Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages...

35
Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011-12

Transcript of Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages...

Page 1: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

Mehr unorthodoxe Gedanken zum

Wissensmanagement 2011-12

Page 2: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

1

Wissensmanagement ist wie das Fangen von glitschigen Fischen, nämlich der Versuch,etwas zu fassen, was sich ständig entzieht. Warum? Weil es in der Natur des Wissensliegt. Weil unsere traditionellen auf Messen und Kontrolle ausgerichteten Management-Werkzeuge dafür nicht taugen. Weil es um kreative Freiräume geht. Weil…Und nichtsdestotrotz: Wissen ist strategisch entscheidend für die Wertschöpfungunserer Organisationen und unserer Volkswirtschaft. Es ist entscheidend für uns als Individuen und für unsere Zivilgesellschaft. Es lohnt sich also, sich damit zu beschäftigen.

Die hier versammelten Kolumnen sind in den Jahren 2011 bis 2012 in der Fachzeitschrift „wissensmanagement – das Magazin für Führungskräfte“(www.wissensmanagement.net) erschienen.

Übrigens: Das Bild vom glitschigen Fisch ist dem Buch „infonautik“ von Joscha Remusentliehen.

Ich hoffe die Lektüre enthält die eine oder andere nachdenkenswerte kleine Provokation für Sie. Viel Spaß!

Page 3: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

2

Wenn man Weiterbildungsangebote zumThema persönliches Wissensmanage-ment vergleicht, geht es bei den meistendavon um Zeitmanagement und Arbeitsor-ganisation, d.h. zu einem großen Teil wird– wieder einmal – der explizite Wissensan-teil organisiert, nur eben eingegrenzt aufden persönlichen Anteil daran. Das ist na-türlich wichtig und adressiert in Zeiten derInformations- und E-Mail-Flut einen kon-kreten Leidensdruck. Aber sollte sich per-sönliches Wissensmanagement darin er-schöpfen? Sollte sich die lebhafter wer-dende Diskussion zu diesem Thema aufein persönliches Daten und Informations-management reduzieren?

Übertragen wir doch einmal die uns allenwohl bekannten Diskussionen der letztenJahre zum organisationalen Wissensma-nagement auf das Feld des persönlichenWissensmanagements, dann stellen sichauch hier die zentralen Fragen nach derWissens und Lernstrategie sowie nachdem Management der so genannten „in-tangibles“, unter anderem dem persönli-chen Beziehungskapital.

Beide Seiten der Medaille, also die effizi-ente Verwaltung der persönlichen Daten-

und Informationsbestände sowie despersönlichen Beziehungskapitals, lassensich mit Wissenskarten, wie sie üblicher-weise im Rahmen eines Wissenstrans-fers beim Ausscheiden erstellt werden,recht gut abbilden. Und in der Tat habenmittlerweile einige Unternehmen diesesWerkzeug aus der Nische „Ausscheiden“heraus geholt und zu einem Werkzeugdes persönlichen Wissensmanagementsgemacht, d.h. kritische Wissensträger(apropos, kennen Sie diese?) pflegendauerhaft eine solche Karte, nicht nur umihr persönliches Wissen für sich selbst inder täglichen Wissensarbeit effizienterzugreifbar zu halten, sondern auch umes für das Unternehmen zu sichern. Net-ter Nebeneffekt: Die Visualisierung unddie bewusste Beschäftigung mit dem ei-genen intellektuellen Kapital erleichtertdie Ableitung einer ganz persönlichenWissens- und Lernstrategie: Welchessind meine zentralen (Zukunfts-) The-men? Wie möchte ich diese weiterent-wickeln? Was möchte ich kurz- oder mit-telfristig abgeben?

Eine solche Darstellung erlaubt nicht nur,sich selbst ein Bild zu machen – imwahrsten Sinne des Wortes – sondern

wissensmanagement 01/11

Page 4: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

3

dieses Bild auch anderen zu vermitteln,z.B. beim Zielvereinbarungsgespräch mitdem Vorgesetzten.

Nun ist der (gedankliche) Weg vom per-sönlichen Wissensmanagement zum Ma-nagement sozialer Netzwerke nicht weit,besteht doch einwesentlicher Anteilunseres persönli-chen Kapitals ausgenau diesen: per-sönlichen Bezie-hungen. Und dannist es nur noch einkleiner Schritt, umüber Phänomene wie facebook und ande-re Virtual Social Networks nachzudenken.Ist Ihnen übrigens auch schon aufgefal-len, dass der kleine Zusatz „virtual“ oft un-terschlagen wird? Und was sagt diesekleine Auslassung über unsere Haltungzu diesen Netzwerken aus?

Dazu kann es interessant sein, sich einwenig mit Jaron Lanier zu beschäftigen,dem man als Pionier von Virtual-Reality-Anwendungen sicherlich keine grundsätz-liche Technologiefeindlichkeit oder Un-kenntnis vorwerfen kann. In seinem Buch„You are not a gadget“ (Die Zukunftbraucht uns noch) stellt Lanier fest, dass„Informationssysteme … Informationen(benötigen), wenn sie funktionieren sol-len, doch in der Information ist die Reali-tät unterrepräsentiert.“ Er führt weiter aus,wir unterlägen einer Art philosophischem

Irrtum, weil wir glaubten, Computer könn-ten das menschliche Denken oder zwi-schenmenschliche Beziehungen abbil-den. Im Grunde wissen wir das natürlich,wissen wir, dass es einen signifikantenUnterschied gibt zwischen facebook-und „realen“ Freunden. Dass miteinan-

der Lachen undStreiten im realenRaum eine andereQualität haben alsim virtuellen. Dasspersönlicher Wis-senstransfer eineandere Qualität hatals virtueller. Wie

viel Virtualisierung verträgt also das per-sönliche Wissensmanagement?

Am Ende gilt auch für das persönlicheWissensmanagement: Denken – als DIEGrundlage für jede Art von Wissensma-nagement – ist eine ur-eigene Aufgabe,der jeder ganz für sich selbst nachkom-men muss. Und vielleicht sollte dasoberste Gebot des persönlichen Wis-sensmanagements daher auch sein: Ichgebe mir Raum zum Denken. Denn „Frei-heit ist die Freiheit der Andersdenken-den, nicht die Freiheit der Nichtdenken-den.“ (gelesen auf einer Fotografie vonPeter Lindbergh).

Virtual Social Networks … Ist Ihnen

auch schon aufgefallen, dass der

kleine Zusatz „virtual“ oft unter-

schlagen wird? Und was sagt diese

kleine Auslassung über unsere

Haltung zu diesen Netzwerken aus?

wissensmanagement 01/11

Page 5: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

4

Bei einem Projekt für die ONEP (Office Na-tional Eau Potable) in Marokko geht esdarum, Wissens- & Kompetenzmanage-ment für die Organisation zu entwickeln.Die Durchführung mehrerer Workshops infranzösischer Sprache hat mich dabei inden vergangenen Monaten nicht nur vorso manche sprachliche Herausforderunggestellt, sondern über ein zunächstsprachliches Problem mal wieder auf Re-flexionen zum Konzept des Wissens zu-rückgeworfen.

Die Teilnehmer ha-ben mich nämlichmit drei Benennun-gen für den Begriff„Wissen“ konfron-tiert: savoir, savoir-faire und savoir-être. Die beidenersten stehen füreher theoretischeKenntnisse (savoir)und für das operati-ve Wissen oderKnow-how (savoir-faire). Aber wie sollte ich savoir-être verste-hen und übersetzen? Die Recherche in di-versen Wörterbüchern hat leider keineÜbersetzung für diesen im Französischendurchaus nicht unüblichen Begriff gelie-fert. So konnten mir nur die Diskussionen

in den Workshops zum Wissens- und vorallem Kompetenzmanagement Anhalts-punkte für ein ungefähres Verständnis lie-fern. Und das sieht nun so aus:

Das savoir-être, also wörtlich das „Wis-sen um das Sein“ begleitet das „Wissenum das Tun“ (savoir-faire) in dessen so-zialen und relationalen Aspekten. Es be-zeichnet jedoch nicht nur das konkreteindividuelle Verhalten im engeren Sinneeiner sozialen Kompetenz, sonderndurchaus auch eine persönliche Haltung

und berührt damitAspekte, die an-sonsten eher weni-ger im Kontext Wis-sen berücksichtigtwerden, nämlichpersönliche Werteund Einstellungen.Vereinzelte Defini-tionen im Französi-schen, die ich ge-funden habe, spre-chen daher auchvon der „Kunst des

Zusammenlebens mit seinen Partnern“ inunterschiedlichen Kontexten oder vonder „Fähigkeit in einer Art und Weise zuagieren und zu reagieren, die dem jewei-ligen menschlichen und ökologischenUmfeld angemessen ist“.

wissensmanagement 02/11

Das „Wissen um das Sein“ begleitet

das „Wissen um das Tun“ in dessen

sozialen und relationalen Aspekten.

Es bezeichnet jedoch nicht nur das

konkrete individuelle Verhalten ...

sondern auch eine persönliche Hal-

tung … So verstanden gibt es eine

Art von Wissen, das mein individu-

elles Sein bestimmt und sich

in diesem ausdrückt.

Page 6: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

5

So verstanden gibt es neben dem Wis-sen, das mein Handeln ermöglicht undbestimmt, eine Art von Wissen, das meinindividuelles Sein bestimmt und sich indiesem ausdrückt. Und plötzlich tut sichim Wissensmanagement ein weites undvages Feld, nämlich das von Moral undEthik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend Ärger mit lästigen Vagheiten hätten,gell?). Und nun?

