Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde...

176
www.lbb.nrw.de 4 , 8 Millionen Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein-Westfalen Sie sind NICHT behindert Sie WERDEN behindert Das müssen wir ändern. Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft. Bericht der Beauftragten der Landesregierung für die Belange der Menschen mit Behinderung in Nordrhein-Westfalen. 16. Legislaturperiode.

Transcript of Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde...

Page 1: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

www.lbb.nrw.de

4,8

M

illio

nen

Menschen leben mit einer Beeinträchtigungin Nordrhein-Westfalen

Sie sind NICHT behindertSie WERDEN behindert

Das müssen wir ändern. Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft. Bericht der Beauftragten der Landesregierung für die Belange der Menschen mit Behinderung in Nordrhein-Westfalen.

16. Legislaturperiode.

Page 2: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung
Page 3: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

Das müssen wir ändern. Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft. Bericht der Beauftragten der Landesregierung für die Belange der Menschen mit Behinderung in Nordrhein-Westfalen.

16. Legislaturperiode.

Page 4: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

4

Inhaltsverzeichnis

Vorwort. 6 Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. 8 Kritik an der amtlichen Behindertenstatistik. 10 Interview: Partizipation ist ein Menschenrecht. 12

Teilhabe in verschiedenen Lebensbereichen. 18 Fakten: Grunddaten zur Betrachtung von Lebenslagen. 19 Geschlecht, Alter und Migrationshintergrund. 19 Kinder und Jugendliche. 22

1. Familie und soziales Netz. 24 Was wir ändern müssen. 25 Interview: Wer sichert das Recht der Kinder, in einer Familie aufzuwachsen? 26 Fakten: Familie und soziale Netze in NRW. 30 Haushaltsgrößen 30 Partnerschaft, Familiengründung und Aufwachsen in der Familie. 31 Freunde 33

2. Bildung und Ausbildung. 36 Was wir ändern müssen. 37 Interview: Die Kita Abenteuerland in Bünde, ein Vorreiter für Inklusion. 42 Interview: Architekten für Lebensplanung gesucht. Wie Franziska dann

doch Lesen, Schreiben und Rechnen lernte. 46 Fakten: Bildung und Ausbildung in NRW. 49 Frühkindliche Bildung 49 Kindertageseinrichtungen 49 Früherkennung und Frühförderung – Schnittstellenproblematik. 51 Schulbildung 52 Aktuelle rechtliche Situation. 54 Inklusion, eine Herausforderung auch für Lehrkräfte. 57 Schulabschlüsse als Maß der Inklusion 58 Berufsausbildung 59

3. Erwerbsarbeit und Einkommen. 62 Was wir ändern müssen. 63 Interview: Unikate, die oft kopiert werden sollten. Über Wege in Be-

schäftigung für Menschen mit psychischer Beeinträchtigung. 66 Fakten: Erwerbsarbeit und Einkommen in NRW. 69 Erwerbstätigkeit 69 Erwerbslosigkeit und Arbeitssuche. 72 Einkommen 74 Gastbeitrag: Armut, soziale Ausgrenzung und die Auswirkungen

auf Menschen mit Behinderungen. 79

Inhaltsverzeichnis

Page 5: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

5

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

4. Selbstbestimmte alltägliche Lebensführung. 92 Was wir ändern müssen. 94 Interview: Erfahrungen aus dem Lebensalltag von Menschen

mit Beeinträchtigung. 96 Fakten: Selbstbestimmte alltägliche Lebensführung in NRW. 100 Wohnen 100 Mobilität 102 Öffentlicher Raum. 102 Exkurs: Barrierefreiheit einmal anders gerechnet. 103 Politische Partizipation. 105

5. Gesundheit. 106 Zur Lage in NRW. 107 Herausforderungen, denen wir uns stellen sollten. 108 Empfehlungen der Landesgesundheitskonferenz. 109 Gastbeitrag: Der Umgang mit der Hoffnung: Therapeutische

Perspektiven der Stammzellforschung. 111 Kommentar: Stammzellforschung - Anmerkungen aus ethischer Sicht. 120 6. Freizeit, Kultur und Sport. 124 Was wir ändern müssen. 126 Interview: Dazugehören – auch in der Freizeit. Impulse für die Förderung

von inklusiven Kinder- und Jugendreisen. 128 Interview: Einfach anfangen. Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit. 132 Fakten: Freizeit, Kultur und Sport in NRW. 135 Geselligkeit und Reisen. 135 Kulturelle Aktivitäten 136 Sport 138 Gastbeitrag: Mehr Teilhabe im Sport schaffen! 139

Tätigkeitsbericht von Norbert Killewald, Beauftragter der Landesregierung für die Belange der Menschen mit Behinderung in Nordrhein-Westfalen in den Jahren 2010 – 2015. 148

ANHANG 164 DieDefinitionvonBeeinträchtigungundBehinderung. 164 Die multidisziplinäre Langzeitstudie SOEP. 164 Was wird wie abgefragt? 165 Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen

in Deutschland – KiGGS. 166 Datentabellen 167 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis 169 Verzeichnis der Gastbeiträge und Interviews. 172

Page 6: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

6

Unsere Amtsperioden fallen in eine Zeit des Umbruchs hin zu einer inklusiven Ge-sellschaft. Damit verbunden sind spannende gesellschaftspolitische Diskussionen, so zum Beispiel die Diskussion zur Konsequenz der UN-Behindertenrechtskonven-tionfürdiePolitik.Siewurde2009vonDeutschlandratifiziertundbeschreibtdie Teilhabe der Menschen mit Behinderung als nicht verhandelbares Menschenrecht und als Grundlage unseres Zusammenlebens. Dazu gehört auch das gemeinsame Erarbeiten und konsequente Umsetzen erreichbarer Ziele in der Behindertenpolitik mit dem Ziel lebensnahe Lösungen zu schaffen, die alle Menschen mit einbeziehen – auch in Nordrhein-Westfalen.

Mit dem Aktionsplan „Eine Gesellschaft für alle.“ setzte die Regierung von Nord-rhein-Westfalen 2012 ein klares Zeichen: Es wird nicht mehr nach „Behinderung“ und „Nichtbehinderung“ unterschieden bzw. in „normal“ und „anders“ getrennt. Ein erster herausragender Schritt der Landesregierung in Bezug auf die Ernst-haftigkeit dieses Leitbildwechsels war aus unserer Sicht die Durchführung einer Normprüfung.NurwerseinHandelnreflektiertundimSinneeinergleichberech-tigten gesellschaftlichen Teilhabe in Frage stellt, schafft die Grundlage für Verände-rung. Diese Veränderungen brauchen wir, damit Menschen mit Beeinträchtigungen künftig nicht mehr eingeschränkt werden. Die Menschen mit Beeinträchtigungen formulieren deutlich: Wir sind nicht behindert – wir werden behindert!

Wichtig war und ist uns in unserer Arbeit der Dialog mit Betroffenen und ihren Fa-milien. Die Vernetzung und der fachliche Austausch von Professionalität, Selbsthil-fe und Betroffenen auf gleicher Augenhöhe sind grundlegend zur Erarbeitung guter Lösungen, die allen Menschen gerecht werden. Mit diesem Bericht möchten wir die Öffentlichkeit im Sinne des § 14 Abs. 2 BGG über die bisherigen behinderten-politischen Entwicklungen in Nordrhein-Westfalen informieren und den Ist-Stand der Teilhabe der Menschen mit Beeinträchtigungen am gesellschaftlichen Leben in

Vorwort

Page 7: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

7

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Nordrhein-Westfalen darstellen. Im Zentrum stehen dabei die Lebensbereiche Fami-lie, Bildung, Erwerbsarbeit und Einkommen, alltägliche Lebensführung sowie Frei-zeit, Kultur und Sport. Dabei berücksichtigen wir nicht bloß die Menschen mit einer amtlich anerkannten Schwerbehinderung oder Erwerbsminderung als Menschen mit Beeinträchtigungen, sondern auch Menschen, die durch gesundheitliche Probleme stark oder teilweise eingeschränkt sind. Denn in Nordrhein-West-falen leben 4,8 Millionen Menschen mit einer solchen Beeinträchtigung. Damit ist jeder dritte Mensch (33 %) betroffen.

ZurVeranschaulichungspezifischerProblemlagenwurdenInterviewsmitMenschen geführt, die in diesen Bereichen arbeiten, sich engagieren oder selbst betroffen sind. In mehreren Kapiteln liegen zudem Gastbeiträge vor, die von Spezialisten des Bereichs verfasst worden sind und eine vertiefende Expertise ermöglichen sollen.

Das Land Nordrhein-Westfalen hat sich auf den Weg gemacht. Unsere nächsten Schritte bestehen nun vor allem darin, auch das von der UN-Behindertenrechts-konvention benannte „Recht auf Arbeit“ in den Focus zu rücken. Denn die Arbeits-marktzahlen der Menschen mit Behinderungen zeigen, dass dieses bis jetzt viel zu wenig umgesetzt ist. Die Aufnahmezahlen der beschützten Werkstätten verdeut-lichen, dass mehr als die Hälfte der sogenannten Neuzugänge Personen sind, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt keine weitere Beschäftigungsmöglichkeit mehr haben. Wir müssen mithelfen, diesen Trend zu verändern.

Elisabeth Veldhues Beauftragte der Landesregierung für die Belange der Menschen mit Behinderung in Nordrhein-Westfalen

Norbert Killewald ehemaliger Beauftragter der Landesregierung für die Belange der Menschen mit Behinderung in Nordrhein-Westfalen

Page 8: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

8

Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention.

Der vorliegende Bericht behandelt Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchti-gungen in NRW, die aufgrund von Umweltbedingungen in ihren Aktivitäten und Teil-habechancen behindert oder eingeschränkt werden. Dabei wurden die Daten der multidisziplinären Langzeitstudie SOEP1 der Befragungswelle 2013 verwendet und eine Eingrenzung auf erwachsene Menschen in Privathaushalten im Bundesland Nordrhein-Westfalen vorgenommen.

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) beginnt mit einer klaren Botschaft:

Behinderung ist kein Merkmal einer Person. Behinderung entsteht erst, wenn Umweltbedingungen die Person an einer gleichberechtigten Teilhabe am Leben hindern.

SoschränkteineBeeinträchtigungMenschen in ihremLebennichtzwangsläufig ein – es sind Umweltbedingungen, die an einer gleichberechtigten Teilhabe hin-dern. Jeder Mensch kann im Verlauf seines Lebens Behinderungen erfahren und sei es auch nur phasenweise.

In der Regel wird man nicht mit einer Beeinträchtigung geboren, man „erwirbt“ sie imVerlaufdesLebens.TatsächlichprofitiertjederMenschvoneinerUmwelt,dieso gestaltet ist, dass Menschen mit Beeinträchtigung im höchsten Grade selbstbe-stimmt leben können. Der Barrierefreiheit kommt demnach eine wichtige Rolle zu.

Ziel der UN-BRK ist die Herstellung und Sicherung einer umfassenden und gleichberechtigten Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft.

Es geht nicht darum, Menschen mit Behinderungen wieder in eine gesellschaftli-che Normalität einzugliedern. Die gesellschaftlichen Gegebenheiten sollen vielmehr so verändert werden, dass sie für alle Menschen ohne besondere Erschwernis und

1 SOEP (Sozio-Oekonomisches Panel) ist der wissenschaftliche Studienname. Näheres zum methodischen Aufbau des Berichts wird im Anhang erläutert.

Die Umsetzung der UN-Behindertenrechts- konvention.

Page 9: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

9

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

prinzipiellohnefremdeHilfeauffindbar,zugänglichundnutzbarsind.JedemMen-schen soll auf diese Weise ein möglichst selbstbestimmtes und unabhängiges Leben ermöglicht werden.

Die UN-BRK wurde im Jahr 2006 verabschiedet. Deutschland hat sie im Jahr 2009 ohneVorbehalteratifiziert.Wirsinddamitverpflichtet,dieinderKonventionver-einbarten Menschenrechte umzusetzen. Sie hat den rechtlichen Status eines ein-fachenBundesrechts.Die imJahr2001 imSGB IXveröffentlichteDefinitionvon BehinderungstelltdieDefiziteeinerPerson indenMittelpunktundbewertetsie anhand eines Vergleichs mit dem für das Lebensalter typischen „Normalzustand“. DiesesdefizitorientierteBehinderungsbildistnichtimSinnederUN-BRK.

AuchfürNRWgiltalsodiefolgendeDefinitionderUN-Behindertenrechtskonven-tion: Zu den Menschen mit Behinderung zählen „Menschen, die langfristig kör-perliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleich-berechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“ (Art. 1 UN-BRK). Geset-ze und Verordnungen des Landes müssen im Sinne der UN-BRK überarbeitet und angepasst werden.

Page 10: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

10

Kritik an der amtlichen Behindertenstatistik.

Der vorliegende Bericht geht beträchtlich über die amtliche Behindertenstatistik hinaus, in der nur die Menschen mit einer amtlich anerkannten Behinderung erfasst werden. Er wendet die Sichtweise der UN-BRK konsequent auf die Datengrundlage an und bezieht alle Menschen in Nordrhein-Westfalen mit ein, die bereits länger als ein halbes Jahr eine gesundheitliche Einschränkung als Beeinträchtigung ihrer Lebensführung erfahren.

Kritik an der amtlichen Behindertenstatistik.

Abbildung 0-1: Anteil der Menschen mit Beeinträchtigungen in NRW ab 18 Jahren.

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG.

Kritik an der amtlichen Behindertenstatistik.

Der vorliegende  Bericht geht beträchtlich über die  amtliche  Behindertenstatistik hinaus, in der nurdie Menschen  mit einer amtlich  anerkannten  Behinderung erfasst werden. Er wendet die Sichtweiseder UN-­‐BRK konsequent auf die Datengrundlage an  und  bezieht alle Menschen  in  Nordrhein-­‐Westfalen  mit ein, die bereits länger als ein  halbes Jahr eine gesundheitliche Einschränkung alsBeeinträchtigung ihrer  Lebensführung erfahren.

Abbildung Fehler! Kein Text mit angegebener Formatvorlage im Dokument.-1: Anteil der Menschen mit Beeinträchtigungen in NRW ab 18 Jahren.

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG.

In  Nordrhein-­‐Westfalen  leben  deutlich  mehr Menschen  mit einer Beeinträchtigung, als die amtlicheStatistik  vermittelt.  Dies  belegt  die Abbildung Fehler! Kein  Text mit angegebener Formatvorlage im Dokument.-­‐1.  Dierepräsentative Bevölkerungsbefragung des sozioökonomischen  Panels zeigt, dass in  NRW immerhin  fast 15  % der Bevölkerung, also  2,1 Millionen  „Menschen  mit einer amtlich  anerkannten  Behinderungoder einer Erwerbsminderung“ leben. Dazu kommen eine  halbe  Million  Menschen,  „die  seitmindestens einem halben Jahr durch gesundheitliche  Probleme  stark eingeschränkt sind.“ DieseDefinition umfasst 18 % der Bevölkerung, das sind  2,6 Millionen Menschen.

Eine  weite  Definition bezieht auch  Menschen  ein, „die seit mindestens einem halben  Jahr durch  gesundheitliche Probleme etwas eingeschränkt sind“. Diese  Definition umfasst ein  Drittel  derBevölkerung (33%), das sind  4,8 Millionen  Menschen.

Bei der weiten Definition handelt es sich nicht um eine  virtuelle  Zahlenspielerei. Sie  umfasstMenschen, die  mit einer Beeinträchtigung  leben und die  zum Beispiel durch einen fehlenden Aufzug  

Menschen mit amtlich festgestellter

Schwerbehinderung oder

Erwerbsminderung…

(15%)2,1 Millionen

… sowie Menschen, die seit mindestens einem halben Jahr durch gesundheitliche Probleme

stark eingeschränkt sind 2,6 Millionen (18%)

… sowie Menschen, die seit mindestens einem halben Jahr durch gesundheitliche Probleme etwas eingeschränkt.

4,8 Millionen (33%)

Page 11: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

11

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

2 Dieser muss von der betroffenen Person selbst beantragt werden. Erst wenn dem Antragsstellenden von den entspre-chend zuständigen Ämtern ein Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 50 % zuerkannt wird, gelten sie als schwerbe-hindert nach § 2 Abs. 2 SGB IX. Der GdB ist in Zehnergraden – von 20 bis 100 – gestuft und gibt das Ausmaß der Funkti-onseinschränkung einer Person wieder. Die Schwerbehindertenstatistik betrachtet somit nur einen Teil der Menschen mit Beeinträchtigung, der andere weitaus größere Teil wird nicht erfasst. Menschen, die Barrieren im Leben erfahren, jedoch ausAngstvoreinerStigmatisierungoderdermangelndenAussichtauffinanziellenNachteilsausgleichaufeineamtliche Anerkennung verzichten, fallen aus den Statistiken. Somit auch die Menschen mit einer Behinderung von 20 % bis 40 %

In Nordrhein-Westfalen leben deutlich mehr Menschen mit einer Beeinträchtigung, als die amtliche Statistik vermittelt. Dies belegt die Abbildung 0-1. Die repräsenta-tive Bevölkerungsbefragung des sozioökonomischen Panels zeigt, dass in NRW im-merhin fast 15 % der Bevölkerung, also 2,1 Millionen „Menschen mit einer amtlich anerkannten Behinderung oder einer Erwerbsminderung“ leben. Dazu kommen eine halbe Million Menschen, „die seit mindestens einem halben Jahr durch ge-sundheitlicheProblemestarkeingeschränktsind.“DieseDefinitionumfasst18%der Bevölkerung, das sind 2,6 Millionen Menschen.

EineweiteDefinitionbeziehtauchMenschenein,„dieseitmindestenseinemhal-benJahrdurchgesundheitlicheProblemeetwaseingeschränktsind“.DieseDefini-tion umfasst ein Drittel der Bevölkerung (33 %), das sind 4,8 Millionen Menschen.

BeiderweitenDefinitionhandelt es sichnichtumeinevirtuelleZahlenspielerei.Sie umfasst Menschen, die mit einer Beeinträchtigung leben und die zum Beispiel durch einen fehlenden Aufzug und Hindernisse unterschiedlicher Art beeinträch-tigt werden. Sie werden in der Gruppe der Menschen mit Behinderung gezählt, weil sie angeben, dass sie eine Beeinträchtigung erfahren.

