Guattari: Tausend Plateaus, op.cit., S . l 6ff - Es ist unklar, ob Flusser diesen An­satz gekannt hat. Wir erinnern uns an das

Bild der müßigen Hände, das er als Bedin­

gung des Fortschritts gab (s.o .. Kap. I 3.4).

Sind die Hände frei. kann man etwas mit ih­nen anfangen, .zum Beispiel Wurzeln aus­graben, um sie zu essen.· Daher gilt folgen­

de, nur auf den ersten Blick paradox oder

gar zynisch erscheinende Voraussetzung:

.Zuerst philosophieren, dann essen.· - vgl.

Flusser: Vom Subjekt zum Projekt, op.cit., S. l 92

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302 Wunschmaschinen

zierungen - mithin für Formenvielfalt im Gegensatz zu jener Eindeutigkeit, die in der Moderne systematisch entfaltet wird ." Nomadologisch anstelle von monado­logisch, ist das Rhizom eine nonlineare (transversale) Vernetzungsmetapher, de­ren unmittelbare enorme Popularität" allein schon daher rührt, daß sie unter­und hintergründige Subversion verspricht und damit gegen das akademisch vor­herrschende Programm der Auslotung von Bedeutungstiefen antritt, die mit der Hermeneutik rechts des Rheins, mit dem Strukturalismus links des Rheins, und mit der jeweils zweckmäßig adaptierten Psychoanalyse beiderseits akademisch vertreten wurde. Gegen die akademische Version einer "Stimme der Vernunft" (Freud) tritt sie ganz im Foucaultschen Sinne für die Rechte der stammelnden und lallenden Stimme des Wahnsinns ein, die in der Kartographie einer manisch textuellen Kultur ausgeblendet worden ist.

Rhizom beansprucht vor allem aber auch eins: die Abkehr von den Emana­tionen einer "veralteten Schrittmaschine." Es betritt das Reich des Projektiven, von dem andernorts Flusser gesprochen hat. "Die Linie bildet keinen Umriß mehr und verläuft nun zwischen den Dingen und zwischen den Punkten. Sie gehört zu einem glatten Raum."" Es setzt sich mit der Praxis des Schreibens ( ,Kartographieren' ) auseinander, mit dem eigenen Medium des Ausdrucks, dem Buch. Es macht den Versuch zu zeigen, daß eine Kultur des Textes auf kollekti­ven Aussageverkettungen beruht und nicht auf einzelnen subjektiven Äußerun­gen. Schreiben heißt letztlich, Rhizome bauen: ein Geflecht von Zeichenverbin­dungen ermöglichen, die auf tausenden von Ebenen (mille plateaux) beliebig rea­lisiert werden können.

Zu den Merkmalen des Rhizoms gehört unter anderem zuerst eine allumfas­sende Konnektivität: "Jeder Punkt eines Rhizoms kann (und muß) mit jedem an­deren verbunden werden . " Hierin steckt eine fundamentale Kritik des Porphyri­schen Baumes als Sinnbild der traditionellen Logik." Neben der logischen wird die linguistische Ebene der Zeichenbezüge radikal kritisiert, da die rhizomarischen Verkettungen per definitionem indifferente Bezugsmöglichkeiten erlauben, mithin gegen die falschen Dualisierungen der Semiologie (Ferdinand de Saussure ) ste­hen, die "zwischen Zeichenregimen und ihren Objekten" einen Einschnitt ma­chen. Vieles deutet darauf hin, daß dieses Konzept des Rhizoms eigentlich ein verdeckter Protest gegen die Vorherrschaft des sprachwissenschaftlichen Ansat-

51 Dazu kritisch Zygmunt Bau man: Moderne

und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutig­

keit, Hamburg: Junius 1 992 52 Zur populären Rezeption um 1 980 vgl. etwa

Ariane Barth: ,.Luftwurzeln und Wildwuchs verlieben sich", in: Der Spiegel Nr.53, 1 980, 5.98- 1 02

53 Deleuze I Guattari: Tausend Plateaus, op.cit.,

S.700 54 ebd., S. l 6ff - Vgl. zu dieser Kritik Umberto

Eco: Semiotik und Philosophie der Sprache, op.cit . . S.92ff

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Wu nschmaschinen 303

zes in der französischen Theorietradition darstellt. Die neue Mediensituation mit Computer und Software, Informatik und Telekommunikation schafft B edingun­gen für Zeichensysteme, die sich der sprachwissenschaftlichen Analyse entzie­hen, auf die jedoch der rhizomatische Ansatz bruchlos anwendbar scheint.

Als Metapher der postliterarischen Kultur wird Rhizom in der Netzkultur der neunziger Jahre deshalb gerne verwendet, um .. alle Arten von nicht hierarchi­schen Netzwerken zu beschreiben."" Zwei Jahrzehnte nachdem Roland Barthes erstmals vom ,Tod des Autors' gesprochen hatte, wird unter diesen Aspekten die kulturelle Konstruktion ,Buch' hier vollends demontiert: es hat .. weder ein Ob­jekt noch ein Subjekt", es bezieht sich nur auf einen organlosen Körper, zu dem alles gehört, was das Buch im sozialen Kontext (Produzenten, Rezipienten) arti­kuliert . .. Es gibt keine Dreiteilung mehr zwischen einem Bereich der Realität (der Welt) , einem Bereich der Darstellung und Vorstellung (dem Buch ) und einem Bereich der Subjektivität (dem Autor ) . Vielmehr stellt ein Gefüge Verbindungen zwischen bestimmten Mannigfaltigkeiten aus all diesen Ordnungen her, so daß ein Buch seine Fortsetzung nicht im folgenden Buch findet und weder die Welt zum Objekt noch einen oder mehrere Autoren zum Subjekt hat. Kurz gesagt, wir meinen, daß man gar nicht genug im Namen eines Außen schreiben kann. Das Außen hat kein B ild, keine Signifikation und keine Subjektivität. Das Buch als Zusammenfügung mit dem Außen gegen das Buch als Bild der Welt. Ein Rhizom­B uch, das nicht mehr dichotom, zentriert oder gebündelt ist. Niemals Wurzeln schlagen oder anpflanzen, wie schwierig es auch sein mag, nicht auf diese a lten Verfahrensweisen zurückgreifen. " 5 6

Das enzyklopädische Projekt einer Lesbarmachung der Welt wird damit pro­grammatisch überwunden. Wie sieht es tatsächlich mit der Möglichkeit aus, im Namen eines Außen zu schreiben? Wenn es keinen Autor mehr gibt, geht dessen Macht dann auf den Leser über? Wenn Schreiben tatsächlich ein Kartographieren sein soll, wie Deleuze und Guattari es verlangen, wie realisiert sich dann am be­sten diese rhizomatische Form, die alles mit allem idiosynkratisch verknüpft, ganz unabhängig von der Vorgabe, die jenem Innen als absoluter Intentionalität des Autors entspricht? Man muß angeben können, wie aus dem passiven Rezi­pieren vorgefaßter Inhalte ein interaktives Gestalten wird, das dem Anteil der Le­ser am Text besser gerecht wird, mit anderen Worten: wie aus dem Text in einen Hypertext zu entkommen wäre, der die endlose Grammatik der Möglichkeiten nicht mehr künstlich beschneidet.

55 Vgl. die Websire von Rhizom. http://www.rhi· http:llwww.heise.de!tp/deutschlspecial!med!6344

zome.org - dazu die radikale Kritik von Rieb- 1/.html

ard Barbrook: Die heiligen Narren. Deleuze. 56 Deleuze I Guattari: Ta usend Plateaus. op.cit.. Guattari und die High -Tech Geschenksöko- 5.38 nomie. in: Telepolis, Dez. 1 998 -

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304 Wunschmaschinen

Die Ironie der Geschichte ist, daß Jahrzehnte zuvor ausgerechnet ein Agent der ,Reterritorialisierung' ein revolutionäres Konzept dazu entworfen hatte, für das man sich im Mai '68 und danach natürlich nicht interessierte: Vannevar Bush, Entwickler des Analogrechners Differential Analyzer am MIT und Wissenschaftler des amerikanischen Verteidigungsministeriums. Ein Zufall ist es nicht, denn Bush arbeitete in einem Kontext. in dem die Organisation und die Reproduktion von Wissen längst nicht mehr über die monographische Arbeitsform der Geisteswis­senschaften und deren Produkt, das Buch, lief.

Als Forschungsdirektor des Office of Scientific Research and Development hatte Bush während des Zweiten Weltkriegs, als erstmals die legendären amerikani­schen Think-Tanks entstanden, die Vertreter verschiedenster wissenschaftlicher Disziplinen zur interdisziplinären Zusammenarbeit ( im Sinne der Nutzung der Wissenschaften zur Kriegführung) zu organisieren. Welche Fragen entstehen, wenn man die Arbeit hunderter oder gar tausender Fachleute koordinieren muß? Wie sollten die rudimentären Kooperationsformen, die kommunikative Basis des Wissenstransfers, nach Kriegsende angemessen weiterentwickelt wer­den? Bushs Antwort auf diese Fragen läßt erkennen: die Anschlußfähigkeit an die Menge relevanten Informationsmaterials, das von niemandem mehr zur Gänze gelesen werden kann - und auch gar nicht gelesen werden soll - liegt in der Frage der kommunikativen Organisation von Wissen und einer konkreten Entwicklung neuer Technologien.

Im Juli 1 945 veröffentlichte das amerikaDisehe Magazin ,The Atlantic Monthly'

einen Text von Vannevar Bush mit dem Titel .. As We May Think"", den man mit Blick auf die gegenwärtige Mediensituation als ,visionär' bezeichnen mag, dessen wichtigster Aspekt aber wohl darin liegt, das Problem der kommenden Wissens­gesellschaft früh erkannt zu haben: jeder Forschende unter einer Vielzahl ande­rer Forscher sieht sich mit Unmengen von spezialisierten Ergebnissen konfron­tiert. Die Wissensverarbeitung, ausgestattet mit den Werkzeugen einer literari­schen Gesellschaft, kann mit der Wissenserzeugung in einer komplexer gewordenen Gesellschaft nicht mehr mithalten. Problematisch wird die Datens­elektion und die Informationsorganisation, und hier müssen neue Möglichkeiten gefunden werden als die dem alphanumerischen Code verpflichtete Hierarchi­sierung. Richteten die technischen Innovationen der Vergangenheit sich immer

57 Wieder in: James M.Nyce I Paul Kahn: From MEMEX to Hypertext. Vannevar Bush and the Mind's Machine, Boston: Academic Press

1 992. Online ist Bushs Artikel zugänglich unter http://www.theatlantic.comlunboundlf/as·

hbks/computer/bushfhtm - eine gekürzte deutsche Fassung mit Kommentar von Hartmut Winkler findet sich unter

http://wwww.uni·paderbom.de/-winklerlbush· d.html

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Wunschmaschinen 305

darauf, die körperlichen Kräfte der Menschen zu verstärken, so wäre es jetzt an der Zeit, die geistigen Kräfte auszuweiten.

In seinem Text schlägt Bush eine Befreiung des menschlichen Geistes dadurch vor, daß bestimmte repetitive mentale Tätigkeiten rationalisiert werden. Er hatte dabei natürlich die j üngst entwickelten ,computing machines' im Auge, die genau dies leisten könnten, wenn repetitives und kreatives Denken nur streng ausein­andergehalten werden. Wie bereits weiter oben bemerkt, geht es Bush nicht um künstliche Intelligenz, sondern um Intelligenzverstärkung - lntelligence Amplifica­

tion statt Artificial Intelligence." Dazu müßte das Problem der Auswahl, der Daten­selektion, in Angriff genommen werden; ganz zentral ist unser Unvermögen, an die Ressourcen des Wissens auch tatsächlich heranzukommen, wenn wir sie brauchen:

"Professionally our methods of transmitring and reviewing the results of rese­arch are generations old and by now are totally indequate for their purpose. ( . . . ) [The real heart of the matter] is our ineptitude in getting at the record (which) is largely caused by the artificiality of systems of indexing." Diese Künstlichkeit der Verwaltung von Wissen findet sich in jeder Bibliothek und ist damit ein Effekt des typographischen Prinzips unserer Kultur. "When data of any sort are placed in storage, they are filed alphabetically or numerically, and information is found (when it is) by tracing it down from subdass to subclass. It can be in only one pla­ce, unless duplicates are used; one has to have rules as to which path will locate it, and the rules are cumbersome. Having found one item, moreover, one has to emerge from the system and re-enter on a new path. The human mind does not work that way. It operates by association. With one item in its grasp, it snaps in­stantly to the next that is suggested by the assiciation of thoughts, in accordance with some intricate web of trails carried by the cells of the brain . ""

Die aus dieser Diagnose gezogene Botschaft ist folgende: spezifische Kultur­techniken haben aufgrund anderer Prioritäten die Eigenart, in der das menschli­

che Gehirn arbeitet, mißachtet und verletzt, und nur mit fortgeschrittener Tech­nologie kann es uns gelingen, durch so etwas wie "assoziatives Indexieren" eine Alternative zu finden und so den Herausforderungen einer Wissensgesellschaft zu begegnen. Bush skizzierte dazu eine Maschine, die er MEMEX nannte, und die eine nicht mechanische, sondern eben assoziative Indexierung von Wissen und damit ein völlig neuartiges Informationsmanagement vorsieht. Die Maschine

sollte es erlauben, Informationen individuell zu kontextualisieren und miteinan­der zu verweben, ohne den Vorgaben der alphanumerischen Codierung gehor­chen zu müssen. Sie war konzipiert als eine Art Schreibtisch, dessen Schreib-

58 Vgl. dazu Howard Rheingold: Tools for 59 Bush: As We May Think. l.cit. Thought. New York: Sirnon & Schuster 1 985

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306 Wunschmaschinen

fläche mit Touchscreen und integriertem fotografischen Scanner angelegt war und Annotationsfunktionen zu allen vorhandenen Informationen erlaubte - "a future device for individual use, which is a sort of mechanized private file and library ( . . . ) and which is mechanized so that it may be consulted with exceeding speed and flexibility" - und sollte mittels der Anlegung von Pfaden ("trails" ) zwischen gespeicherten Elementen von Wissen in ihrer Kapazität mit dem Benutzer wach­sen . Diese werden zu Informationsnomaden, die auf immer größere individuelle Datenbanken zurückgreifen können, ja es wird sogar ein neuer Berufszweig von Fährtensuchern entstehen, die sich damit beschäftigen, nützliche Pfade durch die ungeheure Menge von Aufzeichnungen und Dokumenten anzulegen: "There is a new profession of trial blazers, those who find delight in the task of establishing usefuls trails through the enormaus mass of the common record. "60