Lehnen Sie sich jetzt nicht zurück im beru-higenden Gedanken, ich hätte das (fürSie) schon zu Ende gedacht. Weit gefehlt.Diese Kolumne ist frei nach Kleist eine„Verfertigung der Gedanken beim Schrei-ben“ und wird sicherlich nicht über ein ru-dimentäres Fragment und einen kleinenStein des gedanklichen Anstoßes hinausgehen. Ich möchte Sie daher einfach zumNachdenken einladen, z.B. über:

• Welche Rolle spielt das savoir-être fürdas persönliche Wissen und das per-sönliche Wissensmanagement?

• Welche Rolle spielt das individuelle savoir-être darüber hinaus für das orga-nisationale Wissen und damit für dasWissensmanagement?

• Wie lässt es sich abbilden? • Welchen Einfluss hat es? • (Wie) Kann das savoir-être gefördert

und ggf. entwickelt werden? • Ist es Bestandteil des intellektuellen Ka-

pitals eines Unternehmens?

• Gibt es ein savoir-être einer Organisa-tion? Und wenn ja, wie drückt sich die-ses aus?

• Welche Rolle spielen in der FolgeAspekte der Ethik und Werte, sowohlauf individueller als auch auf organisa-tionaler Ebene, für das Wissensmana-gement?

Und mit diesem vielleicht radikalen Kon-trapunkt offener und sicherlich kontroversdiskutierbarer, vielleicht unentscheidba-rer, subjektiver Fragestellungen ausge-rechnet am Ende eines Heftes mit demSchwerpunktthema „Enterprise Search“,also einem Thema der erwünscht klarenund raschen Antworten, überlasse ichSie Ihren eigenen – hoffentlich unortho-doxen – Gedanken zu den Themen Wis-sen und Sein ...

P.S.: Wer immer unter Ihnen Vorschlägefür eine treffende Übersetzung von„savoir-être“ ins Deutsche oder auchEnglische hat, ist herzlich eingeladen,sich bei mir zu melden.

wissensmanagement 02/11

Page 7: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

6

Was macht ein Unternehmen innovativ?Im Fazit zu einer aktuellen Studie vonMcKinsey zu „Social Media as key driverfor success“ wird die These aufgestellt,dass Unternehmen, die Social Media so-wohl in der Innen- als auch in der Außen-kommunikation einsetzen, als echte Ler-nende Organisationen agierten. Vielleichtist diese These von mir an dieser Stelle et-was verkürzt dargestellt, aber lassen Siemich diese Sichtweise trotzdem als Kristal-lisationspunkt für einige Gedanken zumThema Lernen, Innovation verstanden alsmanifestierter Lernerfolg und Social Me-dia nehmen!

A propos, Verkürzung. Eine eher unzuläs-sige Verkürzung findet sich in denSchlussfolgerungen der Studie selbst:Was nämlich in der Studie, und in vielenanderen Publikationen zu diesem Thema,tatsächlich als Erfolgsfaktor identifizertwird, ist bei genauerem Hinschauen nichtder Einsatz von Social Media als solches,sondern vielmehr das geschickte Nutzenvon informellen sozialen Netzwerken; imFalle von Social Media eben virtuell. Also,unterscheiden wir bitte zwischen SocialMedia als Werkzeug und dem eigentli-chen Erfolgstreiber, dem Agieren in infor-mellen, selbst organisierten und cross-funktionalen Netzwerken.

Was aber ist das Erfolgsgeheimnis? In-formelle Netzwerke, v.a. dann, wenn sienicht nur Funktions-, sondern gar Organi-sationsgrenzen überspannen, sind so et-was wie ein „learning booster”, und zwarsowohl auf der individuellen als auch aufder kollektiven Ebene. Denn durch denAustausch von Erfahrungen und guterPraxis sowie durch ein kontinuierlichesund im besten Sinne polyphones Feed-back und ein situatives Lernen werdendas eigene Lernvermögen sowie dieKreativität ungemein befeuert.

Da der Netzwerkgedanke in den 90erJahren v.a. im Umfeld der Software-Ent-wicklung entstanden ist, lohnt es sich,das Manifesto for Agile Software De-velopment mal ein wenig genauer anzu-schauen. Dort werden die folgenden vierGrundwerte genannt:

1. individuals and interactions over pro-cesses and tools

2. working software over comprehensivedocumentation

3. customer collaboration over contractnegotiation

4. responding to change over following aplan

wissensmanagement 03/11

Page 8: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

7

Diese werden dann in 12 Prinzipien aus-formuliert, u.a.:

• Build projects around motivated indivi-duals.

• Give them the environment and supportthey need, and trust them to get the jobdone.

• The best architectures, requirements,and designs emerge from self-orga-nizing teams.

• At regular intervals, the team reflects on how to become more effective, then tunes and adjusts its behavior accordingly.

Und wieder mallanden wir bei denZumutungen an ei-ne wissensorien-tierte Führung: Ver-trauen statt Kon-trolle, Selbstorgani-sation & Freiraumstatt definierter Pro-zesse, Veränder-lichkeit & Adapta-tionsfähigkeit stattPlanerfüllung usw.Sie wissen schon, der Manager als Gärt-ner eben ... Ach ja, und als Kulturbeauf-tragter, vielleicht ist dies sogar die Haupt-aufgabe einer Führungskraft im 21. Jahr-hundert: Die Kultur der eigenen Organisa-tion zu gestalten und zu prägen? Unddies ist nicht als Herabstufung zu bewer-ten, denn wie Lou Gerstner, der frühere

CEO von IBM erkannt hat: „I came tosee, in my decade at IBM, that cultureisn’t just one aspect of the game, it is thegame … In the end, the organization isnothing more than the col lective capaci-ty of its people to create value.”

Kultur ist auf das Engste verknüpft mitdem Kollektivvermögen, im doppeltenSinne des Wortes („capacity” und„value”). Und wer, wenn nicht der Mana-ger, ist dafür verantwortlich? Zumal dieOrganisationkultur immer der Füh-rungskultur folgt. Wer also am Erfolg in-formeller Netzwerke in puncto Innovativi-tät und Kreativität, aber auch Effektivität

und Effizienz profi-tieren will, mussdas Spiel nicht nurzulassen und vomSpielfeldrand ausbeobachten, son-dern selbst aktivmitspielen.

Und um noch ein-mal auf die Aus-gangsthese vonSocial Media als Er-

folgstreiber zurückzukommen, eines der12 Prinzipien des Agile-Manifest lautet:„The most efficient and effective methodof conveying information to and within adevelopment team is face-to-face con-versation.“

Und wieder landen wir bei den

Zumutungen an eine wissensorien-

tierte Führung: Vertrauen statt Kon-

trolle, Selbstorganisation & Frei-

raum statt definierter Prozesse, Ver-

änderlichkeit & Adaptationsfähig-

keit statt unbedingte Planerfüllung

... der Manager als Gärtner eben ...

Ach ja, und als Kulturbeauftragter.

wissensmanagement 03/11

Page 9: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

8

Erinnern Sie sich noch an „La Boum – dieFete“, den Teenie-Film der Achtziger? Ichhabe diesen Film kürzlich in einem Anflugvon Nostalgie mit meiner Tochter ange-schaut und bin völlig unerwartet über eininteressantes Zitat gestolpert: „Wissen istMacht, aber Macht ist noch nicht Wis-sen.“ Mag ja sein, dass es in diesem Filmeher als Sponti-Spruch gemeint war, aberwie so oft, steckt auch hierin mehr als einKörnchen Wahrheit, sodass es sich zu-mindest lohnt, ein wenig darüber nachzu-denken. Zumal der Soziologe RichardSennett, bekannt vor allem durch „Der fle-xible Mensch“, dieser Tage in seinem Er-öffnungsvortrag zur Veranstaltungsreihe„Bodybits – analoge Körper in digitalenZeiten“ in Berlin (www. youtube.com/hkwstream) im Grunde dieselbe Idee ver-folgt.

In seinem Vortrag geht er der Frage nachder zerstörerischen Wirkung von Ungleich-heit in Organisationen nach und wie diesezur Verschwendung von Wissen führe,weil „zurzeit Firmenhierarchien dem Wis-sen aus erster Hand nicht den Platz ein-räumten, der ihm gebührt.“ Die Krux da-bei, laut Sennett, ist, dass der Kapitalis-mus sein eigenes meritokratisches Ver-sprechen, d.h. Leistung – und das ist inunserer Wissensgesellschaft eben haupt-sächlich Wissen – wird belohnt, nicht ein-

löse, weil eben Macht, also Status, nichtunbedingt mit Kompetenz einhergehe.Vielmehr ist für den unermüdlichen Kapi-talismuskritiker Sennett das Verhältnisvon Status und Kompetenz in den meis-ten (traditionell hierarchischen, Ergän-zung der Autorin) Organisationen auf denKopf gestellt. Daurch komme es in einerWechselwirkung aus Inkompetenz undIsolation zu einem Siloeffekt: Da wenigseitens der Führung wertgeschätzt, ziehesich der sachkundige Mitarbeiter auf sichselbst zurück und horte sein Wissen:„Die da oben verstehen das doch ehnicht.“

So werde Hierarchie zu einem „brutalsimplifier“, einem schrecklichen Vereinfa-cher, der das komplexe Geflecht aus Ver-trauen und Anerkennung zerreiße. Hiera-chie agiere auch deshalb als Vereinfa-cher, weil hierarchische Institutionen unseinen Mangel an Vorstellungskraft aufnö-tigten hinsichtlich der Vorstellungen vonZusammenarbeit, die starrer seien alsunsere eigentliche Fähigkeit mit anderenin komplexer Weise zu interagieren undzu Lösungen zu kommen. Dies betreffev.a. die Kollaboration im Web 2.0, weil diedort verwendeten Werkzeuge diese zustarre Vorstellung widerspiegelten. Au-ßerdem scheitere Zusammenarbeit auchdeshalb, weil es kein gemeinsames Ver-

wissensmanagement 04/11

Page 10: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

9

ständnis der Aufgabe, keine gemeinsameZielvorstellung gebe. Für Sennett entwi-ckelten „unsere modernen Kulturen ...einen immer höheren Grad an Komplexi-tät, aber der kooperative Gebrauch die-ses Reichtums bleibt rudimentär“.