Somit haben 2,7 Millionen Menschen in NRW (19 %) keine amtlich festgestellte Schwerbehinderung oder Erwerbsminderung, sind jedoch stark oder etwas einge-schränkt. Die Mehrheit der Menschen mit Beeinträchtigung verfügt also über kei-nenoffiziellenStatus.

Um den Blick zu schärfen, werden in diesem Bericht diejenigen betrachtet, die stark beeinträchtigt sind. Im Folgenden nennen wir diese Gruppe: „Menschen mit Beein-trächtigung“. Auch bei dieser Gruppe sprechen wir über 2,6 Millionen Bürger Nord-rhein-Westfalens (18 %). Dies liegt gravierend über den 1,8 Millionen Menschen der amtlichen Schwerbehindertenstatistik. Der Grund ist: Dort werden nur die Men-schen erfasst, die über einen gültigen Schwerbehindertenausweis verfügen.2

Page 12: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

12

Interview Frau Servos

Interview mit Gertrud Servos, Vorsitzende des Landesbehindertenrates NRW und Sprecherin des Netzwerks Frauen und Mädchen mit Behinderung und chronischer Erkrankung NRW.

Das Recht auf Partizipation ist bereits im Grundgesetz verankert und auch in den Gleichstellungsgesetzen. Die UN-Behindertenrechtskonvention konkretisiert die-ses Menschenrecht und bezieht es auf die Lebenssituation behinderter Menschen. Partizipation wird von der Präambel an durchgehend in der gesamten UN-Konven-tion thematisiert. Auch wenn uns dadurch keine neue Aufgabe gestellt wird, bringt die Konvention damit dennoch eine neue Qualität ein. Sie formuliert das Recht auf Beteiligung neu und setzt es unabweislich auf die politische und gesellschaftliche Agenda.

Die Voraussetzungen einer gleichberechtigten Teilhabe.

Barrierefreiheit und uneingeschränkte Mobilität, eine qualifizierte Bildung und auch ein angemessener Lebensstandard stellen die wesentlichen Grundvorausset-zungen dar, um überhaupt gleichberechtigt teilhaben zu können. Gemeinsame Er-ziehung ist eine unverzichtbare Basis dafür, dass Vorurteile abgebaut werden oder gar nicht erst entstehen, weil man sich kennt. Die Grundlagen der Partizipation wer-den im Kindergarten gelegt, später in der Schule und auf dem weiteren Lebensweg ausgebaut.

Partizipation ist ein Menschenrecht.

Page 13: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

13

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Barrierefreiheit nutzt allen Menschen.

Barrierefreiheit wird heute im Alltag oft zu eng gesehen und ausschließlich auf Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung bezogen. So erhalten zum Bei-spiel Menschen mit Sinnesbeeinträchtigung und taubblinde Menschen zu wenig Unterstützung. Der Nutzen von Barrierefreiheit für alle Menschen wird zu wenig herausgestellt. Barrierefreiheit muss umfassend gesehen werden. Sie umfassend zu betrachten, heißt aber nicht, alles auf einmal anpacken zu wollen. Das führt eher zur Frustration. Im konkreten „Hier und Jetzt“ muss vor Ort mit den Betroffenen gemeinsam dort angefangen werden, wo der Bedarf am größten und am drän-gendsten ist.

Wo stehen wir in Nordrhein-Westfalen?

Positive Impulse für Inklusion und Beteiligung setzt das Land NRW sowohl in der Re-gierungserklärung als auch mit dem Koalitionsvertrag, wo diese Themen ganz vor-ne stehen. Herausragend am Aktionsplan der Landesregierung ‚Eine Gesellschaft für alle – NRW inklusiv‘ ist die Festlegung einer Normenprüfung auf die Vereinbar-keit aller landesrechtlichen Regelungen mit der UN-Behindertenrechtskonvention. Die Themenschwerpunkte des Aktionsplans sind mit den betroffenen Menschen und Akteuren in Workshops erarbeitet worden. Eine Reihe der daraus entwickelten Gesetzesvorhaben ist bereits auf dem Weg gebracht oder sogar schon beschlossen worden. Die Umsetzung der weiteren Arbeitsergebnisse in konkrete Landespolitik werden wir weiterhin konstruktiv begleiten.

Eine geschlechtersensible Perspektive auf alle Lebensbereiche entwickeln.

Dem Aktionsplan mangelt es noch an einer durchgängigen geschlechtersensiblen Perspektive. Zwar enthält er einen Abschnitt zur besonderen Förderung von Frau-en und Mädchen, aber die Betrachtung der Lebenslagen und die entsprechenden Maßnahmen sind noch nicht geschlechtersensibel differenziert. Dieses Anliegen ist kein „Hobby“ von mir und keine Klientelsache: Ohne eine geschlechtersensible Per-spektive wird ganz einfach ausgeblendet, dass es „den Behinderten“ – nicht gibt. Es gibt den behinderten Menschen nur gemeinsam mit seinem Geschlecht.

Wie sollen gute Ziele umgesetzt werden?

Der Aktionsplan der Landesregierung NRW setzt gute und richtige Ziele. Bedauer-licherweise gibt es keine Regressform nach dem Motto, „Was geschieht, wenn und wo wir Ziele nicht erreichen?“. Das ist aber notwendig. Wenn ich etwas durchsetzen will, muss ich auch sagen, welche rechtlichen Folgen die Nicht-Umsetzung hat. So ist beispielsweise in der Gemeindeordnung die Einrichtung von Behindertenräten eine Angelegenheit auf freiwilliger Basis. Auch die Einsetzung von Behindertenbe-auftragten ist nur eine freiwillige Aufgabe. Die Gemeindeordnung muss so geändert werden,dassderenEinrichtungverpflichtendist.EntsprechendderUN-Konvention würde ich es dann vorziehen, wenn aus Behindertenbeauftragten Inklusionsbeauf-tragte werden – Sprache drückt ja auch Bewusstsein aus.

Page 14: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

14

Warum gibt es keine Konsequenzen?

Man stelle sich vor, ein beliebiges anderes Gesetz ist in Kraft getreten - fragt man dann auch erst nach zehn Jahren mal nach, was daraus geworden ist? Warum ha-ben Gesetze unterschiedliche Konsequenzen? Wenn wir über die rote Ampel gehen oder falsch parken, folgt die Konsequenz und kann teuer sein. Aber bei der Umset-zung der Inklusion wird immer und immer an die Geduld der Betroffenen appelliert. Als ob es nicht um Rechte ginge, die von Bürgerinnen und Bürgern eingefordert werden können.

Ich bin gerne geduldig, wenn ich einem kleinen Kind erkläre, wie ein Rollstuhl funkti-oniert.Aberichbinnichtgeduldig,wennichbaulicheoderandereBarrierenvorfin-de, wo mir ein Zugang zusteht und wo ich ein Recht auf Partizipation habe.

Inklusionsbeauftragte mit Schnittstellenfunktion.

Inklusionsbeauftragten kommt eine Schnittstellenfunktion zu, denn die Umset-zung von Inklusion ist eine Querschnittsaufgabe. Diese Funktion muss naturgemäß von Betroffenen, von Menschen mit Beeinträchtigung, besetzt werden. Dafür müs-sen dann aber auch die entsprechenden Rahmenbedingungen gewährleistet sein. Vor allem wird Assistenz nicht nur in den Sitzungen selbst benötigt, sondern auch für die Vor- und Nachbereitung. Ich kenne einen gehörlosen Abgeordneten in Kleve, der sein Mandat niedergelegt hat, weil er Assistenz nur in den Ausschüssen, jedoch nicht zur Vor- und Nachbereitung bekam. Das ist ein Armutszeugnis, nicht nur für den Stand der Inklusion, sondern für unsere Demokratie. Die gesetzliche Grundlage für Assistenz ist gegeben. Es darf aber nicht sein, dass die Assistenz für das politi-scheEngagementausdemEtatderAssistenzfürdasAlltagslebenfinanziertwer-den muss.

Die Kommunen und die Konnexität.

Im Inklusionskataster NRW3 sehen wir Kommunen, die schon seit 1978 auf dem Weg sind; andere fangen erst an. Es gibt Vorreiter, wie die Städte Bonn, Münster oder Köln, wo eine aktive „Szene“ der Betroffenen die Inklusion vorantreibt. Aber auch kleine Gemeinden entwickeln gute Initiativen, wie etwa das „Kino für Gehör-lose“.SolchepositivenBeispielesolltennochmehrVerbreitungfinden.Dasstarke Stadt-Land-Gefälle betrifft große Teile der Bevölkerung, insbesondere bei der Si-cherung von Mobilität.

Interview Frau Servos

3 www.inklusive-gemeinwesen.nrw.de ist ein zentrales Projekt im Rahmen des Aktionsplans der Landesregierung „Eine Gesellschaft für alle – NRW inklusiv“. Das Kataster wird beim Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste (ZPE) der Universität Siegen geführt.

Page 15: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

15

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Wenn es bei der Umsetzung der Inklusion um Finanzen geht, verweisen Kommu-nen gerne auf das Prinzip der Konnexität, um sich gegen zusätzliche Ausgaben zu wappnen. Das sehe ich grundsätzlich anders. Die UN-Konvention ist eine Konkre-tisierung der Menschenrechte. Auch für die Kommunen sind die Achtung und Si-cherungderMenschenrechtekeineneuenAufgaben.MitdemLandüberfinanzielle Mittel zu verhandeln, ist in Ordnung. Aber die Konnexität ist oft eine vorgeschobe-ne Begründung, nichts umsetzen zu müssen, was Geld kostet. Ich habe volles Ver-ständnis für die Menschen mit Behinderung, die angesichts dieser Dauerdebatte überlegen, den Klageweg zu gehen. Man muss die Rechte, die man hat, auch aktiv in die Hand nehmen. Allgemein sollten wir auf kommunaler Ebene stärker auf eine Vernetzung und Ko-operation von Behindertenbeauftragten, Gleichstellungsbeauftragten und Senio-renvertretungen setzen. Es ist noch lange nicht Allgemeingut, wie eng eine funktio-nierendeGestaltungdesdemografischenWandelsmitderUmsetzungderInklusion verknüpft ist. Gemeinsam können wir mehr erreichen.

Ein positiver Wettbewerb der beiden Landschaftsverbände.

Die beiden Landschaftsverbände in NRW, Rheinland (LVR) und Westfalen-Lippe (LWL), haben das Thema Inklusion zu ihrem zentralen Anliegen gemacht, wenn auch mit unterschiedlichen Herangehensweisen. Beide besitzen Aktionspläne, an deren Umsetzung sie arbeiten. Dabei darf es ruhig einen Wettbewerb geben; einen Wettbewerb, der aber so verlaufen sollte, dass nach einer Erprobungsphase eine qualitative Auswertung erfolgt und anschließend in beiden Landschaftsverbänden umgesetzt wird. Der Landschaftsverband Rheinland hat mit der Berufung eines Beirats für Inklusion und Menschenrechte im Jahr 2015 einen wichtigen Schritt in Richtung gleichberechtigter Teilhabe von Menschen mit Behinderung getan. Er setzt noch stärker auf die Expertise von Menschen mit Behinderungen. Das Gremi-um fungiert als Beirat zum Ausschuss für Inklusion der Landschaftsversammlung Rheinland, soll künftig gemeinsam mit diesem tagen und wird die politische Arbeit der Landschaftsversammlung mit Know-How unterstützen. Ich bin davon über-zeugt, dass die Interessen von Menschen mit Handicap bei politischen Entschei-dungen des LVR durch den Beirat nun noch besser berücksichtigt werden können.

Page 16: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

16

Was hat sich bewegt?

Es bewegt sich einiges, aber insgesamt bewegt sich die Inklusion viel zu langsam. Die Community der Betroffenen bewegt sich und wendet immer wieder große Energie auf. Die Politik bewegt sich. Es gibt gute Ansätze. Aber ich kann nicht sagen, dass alles besser geworden ist. Ich messe Inklusionsfortschritt in Lebenszeit. Das ist Zeit, die ich im Alltag einplanen muss, um Barrieren zu bewältigen. Jede Barriere kostet doch Lebensqualität und Lebenszeit. Habe ich beispielsweise früher im All-tag eine Stunde gebraucht, um bestimmte Hindernisse abzuarbeiten, so brauche ich heute dafür eine halbe Stunde. Die Hindernisse sind also weniger geworden, aber sie sind noch da.

Inklusion ist ein wechselhafter und dauerhafter Prozess, der nie abgeschlossen sein wird. Man kann nicht darauf warten, bis die Barrieren in den Köpfen beseitigt sind. Meinetwegen darf der Mensch seine Barrieren im Kopf behalten, wenn er möchte, aber wir brauchen Gesetze zur Umsetzung der UN-BRK, die für alle Menschen und für alle Institutionen Gültigkeit haben. Die Mehrheitsgesellschaft sollte die großen Entwicklungspotenziale der Menschen mit Behinderung nicht weiter ignorieren und vergeuden. Es sind menschliche Ressourcen, die vergehen. Viele kreative Mög-lichkeiten bleiben ungenutzt, weil sie nicht gefragt werden: Was brauchst Du, was brauchen wir, damit Du Dich entfalten kannst?

Ein inklusiver Spielplatz für jede Stadt.

Es gibt bereits zahlreiche inklusive Sport- und Freizeitangebote. Das ist ein guter Weg, einander zu erleben. Mein Traum aber ist ein großer inklusiver Spielplatz in je-der Stadt, wo alle Kinder spielen können und jedes Spielgerät für alle benutzbar ist. Einfach so! Das fehlt im Alltag und es muss nicht teuer sein. Wenn im Herzen einer jeden Stadt ein solcher Spielplatz existiert, verändert sich etwas.

Von Vera von Achenbach

Interview Frau Servos

Page 17: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

17

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Page 18: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

18

Teilhabe in verschiedenen Lebensbereichen.

Teilhabe in verschiedenen Lebensbereichen.

Das Leben der „Menschen mit Beeinträchtigung“ und ihre Entwicklungschancen unterscheiden sich erheblich von dem Leben der Menschen ohne Beeinträchti-gung. Vor allem sind es Barrieren und Umweltbedingungen oder auch gesetzliche Regelungen, die sie an der gleichberechtigten Teilhabe hindern.

Die Lebenslagen von Menschen, die nur ein bisschen beeinträchtigt sind, werden sich aller Voraussicht nach im Alltag meist weniger von denen der Menschen ohne Beeinträchtigung unterscheiden. Um jedoch das Leben derer darzustellen, die mit deutlichen Nachteilen in den verschiedenen Lebenslagen zu kämpfen haben, wird im vorliegenden Bericht von den 2,6 Millionen Menschen ausgegangen, die stark eingeschränkt sind. Das betrifft 18 % und damit einen erheblichen Teil der Bevöl-kerung.

Das Leben der Frauen unterscheidet sich von dem Leben der Männer. Genauso unterscheiden sich die Lebenslagen der Jungen von den Alten. Auch der MigrationshintergrundhateinenwesentlichenEinfluss.

Wenn diese Merkmale einen messbaren Unterschied gemacht haben, wird das in diesem Bericht vermerkt. Zudem betrachten wir an vielen Stellen die Lebenslagen von Kindern gesondert.

Page 19: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

19

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Vor der Betrachtung der konkreten Lebenslagen der Menschen mit Behin-derung ist es hilfreich, sich zunächst diesen grundlegenden Merkmalen zu widmen. Das kann helfen, ein Gefühl für die Strukturen der in Nordrhein- Westfalen lebenden Bevölkerungsgruppen zu bekommen, die mit Beeinträchti-gung leben.

Fakten: Grunddaten zur Betrachtung von Lebenslagen. Geschlecht, Alter und Migrationshintergrund.

Geschlecht

Ob eine Person stark beeinträchtigt ist, wird grundsätzlich nicht durch das Ge-schlechtbeeinflusst.DerUnterschiedvon1Prozentpunktistmarginal.Frauenund Männer sind somit in gleichem Maße betroffen. Jedoch macht innerhalb der Grup-pe der Frauen und der Männer das Alter einen Unterschied aus. Während bis zu 64 Jahren die Anteile unter den Frauen und unter den Männern nahezu gleich sind, liegen die Anteile unter den Frauen über 65 Jahren über den Anteilen unter den Männern.

Tabelle 0-1: Menschen mit Beeinträchtigungen in NRW ab 18 Jahren, nach Ge-schlecht und Altersklassen.

Menschen mit Beeinträchtigungen

insgesamt

davon

Alter in Jahren

Männer Frauen

Anteil (an Alters-

klassen)

Anteil (an Alters-

klassen)

Anteil (an Alters-

klassen) Anzahl

(in 1.000) Anzahl

(in 1.000) Anzahl

(in 1.000) 18 bis 34 100 3 % 57 3 % / / 35 bis 54 549 11 % 268 11 % 280 11 % 55 bis 64 677 30 % 311 30 % 366 31 % 65 bis 74 741 35 % 361 33 % 380 37 %

75 und älter 566 38 % 243 35 % 323 41 % Insgesamt 2.632 18 % 1.240 18 % 1.393 19 %

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG

Page 20: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

20

Teilhabe in verschiedenen Lebensbereichen.

Alter

Das Alter spielt eine ganz wesentliche Rolle, da Beeinträchtigung in der Regel nicht angeboren ist, sondern im Verlauf des Lebens erworben wird. Dies zeigt sich in Abbildung 0-2 besonders deutlich:

• Unter den 18- bis 34-Jährigen leben 3 % Menschen, die aufgrund eines gesund-heitlichen Problems stark beeinträchtigt sind und 9 %, die etwas beeinträchtigtsind.

• Über den Verlauf des Lebens steigt nun der Anteil der Menschen mit Beeinträch-tigung massiv an. Vor Eintritt in das Rentenalter sind in der Gruppe der 55- bis64-Jährigen bereits 30 % stark beeinträchtigt und mit 48 % knapp die Hälfte derMenschen etwas beeinträchtigt.

• In der obersten Gruppe der 75-Jährigen und älteren sind es nach der engenDefinitionmit38%übereinDrittel.