Die MEMEX entstammt dem Forschungskontext der mechanischen Analog­Computer, sie entstand als Prototyp, wurde allerdings nie in Serie gebaut. Ihre grundlegende Idee jedoch ist erhalten geblieben: Informationen zu verknüpfen, um sie für den individuellen Gebrauch anpassen und sinnvoll benützen zu kön­nen. Wenn solche Verknüpfungen den Austausch ermöglichen, dann wird die "logische Maschine" nicht nur Intelligenzverstärker, sondern Infrastruktur für kollektive Intelligenz. Sie ist dann kein Werkzeug mehr, sondern ein Medium, das verschiedenen Nutzern den Austausch ihrer ,Denkpfade' erlaubt und somit Wissen grundlegend mit Kommunikation verknüpft. Die Pfade, die sich die Be­nutzer zwischen verschiedenen Wissensbereichen und Informationseinheiten anlegen würden, würden aus dem Text der Wissens einen potentiell unbegrenz­ten Hypertext entstehen lassen. Die Vorstellungen von Bush wurden grundle­gend nicht nur für die Weiterentwicklung des Computers in Richtung der Onli­ne-Vernetzung" sondern auch der Entwicklung von Hypermedia Informations­systemen.•'

60 ebd. 61 Martin Greenberger: The Computers of To­

morrow, in: The Atlantic Monthly, May

1 964 - http://www.theat/antic.com/unbound! flashbks!computer/greenbfhtm; vgl. weiters

Joseph R.C .L. Lieklider I Roben W. Taylor: The Computer as a Communication Device

( 1 968) - http:llwww.memex.orgllicklider.html

62 Die prominenteste Fortsetzung fand Bushs

Gedanke in Ted Nelsons Hypertext-Projekt

Xanadu, siehe http://www.sfc.keio.ac.jpl-ted! XU/XuPageKeio.html - Vgl. dazu Gary Wolf: The Curse of Xanadu, in: WIRED 3.06, Juni 1 995 - http://www.wired.com/wired!archi­ve/3.06/xanadu.html

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Abbildung 23 down Ioad http://jodi.org

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1 4. Kapitel - Netzkultur.

Leben i m Datenstrom

.,Das Datenuniversum tritt ein Erbe an, das es von den

Bildmedien übernimmt,und die gemeinsame Basis ist der

Antrieb, die Defekte der Sprache zu überwinden. "

Hartmut Winkler

1 4. 1 . Technokulturelle Kommunikationsordnungen

Mit dem "Netz" hat sich in den letzten Jahren eine neue Medienwirklichkeit her­ausgebildet, an der die herkömmliche, an massenmedialer Kommunikation ge­schulte publizistikwissenschaftliche Analyse bislang scheitert. Es Jassen sich an dieser Medienwirklichkeit mehrere Formen der Wahrnehmung unterscheiden, die alle zwischen der infrastrukturellen Materialität, der Technik der Endgeräte, der Technologie der eingesetzten Software, den Absichten der Content-Provider, der Wirklichkeit der Anwender, der kulturellen Realität, den politischen und wirtschaftlichen Strategien changieren. Es ist, mit anderen Worten, ein vielfälti­ges kommunikatives Phänomen, dessen sozialpolitische Dimension in Europa mit dem neuen Terminus der Jnformationsgesellschaft' umschrieben wird und angesichts dessen sich die kommunikationswissenschaftliehen Ansätze seltsam blaß ausnehmen. Zugleich mit der ersten Aufregung darüber, daß es so etwas wie das Internet' gibt, ist die Literatur zum Thema ziemlich inflationär geworden.

Die Vielfalt der Perspektiven, die das Internet durch seine allgemeine Zugäng­lichkeit kulturell eröffnet, übersteigt den Kanonisierungszwang der akademi­schen Disziplinen. Ihr Instrumentarium reicht nicht aus, um die Transformation der Kommunikationsverhältnisse, die derzeit als Irrfahrt zwischen Bildern und Texten erfahren wird, zu begreifen. Noch gibt es keine Cultural Studies ofthe ,net'. Dazu kommt das methodologische Dilemma, daß die gesellschaftlichen Auswir-

Zur technischen Entwicklung vgl. Katie Haf­ner I Matthew Lyon: Where wizards stay up

late: the origins of the Internet, New York: Touchstone 1 998

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Leben im Datenstrom 309

kungen der digitalen Multimedia -Technologie sich aus ihrer gegenwärtigen Pra­xis nur unzureichend erschließen - womit sich das prophetische Potential aller zugehörigen Rahmenüberlegungen wiederum drastisch erhöht. D ie einschlägi­gen Publikationen lassen ein diesbezügliches zeitdiagnostisches Potential vermis­sen und ergehen sich oftmals in Pathos und Konjunktivformeln, womit sie sich unbewußt dem hoffnungslos ausgedienten Technikoptimismus der Futurologen vergangener Jahrzehnte angleichen.'

Die fehlende Anschlußfähigkeit an die akademischen Theoriebildungsrituale erzeugt zuerst eine Verunsicherung, bürgt aber weiters wiederum für ein unge­heures Versprechen, welches ebenso den Boden für diverse fundamentalistische Kommunikationsvorstellungen bildet, wie es den Mythos einer gesellschaftli­chen Wiedergeburt allein aus dem Geist der Technik nährt. Das Internet ist für die neunziger Jahre wahrscheinlich das, was die Raumfahrt für die sechziger Jah­re war: es vereint eine visionäre Perspektive für die Menschheit mit der schnö­den technischen Alltagspraxis der Ingenieure, die utopische Wunschvorstellung mit der materiellen Basis des Fortschritts. Wie schon beim Apollo-Programm und der medial unifizierenden Mondlandung diese Ingenieursperspektive durch my­thologisierende Medienprodukte wie ,Starship Enterprise', so wird derzeit die In­frastukturentwicklung des ,Netzes' ideologisch überhöht - mit gesellschaftspoli­tisch aufgeladenen Visionen über geglückte Kommunikation jenseits bestehen­der gesellschaftlicher Zwänge, über das Versprechen allgemeiner Demokratie und über das Bit-business, die Vision vom Ecommerce, eines entgrenzten e lektronischen Marktplatzes. Sollen wir nun die visionäre Rede übernehmen oder uns im kul­turkritischen Pessimismus üben?

Starten wir statt dessen den Versuch, dieses Phänomen an einigen seiner Er­scheinungsformen zu rekonstruieren, um damit ein Stück ,Netzwirklichkeit' be­grifflich zu erschließen. Mit anderen Worten: welche Ausprägungen jenseits der technischen Details, aber auch jenseits des vielbeschworenen Hypes über die ,di­gitale Kultur', weist der theoretische Diskurs über das ,Netz' bzw. das ,Web' der­zeit auf? Und wer stellt die Akteure dieses Diskurses, die neue virtuelle Klasse oder eher doch die Bitsphere Communities?

Das umfassend rekonstruktive und zeirdia· gnostische Niveau, welches Marshall McLu· han mit Understanding Media ( 1 964) vorge· geben hat, wird von der gegenwärtigen Medientheorie m.E. nicht eingeholt. Zur fu· turologischen Mimesis vgl. die Überlegun· gen zu den .,bitsphere communities" in Wil· liam J. Mitchel l : City of Bits. Space, Place

and the Infobahn, MIT Press 1 996 bzw. zum .,digitalen Sein" von Niebolas Negroponte: Being Digital. New York: Knopf 1 995, zur neuen .,Biologie der Masch inen" von Kevin Kelly: Out of Control, op.cit., oder auch zur .kollektiven Intelligenz" von Pierre Levy, op.cit.

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310 Netzkultur

1 4.2. Netzkultur. Virtuel le Vergemeinschaftung

Das Internet ist der Einsatzort des Computers als Medium, und stellt damit einen genuinen Mißbrauch dar, da die Rechenmaschine zur Kommunikation zweck­entfremdet wurde. Das ist zwar kurzschlüssig formuliert, doch dazu später. Es ist weiters die Universalistische Basis für partikulare Vorstellungen, die sich mit der Hoffnung einer Flucht aus den defizitären Vergesellschaftungsformen der westli­chen Kultur verbinden, mit all ihren unerfüllten Versprechungen in Richtung ei­ner symbolischen Gemeinschaft jenseits der abstrakten Gesellschaft . ' Es ver­spricht ein veritables Stück von jenem ,ganz Anderen', das die Sozialphilosophen dieses Jahrhunderts nur andeutungsweise zu thematisieren wagten. Handelt es sich dabei nun um eine digitale ,Sinnprovinz' oder gar um den Ort einer neuen ,sozialen Geburt'?

Doch so einfach dichatomisierend läßt sich die Frage wohl gar nicht stellen. Denn der Begriff einer Provinz evoziert den Gegenbegriff eines Zentrums, einer zentralen S inngebungsinstanz als fiktionalem Fluchtpunkt der Gesellschaft. D ie­se implizite Annahme ist der Grund für die im Kontext der europäischen Theo­riebildung seit langem (etwa seit Schopenhauer) praktizierte Logik des Zerfalls, nach der Medienwirklichkeiten behandelt werden. Überflüssig zu sagen, daß dies der gegenwärtigen Situation nicht mehr gerecht wird.' Die uns über Interface­Strukturen zugänglichen elektronischen Medien verkörpern eine Oberfläche oder eine Oberflächlichkeit par excellence, gegen die die falsche Tiefe der europäi­schen Geistestradition in all ihrer philologischen Konstruiertheil aufzubieten schlicht hoffnungslos wäre. Es gibt aber auch die Alternative des S ich-Einlassens auf die Medienwirklichkeit, deren theoretischer Ausgangspunkt eine Phänome­nologie der Medialität im Übergang darstellt, wie Viiern Flusser sie in seinem "Lob der Oberflächlichkeit" gewagt hat. Deren Praxis inspiriert ein neu es technophilo­sophisches Diskursfeld jenseits der akademischen Konventionen: "Alle Kunstfor­men werden durch die Digitalisierung zu exakten wissenschaftlichen Disziplinen

Exemplarisch etwa John Perry Barlows Ma­nifest: Unabhängigkeitserklärung des Cyber­space, in: Telepolis. Zeitschrift für Netzkul­

tur, Nr.0 / 1 996, 5.85-88. Vgl. dazu die Kritik

von Richard Barbrook I Andy Cameron: Die

kalifornisehe Ideologie, in: Nettime ( Hg.) : Netzkritik. Materialien zu Internet-Debatte, Berlin: ID-Archiv 1 997, 5 . 1 5-36

4 In einer Grobcharakterisierung ließe sich be­haupten, daß nach der den westlichen phi­losophischen Diskurs bestimmenden Er-

kenntniskritik, der Sprachkritik und der impli­zit damit korrespondierenden Kulturkritik ei­

ne neue kritische Form zur Bestimmung der

,Bedingungen der Möglichkeit' einer Infor­

mationsgesellschaft gefunden werden muß. für die vorläufig der Platzhalter .. Daten­kritik" einzusetzen wäre; vgl. Frank Hart­mann: Cyberphilosophie. Von der Sprach­kritik zur Datenkritik, in: MedienjournaL 23 . Jg. Nr. l / 1 999, 5 . 1 9-28

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Leben im Datenstrom 3 1 1

und können von der Wissenschaft nicht mehr unterschieden werden." ' Was dann noch bleibt, ist die digitale Wirklichkeit oder der " Schein des Materials".

Das Internet ist zuerst, von der Wahrnehmungsform her, eine solche postma­teriale Form, eine durch die graphische Benutzeroberfläche vermittelte Kommu­nikationsstruktur. Die alltägliche Erscheinungsform bzw. dieses Interface des In­ternet ist mittlerweile das WWW geworden, also das World-Wide-Web oder kurz "Web" genannt. Es kann einfach als die Oberfläche gesehen werden, als die es entwickelt wurde, um die elektronischen Datenstrukturen als zunächst wissen­schaftliches Kommunikations- und Publikationsmedium zu popularisieren. Das Web besteht in einem subtilen Zusammenspiel von analoger und digitaler Infra­struktur mit den Softwareprotokollen, wobei aus keineswegs gemeinnützigem Interesse stets neue Anwendungen generiert werden: Browser mit speziellen Scripts, Plug-ins, Editoren, Audio- und Videoapplikationen. Das "Netz" ist dabei weder ortlos und immateriell, sondern zeigt durchaus ein geopolitisches Gefälle von West nach Ost und von Nord nach Süd, in dem sich auch die ökonomischen und technischen Ungleichheiten widerspiegeln. Innerhalb dieses Gefälles wer­den die verschiedenen nationalen User-Communities generiert und nach weite­ren Interessen ausdifferenziert.

Dies ist von soziologischem Interesse, vor allem da sich nicht bloß neue Dis­tributions- und Kommunikationskanäle entwickeln, sondern auch neue Formen "virtueller Vergemeinschaftung" entstehen. • Welche gesellschaftlichen Implika­tionen die computervermittelte Kommunikation im erweiterten Spektrum von Telewarking bis Teleshopping dabei auch annimmt, sie ist längst darüber hinaus, lediglich eine neue Subkultur auszubilden: die Kulturtechnik im Übergang gene­riert neue, multimediale Publizitätsformen und eine neue Kommunikationskul­tur. Doch damit nicht genug: die reale Netzkultur dient auch als Folie für soziale Utopien, für eine umfassende Erneuerung des kulturellen Geisteslebens: "Nach­dem die sozialen Utopien der Moderne gescheitert sind und aufgegeben wurden, scheint sich die Sehnsucht nach Gemeinschaft heute durch den Cyberspace er­füllen zu lassen, während sie gleichzeitig im realen Raum durch die Errichtung neuer Mauern in der dualen Stadt eingelöst wird. "7

Doch läßt sich diese Diagnose auch umkehren, denn die Gesetze des realen Raums sind im kybernetischen Raum nicht aufgehoben, entsprechend differen­ziert stellt sich letzterer auch schon dar. Sicher erschließt der Cyberspace neue so-

Vilem Flusser: Lob der Oberflächlichkeit.

op.cit . . 5.284 6 Lorenz Gräf I Markus Krajewski (Hg. ) : So­

ziologie des Internet. Handeln im elektroni­schen Web-Werk, Frankfurt: Campus 1 997

7 Florian Rötzer: Digitale Weltentwürfe. Streifzüge durch die Netzkult ur, München: Hanser 1 998, 5.205

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312 Netzkultur

ziale Räume und neue Lebenswelten, aber weder sind diese unabhängig von der realen Welt noch ist diese unabhängig von der neuen Informationsökonomie. Der grundsätzliche Fehler wäre der, die Netzkultur als etwas darzustellen, auf das sich eine homogenes Bild der Öffentlichkeit übertragen läßt: eine von allen ge­teilte Wirklichkeit ist das Phantasma einer zentralisierten Kommunikationsord­nung der vergangeneu Rundfunk-Ära.'