Bei Sennett erscheint die Doktrin von Wis-sen ist Macht als mehr oder weniger will-kürliche „Konstruktion des Kapitalismusin seinem Strebennach Ungleichheit“.Wissen ist Macht,Macht aber nochnicht Wissen. Dochmuss eine Füh-rungskraft tatsäch-lich immer auch die(fachlich) kompe-tentere Person sein,um eine Art natürli-che Hierarchie zuerzeugen? Ich denke nein, eine Führungs-kraft sollte die führungskompetentere Per-son sein, welche die fachliche Kompe-tenz ihrer Mitarbeiter erkennt und aner-kennt und die Rahmenbedingungenschafft, in denen sich diese Kompetenzim Sinne der Gesamtorganisation entfal-ten und weiter entwickeln kann.

Doch wie kann dann der von Sennett be-schriebene Siloeffekt vermieden werden?Die eingeforderte Wertschätzung der fach-lichen Kompetenz des Mitarbeiters solltekeine Einbahnstraße sein, sondern einewechselseitige Wertschätzung. D.h. Füh-

rung wird als eigenständige und gleich-wertige, dabei auch gleichrangige Aufga-be und Kompetenz verstanden und vomMitarbeiter ebenso wertgeschätzt wiedessen Kompetenz und Potenzial vonder Führungskraft. Und neben der klas-sisch hierarchischen Laufbahn solltenwissensintensive Unternehmungen ver-stärkt über alternative „Expertenlauf-bahnen“ nachdenken, um Fachexperten

nicht durch Karrie-re-Stillstand in dieIsolation zu treiben,aber eben auchnicht an Führungs-aufgaben zu verlie-ren und zu frustrie-ren.

Welche Rolle kanndabei die Wissens-bilanz spielen? Und

warum sind gerade Enterprise-2.0-Unter-nehmen oft so fixiert auf eine Führungs-person? Fortsetzung folgt ...

Die eingeforderte Wertschätzung

der fachlichen Kompetenz des Mit-

arbeiters sollte keine Einbahnstraße

sein, sondern eine wechselseitige

Wertschätzung. D.h. Führung wird

als eigenständige und gleichwerti-

ge, dabei auch gleichrangige Auf-

gabe und Kompetenz verstanden.

wissensmanagement 04/11

Page 11: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

10

ä

In der letzten Kolumne haben wir uns, an-geregt durch einen Vortrag von RichardSennett (und zugegebenermaßen demTeenie-Film „La Boum“), mit der Hypothe-se auseinandergesetzt, dass Hierarchie inOrganisationen eine zerstörerische Wir-kung entfalten und zur Verschwendungvon Wissen führen kann. Ich möchte nungerne an diese Überlegungen dort an-knüpfen, wo ich Sie das letzte Mal „überder Klippe habe hängen lassen“ – näm-lich bei der Frage, warum gerade die ver-meintlichen Enterprise-2.0-Unternehmenoft so stark auf eine charismatische Füh-rungspersönlichkeit ausgerichtet sind. Ich erinnere nur an den kurzzeitigen Sturzder Apple-Aktie im Januar diesen Jahresals die Krankheit von Steve Jobs bekanntwurde.

Doch bevor wir über die Rolle der „star-ken Männer“ nachdenken, sollten wir defi-nieren, was eigentlich unter einem Enter-prise-2.0-Unternehmen zu verstehen ist –in meinem Verständnis jedenfalls deutlichmehr als ein Unternehmen, das Social-Software-Tools wie Wiki, Blog & Co. ein-setzt, auch wenn McAfee als Urheber desBegriffes das noch genau so beschreibt:„Enterprise 2.0 is the use of emergent so-cial software platforms within companies,or between companies and their partnersor customers“. Vielmehr sollte Enterprise

2.0 als Label für solche Organisationenstehen, in denen die Philosophie der So-cial-Software-Werkzeuge Einzug gefun-den hat in die Zusammenarbeit im Unter-nehmen – bis hin zu dessen Führungs-strukturen. Das heißt wir reden dann vonOrganisationen, in denen Emergenz,Selbstorganisation und Selbstbestimmt-heit, Autonomie, Teamdenken, Demokra-tie, Polyfonie, Freiraum und Vertrauen diebestimmenden Parameter nicht nur derUnternehmenskultur sind, sondern sicheben auch in der Organisationsstrukturmanifestieren. Und das betrifft auch dasThema Führung.

In einer echten, so verstandenen Enter-prise-2.0-Unternehmung funktioniert eineklassisch kybernetische Führung im Sin-ne des Management-Kreislaufs von Vor-denken, Vorgeben, Messen, Kontrollie-ren, Analysieren, Vorgeben... nämlich ge-rade nicht mehr bzw. kann Enterprise 2.0dort nicht entstehen, wo ein solches Füh-rungsverständnis vorherrscht (auch nichtmit noch so vielen Wiki-Installationen).Fazit: In Enterprise-2.0-Organisationenkann es den „starken Mann“ an der Spit-ze per definitionem nicht geben.

Aber was machen wir dann mit SteveJobs und der Apple-Aktie (als „Platzhal-ter“ für das generelle Phänomen, das

wissensmanagement 05/11

Page 12: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

11

selbstverständlich auch andere, wennauch weniger prominente Unternehmenbetrifft)? Hier sind mehrere Erklärungendenkbar (oder mireingefallen, wennSie weitere haben,freue ich mich übereine kurze E-Mail):

1. Apple ist im Grunde gar kein Enter-prise-2.0-Unternehmen, sondern ver-kauft sich nur erfolgreich nach außenals solches.

2. Steve Jobs ist gar nicht der „starkeMann“ bei Apple, sondern verkauft sichnur erfolgreich nach außen als solcher.

3. Finanzmarktanalysten haben das Kon-zept Enterprise 2.0 und seine Folgenfür Führung noch nicht verstanden undbewerten den Aktienwert zwanghaftnach „Old Economy“-kompatiblen Kri-terien.

4. Der Stellenwert des „starken Mannes“an der Spitze dient der Selbst- undRückversicherung auf zunehmendschwankendem Grund am Übergangvon Enterprise 1.0 zu 2.0.

Wahrscheinlich haben wir es, wie so oft,mit einem komplexen Konglomerat all die-ser Gründe zu tun. Lassen Sie mich trotz-dem an dieser Stelle nur einen davon,nämlich den letzten aufgreifen. Ich meinedamit, dass wir den „starken Mann“ ander Spitze als Projektionsfläche nutzen imKampf gegen unser Unbehagen mit Orga-nisationen, deren Wert fast ausschließlich

auf intangiblen Werten beruht, ist er dochzumindest sichtbar und greifbar und da-mit den Denkmustern der Old Economy,

denen wir ebendoch noch mehrverhaftet scheinenals uns lieb ist,scheinbar zu unter-werfen. Und da ge-

rade Unternehmen mit dem Label Enter-prise 2.0 überdurchschnittlich oft Unter-nehmen sind, deren Wert stark aufintangible assets beruht, kommt es zuder im Grunde widersprüchlichen Koinzi-denz von Enterprise 2.0 und „StarkemMann“-Phänomen.

Einverstanden?

In Enterprise-2.0-Organisationen

kann es den „starken Mann“ an der

Spitze per definitionem nicht geben.

wissensmanagement 05/11

Page 13: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

12

ö

Nicht jammern und klagen, sondern einepatente Problemlösung zur Hand haben!Haben wir das alle nicht längst verinner-licht? Im Sinne vonEffizienz, Effektivi-tät, Exzellenz undall der anderen vonBeratern und Ma-nagern gern be-mühten E-Wörtern?Und im Sinne unse-rer Vorgesetzten(oder Kunden), die nun mal keine Proble-me (sondern ausschließlich Lösungen)mögen.

Problemlösungsori-entierung ist alsoeine erwünschteund gern geseheneKompetenz beiMitarbeitern. Wasaber, wenn wir da-mit munter und da-bei immer zielorien-tiert in eine Sackgasse rennen?

Lassen Sie uns doch einmal – ohne jetztgleich „Vom Nutzen ungelöster Proble-me“ zu schwärmen, wie Dirk Baecker und

Alexander Kluge in ihrer gleichnamigenEssaysammlung, – die Sache von deranderen Seite betrachten! Was also sind

die Nachteile derProblemlösungs-orientierung (abge-sehen von derschieren Anzahlder Buchstaben)?

Dort, wo nicht dasProblem, sondern

immer nur dessen Lösung erwünscht ist,nehmen wir uns die Chance, das Pro-blem selbst eingehend zu betrachtenund zu erfassen. Albert Einstein meinte

dazu: „The mereformulation of aproblem is far moreoften essential thanits solution, whichmay be merely amatter of mathe-matical or experi-mental skill. To

raise new questions, new possibilities, toregard old problems from a new anglerequires creative imagination and marksreal advances in science.“

Dort wo nicht das Problem,

sondern immer nur dessen Lösung

erwünscht ist, nehmen wir uns die

Chance, das Problem selbst

eingehend zu betrachten und zu

erfassen.