• AlsExkurswirdandieserStellederLebensbereicheeinmaligdieweiteDefinitionbetrachtet, da hier der Alterseffekt nochmals besonders deutlich wird. Nach derweitenDefinitionsindbereitsinderGruppederbis64-Jährigen48%beeinträchtigt.In der Gruppe der über 75 Jahre alten Menschen ist es mit 63 % eine deutliche Mehr-heit der Bevölkerung.

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG.

Abbildung 0-2: Anteil der Menschen mit Beeinträchtigungen ab 18 Jahren an der gleichalten Gesamtbevölkerung.

2 9

26 29

25

3

11

30 35

38

10

25

48

54

63

0%

20%

40%

60%

80%

18 bis 34 Jahre 35 bis 54 Jahre 55 bis 64 Jahre 65 bis 74 Jahre 75 Jahre und älter

Alter in Jahren

Amtlich festgestellte Schwerbehinderung oder Erwerbsminderung

Amtlich festgestellte Schwerbehinderung oder Erwerbsminderung oder seit mindestens einem halben Jahr durch gesundheitliche Probleme stark eingeschränkt

Amtlich festgestellte Schwerbehinderung oder Erwerbsminderung oder seit mindestens einem halben Jahr durch gesundheitliche Probleme stark oder etwas eingeschränkt

Page 21: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

21

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Migrationshintergrund

DerMigrationshintergrundhathingegeneinenrelevantenEinfluss.15%derMen-schen mit Migrationshintergrund leben mit einer Beeinträchtigung im Gegensatz zu20%derMenschenohneMigrationshintergrund.EinevorläufigeErklärungfür den niedrigeren Anteil ist, dass die Menschen mit Migrationshintergrund mit einem Durchschnittsalter von 61 Jahren im Schnitt 3 Jahre jünger sind als die Menschen ohne Migrationshintergrund. Da mit zunehmendem Alter immer mehr Menschen eine Beeinträchtigung haben, sind in einer Gruppe mit höherem Durchschnittsalter tendenziellmehrMenschenmitBeeinträchtigungzufinden.

Bei den Menschen mit Migrationshintergrund besteht zudem ein Unterschied zwi-schen den Geschlechtern. 18 % der Frauen leben mit einer Beeinträchtigung. Ihr Altersdurchschnitt liegt bei 64 Jahren. Unter den Männern leben hingegen nur 11 % mit einer Beeinträchtigung. Der Altersdurchschnitt ist mit 56 Jahren jedoch wesentlich jünger. Der geringere Altersdurchschnitt der Männer könnte eine Erklä-rung für den geringeren Anteil sein.

Tabelle 0-2: Menschen mit Beeinträchtigungen in NRW ab 18 Jahren, nach Migra-tionshintergrund4.

Menschen mit Beeinträgitungen Anzahl

(in 1.000) Anteil (an Altersklassen)

Kein Migrationshintergrund 2,0 20 % Mit Migrationshintergrund 0,6 15 % Insgesamt 2,6 18 %

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG.

4StatistischliegteinMigrationshintergrundnachDefinitiondesSOEPimmerdannvor,wenna)Befragteselbstnach

Deutschland zugewandert sind, b) aktuell eine nicht-deutsche Staatsangehörigkeit besitzen bzw. eine solche besaßen oder c) wenn mindestens ein Elternteil eine nicht-deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder außerhalb Deutschlands geboren ist.

Page 22: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

22

Kinder und Jugendliche.

Auf Basis der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) wurden die Anteile der Kinder mit Beeinträchti-gung hochgerechnet. Demnach leben in NRW 179.000 Kinder und Jugendli-che unter 18 Jahren (6 %), die aufgrund einer Krankheit, eines anderen ge-sundheitlichen Problems oder aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten seit mindestens 12 Monaten eingeschränkt sind. Zwischen den Jungen und Mädchen sowie zwischen den Kindern (0 - 10 Jahre) und den Jugendlichen (11-17Jahre)bestehenkeinesignifikantenUnterschiede.

Tabelle 0-3: Kinder und Jugendliche in NRW, nach Geschlecht.

Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigung

Geschätzte Anzahl

(in 1.000)

Anteil (in %)

Kinder und Jugendliche, die aufgrund einer Krankheit, Verhaltensstörung oder anderen gesundheitlichen Problems seit mindestens 179 6 %12 Monaten eingeschränkt sind. Darunter: - Jungen 96 6 %- Mädchen 83 6 %

Quelle: KiGGS Welle 1 des RKI (2009 – 2012), gewichtet. Hochrechnung in Tausend, bezogen auf den Bevölkerungsstand zum 31.12.2012 laut Bevölkerungsfortschreibung des Statistischen Landesamtes für NRW. Eigene Berechnungen Prognos AG.

Tabelle 0-4: Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen in NRW, nach Alters-klassen.

Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen

Anteil (in %) 0 bis 10 Jahre 6 % 11 bis 17 Jahre 7 % Insgesamt 6 %

Quelle: KiGGS Welle 1 des RKI (2009 – 2012), gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG.

Teilhabe in verschiedenen Lebensbereichen.

Page 23: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

23

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Page 24: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

24

Familie und soziales Netz.

„Familie haben“ und „über ein soziales Netz verfügen“ sind zentrale Ressourcen im Leben eines Menschen. Diese sozialen Bindungen bestimmen die Lebenszufrie-denheit ganz erheblich. Sie sind maßgebend für die Bewältigung von Übergängen im Lebenslauf und bei besonderen Belastungen oder Krisen. Familienbeziehungen jeglicher Form bergen Potenzial für solidarische Unterstützung und somit für infor-melle Hilfe5.DaskannvoneinfacherGeborgenheitbiszufinanziellerUnterstützung reichen. Soziale Beziehungen können somit eingeschränkte Handlungsressourcen ausgleichen und helfen, Barrieren zu überwinden. Informelle Hilfen können Sozi-alleistungen jedoch nicht ersetzen, ebensowenig wie Sozialleitungen ein soziales Netz ersetzen können.

Bestehen Mängel in Leistungen, zum Beispiel bezogen auf Bildungseinrichtungen, müssen diese von den Familien kompensiert werden. Fehlende Unterstützungsleis-tungen können zu einer Überlastung des Familiensystems führen. Sowohl soziale Dienste als auch die soziale Infrastruktur erfüllen für die Familien einen wichtigen Zweck. Sie unterstützen und schützen Menschen vor Überlastung und verwirkli-chen somit Lebenschancen.

Soziale Leistungen können für Familien jedoch nicht nur positive sondern auch negative Auswirkungen haben. Die an den Leistungsbezug geknüpften Bedingun-gen erschweren eine Partnerschaft oder eine Familiengründung für Menschen mit

1. Familie und soziales Netz.

5 Stationäres Wohnen wird hier nicht betrachtet, somit wird hier eine Gruppe mit besonderen familiären Verhältnissen

ausgespart.

Page 25: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

25

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Beeinträchtigung deutlich. Das Familieneinkommen und -vermögen wird bei der Gewährung von Eingliederungshilfe und anderer Leistungen herangezogen6. Somit müssen auch Ehegatten zunächst ihr Vermögen und wesentliche Teile ihres Ein-kommens bei der Berechnung des Leistungsanspruchs eines betroffenen Men-schen mit Beeinträchtigung einbringen, bevor staatliche Hilfen gewährt werden. Die partnerschaftliche oder familiäre Beziehung zu einem Menschen mit Beein-trächtigung birgt also ein Armutsrisiko, was selbstverständlich antizipiert wird. Die Folge ist, dass Beziehungen oft verheimlicht oder vermieden werden.

Nicht nur bei der Partner- sondern auch bei der Elternschaft werden Menschen mit Beeinträchtigung benachteiligt. Unterstützte Elternschaft oder familienunter-stützende Dienste sind in NRW nur in geringem Maße verbreitet. Menschen mit Beeinträchtigung fehlt somit nicht selten die notwendige Hilfe, um ihren Aufgaben als Eltern gerecht zu werden.

Was wir ändern müssen. Betrachtet man die Bedeutung von Familie und sozialen Netzwerken so sollten ge-rade Menschen mit Beeinträchtigung in einer Familie leben und über ein starkes soziales Netz verfügen können. Menschen mit Beeinträchtigung fühlen sich jedoch deutlichhäufigersozialisoliert.SielebenseltenerineinerfestenPartnerschaftoder sind verheiratet und führen deutlich kleinere Haushalte. Zudem sind Menschen mit Beeinträchtigung seltener Eltern. Kinder mit Beeinträchtigung wohnen seltener bei ihrenleiblichenEltern.AlsKonsequenzdieserdefizitärenSituationsindUnterstüt-zungsleistungen durch Freunde und Familienangehörige für Menschen mit Beein-trächtigung eingeschränkt oder werden von einer kleineren Gruppe von Menschen geleistet. Die Gefahr der Überlastung ist für das „kleinere“ Umfeld somit deutlich erhöht.

Wenn persönliche Netzwerke nicht funktionieren sind die wirtschaftlichen Konse-quenzen für die Gesellschaft immens. Der Erhalt eines solchen Zustandes kann nicht im Sinne des Landes sein.

• Betroffene und deren Familien bzw. deren Umfeld müssen gestärkt und langfristig die Einkommens- und Vermögensabhängigkeit der Eingliederungshilfe und an-derer Leistungen abgeschafft werden. Durch die Verrechnung des Einkommens und Vermögens der ganzen Familie wird Familie und Partnerschaft verhindert. Die Zahlen bestätigen deutlich, dass die gängige Praxis eine gleichberechtigte Teilha-be von Menschen mit Beeinträchtigung im Bereich der Familie verhindert.

• Das Recht auf Erziehung und Elternschaft (UN-BRK) kann nur beschränkt wahrge-nommen werden. Vor allem für Eltern mit Behinderung haben die Unterstützung durch Elternberatung bzw. begleitete Elternschaft und familienunterstützende Dienste eine wesentliche Bedeutung. Es ist unerklärlich, wieso auch in NRW kein klares Ja zur betreuten Elternschaft vorhanden ist und das Land noch keine kla-ren Regelungen gefunden hat.

6 Die Abhängigkeit der Eingliederungshilfe vom Einkommen wird im Abschnitt 3 in Bezug auf Arbeit und Vermögen themati-

siert.

Page 26: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

26

Interview Frau Timmermann

Wer sichert das Recht der Kinder, in einer Familie aufzuwach-sen? Einblicke in den Alltag einer Pflegefamilie von Kindern mit Beeinträchtigung.

InterviewmitWaltraudTimmermann,PflegemutterdreierKindermitBeeinträch-tigungenundStellvertretendeVorsitzendedesBundesverbandsbehinderterPfle-gekinder e.V.

Durchschnittlich ist bei der Familie Timmermann eher nichts: Nicht die Zahl der Kinder, nicht der Alltag in dem geräumigen Haus, im Kindergarten oder in der Schu-le. Auch wenn die Timmermanns mit den Kindern unterwegs sind, geben sie nicht das Bild einer Durchschnittsfamilie ab. Ist das nicht auf die Dauer zu anstrengend, Frau Timmermann? „Für mich ist das Normalität“, lautet die spontane Antwort der freundlich-energischen Frau. Mit ihrem offenen Lachen signalisiert Waltraud Timmermann selbstbewusst: So möchte ich leben. Mit den drei eigenen erwach-senen Söhnen, den zwei Pflegesöhnen, die selbstverständlich auch als Erwach-senezurFamiliegehören;mitdenEnkelnundmitdendreiPflegekindern Ilayda, Marie und Anni. Alle drei Kinder leben mit unterschiedlichen Behinderungen. Alle drei haben elementare Lernbedürfnisse. Über solche Kinder sagt die Inklusions-forscherin, Professorin (i. R.) Jutta Schöler: „Je schwerer die Behinderung ist, um so notwendiger braucht ein Kind die vielfältigen Anregungen der nichtbehinderten Kinder: Deren Bewegungen es mit den Augen verfolgen kann, deren Geräusche es

Page 27: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

27

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

mit den Ohren wahrnimmt, deren Gerüche es mit der Nase unterscheiden kann, deren Hände es am eigenen Körper spürt“. Und ebenso brauchen sie Eltern als lie-bevolle Bezugspersonen, die für sie da sind. Das ist mehr als ein moralischer Appell an die Gesellschaft. Denn nach der UN-Kinderrechtskonvention hat jedes Kind das Recht, in einer Familie aufzuwachsen. Aber wer sichert dieses Recht? In Deutsch-land leben noch immer die meisten Kinder mit Behinderung in stationären Einrich-tungen der Behindertenhilfe, wenn sie nicht in ihrer Herkunftsfamilie leben können. Waltraud Timmermann weist darauf hin, dass das auch auf fehlende gesetzliche Bestimmungen zurückzuführen sei. Kinder, die im Rahmen der Eingliederungshilfe in einer Einrichtung untergebracht sind, haben keinen Rechtsanspruch auf eine re-gelmäßigstattfindendeHilfeplanung,wiesiedasSGBVIIIfürnichtbehinderteKin-der vorsieht. Deshalb gibt es auch keine regelmäßige Überprüfung, ob zum Beispiel dieUnterbringungineinerPflegefamiliemöglichwäre.WaltraudTimmermann,die auchstellvertretendeVorsitzendedesBundesverbandesbehinderterPflegekinder e. V. (BbP) ist, weist auf diesen eklatanten Widerspruch hin, der zu Lasten der Kin-dergeht:„ImSGBXII§54Abs.3sinddasRechtunddiePflichtzurvorrangigen ambulanten familiären Unterbringung eindeutig geregelt.“

Erfahrungskompetenz der Pflegeeltern.

Die Pflegeeltern sind Profis mit einem starken Profil. Sie entwickeln eine hohe Kompetenz in Auseinandersetzungen mit Behörden und mit Ärzten, mit Hilfsmit-telherstellernundKrankenkostenträgern,mitPädagogenundPflegediensten,mit Kommunen und Wohlfahrtsverbänden. Ihre Beanspruchung durch administrative Vorgänge, Anträge, Begutachtungen, durch die unterschiedlichen und unüber-sichtlichenZuständigkeitenvonKostenträgern,durchdieKoordinierungvonPfle-gediensten, die Kommunikation mit Bildungseinrichtungen und Therapeuten sind riesig: zeitlich, mental, psychisch. Gefordert ist professionelles Alltagsmanage-mentundeinehoheBelastbarkeit.VieleengagierteFamilienmitPflegekindernsind damit auf sich gestellt und erhalten oftmals weder Beratung noch Unterstützung. MehrFamilienwürdenPflegekinderaufnehmen,wennsievonAnbeginnaufzuver-lässige professionelle Unterstützung bauen könnten.

Ein ganz normaler Tag.

Morgens um halb Sechs fängt der Tag mit der Medikamentengabe für das erste Kind an. Kleine Pause zum Kaffeetrinken. Um halb Sieben kommt die Kranken-schwester und macht Marie, die über die Sonde ernährt wird, für die Schule fertig, Timmermanns frühstücken mit Ilayda. Deren Krankenschwester kommt um halb Acht. Dann werden die zwei Kinder und die Krankenschwestern von einem Bus zur Schule abgeholt. Kurz vor Vier Uhr sind sie wieder zu Hause, außer Dienstag, da kommen sie wegen der Krankengymnastik eher. Am Freitag ist der Schultag auch früher beendet. Nachmittags, wenn die Krankenschwestern nach Hause gehen und Herr Timmermann von der Arbeit kommt, suchen die Kinder nach der anstren-genden Schule vor allem Ruhe und Geborgenheit bei den Eltern. Es wird gespielt, Abendessen,Pflegeprogramm,um20:00UhrsollfürdieKleinenBettruhesein.

Page 28: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

28

Die dreieinhalbjährige Anni ist den ganzen Tag zu Hause. Noch braucht sie rund umdieUhrdiebesondereFürsorgeundUnterstützungihrerPflegeeltern.Vielleicht kann sie aber ab dem nächsten Jahr einen Kindergarten besuchen.

Respektvolle Toleranz.

WievieleanderePflegefamilienmusstedieFamilieTimmermanndiezusätzlichen Anschaffungskosten eines behindertengerechten PKW erst kürzlich wieder aus ei-genen Mitteln bestreiten. Der BbP weist in diesem Zusammenhang auf das Recht auf Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft gemäß Artikel 19 UN-BRK hin und fordert, dass die Anschaffung eines behindertengerechten PKWs bzw. die Kosten einesbehinderungsgerechtenPKW-UmbausvomöffentlichenKostenträgerfinan-ziertwerden.DasistfürPflegekindermitBehinderungenebensowiefüralleande-ren Kinder mit Behinderungen erforderlich.

Waltraud Timmermann erzählt sehr abgeklärt, dass der eine oder andere mit Blick auf den behinderungsgerechten Sprinter auch mal gehässig hinter ihrem Rücken tuschelt: „Was die sich alles leisten können...“ Wenn sie sich in einer solchen Situa-tion etwas wünschen dürfte, dann müsste es gar kein großes Inklusionsprogramm sein, das die Barrieren in den Köpfen beseitigen hilft. Sie wünscht sich einfach mehr respektvolle Toleranz. Damit wäre sie schon vollauf zufrieden.

Von Vera von Achenbach

Interview Frau Timmermann

Page 29: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

29

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Page 30: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

30

Fakten: Familie und soziale Netze in NRW. Die UN-BRK fordert in Artikel 23 den Schutz von Ehe und Familie. Diesem Men-schenrecht wird nicht nachgekommen. Stattdessen unterscheiden sich im Lebens-bereich Familie die Chancen von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung be-trächtlich. Das wird im folgenden Abschnitt anhand von Zahlen deutlich gemacht.

Haushaltsgrößen

Das Zusammenleben in einem Haushalt hat für jeden Menschen eine hohe Bedeu-tung. Zu allererst ist man nicht alleine. In der Regel erhält man viele Hilfeleistungen bei der Bewältigung des Alltags und emotionale Unterstützung, ganz unabhängig davon, ob es sich um Menschen mit oder ohne Beeinträchtigung handelt.