14.3. Unbekanntes Theorie-Objekt

Jede Beschreibung vom Ist-Zustand dieser neuen Publizitätssphäre hängt von ei­ner technischen Dynamik ab, die gänzlich andere Bedingungen diktiert als der herkömmliche Kulturraum. Die Infrastruktur und die Hardware werden ständig erneuert, schon im Augenblick ihrer tatsächlichen Implementierung durch die Anwender sind die meisten Geräte tendenziell veraltet. Software und Betriebs­systeme des ,Cyberspace' durchlaufen rasche Innovationszyklen, und damit auch das Interface zwischen Maschinen und ihren Benutzern. Das WWW als multi­medialer Anwendungsteil des Internet gibt es erst seit 1 990, ebenso auf dessen Hypertext-Transfer-Protokoll (http) basierende Browser. Inhaltlich weist das Web eine Flüchtigkeit von 44% auf ( IP-Adressen, die im Jahr 1 998 identifizierte Web­Sites 1 999 nicht mehr als existent identifizieren konnten) .

Und dennoch: waren Anfang der siebziger Jahre 256 IP-Adressen (Inter-Pro­tokoll, als Hauptadressen zur Verwaltung von Subnetzen) geplant, besteht eine IP-Adresse heute aus vier dreisteiligen Ziffern: die Zahl der 32-bit-Adressen wird Mitte 1 999 in einer laufenden Studie mit 4.294.967.296 beziffert. Allein zwi­schen 1 997 und 1 999 liegt der prozentuelle Zuwachs an internationalen Web­Sites bei insgesamt 2 1 1 % - fast 5 Millionen Web-Sites.

WWW - Wachstum (OCLC) 1997 Web-Sites 1 . 570.000

Unique Sites 1 .230.000

Public Sites 800.000

Private Sites

June I 999 Web Statistics '

8 Vgl. Rudolf Maresch: Öffentlichkeit im Netz. Ein Phantasma schreibt sich fort, in: Stefan

Münker I AJexander Roesler (Hg.) : Mythos

Internet, Frankfurt: Suhrkamp 1 997, S . l 9 3ff 9 Quelle für Zahlenangaben und Tabelle:

OCLC Research I Web Characterization Pro-

1998 1999 2.85 1 .000 4.882.000

2.035.000 3 .649.000

1 .457.000 2.229.000

389.000

ject (Online Computer Library Center, Inc.,

Ohio) - http:llwww.oclc.orgloclc/researchlprojec­ts/webstatslstatistics.htm

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Leben im Datenstrom 313

Die momentane Dynamik des Webs spottet nahezu jeder Festschreibung, während die mangelhafte öffentliche Infrastruktur oder besser, die allgemein fehlende Bandbreite, in der Praxis des Webs wiederum für jene Statik sorgt, die zu den bekannten abfälligen Wortspielereien einlädt: WWW alias World-Wide­

Wait, World-Wide- Wedge, etc. Das Web kann aus diesen Beobachtungen heraus für den Paradefall eines UTOs - eines unbekannten Theorie-Objekts (Agentur Bil­wet), über das es jenseits seiner Entstehungsgeschichte und seiner technischen Details zunächst wenig zu sagen gibt.

Ein Objekt jenseits der konkreten Beschreibung aber auch, welches sich nicht weniger durch "zufällige Verdichtungen des theoretischen Feldes" via spekulati­ve medientheoretische Aussagen kristallisiert . ' 0 Das Web als Theorie-Objekt hat zumindest zwei unbekannte Komponenten: .,.. Einerseits als Objekt - was genau ist dieses elektronische Netz, über dessen Da­

tenstrom man mittels Software-Browsern ,surft'? Läßt sich diese lebendige Praxis - das Leben im Datenstrom - nach einem informationstheoretischen Materialismus überhaupt noch begreifen?

.,.. Andererseits hinsichtlich der theoretischen Metaebene - welche etablierte Theorie der Massenmedien ist schon vorbereitet auf die neue Kulturtechnik, die sich mit diesen interaktiven Medienanwendungen zeigt? Besteht hier ein absoluter Kulturbruch, oder bestimmen nicht vielmehr doch die medienge­schichtlichen Kontinuitäten die neue Lage? Diese Fragen seien nicht mit der Aussicht auf ihre konkrete Beantwortung ge­

stellt, sondern mit der Absicht zur Kontextualisierung eines Diskurses, der zu­nehmend auch außerakademisch geführt wird und direkt mit dem ,Netz' in sei­ner Existenzform des ,Webs' zu tun hat. Im folgenden widmen wir uns zwei For­men der Annäherung an diese neue Medienwirklichkeit, ergänzt durch eine Überlegung zur Struktur des elektronischen Raums (und der verschobenen Be­deutung von Öffentlich und Privat), um danach auf einige Fragen zur Transfor­mation von Publizität zurückzukommen.

14.4. Theorie der virtuellen Klasse

Der Blick auf die neue Medienwirklichkeit ist nicht selten ein durch apokalypti­sche Kulturkritik geprägter. Dem Neuen wird mit jenem Unverständnis begegnet,

10 In ihrem 1 992 zusammengetragenen _Medi­en-Archiv" war das Web für ADLIKNO =

Agentur Bilwet selbst noch ein veritables UTO. Gleichwohl eignet sich dieser Begriff eines Textes von der Schwelle des medialen

Umbruchs als Vorbild für unser medientheo-

retisches Schreiben, das entsprechend nicht

auf Theorie, sondern auf _geladene Theorie­teilchen" (ebd.) abzielt. Vgl. Agentur Bilwet: Medien-Archiv. Düsseldorf: Ballmann I 993 - http:/lthing.desk.nl/bilwet

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314 Netzkultur

das historisch mit der Wahrung überkommener intellektueller Bildungsprivilegi­en zu tun haben dürfte. Darauf bezogen verkörpert die Existenz des Netzes an sich schon einen Bruch, auf den die Intellektuellen erwartungsgemäß abweh­rend reagierten - da eine Ideologiekritik des Computers" selbstwidersprüchlich schien, wurde Medientheorie in der Sprache der Technologie betrieben und ten­denziell von allen gesellschaftlichen Referenzen gereinigt . "

Abgewertet durch die neue Mediensituation, blieb den Intellektuellen neben der Apokalypse nur die Integration: ein insgeheimes Eingeständnis ihres E in­flußverlustes auf Gesellschaft und Medien (s.o. Exkurs 2). Überflüssig zu betonen, daß, während die Apokalyptiker mit melancholischen Warnungen aufwarten und die Integrierten in die Nähe der Kommerzialisierung rücken, neben dem daraus folgenden Pessimismus einerseits und dem Zynismus andererseits - als über den Medien stehenden, distanzierenden Haltungen - der Kritik als Funkti­on des intellektuellen Diskurses in den Medien selbst der Boden entzogen ist.

Ihre Wiederauferstehung feierten die Intellektuellen der Technokultur in der zynischen Allianz mit dem Business als "virtuelle Klasse" der Wired culture. Diese definiert sich durch jenen Willen zur Virtualität, der bereitwillig soziale Energien in sich aufsaugt, als eine - in der Definition von Artbur Kroker - gegen die öf­fentliche Dimension des Internet gerichteten Bewegung des ,Post-Spätkapitalis­mus':

"The information highway is the antithesis of the Net, in much the same way as the virtual dass must destroy the public dimension of the Internet for its own survival. The informational technology of the Internet as a new force of virtual production provides the social conditions necessary for instituting fundamental­ly new relations of electronic creation. ( . . . ) The drive into the Net is one of tho­se great capitalist techno-projects that depends upon a concert of interests to su­stain it, as it sucks social energy into itself." "

Es scheint, wie wenn aus der Unfähigkeit zu einer kultur- und sozialwissen­schaftlich bedeutsamen Medientheorie eine direkte Brücke zu den ideologischen Prämissen einer auf Hochglanz polierten Netzwirklichkeit führt, mit der und in der sich gute Geschäfte machen lassen. Womit sich die Theorie schwer tut, das

11 Die kulturphilosophische Anstrengung be­stand darin, die Anmaßungen der Artificial llllelligence-Forschung abzuwehren, vgl. etwa

Huben Dreyfus: What Computers Can't Do.

The Limits of Artificial lntelligence, New

York 1 972 12 Vgl. zum Beispiel Friedrich Kit:tler: Draet1las

Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig: Reclam 1 993

1 3 Vgl. Arthur Kroker I Michael A.Weinstein:

Data Trash. The theory o[ the virtual dass, New York: St. Manins Press 1 994, 5.7 bzw.

S . l 7f

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Leben im Datenstrom 3 1 5

mag in der Praxis manchmal wiederum recht gut funktionieren. D ie Dynamik des Webs verbindet sich mit einer mehrschichtigen Handlungsebene, die sich in verschiedensten Handlungsanleitungen manifestiert: Think the web - Bui/d the web - Surfthe web - Work the web - etc., so lauten die Rubriken der wöchentlichen, ent­wicklungsorientierten Online-Archaeology von ,Hotwired' . Mit der neuen, vir­tuellen Klasse artikuliert sich die Goldgräberstimmung eines Cyber-Kapitalismus, der als intellektuelle Alternative zum europäischen Erbe der pessimistischen Kul­turkritik auftritt und dessen unbedarfte Devise lautet. im Web und mit dem Web um der Aktivität (und natürlich um des Geschäfts) willen aktiv zu sein.

Das kulturelle Paradigma dieser Bewegung, die von der kaliforniseben ,Mau­er des Pazifik' (e ine Metapher von Jean-Fran<;ois Lyotard) abgeprallt und über den amerikanischen Kontinent nach Europa geschwappt ist, wäre das der mas­senmedialen Unterhaltungskultur von ,Push Media' . Emblematisch verkörpert wird es von einem prominenten Print-Ableger der Web-Kultur, dem seit 1 993 in San Francisco produzierten Magazin WIRED; ein Produkt. das für einen aus tech­nologiegläubiger Wissenschaft, neoliberalistischem Unternehmertum und sub­kulturellen Pop-Ikonen gemischten Lifestyle steht. Doch dieses Zentralorgan der digitalen Revolution, das in einer monatlichen Auflage von 3 50.000 Stück in 80 Ländern der Welt distribuiert wird, scheiterte jüngst mit dem Lancieren einer bri­tischen ebenso wie mit der Gründung einer deutschen Ausgabe.

Vergleichbare europäische Publikationen gibt es wenig, auch wenn die größe­ren Verlagsunternehmen jetzt mit den üblichen Imitationsprodukten einsteigen. Alternative Produkte zur Netzkultur, wie das Online erscheinende Magazin TE­LEPOLIS, sind deutlich akademischer orientiert. " Die europäische Annäherung an den Netzdiskurs ist insgesamt skeptischer geprägt als die technikeuphorische amerikanische Westcoast-Ideologie . " Der Skeptizismus scheint sich geradezu als dritter Weg zwischen Apokalypse und Integration anzubieten. Eine Vorausset­zung dafür steckt bereits in der offiziellen Ablehnung des amerikanischen Be­griffs der Datenautobahn oder des Informationhighways in der offiziellen Dok­trin der Europäischen Kommission, die hier dezidiert den (vordergründig sozia­leren) Gegenbegriff einer Informationsgesellschaft geprägt hat. '•

14 http://www.heise.de/rp ( Eine anfänglich paral­lel erscheinende Druckausgabe wu rde in­zwischen eingestellt)

15 Barbrook/Cameron: Die kalifornisehe Ideo­logie. op.cit.

16 Vgl. den sogena nnten Bangema�m-Reporr:

.. Europe and the Global Informalion So-

ciety"'. High-Level Group on the Information Society. Brüssel 1 994 - Vgl. dazu Frank Hartmann: Annäherung an eine Metapher. in ders. (Hg. ) : lnformationsgesellschaft. So­zialwissenschaftliche Aspekte. Wien: Forum Sozialforsch ung 1 998. S.9-22

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3 1 6 Netzkultur

1 4.5. Zur Topographie des elektron ischen Raums

Eigentlich liegt der Widerspruch ja auf der Hand: die Web-Kultur wird als das ganz ,Andere' vorgestellt, als ein Produkt, das aus der gegenkulturellen Bewe­gung der sechziger Jahre hervorgegangen ist, und gleichzeitig als Ort der neuen Mainstream-Kultur des kommenden Jahrhunderts, mit der sich wunderbarer­weise gute Geschäfte machen lassen. Die zukünftige Machtordnung antizipie­rend, wird das ,Netz' zur Abbildung veränderter Strukturen, zur vorgreifenden Utopie eines Jenseits der Industriegesellschaft.

Die neuen Machtstrukturen drehen sich um Effekte elektronischer Vernet­zung, deren ökonomische Bedingungen der Möglichkeit noch weitgehend un­verstanden bleiben. Es sind mythologische und ideologische Muster außerhalb der Netze, und zudem gänzlich außermediale ökonomische Strukturen, die eine Reproduktion der (real funktionierenden) Herrschaftsverhältnisse garantieren. Allenthalben erhebt sich jüngst das Gerede von der Gefährdung des ,Netzes' durch seine Kommerzialisierung. Mit S icherheit ist das Datennetz aber noch nie, wie der Mythos das haben will, ein machtfreier Raum gewesen. Dazu gehört, daß die Praxis der computermediatisierten Kommunikation sehr viel breiter ist, als gemeinhin in der Rede über das Internet angenommen wird. Unsere privaten Vorstellungen über den Cyberspace, den elektronisch erschlossenen Raum, sind limitiert und nur in einem relativ beschränkten Diskurs gültig, die Abwehrhal­tung der etablierten Printmedien tut ein übriges, um die negaitven Klischees zu tradieren. Deshalb wird zunehmend die berechtigte Forderung erhoben, das Netz zu retheoretisieren, um seine realen Bedingungen jenseits der sozialutopischen Vorstellungen zu begreifen.