Wie können wir wahrhaft lernen,

wenn wir uns unser Unwissen nicht

eingestehen? Und ungelöste

Probleme tun genau das:

Sie konfrontieren uns mit unserem

Unwissen.

wissensmanagement 06/11

Page 14: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

13

Das Kreativitäts- und Innovationspoten-zial liegt also nicht in der Lösung, son-dern im Problem. Und mit unserer Fixie-rung auf die (schnelle) Problemlösungnutzen wir diesesPotenzial allzu oftnicht. Im Strebennach vermeintlicherStabilität weichenwir der Irritationund Verunsicherung, die ein Problem mitsich bringt, solange es eben nicht gelöstist, aus. Und vergeben damit die Chance,tatsächlich und tiefgreifend zu lernen – sowohl als Individuum als auch als Orga-nisation.

Denn wie können wir wahrhaft lernen,wenn wir uns unser Unwissen nicht einge-stehen? Und ungelöste Probleme tun ge-nau das: Sie konfrontieren uns mit unse-rem Unwissen. Zugegeben, eine unbe-queme Vorstellung, der wir mit Hilfe derschnellen Problemlösung ausweichen.Doch allzu oft vielleicht nur scheinbar undoberflächlich, weil wir mangels eingehen-der Beschäftigung und – ja! – Wertschät-zung des Problems auch die Untiefendes Unwissens – und die Weite des mögli-chen Wissens (?) – gar nicht erfasst ha-ben. Echtes Lernen findet so jedenfallsnicht statt, oder?

Die Definition des Begriffes Problem be-sagt übrigens, dass ein Problem eineAufgabe oder Streitfrage darstellt, derenLösung mit Schwierigkeiten verbunden

ist. Die Schwierigkeit gehört also wesent-lich zum Problem und sollte nicht mit derschnellen Lösung weggewischt, sondernvielleicht immer wieder auch bewusst

thematisiert werden(auch wenn es IhrChef nicht gernehört). Denn „per as-pera ad astra“, nurüber raue Pfade

gelangt man zu den Sternen (auf den be-quemen kommen wir immer nur zu denEnergiesparlampen).

wissensmanagement 06/11

Das Kreativitäts- und Innovations-

potenzial liegt … nicht in der

Lösung, sondern im Problem.

Page 15: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

14

„Enterprise 2.0 hat Wissensmanagementabgelöst.“ Soweit eine Aussage auf ei-nem Symposium im vergangenen Jahr. Ei-ne Aussage, über die das Fachteam derGesellschaft für Wissensmanagemente.V. (GfWM) gestolpert ist und die unsnachdenklich gemacht hat: Wie kommtes zu einer solchen Aussage? WelchenZusammenhang gibt es zwischen Enter-prise 2.0 und Wis-sensmanagement,wenn man dennder Aussage nichtzustimmt? Was steckt überhaupt hinterdem schillernden Begriff Enterprise 2.0?

Fangen wir mit der letzten Frage an! Gän-gige Definitionen, auf die wir gestoßensind, definieren Enterprise 2.0 als „Ver-wendung von Sozialer Software im Unter-nehmenskontext“. Definiert sich das Un-ternehmen 2.0, also ein Unternehmen ei-ner neuen Generation – denn das möchtedas Anhängsel 2.0 uns ja suggerieren –lediglich über die Verwendung einer be-stimmten Software? Das erschien unsdoch zu kurz gesprungen. Kernstück desPositionspapiers ist nun eine neue Definiti-on von Enterprise 2.0, die deutlich überdie Verwendung von Web2.0-Werkzeugen

hinausgeht, begleitet von zehn Thesenrund um diese weiter gefasste Definition.Beides möchte ich an dieser Stelle abernicht verraten. Zum einen, weil wir unsnatürlich freuen, wenn Sie das gesamtePositionspapier lesen, zum anderen weilwir in der nächsten Ausgabe von „wis-sensmanagement – Das Magazin fürFührungskräfte“ ausführlicher darüber

berichten möchten.Lassen Sie michdaher an dieserStelle eine Diskus-

sion aufgreifen, die uns erst hingeführthat zu Definition und Thesen, nämlich dieAnnahme, dass man Enterprise 2.0 nichteinführen, sondern nur werden kann.

Wo liegt der Unterschied? Etwas einzu-führen, bezeichnet in der Regel einen li-nearen, mehr oder weniger geplantenund steuerbaren Prozess, bestehend ausklar definierten und separierbaren Schrit-ten, und es bezieht sich auf ein fassbaresObjekt. Einführen bedeutet, dieses ab-grenzbare Objekt dirigistisch von außenin ein bestehendes System einzubringen.Zu etwas werden hingegen, bezeichneteine organische Entwicklung auf ein Zielhin; ein Ziel, das durchaus diffus oder in-

… Enterprise 2.0 [kann man] nicht

einführen, sondern nur werden ….

wissensmanagement 08/11

Page 16: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

15

härent sein kann. Das Werden geschiehtselbstgesteuert aus dem System heraus.Es beinhaltet Emergenz, also „die Heraus-bildung von neuen Eigenschaften oderStrukturen auf der Makroebene des Sys-tems infolge des Zusammenspiels seinerElemente“ (zitiert nach wikipedia), wobeisich diese neuen Eigenschaften des Sys-tems nicht unbedingt auf Eigenschaftender Elemente zurückführen, die diese iso-liert aufweisen.

Wer also davon spricht, „Enterprise 2.0 inUnternehmen einzuführen“, versteht Enter-prise 2.0 als neues, separiertes Objekt,das von außen in das System „Unterneh-men“ eingebracht wird, letztlich reduziertsich „Enterprise 2.0 einführen“ so auf dieEinführung von Web 2.0-Werkzeugen; da-mit ist Enterprise 2.0 ein Synonym für einebestimmte technische Lösung. „Enter-prise 2.0 werden“, deutet auf einen kom-plexen Organisationsentwicklungspro-zess hin, mit dem sich das System „Unter-nehmen“ als solches aus sich heraus ver-ändert. Enterprise 2.0 bezeichnet dann tat-sächlich eine neue Art von Unternehmungund geht über die Verwendung bestimm-ter Werkzeuge deutlich hinaus.

Wie kann ein solcher Prozess aussehen?Welcher Paradigmenwechsel findet amÜbergang von 1.0 zu 2.0 statt? WelcheWerte, Prinzipien und Artefakte bestim-men die Organisations-& Führungskulturin einem Enterprise 2.0? Und löst Enter-prise 2.0 nun eigentlich Wissensmanage-

ment ab? Ich lade Sie ein, das Positions-papier der GfWM zu lesen, zu kommen-tieren und fortzuschreiben – in bester2.0-Manier eben!

A propos, „Wissensmanagement einfüh-ren“ oder „Lernende Organisation wer-den“, das ist die entscheidende Frage,gell?

Das Positionspapier „Enterprise 2.0 undWissensmanagement“ des GfWM Fachteams:

www.slideshare.net/gfwm/gfwm-positionspapier-wissensmanagement-und-enterprise-20

Die Vorstellung des Positionspapiers auf demdiesjährigen GfWM Knowledge Camp:

www.ustream.tv/recorded/17324463

wissensmanagement 08/11

Page 17: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

16

Bei den letzten Stuttgarter Wissensmana-gement-Tagen habe ich an einer Podiums-diskussion teilgenommen, bei der unteranderem die Frage nach der Zukunft vonWissensmanagement gestellt wurde:„Wie wird Wissensmanagement 2018 aus-sehen?“.

Meine Antwort darauf war gegebenenfallsfür den vorgegebenen Zeithorizont vonnur sieben Jahren ein wenig visionär. Sielautete nämlich, dass Wissensmanage-ment nicht mehr als solches existierenwird, weil es – hoffentlich – in die Organi-sation, ihre Strukturen, Prozesse und vorallem ihre Steuerung diffundiert sein wird.

Die anwesenden Wissensmanager schau-ten daraufhin durchaus etwas bedenklich(geht es dabei doch um ihren Arbeits-platz), aber zu Unrecht. Denn das „Ver-schwinden“ von Wissensmanagement wä-re in diesem Falleeine echte Erfolgs-story, weil die Orga-nisation zur lernen-den Wissensorga-nisation würde undder Umgang mitWissen zu einer es-senziellen Selbst-verständlichkeit – und daher als separateDisziplin nicht mehr notwendig bzw. als

solche nicht mehr wahrnehmbar. In die-sem Sinne verstanden wäre: • jeder Mitarbeiter ein Wissensmanager,

weil er sein persönliches Wissen effizi-ent nutzen und konsequent weiterent-wickeln würde;

• jeder Process Owner ein Wissensma-nager, weil er den „Schattenprozess“der Wissens- und Informationslogistikimmer mitdenken und, wo notwendig,unterstützen würde;

• jeder Unternehmer ein Wissensmana-ger, weil er seine Unternehmung wis-sensorientiert steuern und Strategienentsprechend entwickeln würde;

• jede Führungskraft in ihrer persönli-chen Führungsarbeit ein – nennen wirdie Rolle mal – Knowledge Facilitator,weil er oder sie notwendige Freiräumeund wissensförderliche Rahmenbedin-gungen schaffen würde.

Das Ende des Wis-sensmanagers alsWissensmanager.Ist unser Ziel alsodie eigene Ab-schaffung? Viel-leicht!

Soweit die Vision,zugegeben eine ganz persönliche. (Viel-leicht lassen Sie mich ja wissen, ob Sie

wissensmanagement 01/12

Wissensmanagement [wird künftig]

nicht mehr als solches existieren

[...], weil es – hoffentlich – in die

Organisation, ihre Strukturen,

Prozesse und vor allem ihre

Steuerung diffundiert sein wird.