DiehäufigsteWohnformbeidenMenschenmitBeeinträchtigungistderZwei-Per-sonen-Haushalt (49 %). Bei den Personen ohne Beeinträchtigung ist dies hingegen der Drei-Personen-Haushalt (45 %). Für beide Gruppen gilt: Mit ansteigendem Al-ter ist die Haushaltsgröße tendenziell abnehmend. Immer mehr Menschen woh-nen alleine; unter den Menschen mit Beeinträchtigung sind es schließlich mit 48 % knapp die Hälfte. Es bestehen jedoch auch deutliche Unterschiede zwischen den Gruppen:MenschenallerAltersgruppenmitBeeinträchtigungenlebenhäufigerin kleineren Haushalten. Das hat wesentliche Auswirkungen auf die Möglichkeit, di-rekte informelle Hilfe zu erhalten oder auch einfach Zeit zusammen zu verbringen. Zwischen den Geschlechtern und beim Blick auf den Migrationshintergrund zeigen sich Unterschiede. Bei Menschen mit Beeinträchtigungen zeigt sich ein Zusam-menhang zwischen der Haushaltsgröße und dem Geschlecht. Frauen mit Beein-trächtigungenwohnenhäufiger(40%)alleineineinemHaushaltalsMännermit Beeinträchtigungen (25 %). Personen mit Beeinträchtigungen und Migrationshin-tergrundwohnenhäufiger(25%)ineinemHaushaltmitdreiodermehrPersonen als Menschen mit Beeinträchtigung ohne Migrationshintergrund (17 %).

Tabelle 1-1: Verteilung der Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen nach Haus-haltsgröße, nach Altersklassen.

Alter in Jahren

1 Person 2 Personen 3 Personen und mehr

mit Beeintr.

ohne Beeintr.

mit Beeintr.

ohne Beeintr.

mit Beeintr.

ohne Beeintr.

35 bis 54 22 % 16 % 28 % 22 % 50 % 62 % 55 bis 64 35 % 17 % 47 % 56 % 18 % 27 % 65 bis 74 28 % 28 % 68 % 67 % / 5 % 75 und älter 48 % 42 % 50 % 55 % / / Insgesamt 33 % 20 % 49 % 39 % 19 % 45 %

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG. Die Altersgruppe der 18- bis 34-Jährigen wird aufgrund geringer Fallzahlen bei den Menschen mit Beeinträchtigungen nicht ausgewiesen.

Familie und soziales Netz.

Page 31: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

31

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Partnerschaft, Familiengründung und Aufwachsen in der Familie.

In Partnerschaft zu leben und eine Familie zu gründen, sind zentrale Elemente im Leben eines Menschen. Menschen mit Beeinträchtigung leben jedoch deutlich sel-tener verheiratet, in einer eingetragenen gleichgeschlechtlichen Lebenspartner-schaft oder in fester Partnerschaft zusammen. Insgesamt sind 66 % der Menschen mit Beeinträchtigungen und 73 % der Menschen ohne Beeinträchtigungen verhei-ratet/in einer Lebenspartnerschaft/oder in fester Partnerschaft. Insbesondere in den mittleren Altersgruppen der 55- bis 64-Jahre Alten besteht mit 21 Prozent-punkten ein deutlicher Unterschied zwischen den beiden Gruppen.

Unter den Menschen mit Beeinträchtigungen gibt es zudem einen Zusammenhang zwischen der Partnerschaft und dem Geschlecht. Frauen mit Beeinträchtigungen sind seltener verheiratet, leben seltener in einer Lebenspartnerschaft oder festen Partnerschaft (55 %) als Männer (79 %).

Abbildung 1-1: Anteil der Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen, die verheiratet zusammenleben, in einer eingetragenen gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft zusammenleben oder eine feste Partnerschaft haben.

49  

74  

65  73  

54  

59  

82  86  

76  

57  

0%  

20%  

40%  

60%  

80%  

100%  

18  bis  34  Jahre   35  bis  54  Jahre   55  bis  64  Jahre   65  bis  74  Jahre   75  Jahre  und  älter  Alter  in  Jahren  

Menschen  mit    Beeinträch?gungen  

Menschen  ohne    Beeinträch?gungen  

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG.

Menschen mit Beeinträchtigung gründen zudem mit etwa einem Viertel (27 %) auch seltener eine Familie; weit über ein Drittel (42 %) der Frauen und Männer zwi-schen 25 und 59 Jahren ohne Beeinträchtigung hat ein Kind unter 18 Jahren.

Auch bei den Personen mit Kindern gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen den Gruppen der Menschen mit und der ohne Beeinträchtigung: 12 Prozentpunkte bei den Männern, 15 bei den Frauen. Somit haben Erwachsene mit Beeinträchti-gung deutlich seltener eine eigene Familie.

Page 32: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

32

Tabelle 1-2: Anteile der 25- bis 59-jährigen Frauen und Männer mit und ohne Beein-trächtigungen, mit und ohne minderjährige Kinder.

Beeinträchtigungen Beeinträchtigungen Frauen

Frauen ohne Kinder 73 % 58 % Frauen mit Kindern bis 18 Jahren 27 % 42 % Insgesamt 100 % 100 %

Männer Männer ohne Kinder 73 % 58 % Männer mit Kindern bis 18 Jahren 27 % 42 % Insgesamt 100 % 100 % Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG. Bezogen auf alle 25- bis 59-Jährigen mit Kindern unter 18 Jahren im Haushalt.

Die Familie ist insbesondere für Kinder eine wesentliche Ressource. Wie in Abbil-dung 1-2 ersichtlich ist, wohnen Kinder mit Beeinträchtigung (71 %) seltener bei ihren leiblichen Eltern als Kinder ohne Beeinträchtigung (80 %). Kinder mit Beein-trächtigungerlebensomitzuübereinemDritteldieAuflösungderKernfamilie.

Abbildung 1-2: Anteil der Kinder und Jugendlichen mit und ohne Beeinträchtigun-gen, die hauptsächlich bei den leiblichen Eltern leben.

71

80

0%

20%

40%

60%

80%

100%

Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen

Kinder und Jugendliche ohne Beeinträchtigungen

Quelle: KiGGS Welle 1 des RKI (2009 – 2012), gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG.

Familie und soziales Netz.

Page 33: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

33

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Freunde

Neben den familiären Beziehungen haben soziale Beziehungen zu Freunden, Ver-wandten oder auch Nachbarn, einen ganz wesentlichen Stellenwert für das Leben derMenschen.MenschenmitBeeinträchtigunghabendeutlichhäufigerdasGe-fühl, dass ihnen die Gesellschaft anderer fehlt und sie sozial isoliert sind. Insge-samt 22 % der Menschen mit Beeinträchtigungen und 12 % der Menschen ohne Beeinträchtigungen fühlen sich ausgeschlossen. Menschen mit Beeinträchtigung geben innerhalbder verschiedenenAltersgruppensogarbis zudreimalhäufiger als Menschen ohne Beeinträchtigung an, dass sie sich sozial isoliert fühlen. 25 % der Menschen mit Beeinträchtigung zwischen 18 und 64 Jahren fühlen sich sozial isoliert im Gegensatz zu 13 % unter den Menschen ohne Beeinträchtigung. Nach Renteneintritt, also unter der Gruppe der 65 bis 74-Jährigen ist der Anteil deutlich niedriger als in der Gruppe der Erwerbstätigen, wobei auch hier Menschen mit Be-einträchtigung sich eher sozial isoliert fühlen. Unter den Hochbetagten mit einem Alter von 75 und mehr Jahren sind die Anteile wieder deutlich höher, wobei der An-teil der gefühlten sozialen Isoliertheit in der Gruppe der Menschen im erwerbsfähi-gen Alter nicht erreicht wird.

Abbildung 1-3: Anteil der Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen, die oft das Gefühl haben, dass ihnen die Gesellschaft anderer fehlt, außen vor zu sein oder dass Sie sozial isoliert sind.

25  

16  

23  

13  

6  

11  

0%  

10%  

20%  

30%  

18  bis  64  Jahre   65  bis  74  Jahre   75  und  älter  Alter  in  Jahren  

Menschen  mit    Beeinträch>gungen  

Menschen  ohne    Beeinträch>gungen  

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG. Bezogen auf Personen, die mindestens einmal angeben, „oft“ oder „sehr oft“ das Gefühl zu haben, „dass Ihnen die Gesellschaft anderer fehlt“, und/ oder „außen vor zu sein“, und/oder „dass sie sozial isoliert sind“.

Page 34: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

34

Für Kinder und Jugendliche wurden stellvertretend die Eltern nach der Anzahl der Freunde gefragt. Das Ergebnis ist, dass Kinder und Jugendliche mit Beeinträchti-gung im Alter von 3 bis 10 Jahren deutlich seltener einen oder mehrere Freunde haben. Die Befragung der Jugendlichen zwischen 11 und 17 Jahren kam zu einem anderen Ergebnis.

Der Selbsteinschätzung folgend, haben hier Jugendliche mit und ohne Beeinträch-tigung gleichermaßen einen oder mehrere gute Freunde. Diesem Ergebnis folgend, sind Kinder mit Beeinträchtigung besonders in jüngeren Jahren von sozialer Exklu-sion betroffen.

Abbildung 1-4: Kinder und Jugendliche mit und ohne Beeinträchtigungen, die einen oder mehrere gute Freunde oder Freundinnen haben.

67

93 92 95

0%

20%

40%

60%

80%

100%

Kinder im Alter von 3 bis 10 Jahren (Einschätzung Eltern)

Jugendliche im Alter von 11 bis 17 Jahren (Selbsteinschätzung Jugendliche)

Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen

Kinder und Jugendliche ohne Beeinträchtigungen

Quelle: KiGGS Welle 1 des RKI (2009 – 2012), gewichtet. Antworten basieren auf dem Eltern- und Jugendfragebogen. Alle Befragten, auf die die Aussage „eindeutig zutrifft“. Eigene Berechnungen Prognos AG.

Familie und soziales Netz.

Page 35: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

35

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Page 36: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

36

Inklusive Bildung ist der Schlüssel zu einer umfassenden selbstbestimmten und aktiven gesellschaftlichen Teilhabe und trägt zudem ganz wesentlich zur Persön-lichkeitsentfaltung bei. Bildung ermöglicht Menschen eine eigenständige und ei-genverantwortliche Lebensführung in sozialer, politischer und kultureller Einge-bundenheit und Verantwortung.

Bildung als Basis des Lebens entscheidet über die Verteilung von Ressourcen. Der Zugang zur Bildung ist somit ein relevantes Maß für Chancengleichheit, denn vom Grad der Bildung hängen Chancen im weiteren Verlauf des Lebens ganz wesent-lich ab. So entscheidet der Grad der Bildung über die Partizipation auf dem ersten Arbeitsmarkt, über Einkommen, Wohnverhältnisse sowie die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben und auch ganz wesentlich über den Gesundheitszustand.

Um das Recht auf inklusive Bildung zu verwirklichen, muss das Bildungssystem zu einem inklusiven System umgestaltet werden. Dies ist ein verbindliches Ziel der UN-BRK und gilt für alle Bildungseinrichtungen. Inklusive Bildung muss von Anfang an gelebt werden. Ohne inklusive Bildung beispielsweise in der Schule wird es keine inklusive Gesellschaft geben.

2. Bildung und Ausbildung.

Bildung und Ausbildung.

Page 37: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

37

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Nordrhein-Westfalen hat sich auf den Weg zu einem inklusiven Bildungssystem ge-macht. Dieses Kapitel soll sich auf die Kernpunkte der Bildungslandschaft – die frühkindliche Bildung und die schulische Bildung – konzentrieren. Hiermit möch-ten wir das Erreichte würdigen, aber auch die Stellen aufweisen, wo der positive Weg weitergeführt werden muss. Der Aufbau einer inklusiven Bildungslandschaft kann nicht von heute auf morgen erfolgen. Wir dürfen uns jedoch nicht auf dem Erreichten ausruhen.

Was wir ändern müssen. Bildung ist eine wesentliche Voraussetzung für eine selbstbestimmte und aktive gesellschaftliche Teilhabe und Chancengleichheit. NRW hat sich auf den Weg zu einer inklusiven Bildung gemacht, und ein erster wichtiger Teil des Weges wurde zurückgelegt. Nun müssen alle Akteure des Bildungssystems Taten folgen lassen.

• Die frühkindliche Bildung ist der Grundstein für ein erfolgreiches Lernen. Beson-ders für Kinder mit Beeinträchtigung ist es wichtig, dass ein inklusives Bildungs-system von Anfang an Chancengleichheit ermöglicht.

• Kindertageseinrichtungen sind nach den gesetzlichen Grundlagen inklusive Ein-richtungen für alle Kinder. Sie sind nun auch der jeweilige Ort, an dem heilpädago-gische Leistungen erbracht werden können.

• Die 3,5-fache Kindpauschale im Rahmen des KiBiz soll den pädagogischen Mehr-aufwand für Kinder mit Behinderung und von Kindern, die von einer Behinderung bedroht sind, ausgleichen. Die Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse der Kinder soll ermöglicht werden.

• Die absolute Anzahl der 3,5-fachen Kindpauschalen im U3-Bereich ist jedoch eher gering. Vor dem Hintergrund der noch nicht erfolgten Zuschreibung von Behinde-rung dürfen nicht die falschen Schlüsse gezogen werden. Eltern sollten nicht dazu gedrängt werden, ihre Kinder zu testen, um eine Förderung zu ermöglichen. Die Angebote für Kinder mit Behinderung müssten jedoch durch breitere Information und Werbung stärker bekannt gemacht werden. Eltern, die sich abwartend ver-halten, könnten so motiviert werden, die Möglichkeiten, die heute für ihre Kinder bestehen, wahrzunehmen.

• Unverständlich ist die andauernde Überarbeitung der Landesrahmenempfehlung NRW zur Frühförderung. Die langsame Vorgehensweise ist kritisch zu betrachten. Die Verzögerung geht zu Lasten der Kinder mit Behinderung. Die Kostenträger dürfen den Blick nicht allein auf die entstehenden Kosten projizieren. Vielmehr müssen das Wohl und der Nutzen für das Kind ins Zentrum der Diskussion rü-cken. Wer nicht erkennt, dass Maßnahmen in jungen Jahren weitaus teurere Auf-wendungen in späteren Lebensjahren vermeiden helfen, wird seiner Verantwor-tung nicht gerecht und sitzt am falschen Platz. Hier ist ein stärkerer öffentlicher Einsatz der Steuer- und Solidargemeinschaft gefragt.

Page 38: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

38

• Erstaunlich und nicht vertretbar ist der Unterschied der Auslegung der Landes-rahmenempfehlung zwischen den beiden Landesteilen Rheinland und Westfalen/ Lippe. Es liegt in der Verantwortung der Landkreise der östlichen Landesteile die Vorteile der Komplexleistung anzuerkennen und zu nutzen, anstatt sich ih-nen zu entziehen. Das Verfahren zur Evaluation und das anschließende Verfahren zur Erarbeitung der neuen Rahmenempfehlung war so mühselig, dass es schien, als wäre es nicht gewollt. Die Hintergründe dafür sind völlig rätselhaft. Eigentlich müssten die Kostenträger der Sozialhilfe die Maßnahmen im Bereich der Frühför-derung und der Komplexleistung als präventive Maßnahmen zur Haushaltskon-solidierung erkennen. Dass sie dieses nicht tun ist mehr als schade. Im Vergleich dazu ist die Krankenkassenseite sehr klar strukturiert vorgegangen. Auch für sie stelltsichdiefiskalischepräventiveFrage.DasVorgehenderKostenträgerinden letzten zehn Jahren kann nur als kritisch angesehen werden.

• Im Bereich der Schule wurden vielfältige Schritte zur Entwicklung ei-nes inklusiven Schulsystems unternommen. Da es sich um ein hochkom- plexes Gefüge handelt muss beachtet werden, dass sehr viele Akteure betroffen sind. So müssen sich die Eltern, die Lehrer, die Träger und die Kommunen sowohl systemisch als auch persönlich und individuell auf den Prozess einlassen. Es muss gelernt werden, inklusiv zu denken.

NRW schneidet bei Absprachen und Vergleichen zwischen den Ländern durch die Behindertenbeauftragten der Länder häufig gut ab. Verwunderlich ist es daher, dass Sachverhalte, für die die Landesregierung im Land „richtig Prügel“ bezieht, von außen als beispielgebend bezeichnet werden.

Ich möchte zwei Beispiele nennen:

• Die Mindestgrößenverordnung wurde von vielen Seiten im Land kritisiert. Dabei lassen die Kritiker leider außer Acht, dass es aber gerade hilfreich ist, Mindest-standards zu setzen. Wer als Lehrer- oder Elternvertreter einerseits die schlechte Versorgung von lehrendem Personal bei Kleinstschulen kritisiert und andererseits gegen die Schutzfunktion der Verordnung wettert, ist unglaubwürdig. Hier scheint der Schulträgerseite die Schuleingangstür im eigenen Dorf und im eigenen Viertel wichtiger zu sein, als die Qualität. Kurze Wege für kurze Beine zu geringerer Qua-lität machen bildungspolitisch keinen Sinn. Die Akteure im Land sollten sich die Beurteilung des Deutschen Instituts für Menschenrechte, der Monitoring-Stelle zur UN-BRK, zu eigen machen, die bedauert, dass dieser Schritt in Deutschland bisher einmalig ist. Betrachtet man hierzu, dass alleine Stadtstaaten wesentliche Entscheidungen zur Umsetzung getroffen haben, sind die Schritte des Flächen-landes und größten Bundeslandes NRW besonders beeindruckend. Trotzdem bestehen wir Behinderte auf einer schnelleren Umsetzung der Menschenrechte auch im Bereich Bildung.

• Als zweites Beispiel sei die Entscheidung des Landesgesetzgebers angeführt, die Kommunen jährlich mit 25 Millionen für investive Mittel und 10 Millionen für zusätzliche Assistenz zu unterstützen. Die ganze Republik beneidet NRW um diese Anerkennung des zusätzlichen Finanzbedarfes für die Kommunen. Auch

Bildung und Ausbildung.