Eine profunde sozialwissenschaftliche Entmythologisierung tut also not; dazu gehört die ,netzkritische' Einsicht, daß das, was wir gemeinhin mit dem ,Netz', also dem Internet bezeichnen, nur etwas mehr als ein Viertel der gegenwärtig be­stehenden elektronischen Netze ausmacht, deren Zahl mittlerweile über 40.000 betragen dürfte. Sich den realen Grundlagen unter diesen Bedingungen zuzu­wenden heißt, ein neues kritisches Instrumentarium zu entwickeln, das die Komplexität der Telematik als ökonomisches Phänomen nicht unterläuft. Dazu gehört die Anerkennung der Tatsache, daß die Gesetze des Realraumes hier eben nicht außer Kraft gesetzt sind: die entscheidenden Aktivitäten politischer und wirtschaftlicher Natur, darauf insistiert Saskia Sassen, werden außerhalb des vir­tuellen Raums gesetzt. 17 Ebenso befinden sich die Grundlagen der Informations-

17 Saskia Sassen: Cyber·Segmentierungen. Elektronischer Raum und Macht. in: Mün·

ker 1 Roesler (Hg. ) : Mythos Internet, op.cit., 5.2 I 5-235

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Leben im Datenstrom 317

industrie außerhalb jener Sphäre, in der s ie zur Wirksamkeit kommen: be i den telematischen Technologien handelt es sich um embedded technologies.

Die neue ökonomische Topographie, die durch den elektronischen Raum ent­standen ist, stellt nur einen Ausschnitt, ein Fragment einer noch viel größeren ökonomischen Kette dar, die zu weiten Teilen im nicht-elektronischen Raum eingebettet ist. Es gibt keine vollständig virtualisierte Firma und keine vollstän­dig digitalisierte Industrie. Selbst die avanciertesten Informationsindustrien wie die Finanzwelt sind nur teilweise auf elektronischem Raum errichtet.

Von dieser Warte aus sollte die Frage der Zugangsbedingungen zum elektroni­schen Raum neu gestellt werden. Wir stehen inmitten eines Prozesses der Cyber­Segmentierung, wie Sassen das nennt, und sie meint damit eine Zunahme der hierarchischen Konzentration von Macht in den privaten Netzwerken, die über­dies zunehmend auf die öffentliche Struktur des Internets aufsetzen: .,Vielleicht ist eine der signifikantesten neuen Entwicklungen die Nutzung des Webs durch Unternehmen, die ihr eigenes internes Netzwerk installieren und sich im globa­len Netz strategisch von anderen abschotten. ( . . . ) Die Unternehmen sparen ge­waltige Summen, indem sie das Web derart für ihre eigenen internen Aufgaben benutzen. ( . . . ) Die B ildung privater Intranetze im Web ist wahrscheinlich eines der irritierendsten Momente der Cyber-Segmentierung." 18

D iese Aneignung öffentlichen Raums für private Zwecke bedeutet möglicher­weise die tatsächliche Einlösung der kalifornischen Ideologie und ihres Dogmas vom freien Markt. Es sei daran erinnert, daß Ausbau und Entwicklung des Inter­net über den amerikanischen Verteidigungshaushalt und die US-National Seien­ce Foundation erfolgt war, also kein Produkt des freien Marktes ist. sondern das einer enormen Investition von Steuergeldern. In diesem Sinn ist das ,Netz' ein öf­fentliches Gut, über das die kommerziellen Global Players durchaus bestrebt sind, die Kontrolle zu erlangen. Die meisten Computernetze sind privat und existieren parallel zum Internet; allein die wachsende ökonomische Bedeutung des elek­tronischen Raums erzeugt hier die Bildung neuer Machtstrukturen. Dazu kommt eine Restrukturierung der Ressourcen: die hohe Konzentration an Infrastruktur, Arbeitskräften und Kompetenzen führt über den digitalen Produktionsprozeß, wie Sassen argumentiert. zu einer .. neuen Geographie der Zentralität sowohl auf der Basis vom elektronischen Raum wie innerhalb" dieses Raums.

Aus diesen Überlegungen wäre die Forderung nach einer neuen politischen Ökonomie der Virtualität abzuleiten. Sie zeigen, wie der Diskurs um das Web sich verändert und eine gegenüber der anfänglichen Technikeuphorie völlig neuen Ausgangsbasis geschaffen hat. Das Verhältnis von Öffentlich und Privat hat sich

18 ebd., 5.228

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3 1 8 Netzkultur

in einem nicht unmittelbar einsehbaren Maß verschoben. Die Rhetorik vom Glo­bal Viilage mußte zusammen mit der Vision unbeschränkter Freiheit aufgegeben werden; die Hoffnung auf eine (virtuelle) Gemeinschaft jenseits von Gesellschaft wird dabei gründlich zerstört. Denn wie der skizzierte Ansatz zur Theoretisierung des Netzes zeigt, werden die ökonomischen Grundlagen und die herrschenden gesellschaftlichen Regeln im elektronischen Raum nicht einfach außer Kraft ge­setzt.

1 4.6. Netzkritik: ein europäischer Zugang

Im gegenwärtigen Diskurs über das Netz zeichnet sich eine deutliche Reorientie­rung ab. Der ,gesetzlose' elektronische Raum mit seinen unbeschränkten Frei­heiten stellt gemeinsam mit der Beschwörung neuer Gemeinschaftlichkeiten wohl ein Phantasma amerikanischen Pioniergeistes dar, das dazu verführt, die wirtschaftlichen und politischen Realitäten zu übersehen, oder auch die beste­henden Realitäten zu überhöhen - in mancher Vorstellung nimmt die deregu­lierte Informationsökonomie deutlich die Züge eines auf globale Verhältnisse ausgedehnten ,corporate CyberAmerica' an. "

Die Vorstellung von einer völlig selbstgenügsamen Welt des Immateriellen muß sich aufgrund der einsichtigen Mechanismen der Machtreproduktion im elektronischen Raum als unhaltbar auflösen. Unter Bedingungen einer transfor­mierten Publizität scheint es auch nicht auszureichen, wie noch zu Zeiten von Immanuel Kant Wahrheitsfragen an eine nicht näher bestimmte Form des Rechts auf Publizität zu binden. Freiheit bezieht sich auf einen Kontext, sie ist nicht zu definieren als eine ,Freiheit von', ebenso wie sie kein Reich ist, das aus dem Pa­thos der akademischen Distanz von aller Gegenständlichkeit errichtet wird. Die neue Form des digitalen Transzendentalismus - prominent vertreten in Barlows ,Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace' - ist keine Alternative zum Kom­merzialismus der elektronischen Informationsindustrie, sondern einfacher Eska­pismus. In Abhebung von dieser Position, aber auch vom europäischen Kultur­pessimismus, wurde mit dem Skeptizismus gegenüber diesen Entwicklungen ein alternativer Weg angedeutet.

Auf den ersten Blick handelt es beim Unternehmen einer Netzkritik um eine negative Definition von Freiheit, die sich bilderstürmerisch gegen die Formen der medialen Repräsentation wehrt. Der Aufruf zur Netzkritik zielt auf eine Beschäf­tigung mit den Netzphänomenen jenseits der rein technischen Aspekte. Im wei-

1 9 Vgl . Esther Dyson I George Gilder I George

I<eyworth I Alvin Toffler: Cyberspace and

the American Dream: A Magna Charta for

the Knowledge Age, Progress and Freedom

Foundation, Washington D.C. 1 994

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Leben im Datenstrom 319

teren Sinne geht es um die Entwicklung neuer sozialer Interfaces, um eine Akti­vierung der diskursiven Aspekte des Netzes. Das funktioniert zunächst ganz ein­fach dadurch, daß ein neuer Kanal geöffnet wird, beispielhaft die seit 1 995 als "collaborative textfiltering" angelegte Mailingliste <nettime>.20

Grundthese dieser Konzeption ist die medienimmanente Kritik - sich innerhalb der neuen Medien auf die neuen Technologien und ihre ästhetischen, sozialen wie kulturellen Effekte einzulassen und durch diese buchstäbliche Einlassung ei­ne defensive intellektuelle Außenperspektive zu überwinden. Es geht nicht um Technik, sondern darum, das Netz als ,Medium' zu thematisieren, oder vielmehr als Metamedium, will man berücksichtigen, daß es nicht allein um Schaltungen und andere technische Mechanismen zu tun ist, die den herkömmlichen Me­dienbegriff bestimmen. So wird nach den Bedingungen der Möglichkeit von Kri­tik gefragt, unter der Voraussetzung, die verdeckten ideologischen Prämissen nicht nur des kaliforniseben Habitus, sondern auch der elitär-herablassenden Kritik der Kulturindustrie zu überwinden.

Collaborative Textfiltering favorisiert seinerseits die elektronische ,Prepublis­hing'-Strategie, wie man sie aus den Naturwissenschaften kennt, aber auch das ,Recycling' von Texten, die in einen neuen qualitativen Kontext gestellt werden. Man könnte das nun als nettes Experiment abtun, das eben ein paar Hundert Personen bei der Stange hält. Aber es bedeutet exemplarisch mehr, und dient da­her im hier thematisierten Zusammenhang als paradigmatische Demonstration dafür, wie arbeitsfähige soziale Modelle einer alternativen medialen Produktions­und Konsumationsform entwickelt werden können, ohne den quasi-religiösen Gemeinschaftsgedanken gegen die ,Gesellschaft' auszuspielen.

Textfiltering meint weiters, daß die analytische Tätigkeit des Lesens sich mit den synthetischen Formen des Schreibens und direkten Publizierens mischt; Vor­bote einer künftigen Kulturtechnik vielleicht, die lineare Codierungen relativiert und damit ganz andere, neue ,Lesbarkeiten' schafft: "Statt der Exegese von Tex­ten geht es um das Umleiten und Verschalten von Datenströmen, statt Interpre­tation geht es um Rekombination, statt Repräsentation geht es um Kontextuali­sierung, statt Differenzierung geht es um Vernetzung. ""

Dabei wird zunächst das ,Netz' selbst Thema und Objekt der Reflexion. Die Netzpraxis verharrt nicht bei den exklusiven Techniken der Repräsentation, des­halb zeigt sie eine hohe Affinität zur konzeptuellen Kunst (net.art) . Im Jenseits der Textanalyse dreht sich die Zukunft der Kritik dabei um die Definition des so­zialen Kontextes, in dem sie ihre Berechtigung einklagt. Eine Kritik des Internet

20 Vgl. Nettime ( Hg. ) : Netzkritik. op.cit. . und

Nettime ( Hg. ) : Readme! ASC!l Culture and the Revenge of Knowledge. New York: Au­tonomedia 1 999 - http://www.nettime.org

2 1 Geert Lovink I P i t Schultz: Aufruf zur Netz­kritik, in: Nettime (Hg. ) : Netzkritik, op.cit.,

S.7

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320 Netzkultur

sollte also jenseits der kritischen Distanz möglich sein, die der akademische My­thos zugunsten seines eigenen Vorteils errichtet. Es geht weniger gegen die Berührungsängste als gegen das Syndrom, Kritik als absolute Vereinnahmungs­strategie zu praktizieren.

Diese Form der Einlassung auf die Medienwirklichkeit - übrigens eine impli­zite Weiterentwicklung der Vorstellung einer auf Rezeptionsseite praktizierenden "semiotischen Guerilla", die Umberto Eco in den frühen sechziger Jahren vorge­tragen hat - kritisiert aus einer praktischen Position die Vorstellungen einer al­ternative Medienstrategie, die auf eine manipulative Medienwirkung im Guten wie im Schlechten abzielt: daß es ausreiche, die Kommunikationskanäle von den falschen Ideen zu befreien, um die Wirklichkeit zum Positiven zu wenden. Nun haben wir bereits jede erdenkliche gesellschaftskritische Information bei der Hand, und doch bleibt das alles seltsam folgenlos. Kein Umsturz, keine Revoluti­on: die linke Gegenöffentlichkeit hat sich vielmehr in ihr eigenes Ghetto zurück­gezogen.22 Mediale Strategien, die den Informationsaspekt verabsolutieren, über­schätzen die Medienwirkung ebenso wie jene blauäugigen Pädagogen, die vor zuviel Sex und Gewalt in den Medien warnen.

Die bisherigen Erörterungen beruhen auf der Tatsache, daß mit den neuen Medienanwendungen die technische Funktion und die phänomenale Wahrneh­mung, und hier vor allem des ,Webs' als gängiger Erscheinungsform der Compu­tervernetzung, zunehmend auseinanderfallen. Die Ebenen dessen, was die Men­schen technisch verstehen und was sie praktisch verwenden, klaffen zunehmend auseinander, die funktionale Ebene der Technik wird durch die Anwendungs­ebene verstellt. Die symbolische Vorgabe, Hardwarestrukturen bis zur Unkennt­lichkeit überlagernd, täuscht eine Autonomie der Allwender vor. Dabei gilt:

"Die Untertanen von Microsoft sind jedenfalls nicht vom Himmel gefallen, sondern wie alle ihre medienhistorischen Vorläufer, die Bücherleser, Kinobesu­cher und TV-Zuschauer, erst einmal produziert worden. Das Problem ist nur, wie die Unterwerfung, um ihren weltweiten Siegeszug anzutreten, vor den S ubjek­ten verborgen werden kann.""