Page 18: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

17

dieser zustimmen.) Doch wo stehen wirheute?

Hier wirft ein Gespräch am Rande derWissensmanage-ment-Tage doch einernüchterndes Lichtauf unsere Diszi-plin. Die geäußerteThese lautet, dassWissensmanage-ment sich – sowohlin Organisationenund Unternehmenals auch in der Ge-sellschaft – in ei-nem, mehr oderweniger bequemen,Biotop befindet. EinBiotop, dem relativenge Grenzen gesetzt sind. In dem wiruns wahrscheinlich ganz gut eingerichtethaben, aus dem wir aber auch nicht her-auskommen und aus dem heraus wir kei-nen nennenswerten Einfluss ausüben.

Anstatt also die Organisation zu unterwan-dern und zu durchdringen, sitzt der Wis-sensmanager im letzten Büro im verges-senen letzten Gang direkt neben dem Ide-enmanager, der ebenfalls vor ein paarJahren als Sau durchs Organisationsdorfgetrieben und jetzt in sein Biotop abge-schoben ist – und bald neben dem Diver-sity Manager, der demnächst ins Biotopumziehen muss. (Alle Ideen- und Diversi-ty Manager mögen mir an dieser Stelle

verzeihen, sie sind nur als ein möglichesBeispiel hier angeführt; hier möge sichjeder Leser die für seine Organisation ty-pischen Biotopbewohner vorstellen).

Warum aber sitzenwir in diesem Bio-top (fest)? Oderdoch nicht? Undwie kommen wirwieder raus? Ideendazu versprecheich für die nächsteKolumne und freuemich bis dahin aufAnregungen undMeinungen, gernenatürlich auch kon-troverse, Ihrerseits.

Denn das „Verschwinden“ von

Wissensmanagement wäre in

diesem Falle eine echte Erfolgs-

story, weil Organisation zur

lernenden Wissensorganisation

würde und der Umgang mit Wissen

zu einer essenziellen Selbst-

verständlichkeit – und daher als

separate Disziplin nicht mehr

notwendig bzw. als solche nicht

mehr wahrnehmbar.

wissensmanagement 01/12

Page 19: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

18

In der letzten Kolumne habe ich die Be-hauptung aufgestellt, Wissensmanage-ment sei in vielen Organisationen in ei-nem Biotop angesiedelt und nicht wir-kungsvoll in die Organisation „diffun-diert“. Nehmen wir einmal an, diese Be-hauptung sei korrekt, bleibt die Frage,warum wir dort festsitzen – und wie wirwieder herauskommen.

Bei den Vorberei-tungen zum 10.(!)Symposium des Ar-beitskreis Wissens-management Karls-ruhe, dieses Jahram 11. Oktober, ha-ben die Organisa-toren einmal dieProgramme derletzten zehn JahreRevue passieren lassen und dabei The-men entdeckt, die heute keine Rolle mehrspielen. Aber ebenso viele Themen, dieden Wissensmanagement-Diskurs seitzehn Jahren – und wahrscheinlich auchschon länger – verlässlich begleiten undteilweise gar prägen. Ich vermute nun ein-fach mal, der Themenkomplex „Organisa-tionskultur, Wissen ist Macht, „Mitarbeiter-

motivation usw.“ gehört zu diesen Dauer-brennern.

Ist diese Dauerdiskussion – über ein zu-gegeben wichtiges Thema – eventuell einmöglicher Grund für unser Biotop-Da-sein? Versetzen wir uns einmal in die Si-tuation eines typischen so genanntenEntscheiders in einer Organisation, des-sen Agenda voll ist und der deshalb in

kurzer Zeit eineVielzahl von Ent-scheidungen tref-fen muss undmöchte, um mitmöglichst effizien-tem Ressourcen-einsatz die Organi-sation wirkungsvollund nutzenstiftendnach vorne zu brin-

gen! Diesem durchaus charismatischen,aber eben auch zeitarmen und toughenEntscheider wird nun das Thema Wis-sensmanagement als „wichtig und not-wendig“, aber in Verbindung mit demoben genannten Themenkomplex auchals „komplex, langwierig, Erfolg schwerzu beeinflussen usw.“ präsentiert. Ab da-mit ins Biotop! Und weiter mit dem

wissensmanagement 02/12

Natürlich ist die Diskussion über

kulturelle Rahmenbedingungen,

Mitarbeitereinbindung und -motiva-

tion richtig und wichtig. Aber viel-

leicht sollten wir sie anders führen.

Nämlich unter einem Tenor der

Machbarkeit ....

Page 20: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

19

nächsten Punkt auf der Agenda, der er-folgversprechender ist und damit der eige-nen Sichtbarkeit und Karriere gegebenen-falls förderlicher.

Natürlich ist die Diskussion über kulturelleRahmenbedingungen, Mitarbeitereinbin-dung und -motivation richtig und wichtig.Aber vielleicht sollten wir sie anders füh-ren. Nämlich unter einem Tenor der Mach-barkeit, indem wir z.B. betonen, dassMaßnahmen dem spezifischen Reifegradeiner Organisation angemessen sein soll-ten, dass der Einbezug von MitarbeiternCrowd Intelligencefreisetzt und für ge-nau diese notwen-dige Passgenauig-keit von oft überra-schend pragmati-schen Wissensma-nagement-Maßnah-men sorgt …

In der Ausgabe der ZEIT vom 15. Dezem-ber 2011 gab es einen interessanten Arti-kel zu „Meins ist Deins“, dem wachsen-den Trend zu Kleidertauschpartys, Car-sharing, gemieteten Teilgärten und vieleninnovativen Formen des Teilens mehr. Darin waren Aussagen zu lesen wie: „Wirerleben eine Verschiebung von einer Ich-Kultur hin zu einer Wir-Kultur“, oder: „DieÄra des Eigentums geht zu Ende, dasZeitalter des Zugangs beginnt.“ Was,wenn wir, gewissermaßen verblendetdurch unsere solipsistischen „Wissen ist

Macht“-Diskussionen verpasst haben,dass in unseren Organisationen längst„Wissen heißt Teilen“ angesagt ist? Wenndie Mitarbeiter nur auf angemessene Un-terstützung beim Teilen durch entspre-chende wissensförderliche Infrastruktu-ren und spezifische Wissensmanage-ment-Dienstleistungen warten? Auf denpassenden Zugang eben.

Übrigens: Francis Bacon schrieb wört-lich: „sapientia potentia est“, also „Wis-sen ist Ermächtigung“ – und damit ge-nau genommen nicht Macht, sondern

Handlungsfähigkeit.Auch Wissensma-nagement sollte einImage transportie-ren, das widerspie-gelt, wie es dieHandlungsfähigkeitder Organisationwirkungsvoll unter-

stützt und steigert, welchen Nutzen dieOrganisation dadurch erfährt, welche Er-folge erzielt werden können oder bereitserzielt wurden und das widerspiegelt,dass Wissen zu teilen hip und Wissen zuhorten out ist. Wissensmanagementeben nicht als komplexe Dauerherausfor-derung, sondern als – nach wie vor – in-novatives Zukunftsthema, auf das mansich frohgemut einlassen sollte.

Was, wenn wir, gewissermaßen ver-

blendet durch unsere solipsisti-

schen „Wissen ist Macht“-Diskus-

sionen verpasst haben, dass in un-

seren Organisationen längst „Wis-

sen heißt Teilen“ angesagt ist?

wissensmanagement 02/12

Page 21: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

20

„ “

Ehrlich gesagt, ich kann es nicht mehr hö-ren! Was? Die Aussage, „Ja, wir machenWissensmanagement, aber wir dürfen esbloß nicht so nennen; der Begriff ist dochverbrannt.“ Mit Verlaub: Wie nennen Siedann das, was Sie da machen? Und wiethematisieren und werben Sie für diese„Sache ohne Namen“? Ach, gar nicht?Und da wundern Sie sich noch, dass die-se „Sache“ einImageproblem hatund im Biotophaust (siehe dieKolumnen der letz-ten beiden Ausga-ben)?

Zugegeben, mitdem Begriff hatman es manchmalnicht leicht, weil derWissensmanagement-Hype der erstenJahre hier leider eher schädlich als förder-lich war. Zu vollmundig waren die Verspre-chungen, die den Unternehmen unterdem Label Wissensmanagement ge-macht wurden (und eigentlich nur eineswollten, nämlich IT-Produkte verkaufen)und die weitgehend enttäuscht wurden.Das hat dem „brand“ Wissensmanage-ment sicherlich geschadet.

Aber seit Hype und anschließendem Talder Tränen sind nun auch schon guteacht bis zehn Jahre ins Land gegangen.Zeit, in der sich Wissensmanagementdurchaus in den Unternehmen etablierthat, beweisen konnte, dass es pragmati-sche Methoden und Werkzeuge bereithält und wahrnehmbaren Nutzen stiftenkann. Höchste Zeit – finde ich – nun end-

lich auch den Be-griff zu rehabilitie-ren.

Oder wie soll dasbewährte „Tue Gu-tes und rede dar-über!“ funktionie-ren, wenn wir unsscheuen diesesGute auch zu be-nennen?

Es ist die Mission der Gesellschaft fürWissensmanagement „den professionel-len Umgang mit der Ressource Wissenzu fördern und die Notwendigkeit derganzheitlichen Sicht auf das Thema Wis-sensmanagement mit den DimensionenMensch, Organisation und Infrastrukturherauszustellen.“ Die Vision der GfWM istes, diesbezüglich bei allen relevantenZielgruppen (Forscher und Praktiker, An-wender und Interessierte, Entscheider in

wissensmanagement 03/12

„Ja, wir machen Wissens-

management, aber wir dürfen es

bloß nicht so nennen …“

Mit Verlaub: Wie nennen Sie dann

das, was Sie da machen? Und wie

thematisieren und werben Sie für

diese „Sache ohne Namen“?