Page 39: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

39

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

die schon miteinbezogene Kostenentwicklung durch eine jährliche gemeinsa-me Überprüfung ist einmalig. „Einmalig ist leider auch der Streit bis zu diesem Beschluss. Er hat der Umsetzung der UN-BRK im Bereich Bildung geschadet. Auch im Verhältnis zwischen Kommunen und Land wurde durch das Verhalten zumindest eines Kommunalen Spitzenverbandes im Januar bis März 2014 tiefes Misstrauen gesät. Der Entschluss dieses Verbandes rechtlich gegen das Gesetz vorzugehen ist verantwortungslos“, so das Fazit von Norbert Killewald, bis Juni 2015 Beauftragter der Landesregierung für die Belange der Menschen mit Behin-derung in Nordrhein-Westfalen.

• Die Grenze der Konnexität wird seitdem bei Gesetzes- und Verordnungsentwürfen zu früh gezogen. Manche früher denkbaren Fortentwicklungen werden heute da-mit im Keim erstickt. Dies verzögert notwendige Entwicklungen auf Jahre.

Die Aufgabe der Schulentwicklungsplanung, die das 9. Schulrechtsänderungsge-setzverpflichtendfordert,wirdvonSeitenvielerKommuneninNRW,insbesondere von den Landkreisen und dem kreisangehörigen Raum nicht wahrgenommen und zum Teil auch ignoriert. Da die Ressourcen derzeit nicht für Gemeinsames Lernen an allen Schulen ausreichen, ist dies ein untragbarer Zustand, der das Gelingen des gesamten Projektes in Frage stellt. Die Weigerungshaltung dieser Teile der kommu-nalen Familie zur Vorbereitung des Schuljahres 2014/2015 sowie nicht erkennbare Bemühungen zum Schuljahr 2015/2016 lassen die Beurteilung zu, dass die betrof-fenen Kommunen dem Prozess schaden.

Vor allem für Kinder mit besonders schweren Beeinträchtigungen ist die gesetzli-che Regelung des Gemeinsamen Lernens von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung noch nicht gelebte Realität. In den Debatten über die Umsetzung vor Ort wird deutlich, dass das Stellenbudget weder bekannt noch in seiner schon schul-„scharfen“ Darstellung für das Ziel des gemeinsamen Lernens genutzt wird. Die regionale Schulentwicklungsplanung ver-sagt hier vollständig. Weder Schulträger noch untere Schulaufsicht kommen ihrer gesetzlichenVerpflichtungnach.

Mit der Möglichkeit einer De-Etikettierung im Bereich der Lern- und Entwicklungs-störungen und mit der frühzeitigen Unterstützung von Schülerinnen und Schülern auch ohne formal beschiedenen sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf so-wie durch das „Zur-Verfügung-Stellen“ von sonderpädagogischen Kompetenzen an allgemeinen Schulen als systematische Unterstützung geht NRW jedoch wich-tige Schritte auf dem Weg zur inklusiven Schule. Die Werbung um Akzeptanz sollte aber auch hier ein verstärktes Bemühen um Transparenz und die Intensivierung von Kommunikation einschließen.

In der derzeitigen Umsetzungsphase wirkt das Agieren einiger Lehrerverbände schä-digend. Bezeichnend dafür ist die Pressearbeit der GEW, in der lediglich 26 % der Lehrer in NRW organisiert sind. Im Frühjahr veröffentlichte die GEW eine „Studie“ zur Zufriedenheit von Lehrerinnen und Lehrern in der Inklusion. 100 Lehrer, die in der Ge-

Page 40: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

40

werkschaft organsiert sind, wurden befragt. Sie sind wohl alle an Schulen tätig, die mit dem gemeinsamen Lernen gerade begonnen haben. Keiner der befragten Lehrer praktizierte scheinbar an einer der Schulen, die schon länger gemeinsames Lernen ermöglichen. Die einseitige Darstellung hat in der folgenden Öffentlichkeitskampagne ein falsches Bild der Stimmung bei lehrendem Personal gezeigt.

Die „gelungenen“ Wege des gemeinsamen Lernens zeigen für NRW ein anderes Bild. Wir sind froh, dass sich die Beteiligten vor Ort von diesen Stimmungsbildern nicht in ihrer alltäglichen Arbeit beeinträchtigen lassen. Die GEW und einige ande-re Akteure sollten sich fragen, ob ihre Mitgliederwerbung durch Pressearbeit dem gesellschaftlichen Auftrag zur Umsetzung von Menschenrechten dienlich oder schädlich ist oder ob sie nur eigenen Interessen dient.

Mit Besorgnis ist festzuhalten, dass in den letzten Schuljahren, auch in dem ersten Schuljahr der Gültigkeit des Gesetzes, die AO-SF-Zahl7 gestiegen ist. Es ist anschei-nend so, dass die Beteiligten der Zielrichtung des Gesetzes noch misstrauen oder mit Blick auf die Zukunft damit Belege für Mehraufwand sammeln wollen. Alleine in den FörderschulenzumSchwerpunktLernensinddieSchülerzahlenrückläufig.DieseKin-der sind folglich in den Zahlen zum Gemeinsamen Lernen berücksichtigt. Kinder mit schwersten Behinderungen oder mehrfachen Diagnosen sind kaum in der Regelschu-lezufinden.Bisdiesgeschehenkann,wirdwohlnocheinigeZeitinsLandgehen.

7 Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung - AO-SF

Bildung und Ausbildung.

Page 41: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

41

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Page 42: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

42

Die Kita Abenteuerland in Bünde, ein Vorreiter für Inklusion.

Interview mit Sven Hartmann, Leiter der additiven Kindertagesstätte „Abenteuer-land“ der Lebenshilfe Bünde.

Der dreijährige Luca war ein Kind mit Verhaltensproblemen, aber ohne körperliche Beeinträchtigung. Ein Kind in schwierigen und belastenden familiären Verhältnis-sen; in einem Regelkindergarten kam es nicht zurecht, in eine heilpädagogische Einrichtung passte es nicht. Luca, wohin? Ein guter Stern führte ihn in die additive Kita Abenteuerland der Lebenshilfe Lübbecke. Über die Maßen schüchtern im Um-gang mit Gleichaltrigen und überhaupt mit Menschen war er und voller Angst. So erlebte ihn Sven Hartmann bei der ersten Begegnung. In einer größeren Gruppe verkroch Luca sich und war nicht ansprechbar. „Ein Junge, der zuerst einmal Halt braucht, Fürsorge, Sicherheit, eine kleine kuschelige Gruppe, in der er Vertrauen fassenund lernenkann,sichzurechtzufinden“,stellteSvenHartmannfest.Luca fand all das in der kleinen heilpädagogischen Gruppe der additiven Einrichtung, in der acht Kinder betreut werden.

Interview Herr Hartmann

Page 43: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

43

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Additiv. Kombiniert. Inklusiv.

Die additive Kita Abenteuerland in Bünde wurde im Jahr 2004 durch die Lebenshil-fe Lübbecke gegründet und gehört heute zu den ältesten Einrichtungen dieser Art. So lange ist auch Sven Hartmann schon ihr Leiter. Er und sein multiprofessionelles Team verfügen über einen großen theoretischen Fundus und praktischen Erfah-rungsschatz in der Pädagogik und im Management. Auch tragfähige Netzwerke mit Eltern und Unterstützern sowie eine gute Kooperation mit Ämtern sind besonders unverzichtbar, um eine solche Einrichtung nicht nur am Leben zu halten, sondern sie auch weiterzuentwickeln.

Additiv heißt die Kita, weil unter ihrem Dach zwei unterschiedliche Einrichtungen existieren: Ein heilpädagogischer Kindergarten und ein Regelkindergarten für Kin-der zwischen zwei und sechs Jahren. Theoretisch heißt das: 16 Kinder gehen in den heilpädagogischen Bereich und 20 Kinder in den Regelbereich. „Aber,“ lächelt Sven Hartmann verschmitzt, „wir sind diesbezüglich schon 2004 einen integrativen Weg gegangen.“ Deshalb gibt es in der Kita Abenteuerland seit ihrer Gründung bis heute beides: Eine kleine heilpädagogische Gruppe mit acht Kindern und zwei inklusive Gruppen, die je vier Kinder mit und zehn Kindern ohne Beeinträchtigung umfas-sen. Die heilpädagogische Gruppe ist ein Angebot für Kinder mit Behinderung oder auch für Kinder wie Luca mit Verhaltensproblemen. Sven Hartmann unterstreicht: „Wir verstehen uns ganz klar als inklusives Angebot. Denn die Grenzen zwischen den Gruppen sind fließend und immer offen. Das Motto der Lebenshilfe bringt unser inklusives pädagogisches Konzept auf den richtigen Nenner: Es ist normal, verschieden zu sein.“ So gab es auch für Luca keine unüberwindliche Barriere. In seinem eigenen Tempo hat er mit behutsamer Begleitung den Weg aus der kleinen beschützten Gruppe in die größere gefunden und sich dann dort gut behauptet.

Es ist normal, verschieden zu sein.

Erziehung und Bildung in der Kita sind durchdrungen von der Wertschätzung der Vielfalt und von einer offenen Einstellung gegenüber allen Kindern. „Bei uns“, sagt Sven Hartmann, „geht es einfach um Kinder. Nicht um Kinder mit und Kinder ohne Behinderung.“ Er ist von dem additiven Konzept überzeugt, weil es allen Kindern die bestmögliche Förderung biete. Gut erinnert er sich noch an die Bedenkenträger in der Gründungszeit – das war die Zeit weit vor der UN- Behindertenrechtskon-vention: „Im Jahr 2004 wurde ich noch gefragt, ob wir das denn eigentlich dürfen, die Gruppen mischen. Ja, das dürfen wir“, habe er geantwortet. Und es begann ein starkes Stück Pionierarbeit für Integration und Inklusion. Die Addition der beiden Einrichtungen unter einem Dach schaffte dafür neue Möglichkeiten und stellte die Finanzierung auf eine bessere Grundlage. Darum geht es jetzt noch und immer wieder, stellt Sven Hartmann ohne Resignation und ohne klagenden Unterton fest:

Page 44: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

44

Interview Herr Hartmann

„Die Rahmenbedingungen sind das A und O. Jedes Kind muss überall an- und auf-genommen werden, so soll es sein. Aber Weiterbildung und Begleitung bei der päd-agogischen Umsetzung sind ebenso unverzichtbar wie ein angemessener Personal-schlüssel und eine ausreichende Finanzierung. Hauruck-Aktionen mit überforderten Mitarbeitenden sind im pädagogischen Bereich nicht gut verkraftbar und haben un-mittelbar negative Folgen für die betroffenen Kinder.“

Die Eltern machen Kita.

Die Eltern werden intensiv miteinbezogen. Einmal im Jahr gestalten sie eine Woche lang den Kita-Alltag nach einem selbstgewählten Thema. Das Kita-Team unterstützt sie dabei. Sie erleben alle Kinder im Alltag und sind begeistert von dieser Erfahrung. Eine besonders starke Stütze sind dabei und bei den anderen Mitmach-Aktionen die Eltern mit Migrationshintergrund, erwähnt Sven Hartmann ganz nebenbei.

Natürlich wünscht er sich, dass Inklusion in der gesamten Gesellschaft umgesetzt wird und sich als Selbstverständlichkeit in den Köpfen der Menschen durchsetzt. Auf kommunaler Ebene müsse ein Verständnis dafür entstehen, dass jeder Mensch dazugehört, bis dann endlich nicht mehr von Menschen mit und ohne Behinderung gesprochen wird, sondern einfach nur noch von Menschen. So wie beim Familien-tag der Lebenshilfe an einem verkaufsoffenen Sonntag inmitten der Fußgänger-zone von Bünde, erinnert sich Sven Hartmann. Berührungsängste und Vorbehalte haben sich bei der spontanen Begegnung der verschiedenen Menschen einfach aufgelöst: In Freude und Staunen darüber, wie einfach das Miteinander sein kann – Normalität in einer hoffentlich nicht allzu fernen Zukunft.

Von Vera von Achenbach

Page 45: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

45

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Page 46: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

46

Architekten für Lebensplanung gesucht. Wie Franziska dann doch Lesen, Schreiben und Rechnen lernte.

Interview mit Anke Frese und Tochter Franziska.

Die Antwort auf die Frage nach ihren Lieblingsfächern kommt prompt: „Die Pau-sen“, grinst die 14-jährige Gesamtschülerin Franziska Frese, um ernster hinzuzu-fügen, dass sie Kunst mag und später etwas in dieser Richtung machen möchte. Dann wandern ihre Blicke gleich wieder zu dem Smartphone, das während des Ge-sprächs mit ihr und ihrer Mutter Anke als Aufnahmegerät auf dem Tisch liegt. Kon-zentriert verfolgt sie den Verlauf der Ton-Kurve auf dem Display, bis diese plötzlich abbricht. Franziska entdeckt als erste: Der Stop-Button ist versehentlich aktiviert worden. Mit dem Handy kennt sie sich gut aus. Wie die meisten 14-Jährigen nutzt sie einen Messenger. Noch selbstverständlicher aber nutzt sie auch die anderen, die wirklich lebens- und überlebenswichtigen technischen Hilfsmittel für ihre kör-perliche Mobilität, für die Kommunikation, die Ernährung und für die Beatmung. IhreMutterorganisierteinen16-stündigenPflegedienst.DerhatFranziskaschon in den Kindergarten begleitet und begleitet sie jetzt auch in die Schule. Letzteres aber werde zum Beispiel zu einem kritischen Punkt für Kita oder Schule: Solche Bildungseinrichtungen haben nicht gerne ständig „Fremde“ vor Ort. Anke Frese ist

Interview Frau Frese

Page 47: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

47

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

auch Spezialistin für die Hilfsmittel, die Franziska benötigt und beklagt, dass es da-für,wieauchfürPflegedienste,keineneutraleQualitäts-Beratunggibt.Esexistieren auch keine Lotsendienste, die zeit- und ressourcensparend durch den Zuständig-keits-, Antrags- und Finanzierungsdschungel führen können. Dabei sind funktionie-rende Hilfsmittel nun einmal die Voraussetzung für jeden Entwicklungsschritt eines Kindes mit Behinderung zur inklusiven Bildung und zur Teilhabe am Leben.

Ein Überlebenskampf fast ohne Atempause.

Die Geschichte von Franziskas Geburt und ihren folgenden Lebensjahren ist die Ge-schichte eines Überlebenskampfes fast ohne Atempause. Eine Herausforderung auch für die beiden älteren Töchter in der Familie Frese. Mit viereinhalb Jahren lernt Fran-ziska sprechen, daran haben die beiden Geschwister einen großen Anteil. Den Eltern macht nach der Geburt niemand Hoffnung auf Heilung. Niemand konnte ihnen guten Gewissens sagen: Das haben wir bald überstanden. Die Ärzte der Geburtsklinik frag-ten, ethisch begründet und verantwortungsbewusst: Sollen wir reanimieren, wenn Franziska aufhört zu amten? Dieser ernsten Frage haben sich die Eltern gestellt und entschieden, den Kampf um Franziskas Leben und für ihre bestmögliche Entwick-lung aufzunehmen. Etwas hat ihnen Hoffnung gemacht und war stärker als alle nie-derschmetternden medizinischen Diagnosen. Sie haben gespürt: Franziska ist eine Kämpferin.EsgabauchÄrzteundPflegepersonen,die ihnenMutgemachthaben; Ärzte, die „ja“ gesagt haben auf die bangen Fragen der Eltern, ob Franziska jemals lernen könnte, sich aufzurichten, zu gehen, zu sprechen und, ob sie ihr dafür all die Operationen zumuten dürfen. „Eine solche Motivation ist unerlässlich. Jemand muss sagen „das schaffen wir’!“, betont Anke Frese. Der Beschluss der Eltern, Verantwor-tung zu übernehmen, bedeutet bis heute für sie, auch für Franziskas bestmögliche Entwicklung Sorge zu tragen. Anke Frese hat sich bei ihrem Kampf für eine inklusive Bildung und Beschulung nicht kleinkriegen lassen. Wo haben die Eltern Unterstützung erhalten, als sie sicher waren, dass Franziska kognitive Fähigkeiten hat und Lesen, Schreiben und Rechnen lernen sollte? „Ich bekam zuerst keine Unterstützung“, er-innert sich Anke Frese. Das Kind habe so viele gesundheitliche Einschränkungen und Belastungen, so viele Arzttermine und einen so hohen Versorgungsbedarf, dass der kognitive Bereich zweitrangig sei. „Kümmern Sie sich um die wichtigen Dinge“, sagte man ihr, nicht von ärztlicher Seite, sondern aus dem pädagogischen Bereich. Als die Eltern inklusive Bildung in einer Regelschule für Franziska forderten, bekamen sie ei-nen Satz zu hören, der sie besonders tief getroffen hat: „Ihre Ansprüche, was das Kind erreichen könnte, sind zu hoch“. Als jetzt das Gespräch darauf kommt, rätselt Fran-ziska mit ihrer Mutter: „War ich da Sieben? Nein, Du warst eher neun oder zehn Jahre alt.“ Auf dem steinigen Weg bis in die Gesamtschule gab es dann zwar auch immer wieder echte Unterstützer: Die inklusionsbereite örtliche Grundschule auf dem Dorf, einenfindigenBeamtenimkommunalenPlanungsamt,Ärzte,engagierteLehrerinnen und Lehrer. Aber die Wege zur schulischen Inklusion öffnen sich nicht regelhaft für alle Betroffenen. Niemand ist auf die Freses zugekommen und hat mit ihnen zusammen Franziskas Weg bis in die Gesamtschule gebahnt.

Page 48: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

48

Wie könnte das Leben in zehn Jahren aussehen?