Wenn man also Kittler folgt, dann wurde durch die unheilige Allianz der Fir­men Microsoft und Intel, durch deren integrierten Mikroprozessor und dessen Proteeted mode-Funktion der letzte Rest der menschlichen Souveränität über die Technik ausgetrieben. Nur noch eine kleine Zahl von professionellen Anwendern

22 Autonome a.f.r.i.k.a.-Gruppe: Bewegungs­le(e/h)re? Anmerkungen zur Entwicklung alternativer und linker Gegenöffentlichkeit, in Nettime (Hg. ) : Netzkritik, op.cit.. S. l 77-1 8 5

23 Friedrich Kittler: Proteeted Mode, in ders.: Draculas Vermächtnis, op.cit., 5.2 1 1 - Vgl. dazu: Frank Hartmann: Vom Sündenfall der Software, in Telepolis: http://www. heise.de/tpl

deutschlspecia//med/63451 l .html

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Leben im Datenstrom 321

weiß jetzt noch, was im Innern der Maschine, im Real mode, vor sich geht, während die breite Masse der Anwender in eine .,undurchschaubare Simulation" verwickelt wird. Aus einer eher bemühten denn originellen Phänomenologie der Hardwarestrukturen wird die Behauptung einer .,elementaren Dichotomie mo­derner Medientechniken" abgeleitet. die den Klartext der Programmierung von der ,Oberfläche' des Anwenders trennt und sich in der Hardware als elementarer Dualismus wie in den Formen von real mode/protected mode wiederfindet. Die .,Logik aus dem militärisch-industriellen Bereich" bestimmt die Informatik und im weiteren die Informationsgesellschaft - es ist die simplifizierende Schwarz/ Weiß-Logik des Kalten Krieges, die sich hier wiederfindet, jedoch als Projektion und nicht als relevante Interpretationsfolie für die Entwicklung der Netzstruktu­ren. Aus der Frühgeschichte des Computers als Decodiermaschine im zweiten Weltkrieg erschließt sich keineswegs seine Bedeutung für die ,Zivilgesellschaft' des zwanzigsten Jahrhunderts, sie nährt nur den fragwürdigen Mythos vom ab­soluten Werkzeug, das letztlich nur von den allmächtigen Ingenieuren und Pro­grammierern beherrscht wird.

Mit der Frage nach der Hardware wird der gesamte Sozialprozeß relativiert -der Computer existiert für diesen Ansatz der technischen Hermeneutik nicht als .,Medium" sozialer Gruppen und als Katalysator autonomer Sozialprozesse, son­dern als deren Manipulator. Gerrau das aber macht die Entwicklung des Netzes in den letzten Jahren aus; so interessant es im einzelnen sein mag, auf verborgene Aspekte der Hardwarestrukturen aufmerksam zu machen, so wenig erklären diese, was im Internet jenseits aller ,instrumentellen Vernunft' vor sich geht. Es gibt hier natürlich die Möglichkeit, zwischen Produkten und Anwendern, zwi­schen Gruppen und Werkzeugen neue, kontextsensitive Interface-Strukturen zu schaffen.

1 4.7. Soziales Interface: i nteractive debuggi ng

Die Befindlichkeit des hypermodernen, mit stets neuen Medienwirklichkeiten konfrontierten Menschen wird nicht durch ein Zuviel an Informationen irritiert. Dies geschieht eher dadurch, daß die Medienwirklichkeit als eine vollkommen synthetische neue Welt erfahren wird, die das Bild einer heilen und ,ganzen Welt' in das von einer diffusen allgemeinen Sphäre überführt, weil es Prinzipien und Strukturen der technischen Informationsverarbeitung problematischerwei­se auch auf Gebiete ausweitet, .,die ursprünglich ganz andere Strukturen oder Kriterien für Information besaßen"24

24 Michael Giesecke: SinnenwandeL Sprach· wandel. Kultuwandel. op.cit., 5 .61

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322 Netzkultur

Die Frage nach der Aufklärung müßte die Konnotation des Willens zur Tech­nik, die noch im Adjektiv der ,Interaktivität' von neuen Medien steckt, auflösen in die Frage nach den Transformationsregeln von Publizität - um einem Haupt­begriff der klassischen Aufklärung hier Ehre zu erweisen.25

Das Web kann von seiner vorläufigen Enstehungs- und Wirkungsgeschichte her als eine Art Selbstkritik des akademischen Publizitätsprinzips entziffert wer­den: die traditionelle Zirkulationssphäre des Wissens, bestehend aus Büchern, Zeitschriften und Vorträgen, entsprach nicht mehr den Erfordernissen einer post­modernen Zeit, deren Entgrenzungen neue Formen der Vernetzung provoziert haben. Mit ihrer neuen, hypertexwellen Logik der Verknüpfung kommen sie dem transdisziplinären Verweis entgegen, der im Wissenschaftsdiskurs bestim­mend ist. Letzteres gilt zwar auch schon für das Druckmedium: wie Eisenstein (anhand von Keplers Drucklegung der Rudolfinischen Tafeln) nachweist, ver­dankt sich die ,kopernikanische Revolution' in der neuzeitlichen Wissenschafts­entwicklung nicht allein der Beobachtung und einem neuen Blick auf die Natur, sondern neuen Bedingungen der wissenschaftlichen Kommunikation, die durch den Buchdruck ermöglicht worden sind.'• Erst die relativ beständige wissen­schaftliche Informationsquelle - das gedruckte gegenüber dem abgeschriebenen Buch - erlaubt das Zitat, den Verweis und die Kritik im Sinne eines Feedback­prozesses innerhalb eines relativ beständigen Bezugsrahmens. Dieser ermöglicht jene fachliterarische Recherche, die Grundlage für wissenschaftliches Arbeiten ist. Und genau diese Grenzziehungen, die sich auch als wissenschaftliche Kodifi­zierungen darstellen lassen, lösen sich jenseits der Printmedien jetzt tendenziell auf. Noch aber ist das Web ist aber (noch) kein anerkanntes Medium für den Wis­senschaftsdiskurs.

Doch das Web ist nicht nur manifestes Zeichen einer transformierten Publi­zität, die bereits das gesamte Verlagswesen27 revolutioniert, sondern auch ein In­diz für eine neue, die akademischen Bedingungen ihrer Möglichkeit transfor­mierenden Intellektualität. Das führt uns zu einem Ausgangspunkt der Compu-

25 Kant sprach in seinem Aufklärungs-Essay zunächst vom ,.öffentlichen Gebrauch" der ,.Vernunft in allen Stücken" als Bedingung aller Aufklärung; "Publizität" ist in der Folge

"die tranzendentale Formel des öffentlichen

Rechts", d.h. als Grundprinzip von Recht und Politik; der Zusammenhang von "Volks­

aufklärung" und Publizität wird im Streit der Fakultäteil (2 .Abschnitt, Abs.8) verdeutlicht - vgl. in Kant: Schriften zur Anthropologie, Werkausgabe Bd.XI. op.cit., S . 55 bzw. S.244f

und 5.363

26 Elisabeth Eisenstein: .Die Wandlungen des Buchs der Natur: Der Buchdruck und der Aufschwung der modernen Wissenschaf­ten", in: Die Druckerpresse, op.cit., S . l 70ff

27 Electronic Publishing. Strategische Entwick­lungen für die Europäische Verlagsindustrie

im Hinblick auf das Jahr 2000. Hauptbericht. Europäische Kommission DG Xlll/E, Brüssel 1 996

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Leben im Datenstrom 323

ternetzwerkentwicklung zurück, als etwa der DARPA-Forschungsleiter Joseph Lieklider sich über die soziale Bedeutung der Online-Aktivitäten Gedanken machte :

.. For the society, the impact will be good or bad, depending mainly on the que­stion: Will ,to be on line' be a privilege or a right? If only a favored segment of the population gets a chance to enjoy the advantage of ,intelligence amplificati­on', the network may exaggerate the discontinuity in the speerrum of intellectual opportunity. On the other band, if the network idea should prove to do for edu­cation what a few have envisioned in hope, if not in concrete detailed plan, and if all minds should prove to be responsive, surely the boom to humankind would be beyond measure. ( . . . )

Unemployment would disappear [rom the face of the earth forever, for consi­der the magnitude of the task of adapting the network's software to all the new generations of computer, coming closer and closer upon the heels of their prede­cessors until the entire population of the world is caught up in an infinite cres­cendo of on-line interactive debugging. "28

Ganz klar wird in diesem Text Kommunikation weiter gefaßt als die Tätigkeit des Sendens, Speicherns und Empfangens von Informationen . Auch wird u nter­schieden zwischen einem allgemein zugänglichen zentralen Werkzeug (general purpose, multi-access machine) und der Community, die Gebrauch von einem kooperativen Modell der Kommunikation macht (connected groups ) . Sehr früh sah Licklider, daß sich aus Netzwerken wiederum Netzwerke bilden würden, und zwar von sehr labiler Natur, da sie veränderlichen Inhalten entsprechen und auch veränderliche Konfigurationen eingehen.

Die durch gemeinsame Interessen statt gemeinsame Orte verbundenen Onli­ne-Communities entwickeln sich in dieser Vision letztlich zu einer abstrakten Overall Community, deren .. infinite crescendo ofon-line interactive debugging " in etwa das darstellt. was wir heute als Netzkultur kennen - nur daß zur veränderten Kulturtechnik auch eine komplexere Ästhetik der Text/B ild-Verhältnisse hinzu­kommt und das größere Ansprüche an die Symbolizität des Mediums gestellt werden. Der Numbercruncher, die universale Rechenmaschine, wurde hier j eden­falls über einen (anfangs nebensächlichen) Zusatzeffekt zum Kommunikations­medium instrumentalisiert, während sich - als Bedingung von dessen Möglich­keit - gleichzeitig ein neuer Medienraum, ein kybernetischer Raum unter sozia­len Bedingungen entwickelt: Lieklider sprach nicht von ungefähr von einer Man-Computer-Symbiosis."

2 8 Joseph R.C. Lieklider I Roben Taylor: The C01nputer as a Commun ications Device ( 1 96 8 ) - http://www.memex.orgllicklider.html

29 Zu Lickliders Hintergrund und dem ARPA­Forsch ungskontext vgl. Hafner I Lyon: Whe­re Wizards Stay up Late. op.cit., 27!!

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324 Netzkultur

Der Zusammenhang zwischen kulturtechnischer und intellektueller Entwick­lung braucht nicht eigens betont zu werden. Das Projekt der postmodernen In­tellektualität ließe sich in einer aparten Kurzformel als den Versuch umschrei­ben, ein statisches Modell von Publizität mit der Idee eines kumulativen Wissens­aufbaus zu überwinden. Der Diskursapparat, der zu diesem Zweck bedient wird, ist möglicherweise weithin einer .. Logik der Isolation" (Hartmut Winkler) ver­pflichtet, wie sie in der Konzentration auf die verbalsprachliche Konditionierung von Intellektualität bisher zum Ausdruck kommt. Die Idee der kollektiven Intel­ligenz als post-mediales Phänomen (Pierre Levy) ist angesichts dieser Ernüchte­rung, daß der Explosion der Bilder auch eine explosionsartige Vermehrung von Texten entspricht, nicht unproblematisch.

Dennoch liegt sie unter dem Titel einer transformierten Publizität nahe. Sie ver­dankt sich einmal mehr einer Überlegung Flussers, der zwischen ,Text' und ,Bild' einen dritten Weg aufgezeigt hat. Für ihn war da, immer schon die Bedingungen der Schrift transzendierend, zunächst die Form des Essays. Nach einem Wort von Flusser soll er nicht argumentativ belegen oder kritisch widerlegen, sondern hat .,dialogisch alles immer wieder neu zu überlegen".'0 Das scheitert zunächst ein­mal an den technischen Mitteln. Wenn neue Überlegungen die ursprünglichen überlagern, wird die gedruckte Fassung einer auktorialen Aussage rasch obsolet. Für den Ausbruch aus der Schrift in die ,Nachschrift' scheinen zwei Wege offen zu stehen: .,zurück zum Bild", also die Rückkehr zum Ikonischen, oder .,vorwärts zu den Zahlen", also die Flucht nach vorn ins Digitale.

Dem ersten Weg versagt sich der Dünkel des intellektuellen, dem religiösen Bilderverbot verpflichteten Aufklärungsdenkens.31 Der zweite Weg scheint eben­so verstellt zu sein, da sich im mathematischen Kalkül das Denken selbst analy­tisch überbietet. In der Zeit jedoch, da Flusser diese Überlegungen angestellt hat, also im wesentlichen in den achtziger Jahren, stellte sich heraus, daß es doch noch einen dritten Weg gibt: statt dem Rückzug aus den Texten in die Ikonizität der Bilder ein Vorwärts in die Symbolizität, in eine komplexe, aus Zahlen kom­putierte B ildhaftigkeit (s.o. Kap. 13).

Bedenkt man, daß Medien seit jeher das Verhältnis des menschlichen Den­kens zu seinen gesellschaftlichen Ressourcen bestimmt haben, dann ist Flussers Ausblick auf eine neue Philosophie gerade angesichts der Existenz einer neuen

30 Viiern Flusser: Die Schrift, op.cit., 5 . 1 43 3 1 Dies gilt mindestens von Immanuel Kam ­

dessen Definition des Zusammenhangs von alttestamentarischem Bilderverbot und der Aufklärung, welche .das bloß Negative" herzustellen hätte, in der Kritik der Urteils­kraft ( 1 790/ 1793) nachzulesen ist - bis hin

zu Theodor W. Adorno, dessen Entwurf ei­ner Ästhetischen Theorie jene .objektive Tendenz der Aufklärung" fortschreibt, .. die

Macht der Bilder über die Menschen zu til­gen." - vgl. Theodor W. Adorno: Minima

Moralia, Frankfurt: Suhrkamp 1 9 5 1 , Nr. 92

Page 325: Medienphilosophie Hartmann

Leben im Datenstrom 325

Medienpraxis im und mit dem World Wide Web nicht nur kokett. Und wenn Flusser in diesem Sinn recht behalten hat, dann ist der genuin kollaborative Aspekt jeder intellektuellen Textproduktion in seiner traditionellen, dem Druck verpflichteten Existenzweise nur vorübergehend verdeckt worden. Medien die­nen schließlich der Organisation von Communities, und so verwundert es nicht, wenn mit deren Anforderungen auch die Formen des Medialen sich ändern.

14.8. Eine neue Aufklärung?

In den letzten Jahrzehnten sind viele Elemente einer neuen Wissenskultur ent­standen, die eine disziplinäre Kanoniserung als Organsiationsform des Wissen ( in den Fakultäten des achtzehnten und den Fächern des neunzehnten Jahrhun­derts) distanzieren. Die unvorhersehbare Entwicklung von Technik und Gesell­schaft sollte für eine Zukunftsprognose vorsichtig stimmen. E indeutige Progno­sen sind nicht zu haben, wohl aber läßt sich aus der Diagnose gegenwärtiger Kul­turprozesse eine Aussage über wahrscheinliche Entwicklungen treffen. Statt der Prognose also eine Extrapolation, ein Schluß auf Unbekanntes aufgrund von be­kannten Funktionsgrößen.