Ach, gar nicht?

Page 22: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

21

Wirtschaft, Wissenschaft und Politik) alsein geschätzter und gesuchter Ansprech-partner zum Thema Wissensmanagementwahrgenommen zu werden.

Es ist sicherlichnicht einfach, sichhier im allgemeinenNeuigkeiten- undInformationslärm Gehör zu verschaf-fen. Aber wie vielschwieriger wäre es, als „Gesellschaft fürdie Sache ohne Namen e.V.“! Gleichesgilt für den Wissensmanager in seiner Or-ganisation.

Aber nicht nur aus Marketinggründen istunsere Verleugnungstaktik unklug. Wieheißt es bei der GfWM? „…die Notwendig-keit der ganzheitlichen Sicht auf das The-ma…“ Genau diese Ganzheitlichkeit lei-det, wenn ich keine begriffliche Klammerfür meine Tätigkeiten finde, sondern diesein ihre Einzelbestandteile wie z.B. Per-sonalentwicklung, Dokumentenmanage-ment, Prozessmanagement, Projekt-De-briefing, Strategieentwicklung usw. zer-fällt.

Wenn wir immer nur die einzelnen konkre-ten Tätigkeiten und Werkzeuge benen-nen, geht uns irgendwann nicht nursprachlich das gemeinsame Dach überall diesen Tätigkeiten verloren. Und dannreden wir irgendwann nicht mehr nurnicht über Wissensmanagement, sondern

wir betreiben es de facto auch nichtmehr. Ganz zu schweigen davon, dasswir es mit dieser „Salamitaktik“ sicherlichnicht in die Vorstandsetagen und dort

zum ernst genom-menen Sparrings-partner in Sachen(wissensorientierte)Strategieentwick-lung schaffen.

Unwort Wissens-management? Das hat es nicht verdient!

… seit Hype und anschließendem

Tal der Tränen sind … gute acht bis

zehn Jahre ins Land gegangen.

Zeit, in der sich Wissensmanage-

ment durchaus … etabliert hat …

wissensmanagement 03/12

Page 23: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

22

Am 31. März 2012 haben sich in FrankfurtMitglieder der GfWM (Gesellschaft für Wis-sensmanagement e.V.) zum jährlichen sogenannten Aktiventreffen zusammenge-funden, um gemeinsam an inhaltlichenThemen (unter anderem „Im Spannungs-feld von Wissensarbeit, Wissensarbeiterund Wissensgesellschaft“ sowie „Inte-grated Reporting“) zu arbeiten. Zum Startin den Tag haben wir uns außerdem dieFrage gestellt, obMission und Visionder GfWM nochzeitgemäß sind; im-merhin wurden bei-de vor mittlerweilefast sieben Jahrenerarbeitet.

Hier der (noch) der-zeitige Wortlaut:

„Unser gesellschaftliches und volkswirt-schaftliches Wohl sowie der Erfolg von Un-ternehmen und Organisationen aller Artsind in starkem Maße von der effektivenund effizienten Bewirtschaftung der Res-source Wissen abhängig.

Daher fördert die Gesellschaft für Wis-sensmanagement (GfWM) den professio-nellen Umgang mit Wissen und stellt dieNotwendigkeit der ganzheitlichen Sicht

auf das Thema Wissensmanagement mitden Dimensionen Mensch, Organisationund Technik heraus.“

Auf einen ersten Blick liegt der Fokus aufeiner sachlichen Nutzenorientierung be-dingt durch Begriffe wie „Bewirtschaf-tung“, „effizient“, „effektiv“, „Erfolg“… Inder Diskussion der anwesenden Mitglie-der zeigte sich nun rasch, dass hier doch

etwas fehle. Ich willes mal die Dimen-sion der Ethik undWerteorientierungnennen. So wurdenAspekte wie derverantwortungsvol-le Umgang mitWissen oder auchder Nachhaltigkeit,der Qualität und

tatsächlich der Moral im Zusammengangmit Wissensmanagement thematisiert.

Nun kann man sicher konstatieren, dasswenn personell unterschiedlich besetzteGruppen sich eines Themas annehmen,eine jeweils individuelle Sicht die Inter-pretation eben dieses Themas bzw. einegewisse Schwerpunktsetzung prägenwird. Trotzdem frage ich mich – und Sie –ob sich hier nicht auch ein Wandel in derGesellschaft (?), in unserem Thema (?)

wissensmanagement 04/12

Müssen wir also neben den ...

Fragestellungen zu Wirksamkeit,

Nutzen- und Erfolgsmessung

im Wissensmanagement expliziter

als bisher auch Fragestellungen zu

Verantwortung, Ethik, Werteorientie-

rung und Moral betrachten?

Page 24: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

23

seit 2005 wahrnehmen lässt. Ausgelöstwurde dieser Gedankengang durch zweiEreignisse der letzten Zeit:

Der ehemalige Diplomat und Résistance-Kämpfer Stéphane Hessel, der im letztenJahr mit seiner kleinen Streitschrift „Indig-nez-vous!“ („Empört Euch!“) für Aufruhr inFrankreich gesorgt hat, hat in einer Redeanlässlich eines Besuches in Tübingengefordert: „Wir brauchen nicht mehr Wis-sen, sondern mehr moralische Erkennt-nis!“

Bei einer Podiumsdiskussion in Stuttgartzum Thema Wissensbilanzierung hat Gi-sela Erler, Staatsrätin für Zivilgesellschaftund Bürgerbeteiligung im Staatsministeri-um Baden-Württemberg, darauf hingewie-sen, dass die verstärkt eingeforderte Bür-gerbeteiligung einen anderen Umgangmit Wissen bedinge und dass der Erfolgeiner Partei wie die der Piraten deutlichzeige, dass sich die Menschen in unserer(Wissens-) Gesellschaft auch zunehmenddarüber bewusst seien. Und dabei gehees keinesfalls nur um eine Transparenz imSinne eines Mehr an Information und Wis-sen, sondern eben genau auch um einenqualitativ anderen Umgang damit.

Müssen wir also neben den – nach wievor spannenden und wichtigen – Frage-stellungen zu Wirksamkeit, Nutzen- undErfolgsmessung im Wissensmanagementexpliziter als bisher auch Fragestellungenzu Verantwortung, Ethik, Werteorientie-

rung und Moral betrachten? Und wennja, wie sehen unsere Antworten aus?

Übrigens: Sowohl in der GfWM als auchbei Ihren Regional- und Aktiventreffen istjeder Engagierte und Interessierte herzli-che willkommen. Mehr Infos unter www.gfwm.de

wissensmanagement 04/12

Page 25: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

24

Bei den 1. Kremser Wissensmanage-ment-Tagen vom 8. bis 9. Mai 2012 (übri-gens eine rundum lebendige und inspirie-rende Veranstaltung) hat Prof. Dr. RolandMaier von der Universität Innsbruck deninteressanten Begriff der „Wissensrei-fung“ in die Diskussion gebracht.

Dieser Begriff und das dahinter stehendeBild haben mich spontan an die erstenJahre meiner Tochter an einer Waldorf-schule erinnert: Dort gibt es den so ge-nannten Epochenunterricht, d.h. sechsWochen lang wird im Hauptunterricht aus-schließlich das Lesen und Schreiben ge-übt, anschließend sechs Wochen langdas Rechnen und dann wieder Lesen undSchreiben usw. Zu Anfang war meine Sor-ge, dass es doch gerade in den erstenJahren ein Fehler sein könne, eine wesent-lich neue geistige Tätigkeit wie das Lesenwährend langer sechs Wochen scheinbarwieder zu verlassen, anstatt es perma-nent zu üben. Würde das den Lernpro-zess nicht stören und in der Folge verlang-samen? Das Gegenteil war der Fall: Esschien, als reife das Gelernte währenddieser scheinbaren Ruhephasen im Geistmeiner Tochter, sodass der Wiederein-stieg nach sechs Wochen nicht nur auf

demselben Niveau stattfand, sondern aufeinem wahrnehmbar höheren. Währenddieser Zeit scheint sich das Gelerntegleichsam unbewusst und ungelenkt wei-terentwickelt zu haben – es ist gereift.Lassen Sie uns dieses Bild der „Wissens-reifung“ weiterspinnen, indem wir uns fra-gen was eigentlich den der Metapher zu-grundeliegenden Prozess der Reifung inseiner ursprünglichen Bedeutung als bio-logischen Vorgang auszeichnet?

Reifung braucht Zeit. Reifung kann nureingeschränkt und nur indirekt über dieVeränderung von Rahmenbedingungenbeeinflusst und ggf. beschleunigt wer-den. Eine (übertrieben) beschleunigteReifung erzielt am Ende nicht unbedingtden optimalen Reifegrad. Es gibt einenidealen Endzeitpunkt der Reife, der über-schritten wird, wenn er nicht genutzt wird.Reifung kann nicht angehalten, unterbro-chen oder dauerhaft gestoppt werden.

Was heißt das übertragen auf eine Frucht„Wissen“, die am Ende eines Reifungs-prozesses geerntet werden soll? Brauchtauch Wissensreifung Zeit? Und wenn ja,was bedeutet das bei sich immer weiterverkürzenden Innovationszyklen und ab-

wissensmanagement 05/12

Page 26: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

25

nehmender Halbwertszeit von Wissen?Haben Wissensmanager eine Aufgabe,Wissensreifung zu unterstützen und ggf.zu beschleunigen? Und wenn ja, wie?Wirkt sich die zunehmende Wissensdyna-mik negativ auf die Wissensreife und da-mit -qualität aus? Wie erkennen wir denoptimalen Reifegrad und damit „Erntezeit-punkt“ einer Wissensfrucht? Kann auch ei-ne einmal in Gang gesetzte Wissensrei-fung nicht mehr gestoppt werden? Wel-che (moralischenund ethischen) Ver-pflichtungen erge-ben sich daraus?