Bis etwa zu ihrem neunten Lebensjahr stand für die Eltern im Vordergrund, die körperlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Franziska einmal essen, sprechen und sich aufrichten kann. Das erforderte ungezählte Krankenhausauf-enthalte mit Fuß- und Hüftoperationen und therapeutische Unterstützung durch Krankengymnastik.JedenneuenSchritthatAnkeFresefinanzielldurchgekämpft, organisiert und begleitet. Franziska musste lernen, Grenzen zu überwinden, sich anzustrengen. An ihren Tränen und ihren Schmerzen trug die ganze Familie schwer. Anke Frese hat eine Metapher für diesen langen Weg entwickelt, der nur mit vielen „Gewerken“ und mit guter Planung funktioniert und Franziska zu Fortschritten ge-führt hat: Das „Architekten-Modell“. Wie für ein stabiles Haus, so brauche sie eben auch für „unser kleines Häuschen Franziska“ Architekten, die im medizinischen und im pädagogischen Bereich analysieren und planen: Wo liegen die Potenziale und Stärken des Kindes? Was kann es tragen? Welche Hilfsmittel brauchen wir? Wann ist der richtige Zeitpunkt für den nächsten Baustein? Solche hilfreichen „Ar-chitekten des Lebensweges“ und professionelle neutrale Lotsen wünscht sich Anke Frese auch im Bildungssystem und nicht nur für ihre Tochter, denn so sagt sie: „Es muss doch für jedes Kind eine Vorstellung geben, wie sein Leben in zehn Jahren aussehen könnte.“

Von Vera von Achenbach

Interview Frau Frese

Page 49: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

49

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Fakten: Bildung und Ausbildung in NRW.

Frühkindliche Bildung

Die Grundlagen für ein erfolgreiches Lernen im Leben werden in der frühen Kindheit gelegt. So erschließen sich Kinder bereits sehr früh die sie umgebende Welt. Durch altersgerechte Bildung im Elementarbereich, aber auch durch Bewegungs-, Kunst- und Musikerziehung sowie eine gute Betreuung können die Kinder im „Begreifen“ dieser Welt unterstützt werden. So können sie ihre eigenen Fähigkeiten und damit die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Wirksamkeit entdecken und erweitern. Dabei muss die Unterstützung immer an den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Kinder orientiert sein.

Aus diesem Dreiklang von Bildung, Erziehung und Betreuung heraus erwachsen Entwicklungs-, Teilhabe- und Aufstiegschancen. Die Kosten- und Leistungsträger müssen demnach Hand in Hand arbeiten, um eine umfassende Unterstützung zu gewährleisten. Schnittstellen zwischen den einzelnen Unterstützungssystemen dürfen keine Schranken oder Hindernisse darstellen. Dies tun sie aber, auch in NRW. Frühkindliche Bildung ist ein wichtiges Element zur Gewährleistung von Chancen-gleichheit.

Kindertageseinrichtungen

Das am 1. August 2008 in Kraft getretene Kinderbildungsgesetz (KiBiz) besagt, dass grundsätzlich alle Kinder, ob mit oder ohne Behinderung, gemeinsam Kinder-tageseinrichtungen besuchen sollen. Heilpädagogische Kindertageseinrichtungen (Eingliederungshilfe in teilstationärer Form) werden mittlerweile in additiver Form geführt. Dort werden Kinder mit Behinderung aus heilpädagogischen Gruppen und Kinder aus Regelgruppen gemeinsam gefördert. Bei einem solchen gemeinsamen Besuch dürfen die besonderen Bedürfnisse der Kinder mit Beeinträchtigungen nicht unberücksichtigt bleiben.

Zur Sicherung der Finanzierung des Mehraufwands legt das KiBiz für Kinder mit Behinderung grundsätzlich einen 3,5-fachen Satz der Kindpauschale IIIb fest. Die Behinderung des Kindes muss jedoch von einem Träger der Eingliederungshilfe vorher festgestellt worden sein.

Ein Kind, das das erste Lebensjahr vollendet hat, hat bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder inKindertagespflege.EinKind,dasdasdritteLebensjahrvollendethat,hatbiszum Schuleintritt Anspruch auf Förderung in einer Tageseinrichtung.

Für Kinder, die das erste Lebensjahr noch nicht vollendet haben, sind bedarfsge-rechte Betreuungsmöglichkeiten entsprechend den gesetzlichen Maßgaben nach § 24 Absatz 1. SGB VIII zu schaffen.

Page 50: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

50

Tabelle 2-1: Entwicklung der Kindpauschalen für Kinder mit und ohne Behinderung in Kindertageseinrichtungen; Kindergartenjahre 2010/2011 bis 2015/2016.

Anzahl U3-Kindpauschalen Anzahl Ü3-Kindpauschalen

(ohne Schulkinder)

Kinder- gartenjahr

für Kinder mit

Behinderung

für Kinder ohne

Behinderung

ins- gesamt

für Kinder mit

Behinderung

für Kinder ohne

Behinderung

ins- gesamt

2010/2011 446 67.869 68.315 14.333 449.407 463.739 2011/2012 500 74.882 75.382 15.622 442.195 457.817 2012/2013 528 83.990 84.518 14.497 439.390 453.887 2013/2014 665 105.902 106.567 13.651 437.050 450.700 2014/2015 718 113.649 114.367 13.511 437.440 450.951 2015/2016 724 116.984 117.708 13.237 441.042 454.280 Quelle: KiBiz.web, je 15.03., eigene Darstellung

In der Betrachtung der U3-Kindpauschalen sticht ins Auge, dass die Anzahl insge-samt in den letzten fünf Kindergartenjahren sowie dem aktuellen Jahr 2015/2016 um über 70 % angestiegen ist. Dies gilt nahezu auch für die Pauschalen für Kinder mit Behinderung. Die Zahl relativiert sich jedoch, da es mit 724 im Jahr 2015/2016 absolut eher wenige sind im Vergleich zum Ü3 Bereich. Die Ü3-Kindpauschalen sind insgesamt sowie für Kinder mit Behinderung leicht zurückgegangen.

In den frühen Lebensjahren wird durch die verschiedenen Säulen der Hilfesysteme versucht, das Kind, welches von Behinderung bedroht ist, durch diverse Unterstüt-zungen zu fördern. Es ist somit wichtig, dass möglichst alle Kinder von dieser För-derungprofitieren.EinHintergrundderniedrigenZahlen imU3Bereich ist,dass die Zahl der festgestellten / zugeschriebenen Behinderungen mit dem Lebensalter der Kinder zunimmt. Besteht keine Zuschreibung, entfällt der 3,5-fache Satz der Kindpauschale und somit die Mittel zur Förderung des Kindes.

Ein weiterer Hintergrund der niedrigen Zahlen ist der erst seit dem 1. August 2013 bestehende Rechtsanspruch für U3-Kinder. Es ist möglich, dass Eltern hier erst ab-warten bzw. Erfahrungen sammeln wollen.

Mit dem massiven Ausbau der U3-Plätze in den letzten Jahren sind Angebote erst entstanden und damit verbunden reale Möglichkeiten für die Betreuung von Kin-dern mit Behinderungen in größerer Zahl.

Neben den Fördermitteln des Landes, also den Mitteln der KiBiz-Pauschale, wer-den weitere spezielle und individuell festgelegte Unterstützungsmaßnahmen für Kinder mit Behinderung zudem durch Fördermittel der Landschaftsverbände oder vonSozialleistungsträgern(Sozialamt,Jugendamt,Krankenkassen)finanziert.Die Voraussetzung für einen Kostenanspruch ist gegeben, wenn die Beeinträchtigung des Kindes durch ärztliche oder sonstige fachliche Erkenntnis festgestellt wurde.

Übernehmen die Sozialhilfeträger die Finanzierung dieser Leistungen, so geschieht dies oft in Form von Eingliederungshilfe. An dieser Stelle tritt erneut die bereits in Kapitel 1 angesprochene Problematik der Vermögensabhängigkeit von Leistungen

Bildung und Ausbildung.

Page 51: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

51

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

auf. So werden die Kosten für die Unterstützungsmaßnahmen der Kinder erst von den Trägern der Sozialhilfe übernommen, wenn sie nicht über das Einkommen und Vermögen der Kinder oder deren Eltern gedeckt werden können. Diese Anrechnung erfolgt bei ambulanten Maßnahmen der Eingliederungshilfe in der Zuständigkeit der Jugendhilfe nicht.

Früherkennung und Frühförderung – Schnittstellenproblematik.

2005 verabschiedete NRW als erstes Bundesland eine Rahmenempfehlung zur „Umsetzung der Verordnung zur Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder (Frühförderungsverordnung – FrühV) vom 24.06.2003“. Bis dahin wurden Frühförderung und Früherkennung als Heilmittel und damit als Leistungen der Krankenkassen nach § 32 und § 139 SGB V abge-rechnet. Dies führte zu einem Streit der Krankenkassen mit der Kassenärztlichen VereinigungNordrhein(KVNO).DieKrankenkassenwarenmitderHäufigkeitder Abrechnung dieser Leistungen unzufrieden. Ihrer Meinung nach wurden zu viele Leistungen abgerechnet. Die Ärzte empörten sich über die Tatsache, dass die Heil-mittelzuLastenihresBudgetsfielen.

Die Rahmenempfehlung regelt seit 2005 das Zusammenwirken der Rehabilitati-onsträger und Leistungserbringer bei der Erbringung von Früherkennung und Früh-förderung. Dies sind vor Ort im Wesentlichen die Sozialhilfe und die Krankenkassen. Neu ist die Erbringung dieser Leistungen als eine Komplexleistung. Das bedeutet, dass pädagogische, psychologische, soziale und medizinische Hilfen miteinander verzahnt und nach einer umfassenden Eingangsdiagnostik durch einen Vertrags-arzt (also nicht der “Haus“- Kinderarzt sondern ein Arzt der Komplexleistungs-erbringungsstelle) aufeinander abgestimmt werden. Sie findet in so genannten Interdisziplinären Frühförderstellen (IFF) statt. Anspruch auf eine solche Komplex-leistung hat nach § 3 Abs. 1 der Rahmenempfehlung von Geburt bis zum Schulein-tritt jedes behinderte oder von Behinderung bedrohte Kind.

Die aufkommenden Kosten werden auf Grundlage der Empfehlung anhand pau-schalisierter Entgelte aufgeteilt. Damit fallen sie nicht mehr alleine dem Hilfsmittel-budget der Ärzte zu Lasten. Beantragt wird die Komplexleistung grundsätzlich bei den örtlichen Sozialhilfeträgern. „Ziel ist es, im Zusammenwirken von Fachkräften und Eltern die Entwicklung des Kindes sowie die Entfaltung seiner Persönlichkeit anzuregen, zu unterstützen und die Erziehung und soziale Entwicklung zu fördern und sicherzustellen“ (Abs. 5 Präambel der Rahmenempfehlung).

Die Landesrahmenempfehlung von 2005 sollte nach zwei Jahren evaluiert werden. Diese Überprüfung blieb jedoch zunächst aus. Erst nach einem durch den damaligen Landesbehindertenbeauftragten, Norbert Killewald, initiierten Runden Tisch mit den Vertragspartnern konnte eine solche Evaluation initiiert werden. Im Dezember 2012 erfolgte der Abschlussbericht des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspo-litik zur Evaluation der Umsetzung der Rahmenempfehlung. Eine überarbeitete Emp-fehlung steht im Sommer 2015 hoffentlich kurz vor der Veröffentlichung.

Page 52: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

52

Von dem Thema der Komplexleistung abzugrenzen ist die pädagogische Frühförde-rung für seh- und hörgeschädigte Kinder. Diese wird von den Förderschulen mit den Schwerpunkten Hören und Kommunikation sowie Förderschulen mit dem Schwer-punkt Sehen organisiert, mit dem Ziel, die betroffenen Kinder möglichst früh auf die Anforderungen in der Schule vorzubereiten und zu fördern. Diese pädagogische Frühförderung wird bei der Schulaufsicht beantragt.

Schulbildung

Bereits vor Inkrafttreten der UN-BRK gab es in NRW eine lange Tradition des Un-terrichts für Kinder mit und ohne Behinderungen bzw. mit und ohne einen Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung. Die Schulaufsicht konnte, wenn die säch-lichen und personellen Voraussetzungen es ermöglichten, mit Zustimmung der Schulträger gemeinsamen Unterricht einrichten.

Nach Inkrafttreten der UN-BRK 2009 und einem einstimmigen Landtagsbeschluss vom 1. Dezember 2010 hat die Verwaltungsvorschrift vom 15. Dezember 2010 auf-grund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus dieser „Kann“-Vorschrift eine „Soll“-Vorschrift gemacht. Das heißt: Wo immer dies möglich zu machen ist, sollte die Schulaufsicht den Elternwillen einen Platz im gemeinsamen Unterricht mit Zustimmung des Schulträgers umsetzen. Bei Nicht-Erfüllung des Elternwunsches ist eine dezidierte schriftliche Darlegung der Gründe erforderlich („Umkehr der Beweislast“).

Aufgrund dieser Vorschrift wurden am Ende des Schuljahres 2013/2014 bereits 29,6 % der Schülerinnen und Schüler mit einem förmlich festgestellten Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung in allgemeinen Schulen der Primarstufe und der Sekundarstufe I integrativ beschult. Nach dem Inkrafttreten des 9. Schulrechts-änderungsgesetzes (9. SchRÄG) sind es inzwischen 34 %.

Bildung und Ausbildung.

Page 53: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

53

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Abbildung 2-1: Schülerinnen und Schüler mit Sonderpädagogischem Förderbedarf Primarstufe und Sek I.

10337   10793   11466   12266   13348   14906   16941   19439  23063   28811  

35532   41561  

102587  102922  

101820  101460  101094  

100280   99296  97174   93363  

88519  84568  

80512  

9,2%   9,5%  10,1%  10,8%  11,7%  12,9%  

14,6%  16,7%  

19,8%  24,6%  

29,6%  34,0%  

0,0%  

5,0%  

10,0%  

15,0%  

20,0%  

25,0%  

30,0%  

35,0%  

40,0%  

0  

20000  

40000  

60000  

80000  

100000  

120000  

140000  

2003   2004   2005   2006   2007   2008   2009   2010   2011   2012   2013   2014  

allg.  Schulen   Förderschulen   Anteil  allg.  Schulen  in  Prozent  

Quelle: MSW; eigene Darstellung

Der Blick auf die Zahlen zeigt schon in den Jahren bis 2009 eine positive Ent-wicklung hin zu mehr schulischem gemeinsamen Lernen. Ab dem Jahr 2010 hat jedoch der Zuwachs an Schülern, die mit sonderpädagogischem Förderbedarf in allgemeinbildenden Schulen unterrichtet werden, deutlich an Dynamik gewonnen. Während von 2003 bis 2009 ein Anstieg von 5,4 Prozentpunkten festzustellen ist, ist der Anteil zwischen 2009 und 2014 mit 19,4 Prozentpunkten viermal so stark gestiegen. Der Anteil der Schüler, die in Förderschulen unterrichtet werden, ist zu-rückgegangen. Der Anteil der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf ins-gesamt hat jedoch über alle Jahre hinweg zugenommen.

Page 54: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

54

Abbildung 2-2: Verteilung der Schüler mit sonderpädagogischer Förderung auf all-gemeinbildende Schulen 2014/2015, prozentuale Anteile an allen Schülern mit son-derpädagogischem Förderbedarf.

Quelle: MSW; eigene Darstellung

Aktuelle rechtliche Situation.

Das Erste Gesetz zur Umsetzung der UN-BRK in den Schulen (9. Schulrechtsände-rungsgesetz vom 5. November 2013) trat am 1. August 2014 in Kraft. Wesentliche Regelungen des Gesetzes sind:

• Gemeinsames Lernen von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung wird zum gesetzlichen Regelfall. Eltern ei-nes Kindes mit festgestelltem Bedarf einer sonderpädagogischen Unterstützung müssen nicht mehr selbst für ihr Kind eine allgemeine Schule suchen.

• Die Schulaufsicht benennt bei Feststellung eines Bedarfs an sonderpädagogi-scher Unterstützung in Abstimmung mit dem Schulträger mindestens eine allge-meine Schule, die für das Gemeinsame Lernen personell und sächlich ausgestat-tet ist. Dies wird sukzessive eingeführt, beginnend mit der Einschulung und dem Übergang in Klasse 5 der weiterführenden Schule.

• Nur in begründeten Ausnahmefällen kann hiervon abgewichen werden („Umkehr der Beweislast“).

• Eltern haben weiterhin das Recht, eine Förderschule zu wählen, wenn ein ent-sprechendes Angebot vorhanden ist. (Hervorgehend aus Schulkonsens NRW Jahr 2011).

Das 9. Schulrechtsänderungsgesetz umfasst nicht das Recht auf den Besuch einer von den Eltern gewünschten konkreten allgemeinen Schule, sondern betrifft zu-nächst das Recht, überhaupt ein Angebot des Gemeinsamen Lernens zu erhalten.

Bildung und Ausbildung.

Page 55: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

55

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Dabei steht auch dieses Recht unter einem Realisierungsvorbehalt. So kann die Schulaufsicht die Förderschule statt der allgemeinen Schule oder die allgemeine Schule statt der Förderschule festlegen, wenn „die personellen und sächlichen Vor-aussetzungen am gewählten Förderort nicht erfüllt sind und auch nicht mit vertret-barem Aufwand erfüllt werden können“ (§20 Abs. 4 SchulG).

Kritiker des 9. Schulrechtsänderungsgesetzes sehen im Nebeneinander von Schu-len des Gemeinsamen Lernens und Förderschulen eine problematische Doppel-struktur. Solche Einwände sind nicht unberechtigt. Sie übersehen aber, dass einige Eltern für ihr Kind mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung weiterhin den Besuch einer Förderschule wünschen. Auch gilt es den Prozesscharakter auf dem Weg zu einem inklusiven Schulsystem zu sehen, da manche Eltern erst die Entwicklung beobachten.

Zeitgleich mit dem Ersten Gesetz zur Umsetzung der UN-BRK ist die Verordnung über die Mindestgrößen der Förderschulen und der Schulen für Kranke vom 16. Oktober 2013 erlassen worden.

Unter die erforderliche Mindestgröße fallen bis auf wenige Ausnahmen allein die För-derschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen. Fällt eine Förderschule unter die erforderlicheMindestgröße,musssie jedochnichtzwangsläufiggeschlossenwer-den. Vielmehr können die Schulträger Förderschulen zusammenlegen und Schulen anTeilstandortenführen.GeradediesehäufigkritisierteVerordnungwurdevonder Monitoring-Stelle als eine der wenigen strukturellen Maßnahmen auf dem Weg zur inklusiven Schulwelt in Deutschland gelobt. Es zeigt, wie schwierig und kleinteilig der Weg ist.