Zentral für die Zukunftsüberlegung ist wohl die sich abzeichnende Möglich­keit einer neuen kollektiven Intelligenz bzw. der erwähnten Reformulierung des Verhältnisses zwischen individuellem und sozialem Körper des Wissens. D ie Ent­wicklung im Bereich der Computerindustrie weist in Richtung eines Aufmerk­sarnkeitsmanagements, dessen wesentlichstes Element subjektive Paradigmen der Mensch-Maschine-Interaktion bilden. Subjektivität und Kollektiv sind in ein neues Verhältnis gestellt, weder Vereinzelung noch Vermassung sind angesagt, sondern der Verweis einzelner Teile aufeinander. In der Netzkultur überwiegen die kooperativen Strukturen. D ie Netzkultur besteht aus verschiedensten Mo­menten technikgestützter Prozesse, deren wesentliches Charakteristikum die mittels technischer Reproduzierbarkeit freigesetzte Qualität der Verfügbarkeit darstellt - auch über die Geräte selbst. wobei erst deren industrielle Massenpro­duktion eine demokratischere Verfügung über Technik ermöglicht hat.

Aufgrund dieser Bedingungen entsteht eine neue Epistemologie, deren äuße­rer Niederschlag die Form des Hypertextes ist: statt der statischen eine dynami­sche Repräsentation von Inhalten, sowie ein nutzerspezifisches Arrangement von Daten und Informationen. Produzenten, Produkte und Rezipienten von Content (beispielsweise Autor, Text. und Leser) befinden sich damit in einer neu­en Konstellation, in der die kulturell eingewöhnten Strukturprinzipien der linea­ren Schriftkultur abgeschwächt werden. Wurden in den vergangeneu Jahrhun­derten die medialen Konstruktionsprinzipien des Leitmediums ,Buch' geradezu naturalisiert, so bricht diese Form jetzt auf. um neuen Weisen der Wissensaneig-

Page 326: Medienphilosophie Hartmann

326 Netzkultur

nung und Wissensvermittlung Platz zu machen. Verschiedenste Indizien inner­halb der Medienkultur verweisen dabei auf die neuen Kommunikationsverhält­nisse: � Sprache ist nicht reduzierbar auf Verbales allein, wir brauchen einen erwei­

terten Zeichenbegriff; � Lesen ist nicht bloß sequenzielles Decodieren, der menschliche Geist arbeitet

assoziativ; � Texte sind keine geschlossene Objekte, sondern offene Systeme; � Wissen ist keine Entität, sondern ein Prozeß.

Als neue Bedingungen gelten neben neuen Wegen der Distribution vor allem die erweiterten Zugriffsmöglichkeiten auf kulturelle Produkte, von denen es im digi­talisierten Zustand kein Original mit abgeschwächten Kopien mehr gibt, sondern tendenziell nur noch Originale. Es wird dadurch immer schwerer werden, kultu­relle Produkte ,festzuschreiben' und diese Festschreibungen rechtlich abzusi­chern (Stichwort Copyright, das eine reine Machtfrage geworden ist ) . Dies könn­te eine Verlebendigung der Kultur implizieren, aber eben auch neue Wissensfor­men, die permanente Zugänglichkeit erfordern.

Es gibt nun mehrere Möglichkeiten, die Koppelung von technischer Entwick­lung und kulturellem Fortschritt zu denken. Drei davon sollen hier unter dem Ti­tel der Frage nach einer neuen Aufklärung abschließend Erwähnung finden:

( 1 ) Das Cyborg-Prinzip, oder die Überhöhung des Individuums mit techni­schen Prothesen; dieses Prinzip der Extropy (d.h. quasi naturgesetzlich zuneh­mende Ordnung, Information, Vitalität, Intelligenz mit der Hilfe von Technik) verficht Max More im Sinne einer Fortsetzung der Aufklärung unter Bedingun­gen der Hypermoderne." Diese Phantasie des technologisch allmächtigen Sub­jekts hätte vermutlich eine Gerontokratie überzüchteter, überteuerter Kunstwe­sen zur Folge. ( 2 ) Die Artificial Intelligence oder die Vorstellung von der Entwicklung par­alleler Welten der künstlichen Intelligenz, wie sie Marvin Minsky und seinem Kreis seit Jahrzehnten vorschwebt. Sie entstammt einer Zeit, als man den Com­puter noch als eine Art Superhirn gesehen hat, das menschliche Leistungen kon­kurrenziert und nur von wenigen Experten wirklich beherrscht wird. Ähnlich wie Variante ( 1 ) finden sich hier elitäre Denkmuster.

32 Max More: Europäische Ursprünge - ameri­

kanische Zukunft, in: Telepolis Nr.3, S.94-

1 03 -

http:llwww.heise.de/tpldeutsch/special/mud/6142 IJ .html

Page 327: Medienphilosophie Hartmann

Leben im Datenstrom 327

( 3 ) Die dritte und realistischere Variante wäre tatsächlich eine gegen solche Ideen gerichtete kollektive technikgestützte Intelligence Augmentation. Dabei kom­men neue Kommunikationsmodelle zum Tragen, die eine Vernetzung der vor­handenen Potentiale und mögliche Aufwertung nicht-kognitiver Wissensstruk­turen zur Bedingung haben - mit weitreichenden Implikationen für den Ent­wicklungsbereich der sogenannten ,Dritten Welt' ."

Und weiter: die Frage der Infrastruktur. Mit ihrer Faszination für digitale Da­tenspeicher fordert die gegenwärtige Kultur einer Storage Mania bereits die Tech­nik heraus, entscheidende Schritte in dem bereits erfolgreichen Weg der Entma­terialisierung und der Miniaturisierung der eingesetzten Teile zu setzen. Die Mi­niaturisierung der klassischen Elektronik dringt dabei bereits von der Mikro- in die Nanostrukturen vor: Transistoren auf Siliziumbasis werden dem enormen Speicherbedarf (Kilo -+ Mega -+ Giga -+ Terra -+ ?-Byte) kaum mehr gerecht, ein Sprung in die quantenphysikalische Ebene könnte anstehen, es gibt bereits An­sätze und Versuche der Nanostrukturphysik dahingehend, die Datenspeicher und damit die ,Festplatte der Zukunft' in die Atomstruktur zu verlegen. Höhere Da­tendichte, immens vergrößerte Datenspeicherkapazitäten und eine ungeahnte Datenfluß-Beschleunigung ( Optoelectronics) dürften heute erst schwer abschätz­bare kulturtechnische Implikationen haben,

Doch dann gibt es noch ungeahnte weitere Welten jenseits des derzeit kultu­rell favorisierten binären Datenstrom, jenseits aller diskreten Approximation an die Wirklichkeit, denn schließlich ist nicht alles, was ist, auch berechenbar. An­dere Codes, andere Medienwelten sind denkbar. Unsere derzeitige Phase der di­gitalen Programmierbarkeit könnte dann in die Geschichte eingehen als ein eher unbedeutendes Kapitel am Ende der industriellen Revolution, und das Aufhe­bens, das wir dazu veranstalten, als banale Episode einer Zeit, die sich - wie schon viele andere vor uns - ein wenig zu wichtig nimmt.

33 Vgl. dazu Michel Serres: S uperhighways for

All. in: Revue Quart Monde. Nr. l 63, 1 997 -

eng!. Online-Fassung: ,Knowledge's

Redemption', hTtp:llneTtime.khm.del nettime. w3archivel 1 998 /0/msgOO I 3 7.html

Page 328: Medienphilosophie Hartmann

Abbildung 24 DJ Spooky that Subliminal Kid

Page 329: Medienphilosophie Hartmann

1 5. Kapitel - Ausklang: lt's all Jazz.

DJ-Culture und Diskursvermischung

"Boom, there it is. Sound and signification.

Sound as bearer of social memory. Who 's there?"

DJ Spooky

1 5. 1 . lntertwinedness

Um den Diskursverflechtungen der Netzkultur gerecht zu werden, versuchte die Vortragsreihe ,lntertwinedness' am Ars Electronica Center in Linz 1 998 durch me­dientheoretische "Lectures und Events" eine Textur zwischen "Content und Con­cept" zu definieren, die in mehrere Richtungen lesbar sein soll. Der Cyberspace wird dabei als kultureller Zusatzraum decodiert, als ein soziales Milieu der Tech­no-Community-Bildung, mit der die Erfindung von Kultur aktuell stattfindet. Es war nur konsequent, DJ-Culture und ihre Verfahren von Sampling, Non-Copy­right und Audiac Erfahrungssteigerung hier einzubeziehen, denn das sind die kreativen Ansätze in einer transdisziplinären Interpretation medialer Lebensrea­litäten. Eines der radikalsten Beispiele zur Grenzüberschreitung zwischen bil­dender Kunst, Medientheorie und urbaner DJ-Culture liefert Paul D . Miller aus New York, a.k.a. DJ Spooky.'

DJ Spooky zählt zu den renommierten DJs, schreibt aber auch Sach- und SF­Bücher und ist als Performancekünstler tätig. Ausgebildet in Philosophie und französischer Literatur, sieht er DJ- ing als "Recombining of Musical Patterns" und seine Musik als eine narrative Strategie, als Mischung aus Ambient, Hip Hop und allem, was ihm so einfällt. Seine Songs klingen schmutzig, chaotisch und ab-

Vgl. http://intertwine.aec.atlspook.html - die folgenden Interviewpassagen entstammen einem Gespräch, das gemeinsam mit Rich­ard Penauer am 2 1 . April 1 998 nach der Performance geführt wurde. Erstveröffentli-

chung unter http://www.heise.deltpldeutschlin­

haltlmusikiJ23011.html (mit freundlicher Ge­nehmigung der Redaktion Telepolis & Rit· chie: Thanx 4 the groove! ) .

Page 330: Medienphilosophie Hartmann

330 lt's a l l Jazz

wechslungsreich, aber leicht will er es seinen Hörern keineswegs machen, denen er Einblick in sein Verständnis von Musik, Medien, Globalisierung und Kultur­techniken bietet.

Frage Du zeigst, daß verschiedene Platten aus verschiedenen Dekaden immer

wieder denselben Drumbeat verwenden, und DJ-ing ist für dich eine Art Muste­

rerkennung und Rekombination von Entwicklungslinien, die sich durch die Mu­

sikgeschichte ziehen. Andererseits sagst du aber, du verwendest jeden Musikstil

und mixt wild und chaotisch durcheinander. Willst du mit deiner Musik diese Ent­

wicklungslinien aufzeigen und zusammenbringen oder machst du etwas vollkom­

men Neues?

Spooky Mein Stil ist die Migration zwischen verschiedenen Einflüssen. Heraus kommt

dieser seltsame, schwierig einzuordnende, chaotische Sound, den ich so mag. Die mei­

sten DJs arbeiten sehr sauber; das ist okay, aber nicht meine Sache. Ich will mit meiner

Art von DJing, das sich zusammensetzt aus unzähligen Cut-Ups und Scratches, versu­

chen, kulturelle Barrieren zu überwinden. in den USA zum Beispiel sind die Rassenbar­

rieren nach wie vor sehr groß, in Europa, vermute ich, ebenfalls. Zum dialogischen Ge­

ben und Nehmen, zum Austausch, findet man am leichtesten durch die Vermischung.

Die Generation von Afro-Amerikanern, zu der ich gehöre, beginnt langsam diese Bar­

rieren der Verbitterung zu überwinden. Nimm Puff Daddy, den ich sehr schätze. in die­

sem Bereich existiert keine integrativere Figur als er; weil er so viele verschiedene Mu­

sikstile verwendet. Er sampelt Led Zeppelin, Reggae, was immer. Sowohl im ökonomi­

schen als auch im psychosozialen Bereich beginnt sich langsam ein Sinn für Gleichheit

im Sinne eines Nebeneinander auszubilden. Früher konnte Elvis in ein Blues-Pub gehen,

sich anhören, was dort abläuft, und das Zeug einfach stehlen und unter seinem Namen

verkaufen - und die gegenwärtige Entwicklung wirkt dem entgegen.

Frage In deinem Buch "Flood My Blood the DJ Said" geht es um intellektuellen

Besitz und Copyright, ein heikles Thema im Zeitalter digitaler Medien. Wie gehst

du als DJ, der "quer durch den Gemüsegarten sampe/t", mit diesem Thema um?

Spooky Der Unterschied liegt zwischen Aneignung (appropriation) und Zitat (quota­

tion). Zitat bedeutet zu sagen: " Mir gefällt dieses Stück von diesem Musiker; deshalb

verwende ich es. " Das ist eine Hommage an den betreffenden Künstler. Aneignung be­

deutet, den Namen des anderen grundsätzlich auszuradieren. Das will ich auf keinen

Fall .

Die Popkultur ist insgesamt multikultureller geworden. Puff Daddy ist das perfekte Bei­

spiel für diese subkulturübergreifenden Entwicklungen: Seine CDs verkaufen sich in

Amerika, Europa, Japan . . . wo immer.

Page 331: Medienphilosophie Hartmann

Ausklang 331

Beim Sampling will ich ganz bewußt Zitate verwenden, und daraus etwas formen. An­

dererseits muß ich aber dazu sagen, daß jeder meine Sounds sampeln darf, der Lust da­

zu hat - ich werde natürlich niemanden verklagen.

Für mich ist Musik immer eine Metapher, und ich versuche, diese bestehenden Meta­

phern zu rekontextualisieren. Diese Rekontextualisierung macht den Sciene-Fiction­

Aspekt meiner Musik aus.

Eine konsistente Erzählung ist nicht länger möglich, möglich ist nurmehr die Per­formanz, das Spiel mit der "binären Dissonanz" zwischen Original und Kopie, zwischen Künstler und Publikum. Der Künstler nimmt dabei Züge eines Magiers an, dessen Fertigkeiten das Publikum zu verzaubern vermögen. Er ist aber auch Storyteller, afrikanischer Griot, der sein Publikum nicht mit einem Meister­diskurs, sondern mit tradierten Erzählmustern in den Bann zieht, die gleichwohl Aktuelles verarbeiten . DjSpooky arbeitet nicht nur mit Soundpatterns, sondern auch mit visuellem Sampling aus Hollywood B-Movies. Während seiner Perfor­mance tritt das Publikum in telekinetischen Kontakt mit seiner unmittelbaren Geschichte, mit den B ildklischees und medialen Stereotypien des zwanzigsten Jahrhunderts, mit seinem Mediengedächtnis. One World, Global Village, etc. -die Konzepte mögen täuschen, aber die mediale Entwicklung zeigt einen Drift in Richtung einer Vereinheitlichung der Lebenswelt. "Sound" wird zu einer trans­zendentalen Kategorie, welche die menschliche Grundbefindlichkeit ebenso be­stimmt wie die uns angeblich gemeinsame kulturelle Logik - allerdings ohne von den Philosophen der Moderne je bemerkt worden zu sein.