Wenn wir den Prozess der Wissensrei-fung als etwas dieser Ressource und ih-rer Nutzung inhärentes verstehen, so wirftdies zahlreiche weitere Fragen auf. Esmacht auch deutlich, dass Innovationsma-nagement und Wissensmanagement un-bedingt zusammengehören und eine Tren-nung dieser beiden Disziplinen, wie sieheute in den meisten Unternehmenherrscht, eine künstliche ist.

In der letzten Ausgabe der wissensmana-gement hat Prof. North die Ergebnisse ei-ner empirischen Untersuchung von Be-rufsbildern für Wissensmanager vorge-stellt. Dabei wurde deutlich, dass der Wis-sensmanager in der Regel keine Rolle imInnovationsmanagement spielt, sondernseine Hauptaufgabe eher in der „Be-standsverwaltung“ gesehen wird. Dasdeckt sich mit einer Beobachtung, die ich

immer wieder bei den Studenten im Mo-dul „Wissensmanagement“ beim Master-studiengang Educational Media der Uni-versität Duisburg Essen mache: Bei derBeschäftigung mit dem Probst/Rom-hardtschen Bausteinemodell wird dererste der operativen Bausteine, die Wis-sensidentifizierung, fast immer gleichge-setzt mit der Analyse des im Unterneh-men vorhandenen Wissens. Das lässtaber die enge Beziehung dieses Bau-

steins mit demstrategischen Bau-stein der Wissens-ziele außer Acht. InBezug auf diesen

Baustein ist die Wissensidentifikationauch zu verstehen als grundsätzlicheFrage nach demjenigen Wissen, das zurErreichung der definierten Ziele für not-wendig erachtet wird. Erst im nächstenSchritt geht es dann darum, herauszufin-den, was und wie viel davon heute schonin der Organisation vorhanden ist. Undwas eben fehlt und daher entwickelt wer-den muss (inklusive der angemessenenReifung).

Vielleicht sollten wir uns als Wissensma-nager selbst wieder stärker auf die linkeHälfte (Identifizieren, Entwickeln, Erwer-ben) im Bausteinkreislauf konzentrierenund uns nicht auf die rechte (Teilen, Nut-zen, Bewahren) reduzieren lassen!

wissensmanagement 05/12

Haben Wissensmanager eine Auf-

gabe, Wissensreifung zu unterstüt-

zen und ggf. zu beschleunigen?

Page 27: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

26

Wenn von Wissensmanagement in Zeitendes demografischen Wandels die Redeist, dann geht es dabei eigentlich immerum die Wissensweitergabe beim Aus-scheiden älterer und erfahrener Mitarbei-ter. Doch das ist nur ein (kleiner) Aspekt,denn das noch vor wenigen Jahren übli-che „frühe“ Ausscheiden in die Altersteil-zeit wird immer seltener. Vielmehr sollenMitarbeiter – und mit ihnen ihr wertvollerWissens- und Erfahrungsschatz – immerlänger im Unternehmen bleiben. Vor al-lem, weil es zunehmend schwierig wirdam Arbeitsmarkt Nachfolger für qualifizier-te Fachkräfte zu finden. Das bekannte Pro-jekt „Silver-Line“ bei Audi, in dem bei derFertigung des Audi R8 mehr als ein Dritteldes Teams älter als 40 Jahre war, istlängst keine Ausnahme mehr, sondernwird zur Regel: Nicht nur Audi rechnet da-mit, dass das Durchschnittsalter seinerBelegschaft von aktuell knapp über 41Jahren bis 2020 auf über 49 Jahre stei-gen wird. Um ältere Mitarbeiter möglichstlange produktiv im Arbeitsprozess zu hal-ten, investieren Unternehmen mittlerweileeine Menge – in Gesundheitsmanage-ment, Betriebssport oder ergonomischeArbeitsplätze. Was aber ist mit einem „al-tersergonomischen“ Wissensmanage-ment, um den viel gelobten Erfahrungs-schatz überhaupt heben zu können?Oder ist Wissensmanagement alterslos?

Nein, ich denke nicht. „Wissensmanage-ment in Zeiten des demografischen Wan-dels“ sollte sich auch mit der Frage be-schäftigen, welches Wissensmanage-ment alternde oder vielleicht besser deut-lich altersgemischte Belegschaften benö-tigen. So lernen ältere Menschen zumBeispiel anders. Diversen Studien zufol-ge lernen Ältere deutlich praxisorientierterund hinterfragen sehr viel kritischer denkonkreten Nutzen und die konkrete An-wendbarkeit auf den eigenen Arbeitskon-text. Berücksichtigen unsere Maßnahmenzur Kompetenzentwicklung dies?

A propos, Kompetenzmanagement: Wieviele Unternehmen kennen Sie, die in dieWeiterentwicklung von Mitarbeitern über50 nicht mehr investieren und nur „dieJungen“ auf Seminare schicken. Sei es,weil es als nicht lohnend erachtet wird,einen älteren Kollegen „noch“ weiterzu-bilden, sei es weil älteren Kollegen ten-denziell Lernunwilligkeit oder –unfähigkeitunterstellt wird. Die persönliche Motivati-on zum Lernen hängt aber unter Umstän-den schlicht auch mit der Art des Lernan-gebotes zusammen (s.o.) oder mit feh-lenden Karriereanreizen, weil ab einembestimmten Alter die Aufstiegsmöglich-keiten in der Hierarchie für beendet er-klärt werden? Dies rührt noch an ein wei-teres – altersunabhängiges – Thema,

wissensmanagement 06/12

Page 28: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

27

wissensmanagement 06/12

nämlich das der Expertenlaufbahn in Un-ternehmen: Wie können (Karriere-) Anrei-ze für Wissensarbeiter geschaffen wer-den, die sich nicht in eine klassische Füh-rungsposition entwickeln sollen und oftauch wollen. Doch dies ist ein weites Feldund ein Thema für eine andere Kolumnean dieser Stelle.

Bleiben wir noch kurz bei der persönli-chen Motivation: Ältere Mitarbeiter hinter-fragen nicht nur beim Lernen den klarenNutzen deutlich kritischer, sondern tundies generell. D.h. auch Wissensmanage-ment-Angebote müssen diese Nutzenfra-ge – und dies nicht nur auf der Ebene desorganisationalen Nutzens, sondern auchdes ganz persönlichen Nutzens – nochviel deutlicher beantworten, um zu eineraktiven Teilnahme zu motivieren. Und die-se ist dringend notwendig, denn alle Un-ternehmen, die bereits Erfahrungen mitdem bewussten Einsatz älterer Mitarbeitergemacht haben, berichten, dass vor al-lem altersgemischte Teams oder Tan-dems hier einen großen Nutzen stiften –wenn denn auch der notwendige Aus-tausch- und Wissensprozess effektiv un-terstützt wird, und hier ist genau ein „al-terssensibles“ Wissensmanagement ge-fragt, dass das miteinander und voneinan-der Lernen in solchen Teams fördert undfordert.

Und schließlich sollten wir nicht verges-sen, dass ältere Mitarbeiter im besten Fal-le digital immigrants sind, also Men-

schen, die mit den neuen (sozialen) Me-dien nicht selbstverständlich aufgewach-sen sind, sondern sich diese angeeignethaben. Auch hier zeigen aktuelle Unter-suchungen, dass diese digital immi-grants bei aller grundsätzlicher Bereit-schaft und Aufgeschlossenheit in dieserUmwelt grundsätzlich zurückhaltenderund kritischer agieren und z. B. die Ver-wendung von persönlichen Daten, Urhe-berrecht usw. einen höheren Stellenwerteinnimmt. Auch hier müssen wir als Wis-sensmanager bei der Einführung vonWerkzeugen des „Wissensmanagement2.0“ diesem Rechnung tragen.

Wissensmanagement in Zeiten des de-mografischen Wandels hat Potenzial undwird benötigt – wenn es mehr ist als derWissenstransfer beim Ausscheiden.

Page 29: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

28

Kürzlich hat die FAZ in einem Artikel mitdem Titel „Das Gerede von der Wissens-gesellschaft“ die These aufgestellt, wir leb-ten weniger in einer Wissens- denn in ei-ner Nichtwissensgesellschaft.

Hier die Argumentation: Unsere Zeit zeich-ne sich, so die FAZ, durch Hyperspeziali-sierung auf der einen und Innovationsbe-schleunigung auf der anderen Seite aus.D.h. diejenigen, die wir wohl – mit einemanderen buzz word – als Wissensarbeiterbezeichnen würden, wissen immer weni-ger auf einem immer größer werdendenFeld und dieses wenige Wissen hat dar-über hinaus auch noch eine äußerst gerin-ge Halbwertszeit. In der Folge müsstensie sich immer stärker mit dem sie umge-benden Nichtwissen auseinandersetzen.Gefragt sei hier, so die FAZ, eine hohe„Ignoranzkompetenz“: „Überspitzt gesagt,ist in unserer Gesellschaft nicht nur aufder persönlichen Ebene, sondern auchauf der kollektiven Ebene die Organisationdes Nichtwissens entscheidender als jenedes Wissens.“ Erschwerend komme hin-zu, so FAZ, dass es in einer Welt der weit-gehend digitalisierten Information immerschwieriger werde, die Glaubwürdigkeit ei-ner uns persönlich fremden, aber nichtsde-

stotrotz notwendigen Informationsquellezu verifizieren.