Der Bestand der Förderschulen mit den Förderschwerpunkten Hören und Kom-munikation, Sehen, Geistige Entwicklung sowie körperliche und motorische Ent-wicklung ist derzeit stabil. Das Gesetz zur Förderung kommunaler Aufwendungen für die schulische Inklusion vom 9. Juli 2014 ist das Ergebnis einer Vereinbarung zwischen Land und Kommunen. Vorangegangen war der Streit darüber, ob das 9. Schulrechtsänderungsgesetz eine Ausgleichspflicht des Landes gegenüber den Kommunen begründet: Führt die Übertragung neuer oder die Veränderung beste-hender und übertragbarer Aufgaben zu einer wesentlichen Belastung der davon betroffenen Gemeinden oder Gemeindeverbände, muss das Land dafür einen ent-sprechendenfinanziellenAusgleichschaffen(Artikel78Landesverfassung).

Beide Seiten verständigten sich auf Leistungen des Landes, die in § 1 und § 2 des Gesetzes geregelt sind. Für wesentliche Belastungen der Gemeinden und Kreise alsSchulträgergewährtihnendasLandbeidenSachkosteneinenjährlichenfinan-ziellen Ausgleich in Höhe von 25 Millionen Euro nach einem vereinbarten Vertei-lungsschlüssel (Belastungsausgleich nach § 1 des Gesetzes). Zur Förderung weite-rer kommunaler Aufwendungen für die schulische Inklusion leistet das Land eine freiwillige jährliche Inklusionspauschale. Hierfür wendet das Land jährlich 10 Millio-nenEuroauf.DieInklusionspauschaledientderMitfinanzierungderUnterstützung der Schulen durch nicht lehrendes Personal (§ 2 des Gesetzes). Auch dafür gibt es

Page 56: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

56

einen vereinbarten Verteilungsschlüssel. Die Höhen des Belastungsausgleichs und der Inklusionspauschale werden regelmäßig überprüft und bei Bedarf angepasst.

Das Ministerium hat durch Verordnung vom 29. September 2014 die Ausbildungs- und Prüfungsordnung sonderpädagogischer Förderung (AO-SF) aus dem Jahr 2005 an das 9. Schulrechtsänderungsgesetz angepasst. Die Verordnung regelt die Voraussetzungen und das Verfahren zur Feststellung des Bedarfs an sonderpäd-agogischer Unterstützung, die Entscheidung über Förderschwerpunkte und För-derorte. Sie ist Ausbildungs- und Prüfungsordnung an allen Lernorten, an welchen sonderpädagogischeFörderungstattfindet.DieVerordnungbeschreibtfürdieziel-differenten Förderschwerpunkte (Lernen und Geistige Entwicklung) die Bildungs-gänge und regelt den Stufenaufbau der Förderschulen und der Schulen für Kranke.

„Qualität des Gemeinsamen Lernens“. Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden in allgemeinen Schulen, die als Orte des Gemeinsamen Lernens eingerichtet sind, unterrichtet. Hier konn-ten die Anteile der Kinder mit Förderbedarf in den letzten Jahren kontinuierlich ge-steigert werden. Während 2005 insgesamt gerade 11,6 % der Kinder im Gemeinsa-men Unterricht einen Förderbedarf hatten, sind es 10 Jahre später bereits 34,6 %.

Abbildung 2-3: Entwicklung des Anteils der Schülerinnen und Schüler mit sonder-pädagogischem Förderbedarf im Gemeinsamen Unterricht.

0  

10  

20  

30  

40  

50  

2005   2009   2010   2011   2012   2013   2014  

Primarstufe   Sek  I  

Primarstufe  und  Sek  I   Sek  II  

Insgesamt  

Quelle: MSW; eigene Darstellung

Das Schulgesetz NRW bestimmt, dass das Gemeinsame Lernen durch Formen der inneren und äußeren Differenzierung realisiert wird. Es lässt mit dem Begriff des Gemeinsamen Lernens keinen Zweifel am Ziel der inneren Differenzierung. Viele Schulen haben sich auf den Weg gemacht, dieses Ziel umzusetzen.

DieflankierendenMaßnahmenzumSchulgesetzweisenaufeinVerständnisdes gemeinsamen Lernens hin, welches sonderpädagogische Förderung als subsidiär ausweist. Das Gemeinsame Lernen steht in gemeinsamer Verantwortung der Lehr-kräfte der allgemeinen Schule und der sonderpädagogischen Lehrkräfte.

Bildung und Ausbildung.

Page 57: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

57

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Durch die mit dem Schuljahr 2014/2015 eingeführte neue Form der Ressourcen-steuerung will der Gesetzgeber die Verantwortung der allgemeinen Schule für Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen bzw. mit einem Bedarf an sonderpä-dagogischer Unterstützung stärken. Um die Fachlichkeit der sonderpädagogischen Förderung zu gewährleisten und den allgemeinen Schulen des Gemeinsamen Ler-nens Kontinuität und Stabilität in ihren sonderpädagogischen Unterstützungsan-geboten zu ermöglichen, strebt die Landesregierung an, Lehrkräfte für Sonderpä-dagogik als einen festen Teil des Kollegiums der allgemeinen Schule zu etablieren.

Die neue Art der Ressourcensteuerung – besonders für den großen Bereich der Lernentwicklungsstörungen – entspricht den Anforderungen an ein inklusives Schulsystem eher als die frühere Form der Ressourcenzuweisung der Lehrerstel-len. Vom Schuljahr 2014/2015 an werden alle Schülerinnen und Schüler mit einem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung, die an allgemeinen Schulen un-terrichtet werden, beim Grundstellenbedarf für die Lehrkräfte dieser Schulen be-rücksichtigt. Die Stellen für die sonderpädagogische Förderung kommen additiv – gewissermaßen als Mehrbedarf – hinzu. Allein für diese – alle Schulformen und Schulstufen betreffende – Umstellung wurden im Haushalt 2014 rund 1.000 zu-sätzliche Lehrerstellen zur Verfügung gestellt. Die Zahl der zusätzlichen Stellen für die Inklusion, die im Schuljahr 2012/2013 bei 1.215 lag, wird bis 2017 auf 3.215 er-höht. Einer möglichen Verdoppelung des Integrationsanteils steht dann weit mehr als eine Verdoppelung der zusätzlichen Lehrerstellen zur Seite.

Inklusion, eine Herausforderung auch für Lehrkräfte.

Der Weg zu einem inklusiven Schulsystem fordert von vielen Lehrkräften die Ak-zeptanz einer veränderten Haltung zu ihrem Beruf und eines anderen Blicks auf ihr Aufgabenfeld. Dies ist eine große Herausforderung, die Fortbildung notwendig macht. Als besondere Maßnahme hat die Landesregierung das Fortbildungsange-bot „Auf dem Weg zur inklusiven Schule“ installiert: Schulen können dieses Ange-bot als schulinterne Fortbildung in Anspruch nehmen, zuständig hierfür sind die Kompetenzteams vor Ort in den Schulämtern. Landesweit wurden bislang 300 Mo-deratorinnen und Moderatoren ausgebildet, weitere folgen. Viele Schulen haben dieses Angebot bereits angenommen und bearbeiten ihre Fragestellungen in Be-zug auf das Gemeinsame Lernen von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Be-hinderungen. Insgesamt haben im Schuljahr 2014/2015 ca. 2.107 Fortbildungstage mit etwa 22.500 Teilnehmerinnen und Teilnehmern zum Thema Inklusion stattge-funden.

In Nordrhein-Westfalen wird auch die Lehrerausbildung an die Herausforderung der Entwicklung eines inklusiven Schulsystems quantitativ und qualitativ angepasst: Bis 2018 entstehen 2.300 neue Studienplätze; zu den bisherigen drei universitären Ausbildungsorten (Dortmund, Köln und Bielefeld) kommen mit Wuppertal, Pader-born und Siegen drei Neue hinzu. Inhaltlich werden zukünftig in allen Lehrämtern Basiskompetenzen der inklusiven Bildung vermittelt. Für diese Veränderungen in-vestiert das Land im Zeitraum 2013 bis 2018 insgesamt etwa 70 Millionen Euro.

Page 58: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

58

„Schulabschlüsse als Maß der Inklusion“.

Das Bildungssystem in NRW ist im Grundsatz auf Durchlässigkeit angelegt. Auch im Bereich der sonderpädagogischen Förderung ist ein Wechsel des Bildungsgangs prinzipiell möglich, wovon aber nur in wenigen Fällen Gebrauch gemacht wird. Ei-gentlich ist es schon seit 2005 geboten, jedem Kind unabhängig vom Besuch einer Förderschule jeden Schulabschluss zu ermöglichen, der seinen Fähigkeiten ent-spricht.

Die Kritik, dass durch eine frühzeitige Festlegung eines zieldifferenten Bildungs-gangs die weiteren Lebenschancen an sozialer und beruflicher Teilhabe einge-schränkt werden, richtet sich nicht ausschließlich an das Schulsystem. Sie sind eine Aufforderung zu inklusiven Entwicklungen in außerschulischen Bereichen wie Arbeit, Freizeit und Wohnen, welche Absolventinnen und Absolventen zieldifferen-zierter Bildungsgänge adäquate Möglichkeiten der Teilhabe an Arbeit sowie gesell-schaftliche und kulturelle Teilhabe in größerem Maße als bisher ermöglicht.

Bislang wurde über den Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung ausschließ-lich durch Verwaltungsakt entschieden. Dies war notwendig, um den Schulen zu-sätzliche Lehrerstellenanteile für die sonderpädagogische Förderung zuweisen zu können. Das heißt: Nur mit dieser Zuschreibung eines Förderbedarfs wurden zu-sätzliche Ressourcen (zum Beispiel durch eine bessere Schüler-Lehrer-Relation im Rahmen der sonderpädagogischen Förderung) bereitgestellt. Die Zuschreibung ei-nes sonderpädagogischen Förderbedarfs wurde von den Betroffenen und ihren El-ternallerdingshäufigalsstigmatisierendempfunden.Dasgaltinsbesonderefürdie Förderschwerpunkte Lernen, emotionale und soziale Entwicklung sowie Sprache. Wurde deshalb auf eine entsprechende Zuschreibung verzichtet, fehlten den Schu-len für eine – auch präventive – sonderpädagogische Förderung die erforderlichen Ressourcen. In der Fachsprache wird dies als „Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma“ bezeichnet: Ohne Zuschreibung (Etikettierung) wurden keine zusätzlichen Ressour-cen (Lehrerstellen) bereitgestellt; war die Förderung erfolgreich und wurde die Eti-kettierungaufgehoben,fielenauchdiezusätzlichenLehrerstellenweg.

Um dieses Dilemma zu lösen, hat sich die Landesregierung entschieden, für den Bereich der sonderpädagogischen Förderschwerpunkte Lernen, Sprache sowie emotionale und soziale Entwicklung eine neue systemisch orientierte Ressourcen-steuerung vorzunehmen. Dies ist ein komplexer Umsteuerungsprozess, der sowohl ein intensiv koordiniertes Verwaltungshandeln als auch ein Umdenken in den Köp-fen von Eltern, Lehrkräften und Schulaufsicht aller Schulformen erfordert.

Mit Beginn des Schuljahres 2014/2015 sind in allen Regionen (Schulamtsbezir-ken) des Landes regionale Stellenbudgets für die sonderpädagogische Förderung im Bereich der Lern- und Entwicklungsstörungen eingeführt worden. In der Folge stehen in allen Regionen im Rahmen des Stellenbudgets Lehrkräfte für sonderpä-dagogische Förderung im Bereich der Lern- und Entwicklungsstörungen zur Verfü-gung, unabhängig von der förmlichen Feststellung eines Bedarfs an sonderpädago-gischer Unterstützung bei Schülerinnen und Schülern dieser Region. Die Frage, ob

Bildung und Ausbildung.

Page 59: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

59

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

eine Schülerin oder ein Schüler einen Bedarf an sonderpädagogischer Unterstüt-zung hat, kann damit auch niedrigschwelliger durch Lehrkräfte auf der Basis schul-fachlicher Diagnostik und Lernausgangslagenbeschreibung beantwortet werden. Eine solche schulinterne Diagnostik kann dazu führen, dass auch Schülerinnen und Schüler eine zum Teil präventive sonderpädagogische Förderung erhalten, bei denen ein Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung nicht formal festgestellt worden ist.

Da an Schulen des Gemeinsamen Lernens auch sonderpädagogische Lehrkräfte vorhanden sind, ist die fachliche Unterstützung gewährleistet. Eine Feststellung des Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung ist im Bereich der Lernent-wicklungsstörungen besonders dann bedeutsam, wenn ein zieldifferenter Bil-dungsgang für eine Schülerin festgelegt werden muss.

Berufsausbildung

Besteht aufgrund der Art und Schwere der Beeinträchtigung nicht die Möglichkeit, eine reguläre Berufsausbildung zu absolvieren, können spezielle Ausbildungsrege-lungennach§66BBiGbzw.§42mHwOAnwendungfinden.Hierdurchsollenan-erkannte Ausbildungsberufe für Menschen mit Beeinträchtigung geöffnet werden.

Abbildung 2-4: Neuabschlüsse von Ausbildungsverträgen in „Berufen für Menschen mit Behinderung“ absolut und als Anteil an allen Neuabschlüssen 2009 bis 2013

 2  508  

 2  256    2  163    2  121  

 1  998  2,1%  

1,8%  

1,7%   1,7%   1,7%  

0,0%  

0,5%  

1,0%  

1,5%  

2,0%  

2,5%  

3,0%  

     

   500  

 1  000  

 1  500  

 2  000  

 2  500  

 3  000  

2009   2010   2011   2012   2013  

Neu  abgeschlossene  Ausbildungsverträge  nach  §  66  BBiG  

Anteil  an  allen  Neuabschlüssen  

Quelle: IT.NRW – Berufsbildungsstatistik, eigene Darstellung

Die Anzahl der Neuabschlüsse von Ausbildungsverträgen in Berufen für Menschen mit Behinderung nach § 66 BBiG absolut und als Anteil an allen Neuabschlüssen sowie der Anteil an allen neu abgeschlossenen Ausbildungs-verträgen ist zwischen 2009 und 2013 zurückgegangen.

Page 60: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

60

Abbildung 2-5: Verteilung nach Zuständigkeitsbereichen (Handwerk, Landwirt-schaft, Industrie und Handel, Hauswirtschaft, öffentl. Dienst, freie Berufe bei neu abgeschlossenen Ausbildungsverträgen in „Ausbildungsberufen für Menschen mit Behinderung“ und „regulären Ausbildungsberufen“.

51%  

62%  

21%  

25%  

15%  

2%  

0%  

2%  

0%  

8%  

13%  

0%  

Berufsausbidlungen  für  Menschen  mit  Behinderung  

Reguläre  Berufsausbildungen  

Industrie  und  Handel   Handwerk  

LandwirtschaD   öffentlicher  Dienst  

freie  Berufe   sonsIge  (u.a.  städIsche  HauswirtschaD)  

Quelle: IT.NRW – Berufsbildungsstatistik, eigene Darstellung

Die Verteilung der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge auf die Zuständig-keitsbereiche unterscheidet sich zwischen den Berufen für Menschen mit Behin-derung und den regulären Berufsausbildungen. Unter den regulären Berufsausbil-dungen dominieren das Handwerk sowie Industrie- und Handel mit insgesamt über 87 %. Bei den Berufsausbildungen für Menschen mit Behinderung ist mit 72 % die-se Gruppe deutlich kleiner. Dafür sind mit insgesamt 28 % im Vergleich zu 4 % bei den regulären Ausbildungsberufen deutlich mehr Personen im Bereich Landwirt-schaft und in den sonstigen Berufen, worunter zum Beispiel auch die städtische Hauswirtschaft fällt, angestellt.

Bildung und Ausbildung.

Page 61: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

61

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Page 62: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

62

Arbeit spielt eine wichtige Rolle in der persönlichen Entwicklung und trägt ganz wesentlich zur Zuweisung des sozialen Status bei. Sie strukturiert den Tag und er-möglicht soziale Kontakte. Für das Leben in einer Gesellschaft ist dies von zentraler Bedeutung.

Wer einer Erwerbsarbeit nachgeht, hat ein eigenes Einkommen. Dieses Geld er-möglicht Handlungsspielräume und somit eine selbstständige Lebensführung. Wer über ausreichendes Einkommen verfügt, ist darüber hinaus eher materiell unab-hängig, kann Rücklagen bilden und so für soziale Absicherung sorgen.

Eine Exklusion aus der Arbeitswelt hat erhebliche Folgen. Arbeitslosigkeit kann zu psy-chischen und somatischen Belastungsproblemen, sozialem Rückzug, familiärer Be-lastungsowiezuProzessenderDisqualifizierungführen.Darausresultiertregelmäßig Armut und das Risiko, dauerhaft von staatlichen Transferleistungen abhängig zu sein.

Grundsätzlich ist die Teilhabe an Erwerbsarbeit abhängig vom Erhalt der Beschäfti-gungsfähigkeit, zum Beispiel von der Anpassung an sich wandelnde Anforderungen der Arbeitswelt. Das Vorhandensein einer barrierefreien Arbeitsumgebung ist des-halb nicht nur für Menschen mit Beeinträchtigung von großer Bedeutung, sondern für alle Arbeitnehmer und in letzter Konsequenz auch für die Unternehmen, die auf Fachkräfte angewiesen sind. Hierzu zählt nicht nur der Abbau von baulichen Barri-eren, sondern auch beispielsweise der Abbau von Barrieren oder Vorurteilen in den Köpfen der Menschen.

3. Erwerbsarbeit und Einkommen.

Erwerbsarbeit und Einkommen.

Page 63: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

63

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Um Chancengleichheit für Menschen mit Behinderung herzustellen, ist in § 71 Abs. 1SGB IXdiePflichtderArbeitgeberzurBeschäftigungschwerbehinderterMen-schen festgeschrieben. Diese Pflicht gilt für Unternehmen, die im Jahresdurch-schnitt mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigen. Beschäftigen sie keinen Menschen mitSchwerbehinderung,sindsiezurZahlungeinerAusgleichsabgabeverpflichtet. Die Ausgleichsabgabe ist für im Gesetz festgelegte Zwecke zu verwenden, wie zum Beispiel technische Arbeitshilfen, um Menschen mit Behinderung die Teilhabe an Arbeit zu ermöglichen. Sie kommt also direkt den betroffenen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zugute.