Frage Die Idee, daß es in der Musik tieferliegende mathematische, zumindest im­

mer wiederkehrende, Strukturen gibt, die aufgezeigt werden können, hat Dich

lange Zeit fasziniert. Beschäftigst du dich noch mit dem universellen musikali­

schen Code?

Spooky Ja, natürlich. Musik ist einfach per se eine universelle kulturelle Sprache, und

das gibt dir als Musiker großartige Möglichkeiten in die Hand. Musik steht niemals für

sich allein. Jedes Stück vereint so viele Einflüsse in sich, und ist damit wieder eine Art

Zitatensammlung. Im luftleeren Raum passiert gar nichts: Beim DJing wird genau das

externalisiert und bewußt gemacht. Wenn du Musik machst, befindest du dich nie in

einem Vakuum, sondern in einem Geflecht von Einflüssen.

Frage Du bezeichnest Dich in erster Linie als Autor, und nur nebenher als DJ.

Wo liegen die Unterschiede?

Page 332: Medienphilosophie Hartmann

332 lt's al l Jazz

Spooky Nirgendwo, es gibt gar keine. DJing ist Schreiben und umgekehrt. Der einzi­

ge Unterschied liegt vielleicht in den historisch gewachsenen Arten des Zugangs: Lesen

erfordert mehr Aufwand, du mußt lesen können, ein Buch nehmen, dich damit be­

schäftigen - aber das betrifft nicht die Sache selbst. sondern nur den Zugang. Wir ha­

ben mehrere Kulturtechniken nebeneinander, Lesen, Musik, Fernsehen . . . man muß da­

zwischen hin- und herschalten, statt sich auf eines zu beschränken.

Ich weiß, das klingt recht idealistisch. Ich beschäftige mich sehr viel mit Popkultur, und

es gibt da ein Phänomen, das ich ,. Culturaf lnertion " nenne: Die Leute sind so gefan­

gen in ihren Mediennutzungsgewohnheiten, daß Neuerungen eine lange Zeit brau­

chen, bis sie sich durchsetzen.

Was die philosophische oder theoretische Komponente in meiner Musik angeht, ist mir

klar, daß sich der Jugendliche von der Straße, der zwei Turntabfes bedient, wahr­

scheinlich nicht für Derridas Auffassung von Dekonstruktion interessiert - aber der Zu­

gang ist da, eben über die Musik.

Ambient Sound erhält eine neue Bedeutung, als widerspruchsvolle Radikalisie­rung von Muzak und akustische Skulptur des ausgehenden zwanzigsten Jahr­hunderts. Wenn DJ Spooky in einer Lecture/Performance auftritt, dann fährt der Groove wie ein Güterzug über die Nerven der Anwesenden, während der ,Sprechakt' des performativen Soundmixes die Grenzen intellektueller Credibi­lity (die mittels Text durchaus eingefordert wird) transformiert. Er nennt es auch einfach Jazz, wenn er in seinen Bildobjekten, den .. Objektilen", und Texten zu

.. Found Sounds" soziale Evolution, Rekombination und Repetition im elektroni­schen Milieu des Cyberspace reflektiert. Jazz aber ist nicht der Musikstil einer Epoche, Jazz steht mehr für den Zugang zu und den Umgang mit einer kulturel­len Tradition. Der DJ zitiert Haydn, Schubert, oder Beethoven, wenn er diese kul­turelle Kreativität anspricht, aus der eine Musik lebt. Aber er arbeitet auch mit diesem klassischen Material. ebenso gern mit dem der afro-amerikanischen Avantgarde. Man hört weiters Soundbites von Hitchcock, McLuhan, und Ver­satzstücke aus Medienproduktionen, die in der DJ-Kultur der letzten zehn Jahre obligat gewordenen Sampies aus B-Movies.

Frage Du versuchst, verschiedene Stile zu verbinden. Jugend- oder Subkultur hat

in den letzten Jahrzehnten allerdings eine beispiellose Diversifikation erlebt.

Siehst du in dieser Vielfalt kreatives und innovatives Potential?

Spooky Das ist unglaublich wichtig, weil es erst verschiedene ,.Psycho/ogien " ermög­

licht. Wenn man immer nur am se/ben Standpunkt bleibt. in derselben Subkultur, bleibt

man damit auch immer am gleichen geistigen Status kleben. Ich denke wirklich, daß

ein großer Teil der Musik aus den 20er, 30er Jahren vollkommen wahnsinnig und wild,

Page 333: Medienphilosophie Hartmann

Ausklang 333

chaotisch und experimentell war. Aber wenn Du jemand aus dieser Zeit in einen Club

der 90er bringst, würde er das, was er dort hört, wahrscheinlich nicht einmal für Musik

halten, sondern für das totale Chaos - so ändern sich eben auch die Hörgewohnheiten.

Die Genera tion, die mit Medien wie Fernsehen oder inzwischen Internet aufgewach­

sen ist, kriegt bessere Voraussetzungen mit und einen offeneren Blick für verschiedene

Kulturen als jede Generation vorher. Aber dann gibt's auf der anderen Seite die Fir­

menkultur: Überall auf der Erde haben Kids, die Nikes oder Reeboks tragen, mehr ge­

meinsam, als wenn sie die gleiche Musik hören - eine völlig sinnlose Art der Globali­

sierung - ich bin da Idealist und hätte lieber, daß sich die Kids verschiedene Arten von

Musik anhören und darüber Gemeinsamkeiten finden.

Frage Du beschäftigst mich mit Philosophie und Musik. Was kommt zuerst, und

wie sieht dieses Verhältnis aus?

Spooky Musik ist Theorie, Theorie ist Musik. Wenn du ein guter Autor bist, wirst du

zum Musiker. Schreiben ist Musik, anders kann ich das nicht erklären. Nimm Nietzsche

her: Er war ein so brillanter Autor, daß seine Texte schon fast zu Musik geworden sind.

Bei großen Poeten fühlt man die Musik in ihren Texten. Musik ist keine nicht-narrative

Technik, aber die Mitteilung funktioniert hier vollkommen anders.

Frage In deiner Musik arbeitest du sehr viel mit Zitaten. Versteht man deine Sa­

chen, ohne all die Alben zu kennen, die du dazu verwendest?

Spooky Wenn man sagt, jemand ist belesen, so bedeutet das doch, er hat eine Men­

ge Bücher gelesen, kann sie referenzieren und in einen konzeptuellen Rahmen ein­

ordnen. Man hat einen Überblick. Bei Musik gibt es auch so etwas wie " Belesenheit":

Je mehr du gehört hast, desto besser kannst du Querverweise herstellen und Zitate er­

kennen. Um sich in einem von beiden zu spezialisieren, braucht es Monate, Jahre, in

denen man liest oder Musik hört. Der Unterschied ist aber, daß Menschen zu Musik ei­

nen viel leichteren, weil emotionalen Zugang haben. Wenn dir ein Buch nicht gefällt,

legst du es nach ein paar Seiten weg.

Abbildung 25 Notausgang

Page 334: Medienphilosophie Hartmann

Anhang

Auswahlbibliographie

Agentur Bilwet: Medien-Archiv, Bensheim: Ballmann 1 993

Der DatenDandy. über Medien, New Age, Technokultur. Mann heim: Ballmann 1 997

Agre, Philip E . : Campuration and Human Experience, New York: Cambridge Univ. Press 1 997

Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt: Suhrkamp 1 986

Bolz, Norbert: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München: Fink 1 993

Castells, Manuel: The Information Age: Economy, Society and Culture. Vol. l - The Rise of the Network Society, Oxford: Blackwell 1 996

Vol.2 - The Power of ldentity, Oxford: Blackwell 1 997

Vol. 3 - End of Millennium, Oxford: Blackwell 1 998

Chartier, Roger: Lesewelten. Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit, Frankfurt: Campus 1 990

Coy, Wolfgang I Tholen, Georg Christoph I Warnke, Martin ( Hg. ) : HyperKult. Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien, Basel: Stroemfeld 1 997

Crary, Jonathan: Techniken des Beobachters. Über Sehen und Modernität im 1 9 . Jahrhun­dert, Dresden: Verlag der Kunst 1 995

Darnton, Robert: Der Mesmerismus und das Ende der Aufklärung in Frankreich, München: Hanser 1 983

Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung der Encyclopedie, oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn? Berlin: Wagenbach 1 993

Davis, Eric: TechGnosis: myth, magic and mysticism in the age of information, New York: Harmony Books 1 998

Derrida, Jacques: Grammatologie, Frankfurt: Suhrkamp 1 974

Eco, Umberto: Die Suche nach der vollkommenen Sprache, München: Beck 1 994

Eisenstein, Elisabeth: Die Druckerpresse. Kulturrevolutionen im frühen modernen Europa, Wien: Springer 1 997

Faßler, Manfred: Was ist Kommunikation? München: Fink (UTB ) 1 997

Page 335: Medienphilosophie Hartmann

Auswahlbibl iographie 335

ders . : Cyber-Moderne. Medienevolution, globale Netzwerke und die Künste der Kommu­nikation, Wien: Springer 1 999

ders. ( Hg. ) : Alle möglichen Welten. Virtuelle Realität, Wahrnehmung, Ethik der Kommu-nikation, M ünchen: Fink 1 999

Faßler. Manfred I Halbach, Wulf ( Hg. ) : Geschichte der Medien, M ünchen: Fink ( UTB ) 1 998

Flichy, Patrice: Tele. Geschichte der modernen Kommunikation, Frankfurt: Campus 1 994

Flusser. Vilem: Kommunikologie, Frankfurt: Fischer 1 998

ders.: Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung, Frankfurt: Fischer 1 998

ders.: Die Revolution der Bilder. Der Flusser-Reader zu Kommunikation, Medien und De­sign, Mannheim: Ballmann 1 995

ders.: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? Modifizierte Ausgabe für MS-DOS Rechner, Göt­tingen: E u rop.Phot. 1 994

ders.: Die Krise der Linearität. Vortrag im Kunstmuseum Bern, Wabern: Benteli 1 992

Fouca ult. Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt: Suhrkamp 1 974

ders . : Dies ist keine Pfeife, Frankfurt, Berlin: Ullstein 1 974

ders . : Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt : Fischer 1 997

ders.: Botschaften der Mach t . Reader Diskurs und Medien, Stuttgart: OVA 1 999

Franck, Georg: Ökonomie der Aufmerksamkeit . Ein Entwurf. München: Hanser 1 998

GabrieL Norbert: Kulturwissenschaften und Neue Medien. Wissensvermittlung im digita-len Zeitalter, Darmstdat: Primus 1 997

Gellner, Ernest : Descartes & Co. Von der Vernunft und i h ren Feinden, Hamburg: Junius 1 99 5

Pflug, Schwert und B uch. Grundlinien der Menschheitsgeschichte, Stuttgart: Klen-Cotta (DTV) 1 99 3

Giesecke, Michael: D e r Buchdruck in d e r frühen Neuzeit. E i n e historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt : Suhrkamp 1 998

ders . : SinnenwandeL SprachwandeL KulturwandeL Studien zu r Vorgeschichte der Infor­mationsgesellschaft, Frankfurt: Suhrkamp 1 992

Hafner, Katie I Lyon, Matthew: Where wizards stay up late: the origins of the Internet. New York: Touchstone 1 998

Haraway, Donna: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt: Campus 1 99 5

Hartmann, Frank: Cyber-Philosophy. Medientheoretische Auslotungen, Wien: Passagen 1 996

Heim, Michael: The Metaphysics of Virtual Reality, New York: Oxford Univ. Press 1 99 3

Innis, Harold A . : Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte, hg. von Karlheinz Barck, Wien: Springer 1 997

Johnson, Steven: Interface Culrur e . Wie neue Tedmologien Kreativität und Kommunika­tion verändern, Stuttgart: Clett-Cotta 1 999

Kelly, Kevi n : Das Ende der Kontrolle. Die biologische Wende in Wirtschaft, Technik und Gesellschaft. Mannheim: Ballmann 1 997

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Kerckhove, Derrick de: Schriftgeburten. Vorn Alphabet zum Computer, M ünchen: Fink 1 99 5

Kohanski, Daniel: The Philosophical Programrner. Reflections on the Moth in the Machine, New York: St. Martins Press 1 998

Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1 800/ 1 900, München: Fink 1 987

ders.: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin: Brinkmann&Bose 1 986

ders . : Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig: Reclarn 1 993

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Weitere Links und Informationen - http:/ /www.medienphilosophie.net