Wir haben uns an dieser Stelle bereitsmehrfach mit dem (kreativen) Potenzialdes Nichtwissens auseinandergesetzt.Daher möchte ich im Folgenden etwasnäher auf das Verständnis vom so ge-nannten Wissensarbeiter in der (Nicht-)Wissensgesellschaft eingehen, unter an-derem auch deshalb, weil wir uns in ei-nem Fachteam der GfWM gerade genaumit diesem Begriff oder „Berufsbild“ aus-einandersetzen.

Die FAZ bezieht sich in ihrem Artikel aufdie Definition von Nico Stehr, der den Be-griff Wissensgesellschaft ableitet von der„Durchdringung aller gesellschaftlichenLebensbereiche mit wissenschaftlichemWissen.“ Abgeleitet davon, würde derWissensarbeiter die alte Trennung vonwhite und blue collar worker aufnehmen,d.h. der Wissensarbeiter zeichnete sichdurch einen hohen (akademischen) Bil-dungsgrad aus. Sicherlich eine bequeme,da leicht nachzuprüfende Kategorisie-rung. Doch gehen wir damit nicht weit zu-rück hinter die mittlerweile im Kontext vonWissensmanagement deutlich breitere

wissensmanagement 07/12

Page 30: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

29

wissensmanagement 07/12

Auffassung von Wissen, die gerade auchschwer fassbares, nicht akademisierbaresErfahrungswissen bis hin zu inkorporier-tem Wissen umfasst? Wenn wir aber denWissensbegriff so weit fassen, was istdann ein Wissensarbeiter?

In unserem GfWM Fachteam, in dem wiruns eigentlich mit Arbeits- und Lebens-raumbedingungen für den Wissensarbei-ter auseinandersetzen wollten, musstenwir rasch feststellen, dass wir uns alsGruppe zunächst einmal auf ein gemein-sames Verständnis dieses Begriffes eini-gen mussten. Wie das halt manchmal sogeht, mit den scheinbar einfachen Schlag-wörtern, gell? Unser momentaner Favoritist eine (noch nicht abschließend formulier-te) Definition, wonach der Wissensarbeiterüberwiegend mit seinem Wissen zur Wert-schöpfung einer Organisation beiträgt.Aus Sicht der Organisation ist dies sicher-lich schon einmal ein nicht uninteressan-ter Ansatz. Aus Sicht des Individuums wieauch des Wissens bevorzuge ich aber –muss ich gestehen – den Ansatz von Will-ke, der wissensbasierte, wissensintensiveund schließlich die Wissensarbeit als sol-che unterscheidet, wobei, wie immer beisolchen Klassifizierungen, die Grenzennicht nur fließend sind, sondern wir auchständig in unseren Tätigkeiten zwischendiesen unterschiedlichen Arten hin undher wechseln. Hier zeichnet sich die echteWissensarbeit dadurch aus, dass derRückgriff auf vorhandenes Wissen zur Be-wältigung einer Aufgabe nicht genügt,

sondern neues, innovatives Wissen ent-wickelt werden muss. Dies verweist aufden FAZ‘schen Begriff der Ignoranzkom-petenz in der Nichtwissensgesellschaft.So verstanden, wäre der Wissensarbeitergerade nicht derjenige, der über dasmeiste (akademische) Wissen verfügtund dieses am besten einsetzt, sondernderjenige mit der ausgeprägtesten Igno-ranzkompensation. Die Idee einer Nicht-wissensgesellschaft würde damit alsonicht etwa die Bedeutung des Wissensar-beiters in Abrede stellen, sondern viel-mehr betonen.

Wissen, Wissensgesellschaft, Wissensar-beiter – Begriffe, die wir immer wieder ver-wenden, um unser Tun zu beschreibenund letztlich auch zu legitimieren, und diedoch immer noch unscharf und strittigsind. Unseren ba – unseren Raum einesgeteilten Verständnisses – haben wir hier,selbst innerhalb unserer überschaubarenCommunity, noch nicht gefunden. Aberwir können daran arbeiten, z. B. beimdiesjährigen Knowledge Camp derGfWM, auf dem sich Wissensarbeiterkreativ mit ihrem Wissen und Nichtwisseneinbringen können. Unter anderem kön-nen Sie hier auch mit den GfWM Fach-teams zu deren aktuellen Themen arbei-ten. Ich würde mich freuen, Sie am 12.und 13. Oktober in Karlsruhe zu treffenund gemeinsam mit Ihnen den Begriff desWissensarbeiters weiter zu schärfen. Wei-tere Informationen zum GfWM KnowledgeCamp: http://knowledgecamp.mixxt.org

Page 31: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

30

Erinnern Sie sich noch an die Kolumne zu„Wissensmanagement im Biotop“? Oderwaren Sie beim diesjährigen KnowledgeCamp der GfWM in Karlsruhe? Falls nicht,haben Sie zwei spannende, äußerst dis-kussionsfreudige und anregende Tage ver-passt. Ein bisschen nachholen können Sievia Live Streams sowie Wiki- Beiträgenund Blogs der Teilnehmer, zu finden unterhttp://knowledgecamp. mixxt.org/.

Aber zurück zu die-ser Kolumne! In ei-ner Session zur „Zu-kunft des Wissens-managements“ ha-be ich in Karlsruhedie Biotop-Theseaus den Kolumnen(2/2012 und 3/2012)nochmals aufgegriffen: Wissensmanage-ment ist in vielen Organisationen, nach derersten Implementierungswelle und -eupho-rie, in einer kleinen (vernachlässigten) Ni-sche angesiedelt, wo zwar einige Wissens-manager mehr schlecht als recht überle-ben, von wo aus das Thema aber nicht wir-kungsvoll in die Gesamtorganisation getra-gen wird.

Beim Knowledge Camp und den dort an-wesenden WM-Engagierten hat diesesBild aus der Biologie kontroverse Diskus-sionen und anregende Gedankenspieleprovoziert: Den Vertretern der Ökoni-schen-These (Wissensmanagement =nett, aber wirkungslos) standen die Vertre-ter der Habitat-These gegenüber. Letztereentwickelten den schönen und Mut ma-chenden Gedanken, dass Wissensmana-gement es durchaus geschafft habe, sich

in den letzten Jah-ren erfolgreich in ei-nem Habitat einzu-richten. Ein Habitatist laut Wikipedia ei-ne Lebensstätteoder ein Lebens-raum einer be-stimmten Tier- oder

Pflanzenart, aber auch einer Gemein-schaft. Ich denke, dieses Bild des Habi-tats drückt aus, dass Wissensmanage-ment in der Organisation gewissermaßenangekommen ist und dort mittlerweile för-derliche Rahmenbedingungen entwedervorfindet oder selbst geschaffen hat. Esdrückt aus, dass der schiere Kampf umsÜberleben qua wiederholter oder gar dau-erhafter, mehr oder weniger verzweifelter

ü

[Das] Bild des Habitats drückt aus,

dass Wissensmanagement in der

Organisation gewissermaßen ange-

kommen ist … der schiere Kampf

ums Überleben ... so nicht mehr

stattfinden muss.

wissensmanagement 08/12

Page 32: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

31

Legitimierung so nicht mehr stattfindenmuss. Wissensmanagement wird nichtmehr ständig in Frage gestellt. Es darfsein – zumindest in seinem Lebensraum.

Vielleicht in der Tat ein wichtiger ersterSchritt. Dem aber ein zweiter folgen muss.Um es mit den Worten eines der engagier-ten Teilnehmer an dieser Runde auszu-drücken: „In unse-rem Habitat sind wirrichtig gut. Wir müs-sen unseren Le-bensraum auchnicht verlassen,aber Wissensmana-gement muss zeigen, wie wichtig und wert-voll genau dieses Habitat für das Gesamt-Ökosystem der restlichen Organisationist.“ Damit das Habitat eben genau nichtzur bloß geduldeten ökologischen Nischewird.

Ein anregender Gedanke, oder? Die ge-samte Diskussion können Sie übrigens imLive Stream nachverfolgen: http://knowledgecamp. mixxt.org (man kann esgar nicht oft genug erwähnen).

Und wenn Sie nun auch neugierig auf dieweiteren kleinen Provokationen meines„Vortrags“ sind, hier sind sie:

• Wissensmanagement muss sich auflö-sen.

• Eine Lernende Organisation braucht keinen Wissensmanager.

• Wissensmanagement ist ja so anders– und will’s doch nicht sein.

• Wissensmanagement denkt zu wenigstrategisch und innovativ.

• Wissensmanagement steckt in derQuantitätenfalle – selber schuld

• …und macht sich darin selber klein.

Ich will Ihnen nun auch nicht das Fazitvorenthalten (nichtder Diskussion,aber meiner Foli-en): Nichtsdesto-trotz! In diesemSinne.

Wissensmanagement wird nicht

mehr ständig in Frage gestellt ...

ein wichtiger erster Schritt.

Dem aber ein zweiter folgen muss.

wissensmanagement 08/12

Page 33: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

32

Gabriele Vollmar

Knowledge Gardening. Wissensarbeit in intelligenten Organisationen

W. Bertelsmann Verlag Bielefeld 2007,204 Seiten,

ISBN-10: 3-7639-3466-9ISBN-13: 978-3-7639-3466-9Best.-Nr. 6001753

Page 34: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend

© Gabriele Vollmar 2010-2012

Page 35: Mehr unorthodoxe Gedanken zum Wissensmanagement 2011 …...im Wissensmanagement ein weites und vages Feld, nämlich das von Moral und Ethik, auf. (Als ob wir nicht schon genü-gend