Page 338: Medienphilosophie Hartmann

Namensindex

Adorno, Theodor W. 59, 1 7 1 , 1 78, 1 89fL

1 97ft 224, 2 3 3, 2 3 5, 324

Alembert, Jean-B. le R. d' 75C 82

Agre, Philip E. 20

Alqu ie, Ferdinand 54

Anders, Günther 1 6, 2 1 3-233, 249, 280,

284

Angerer. Marie-Luise 2 1 7

Angus, Ian 240, 243, 246

ApeL Kar! 0. 1 24C 1 28

Arendt, Hannah 1 8 1 L 200

Arnau ld, Antoine 49

Arntz, Gerd 1 54, ! 58

Authier, Michel 46[

Babbage, Charles 20C 1 39[

Bacon, Francis ! 5 1

Bahr, Hans- Dieter 25

Barbrook, Richard 303, 3 1 0, 3 1 5

Barck, Karlheinz 2 39C 244

Barlow, John P. 3 1 0

Barthes, Roland 2 1 3L 303

Ba udrillard, Jean 222

Bauman, Zygmunt 1 6 1 , 302

Bell, Daniel 1 7

Benjamin, Walter ! 99-2 1 L 2 1 3[, 2 1 7, 234,

2 7 1

Berkely, George 54, 220

Bexte, Peter 2 L 140

Bloch, Ernst 209

Bloom, Alan 287

B l u menberg, Hans 44, 75L 88

Boas, Franz 1 1 3

Bohr, Niels 1 48

Bolz, Norbert 2 1 , 2 5, 1 99, 222

Boole, George 1 38[[

Boullee, Etienne-Louis 5 1

Bou rdieu, Pierre 1 34

Böhme, Gernot 57[

Böhme, Hartmut 57[

Brecht, Benalt 1 93, 20 1 , 204

B rentano, Franz 1 7 1

B u rckhardt, Martin 2 1 , 243

Bush, Vannevar 28, 285C 304[[

Cameron, Andy 3 1 0, 3 1 5

Carnap, Rudolf 1 3 9, 1 48[, 1 56

Cassirer. Ernst 35, 40, 67, 75 , 8 L 96, I 09,

1 1 7, 1 32

Castells, Manuel 1 8[

Chardin, Pierre T. de 260

Chartier, Roger 72

Clarke, Art h u r C . 267

Coy, Wolfgang 23

Crary, Jonathan 2 1 1

Cusanus, Nikolaus 3 5

Danto, Artbur C. 6 3

Darnton, Roben 5 5 , 72

Darwin, Charles 95, 1 7 5

Davis, Eric 262

Debord, Guy 235[

Deleuze, Gilles 48, 299ff

Derrida, Jacques 25, 88, 1 7 5

Descartes, Rene 29, 32-49, 72, 1 73, 264

Diderot, Denis 67, 75C 82

Dilthey, Wilhelm 1 7 5, 1 78

Donne, John 250

Dreyfus, Huben 3 1 4

Duchamp, Marcel 27 1 , 276

Dyson, Esther 3 1 8

Ecken, J. Prosper 22 5

Page 339: Medienphilosophie Hartmann

Eco, Umbeno 77, 1 07, 1 1 8[, 1 2 3 fL 1 43

1 52, 1 63, 234L 302, 320 '

Einstein, Alben 1 48, 263

Eisenstein, El isabeth 2 5, 34, 43L 72 , 254

2 56, 322

'

Eliot, Thomas S. 2 5 1

Engelbart, D o uglas 286

Engels, Friedrich 245

Ernst, Max 1 5, 2 7 3

Eschbach, Ach im 1 64

Faraday, Michael 5 5, 295

Faßler, Manfred 27[, 72

Fennolosa, Ernesto 252

Fichte, Immanuel H . 80

Fiore, Quentin 2 5 3

Flichy, Patrice 22, 1 70, 1 9 3, 2 38, 270, 28 1 f

Flusser, Vilem 1 3 , 1 6, 1 9, 24, 27, 77, 1 OB,

1 1 0, 1 1 2, 1 5 1 , 1 58, 1 6 5, 1 98, 209, 220,

260, 279-297, 30 1 , 3 1 0, 324

Foucault, Michel 67, 77L 264, 285, 288r

Ford, Henry 2 7 5

Frege, Gottlob 85, 1 3 1 - 1 45, ! 50

Freud, Sigmund 1 49, 1 7 5 , 1 88L 1 96[ 2 1 8

299

' '

Gabriel, Gottfried 98

Galilei, Galileo 3 5, 45, 1 7 3

GassendL Pierre 49

Gasset, Ortega y 234

Gellner, Ernest 32, 34, 39, 50, 6 1 , 64 87[

1 20, 1 87, 243 ' '

George, Stefan 209

Giedeon, Sigfried 2 7 1 -277

Giesecke, Michael 2 5, 2 5 6, 2 58, 2 6 1 , 3 2 1

Gilbreth, Frank B . 274

Gilder, George 3 1 8

Glück, Helm u t 209

Goethe, Johann w. v. 77

Goody, Jack 294

Greenberger, Martin 306

Gropius, Walter 2 7 1

Guattari, Felix 299[[

Namensindex 339

Habermas, Jürgen 53, 64, 1 82, 1 90, 1 98

Hacking, !an 1 1 2

Hafner, Katie 308

Hahn, Hans 1 49

Halbach, Wulf 27

HalL Stuart 1 2 5

Hamann, Johann G . 74, 78, SOL 1 06

Haraway, Donna 2 1 7

Hanmann, Frank 1 5 0, 1 79, 3 1 0, 3 1 5, 320

HebeL Job. Peter 1 8 5 [

HegeL Georg W. F. 80, 1 8 5

Hegselmann, Rainer 1 58

Heidegger, Manin 98L 1 08L 1 1 4[, 1 32,

1 68, 1 7 1 , 1 77- 1 90, 1 94, 209 228 2 58

264

' ' '

Heim, Michael 1 84

Heims, Steve J. 1 69, 254

Heine, Heinrich 62L 67

Henrich, Dieter 56

Heraklit 1 04

Herder, Johann G. 65, 72, 75 , 79_89 93

99, 1 1 3 ' '

Hobbes, Thomas 49, 1 5 1

Hodges, Alan 225

Holenstein, Elmar 1 2 6

Horkheimer, Max 59, 1 7 1 , 1 S9, 1 92rr

I 97fL 224, 2 3 3, 2 5 0 '

HödL Hans G. 98

HötschL Rainer 2 5 1 [[

Hugo, Victor 241

H umboldt, Wilhelm v. 86, 89-93 1 08 1 1 2

1 82 ' ' '

Hume, David 54

Husserl, Edmund 1 7 1 - 1 77, 1 82, 1 94, 284

Huxley, Aldous 205

Page 340: Medienphilosophie Hartmann

340 Anhang

Im HoL Ulrich 52

Innis, Harold A. 2 39-249, 268

Jacobson, Roman 87, 1 26

James, William 1 2 3

Jaspers, Kar] 1 7 5, 1 80f

Johnson, Steven 286

Joyce, James 2 5 1

I<andinsky, Wassily 270

I<ant, Irnmanuel 40, 50, 52-70, 74, 78ff, 84, 89, 93, 1 06, 1 1 0, 1 20, 1 2 5, 1 28, 1 7 1 L 202, 2 1 9, 228, 2 3 3, 3 1 8, 322, 324

I<aulbach, Friedrich 54

I<eaton, Buster 299

I<elly, I<evin 2 59, 309

I<epler, Johannes 20, 35

I<erckhove, Derrick de 243, 260f

I<inross, Robin 1 58

Kittler, Friedrich 2 1 , 23, 72, 77, 1 69, 1 86, 3 1 4, 320

I<lages, Ludwig 202, 206f

Klee, Paul 27 1

Kleist, Heinrich v. 99

Klossowski, Pierre 1 99

Komensky, Johann A. 1 52

Kondylis, Panajotis 75

Kroker, Arthur 2 3 9, 246, 260, 3 1 4

Kroß, Mattbias 1 43

Kuhn, Thomas S. 1 5 5

Künne, Wolfgang 1 38

K ünzel, Werner 2 1 , 1 40

Laak, Dirk van 1 73

Lacan, Jacques 230

Leavis, Frank R . 250

Leger, Ferdinand 2 7 1

Leibniz, Gottfried W. 2 1 . 54, 1 1 7, 1 4 1 L 1 50, 285

Leinfellner, Elisabeth 1 00, 1 07

Lefebvre, Henri 1 8 5

Lern, Stanislaw 1 76

Levy, Pierre 270, 309, 324

Le Corbusier, Charles-Eduard J. 27 1

Licklider, Joseph R.C.L. 306, 323

Liessmann, Konrad 2 1 4, 220, 2 3 1

Locke, John 54, 1 5 1

Löwith, Kar] 75

Loos, Adolf 27 1

Lovelace, Lady Ada 1 40

Lovink, Geert 3 1 9

Luther, Martin 1 7 5, 2 6 1

Lyon, Matthew 308

Lyotard, Jean-Franr;ois 23, 292, 3 1 5

Mach, Ernst 1 3 3, 149

Magritte, Rene 1 1 6

Mallarme, Stephane 208

Marcuse, Herbert 1 97ff

Marconi, Guiglelmo 1 69

Maresch, Rudolf 3 1 2

Marey, Etienne J . 273f

Margreiter, Reinhard 1 8

Marx, Karl 1 75, 200, 2 1 5, 245

Maturana, Humberto 1 1 2

Mauchly, John W. 2 2 5

Mauthner, Fritz 8 1 , 85, 96- 1 1 0, 1 3 l f, 1 48, 1 64, 227, 284

MaxwelL James C. 55, 2 9 5

McLuhan, H . Marshall 1 7, 28, 1 45, 1 6 5, 1 68L 204, 208, 222. 2 3 1 , 234, 2 38f, 243f, 248-269, 27 1 , 280, 284, 309

Mead, Margret 1 1 3

Merleau- Ponty, Maurice 1 7 5

Mersenne, Marin 49

Metternich, Clemens W.N. 242

Miller, Paul D . ( DJ Spooky) 329ff

Minsky, Marvin 326

MitchelL William J. 1 9, 309

Page 341: Medienphilosophie Hartmann

Montaigne, Michel de 32f

More, Max 326

Morris, Charles W. 1 2 1 , 1 5 6, 1 60

Moxon, Joseph 2 54

Mumford, Lewis 262

Muybridge, Eadweard 27 1 , 274

Negroponte, Nicholas 309

Nelson, Theodor H. 306

Neswald, Elisabeth 28 1 , 293

Neumann, John v. 225

Neurath, Otto 1 47- 1 66, 208, 2 34

Niethammer, Imanuel 77

Nietzsche, Friedrich 98, 1 26, 2 1 6, 234

Novalis 27f

Oehler, Klaus 1 1 8, 1 20ff

Ogden, Charles K. 1 60

Ong, Walter 1 64

Ott, Hugo 1 8 1

Otto, Detlef 7 4

Peirce, Charles S. 46, 85, 1 1 7 - 1 2 9

Pettauer, Richard 329

Picabia, Francis 273

Pinker, Steven 92, 1 1 2ff

Platon 1 79

Poe, Edgar A. 2 5 3

Postman, Neil 2 3 3, 287

Pound, Ezra 2 5 l f

Pynchon, Thomas 2 3 6

Reuss, Jürgen 2 5 l ff

Rheingold, Howard 305

Richards, Ivor A. 2 50

Rousseau, Jean-Jacques 52

Rorty, Richard 29, 1 24

Rost, Martin 2 3

Rötzer, Florian 3 1 1

Rushkoff, Douglas 223

Russell, Bertrand 1 47, 2 1 4

Sale, Kirkpatrick 2 1 6

Safranski, Rüdiger 1 7 5 L 1 82

Sandbothe, Mike 66

Sanders, Barry 87

Sapir, Edward 1 1 3

SarnofL David 1 70

Sartre, Jean-Paul 1 7 5, 1 8 1

Sassen, Saskia 3 1 6

Namensindex 341

Saussure, Ferdinand de 1 26f, 302

Schelling, Friedrich W.J.v. 80

SchlegeL Friedrich 209

Schmidt, Artur P. 20

Schnädelbach, Herbert 1 47

Schopenhauer, Arthur 3 1 0

Schulte, Joachim 1 3 3

Schultz, Pit 3 1 9

Schwitters, Kurt 2 7 1

Seebohm, Thomas E . 6 2

Serres, Michel 46, 3 2 7

Shannon, Claude E . 1 1 4, 1 2 7

SimmeL Georg 1 54

Sloterdijk, Peter 25, 2 3 0

Sommer, Manfred 64

Soemmering, Samuel Th.v. 7 1

Sontag, Susan 220

Spinoza, Baruch de 48

Starobinski, Jean 5 3

Stegmüller, Wolfgang 1 3 1

Steiner, George 1 87, 287

Stern, William 2 1 4

Stetter, Christian 84, 92

Swedenborg, Emanuel 56ff

Swift, Jonathan 1 1 9

Taylor, Frederick W. 274f

Taylor, Robert W. 306

Page 342: Medienphilosophie Hartmann

342 Anhang

Tholen, G. Christoph 2 1 . 23

Toffler, Alvin 1 7, 265, 3 1 8

Toulmin, Stephen 32, 34, 39, 4 1 L 50

Trendelenburg, Adolf 1 0 3

Turing, Alan 2 2 5

Valery, Paul 2 1 0

Vattimo, Gianni 1 78

Vico, Giovanni B. 75, 1 78

Vinci, Leonardo da 3 5

Virilio, Paul 229, 2 3 8

Weaver, Warren 1 1 4, 1 2 7

Weber, Max 1 54, 1 7 1 , 1 7 3

Weinstein. Michael A. 3 1 4

Welby, Lady Viola 1 1 9

Welles, Orson 223L 226

Wells Herben G. 223

Welsch, Wolfgang 66

Whitehead, Alfred N. 1 47

Whorf. Benjamin L. 1 1 3ff

Wiggershaus, Rolf 1 89, 1 9 1 , 200, 202

Wilkins, Bishop John 1 1 9, 1 64

Winkler. Hartmut 3 0 1 , 304, 308, 324

Wittgenstein, Ludwig 85, 93, 96, 1 00, 1 06, 1 09, 1 32L 1 39, 1 43, 1 48, 1 50f

Wölfflin, Heinrich 272

Zajonc. Artbur 5 5, 295

Zizek, Slavoj 245

Zuse, Konrad 2 1

Page 343: Medienphilosophie Hartmann

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Abb. 1 2 - Mart in Heidegger i n Selbstzeugnissen und B ilddokumenten, dargestellt von Walter Biemel, Rowohlt Verlag, Hamburg 1 98 1 , S .93

Abb. 1 3 - Roland Barthes, Die hel le Kammer, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1 985, S.98

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Abb. 1 8 - Siglried Giedion: D ie Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur ano-nymen Geschichte, Europä ische Verlagsanstalt. Frankfun ! 982, S . l 3 l

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Abb. 20 - ebd. S.43

Abb. 2 1 - ebd . S .226

Abb. 22 - Vilem Flusser: Vom Stand der Dinge, Steidl Verlag, Göttingen 1 93 3, S.98

Abb. 2 3 - http : //www.jodi .org

Abb. 24 - Foto Richard Pettau er

Abb. 25 - Exit

Verlag u nd Autor haben sich bemüht, die Genehmigungen zur Reproduktion der Abbil­dungen einzuholen. Wo dies bis zur Drucklegung nicht gelungen ist, ist der Verlag bereit, begründete Ansprüche angemessen abzugelten.