Ein besonderes Instrument zur Förderung der Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sind Integrationsprojekte (§§ 132 ff. SGB XI). Dies sind Unternehmen (Integrationsbetriebe) oder Abteilungen von Unternehmen (Integrationsabteilun-gen), die sich auf dem freien Markt behaupten müssen und somit Arbeitsplätze des allgemeinen Arbeitsmarktes schaffen. Sie beschäftigen mindestens 25 – 50 % Menschen mit Behinderung und werden aus Mitteln der Ausgleichsabgabe unter-stützt. Das Konzept ist ein positives Beispiel für Inklusion auf dem Arbeitsmarkt, das gestärkt werden muss.

Grundsätzlich muss das Ziel (vgl. auch Art. 27 UN-BRK) sein, dass alle Menschen – mit oder ohne Beeinträchtigung - den gleichen ungehinderten Zugang zum allgemei-nen Arbeitsmarkt haben. Erst dann kann von einem „inklusiven“ Arbeitsmarkt ge-redet werden.

Aktuell ist die Situation aber so, dass die Beschäftigungsentwicklung der Menschen mit Beeinträchtigung von der positiven Entwicklung der letzten Jahre am allgemei-nen Arbeitsmarkt abgekoppelt ist. Zudem kritisiert die Monitoring-Stelle die stetig steigende Zahl an Werkstattplätzen sowie die zu geringen Bemühungen zur Rück-führung der Werkstattberechtigten auf den ersten Arbeitsmarkt (Quote nur 1 %).

Was wir ändern müssen. Nordrhein-Westfalen ist von einem inklusiven Arbeitsmarkt weit entfernt. Die Er-werbstätigenquote von Menschen mit Beeinträchtigung ist gering. Zudem ist die Erwerbslosigkeit von der positiven Entwicklung des Arbeitsmarktes abgekoppelt. Die Dauer der Arbeitslosigkeit der Menschen mit Behinderung ist deutlich länger im Vergleich zu den Menschen ohne Behinderung. Hinzu kommt, dass zu einem großenTeileineBeschäftigungunterdereigentlichenQualifikationerfolgt.DieFol-gen sind deutlich. Für die Menschen mit Behinderung bestehen geringere Chancen der Vermögensbildung. Schließlich ist unter den Menschen mit Beeinträchtigung eine große Zahl an Personen armutsgefährdet, was zu einer erhöhten Inanspruch-nahme von Sozialleistungen führt. Hinzu kommt, dass die Zahl der Personen die vor dem Renteneintritt aufgrund voller Erwerbsminderung Grundsicherung beziehen in den letzten Jahren stetig ansteigt.

Page 64: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

64

• Eine inklusive Gestaltung des Arbeitsmarktes hat gesamtgesellschaftlich deut-lich positive Effekte, da die Folgekosten der Langzeitarbeitslosigkeit immens sind. Um dies zu erreichen, müssen Arbeitgeber dazu angehalten werden, sich dieser Aufgabe zu stellen und die Programme und Unterstützungsleistungen zur Um-stellung des Arbeitsmarktes anzunehmen, statt es sich durch Zahlung der Aus-gleichsabgabe einfach zu machen.

• Kritisch ist jedoch, dass schon jetzt die Einnahmen der Ausgleichsabgabe nicht ausreichen, umden finanziellenBedarf der Integrationsämter zu decken.Dies liegt an der Höhe der Abgabe, aber auch daran, dass Verstöße gegen die Rege-lung nicht ausreichend durch die verfolgende Stelle (Arbeitsamt) geahndet wer-den können. Problematisch ist zudem der durch diese Zuständigkeit bestehende Interessenkonflikt:DieArbeitsagentursolldieArbeitgeberüberwachenundbei diesen gleichzeitig darum werben, Menschen mit Beeinträchtigung einzustellen. Hier zeigt sich zwingender Handlungsbedarf.

Die Zahlen an Beschäftigten in den Werkstätten nehmen stetig zu. Ein wesentlicher Grund für diese Entwicklung ist das Ausscheiden aus dem ersten Arbeitsmarkt in-folgeeinerpsychischenErkrankung.DieseMenschenwerdenimmerhäufigerzur Wiedereingliederung in Werkstätten untergebracht.

Die Werkstätten haben die Aufgabe, Menschen mit Behinderung, die auf dem ers-ten Arbeitsmarkt nicht integrierbar sind, das Recht auf Arbeit zu gewährleisten. Für Menschen mit psychischen Erkrankungen muss hingegen in der Regel der erste Arbeitsmarkt geöffnet werden. Der Arbeitsmarkt muss nach humanen Maßstäben so umgestaltet werden, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen weiter oder nach Genesung wieder arbeiten können und sich dabei ihr Gesundheitszustand nicht verschlechtert.

Ein weiterer kritischer Punkt ist die Anrechnung der Eingliederungshilfe und ande-rer Leistungen auf das Einkommen und Vermögen der Betroffenen. Diese wirkt sich negativaufdasberuflicheFortkommenundangemesseneKarrierenaus,daBe-troffene die Anerkennung für die geleistete Arbeit vorenthalten wird. Jede Gehalts-erhöhung aufgrund von guter Leistung landet in der Staatskasse. Dies gilt auch für die Einkommen der Ehegatten. Menschen mit Assistenzbedarf und ihre Familien werden hier enorm benachteiligt, denn hier werden erwachsene Menschen mit ei-nem eigenen Einkommen staatlich reglementiert. Wer zum Beispiel für ein neues Auto oder eine größere Anschaffung sparen möchte, muss sich dies vom Sozialamt erst genehmigen lassen.

Erwerbsarbeit und Einkommen.

Page 65: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

65

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

• Das langfristige Ziel muss sein, Menschen aus dem Fürsorgegedanken herauszu-holen und somit Teilhabe zu ermöglichen. Die bisher im SGB XII §§ 53 ff. und in der Eingliederungshilfeverordnung geregelten Leistungen der Eingliederungshilfe und die in den §§ 55 ff. SGB IX geregelten Leistungen zur Teilhabe an der Gemein-schaft sollten in einem offenen Katalog zu Leistungen zur sozialen Teilhabe als Kapitel 7 des SGB IX zusammengefasst und um weitere notwendige Leistungen ergänzt werden. Als Ausgleichsleistungen müssen sie langfristig unabhängig von Einkommen und Vermögen gewährt werden.

Diese bundesgesetzliche Regelung zu ändern, ist eine der Hauptforderungen der Betroffenen an das Bundesteilhabegesetz.

Page 66: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

66

Unikate, die oft kopiert werden sollten. Über Wege in Beschäf-tigung für Menschen mit psychischer Beeinträchtigung.

Interview mit Vertretern des Gemeinnützigen Vereins für die Rehabilitation psychisch Behinderter Steinfurt e.V.

Außer dem coolen Second-Hand-Shop im Städtchen Lengerich, der jeder Großstadt Ehre machen würde, gibt es im REHA-Verein („Gemeinnütziger Verein für die Rehabili-tation psychisch Behinderter Steinfurt e. V.“) noch weitere bemerkenswerte Unikate: Klaus Hahn zum Beispiel, den Vorstands-Vorsitzenden, der seit der Gründung des Ver-eins im Jahr 1982 dabei ist. Der Verein begleitet und unterstützt Menschen mit psy-chischen Erkrankungen und Abhängigkeitserkrankungen und ihre Angehörigen, dem individuellen Bedarf entsprechend, in allen Lebensbereichen.

Stabilisierung braucht vor allem Zeit.

Zu den stark nachgefragten Angeboten des Vereins zählen Beratung, eine Tagesstätte, „Ambulantes Betreutes Wohnen“ und die Begleitung auf dem Weg in die Arbeitswelt, mit unterschiedlichen Beschäftigungsmöglichkeiten. Klaus Hahn wünscht sich, dass

Interview Rehaverein

Page 67: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

67

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

im Zusammenhang mit dem Ziel der Ausbildung und Berufstätigkeit von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen und Suchterkrankten mehr volkswirtschaftlich und nicht vorwiegend betriebswirtschaftlich gedacht wird. Seine langjährige Erfah-rung lässt ihn hervorheben: „Das Wichtigste für ihre Stabilisierung ist, dass sie sich dafür die Zeit nehmen können, die sie brauchen.“ Die Situation für die psychisch Kran-ken habe sich erheblich verschlechtert, weil die entsprechenden Programme der Ar-beitsverwaltung weggebrochen seien. Klaus Hahn: „Die Betroffenen haben nur noch die Wahl zwischen Verrentung oder Werkstatt. Benötigt werden aber längerfristige Programme in ausreichender Zahl, die auch auf Restfähigkeiten setzen und mobili-sierendwirken.BeiunskönnendieLeuteherausfinden,welchesPotenzialsiehaben.“

Dafür stellt der REHA-Verein unterschiedliche Beschäftigungsangebote in Zuver-dienst-Gruppen sowie Werkstattarbeitsplätze eines Kooperationspartners bereit und sucht mit den Betroffenen gemeinsam Wege auf den ersten Arbeitsmarkt. Das Ange-bot von Zuverdienst-Beschäftigung wird durch entsprechende Budgets des Kreises Steinfurtermöglicht.DerLWLfinanziertebenfallsZuverdienst-Arbeitsplätze.ImZu-verdienst üben psychisch kranke Menschen regelmäßig für einige Stunden in der Wo-che verbindlich eine Tätigkeit aus. Den „Zuverdienst“ daraus erhalten sie zusätzlich zur Rente oder der Sozialhilfe. Er soll in seiner bescheidenen Höhe einen Motivations-anreiz für regelmäßige Arbeit, jedoch keinen Lohnersatz darstellen.

Profis mit Herz.

Ein weiteres Unikat des REHA-Vereins verkörpert Ute Donnermeyer, die quicklebendi-ge Sozialarbeiterin. Man muss sie nicht erst fragen, was sie an ihrem Beruf liebt. Wenn man sie zum Beispiel über Samir sprechen hört, weiß man, dass bei ihr die Menschen im Mittelpunkt stehen, die sie berät und begleitet. Der von Abschiebung bedrohte, traumatisierte Flüchtling hat im Rahmen eines Beschäftigungsangebots des REHA-Vereins Deutsch gelernt. „Heute ist er ein perfekter Handwerker“, freut sich die Sozi-alarbeiterin. Er arbeitet jetzt auf dem ersten Arbeitsmarkt - ohne Betreuung.

Ute Donnermeyer hat die pädagogische Leitung des UNIKAT-Second-Hand-Shops inne. In einer Seitenstraße der romantischen Innenstadt von Lengerich gelegen, be-circt der Shop mit fröhlich bunten Schaufenstern auch verwöhnte Flaneure zum Gu-ckenundEintreten.ZwölfMenschenmitpsychischerBeeinträchtigungfindenhierZu-verdienst-Arbeitsplätze. Die ersten fünf Jahre lief der Laden mit einem Zuschuss der Aktion Mensch. „Nach Auslauf der Förderung seit April 2014 haben wir die politischen Parteien eingeladen. Aber eine positive Rückmeldung für alternative Finanzierungs-möglichkeiten haben wir trotzdem nicht bekommen”, beschreibt Ute Donnermeyer den steinigen Weg aller kreativen Projektentwickler. Der REHA-Verein wünscht sich eine Diskussion mit den Ansprechpartnern auf politischer Ebene. Im Ergebnis sollen alternative Fördermöglichkeiten das UNIKAT als erprobten und tragfähigen Baustein für Beschäftigung sichern.

Page 68: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

68

Das Team, die Kundschaft und das Arbeitsklima.

Seit fünf Jahren arbeitet Andrea Hesselmann im Rahmen eines LWL-Zuverdienst-Ar-beitsplatzes in dem Second-Hand-Shop. Die Mutter von vier schon erwachsenen Kin-dern kann sich ihren Alltag ohne den guten Kontakt im Team und zu der zahlreichen und durchaus anspruchsvollen Kundschaft gar nicht mehr vorstellen. Selbst schick und modebewusst, hat sie ein gutes Händchen für’s Verkaufen entwickelt und ist für diese Tätigkeit voll motiviert.

Das UNIKAT bietet Mode, Schmuck und Accessoires aus eigener Kollektion, gefertigt in der Unikat-Näherei unter der kreativen und geduldigen Leitung von Silvia Mathäa. Sehr begehrt bei den Kunden des Shops und auf den Märkten ist auch der originel-le Schmuck, der aus altem Silberbesteck in der eigenen UNIKAT-Schmuckwerkstatt hergestellt wird. Otto Müller ist dort der Meister des Materials und der künstlerischen Formen, von edel antik über verspielt barock bis schlicht modern. Der Witwer möch-te sich nach den vielen Jahren intensiver Tätigkeit als Unternehmer nicht in ein be-schauliches Rentnerdasein zurückziehen. Das bekomme ihm gar nicht gut, sagt er. Er arbeitet lieber mit jungen Leuten zusammen und gibt seine Erfahrungen an sie weiter. Seine perfekt ausgestattete und geordnete Werkstatt ist ein ebenso lebendiges, krea-tives Zentrum wie der Second-Hand-Shop gegenüber.

Vor mehreren Jahren an einer schweren Depression erkrankt, benötigt Andrea Hes-selmann nun seit zwei Jahren keine Medikamente mehr. Ihr Wunsch nach einer regel-mäßigen Beschäftigung, die ihren Möglichkeiten entsprach, wurde nach einem lan-gen Klinikaufenthalt wieder wach. Dass sie sich in einer Behinderten-Werkstatt nicht wohlfühlt, ist ihr aber schnell klar geworden. Nachdem sie UNIKAT besucht und Ute Donnermeyer ihr zu der Zuverdienst-Beschäftigung Mut gemacht hatte, sagte sie zu. Nach der Eingewöhnungszeit begann für sie ein kleines Wunder: Sie fühlt sich wieder gebraucht, ernst genommen und nicht mehr nur auf ihre Depression beschränkt. Nun wünscht sie sich für Menschen in vergleichbaren Situationen: „So etwas wie unser UNIKAT hier müsste es überall geben“. Gestärkt durch die gute Team-Atmosphäre, die professionelle Begleitung und die täglichen menschlichen Begegnungen auf Augen-höhe gewinnt sie ihrem Alltag immer wieder Freude ab, trotz der schwierigen Phasen, die es auch noch immer gibt. Denn sie kann sich darauf verlassen, in Krisen Unterstüt-zung und Verständnis zu erfahren.

Von Vera von Achenbach

Interview Rehaverein

Page 69: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

69

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Fakten: Erwerbsarbeit und Einkommen in NRW.

Erwerbstätigkeit

Abbildung 3-1: Erwerbstätigenquoten von Menschen mit und ohne Beeinträchti-gungen, nach Altersklassen.

60

44

86

73

0%

20%

40%

60%

80%

100%

35 bis 54 Jahre 55 bis 64 Jahre Alter in Jahren

Menschen mit Beeinträchtigungen

Menschen ohne Beeinträchtigungen

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG. Die Altersgruppe der 18- bis 34-Jährigen wird aufgrund geringer Fallzahlen bei den Menschen mit Beeinträchtigungen nicht ausgewiesen.

Die Erwerbstätigenquoten der Menschen mit Beeinträchtigung sind deutlich niedriger als die derjenigen ohne Beeinträchtigung. Insgesamt liegt die Erwerbstätigenquote bei Menschen mit Beeinträchtigungen bei 51 % und bei Menschen ohne Beeinträchtigun-gen bei 78 %. In der Altersgruppe der 35- bis 54-Jährigen liegt die Quote der Menschen mit Beeinträchtigung bei nur 60 % und somit um 26 Prozentpunkte unter der Quote der Menschen ohne Beeinträchtigung. Bei den 55- bis 64-Jährigen ist der Unterschied zwischen den Gruppen mit 29 Prozentpunkten noch deutlicher. Hier liegt die Erwerbs-tätigenquote der Menschen mit Beeinträchtigung nur noch bei 44 %.

Page 70: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

70

Tabelle 3-1: Erwerbstätigenquoten von Menschen mit und ohne Be- einträchtigungen, nach Alter, Geschlecht und Migrationshintergrund.

Menschen mit Beeinträchtigungen

Menschen ohne Beeinträchtigungen Alter in Jahren

Männer Frauen Männer Frauen 35 bis 54 60 % 61 % 90 % 83 % 55 bis 64 48 % 41 % 83 % 64 %

Insgesamt (18 bis 64) 54 % 48 % 83 % 73 %

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG. Die Altersklasse „18 bis 34 Jahre“ wird aufgrund geringer Fallzahlen bei den Menschen mit Beeinträchtigungen nicht ausgewiesen.

Werden die Erwerbstätigenquoten nochmals differenziert für Frauen und Männer, ergeben sich weitere Unterschiede zwischen den Gruppen der Menschen mit bzw. ohne Beeinträchtigung.

Interessant ist, dass die Unterschiede hinsichtlich der Erwerbstätigenquote zwischen den Geschlechtern bei den Menschen mit Beeinträchtigung geringer sind als bei den Menschen ohne Beeinträchtigung.

Insgesamt gilt jedoch, dass die Erwerbstätigenquote der Frauen sowohl bei den Men-schen mit und den Menschen ohne Beeinträchtigung unter derjenigen der Männer liegt, insbesondere in der Gruppe der 55- bis 64-Jährigen.

Abbildung 3-2: Erwerbstätige, die einen Beruf ausüben, der dem eigenen Ausbil-dungsniveau entspricht oder ein höheres Ausbildungsniveau erfordert.8

76

77

69

67

0% 20% 40% 60% 80% 100%

Erwerbstätige mit beruf lichem Abschluss

Erwerbstätige mit (Fach-) Hochschulabschluss

Menschen mit Beeinträchtigungen

Menschen ohne Beeinträchtigungen

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG. Bezogen auf alle derzeit erwerbstätigen18-bis64-Jährigen.BeruflichesBildungsniveauberechnetanhandderISCED-1997-Klassifikation.

8BeieinemberuflichenAbschlusssolltedieerforderlicheAusbildungimBerufmindestenseineBerufsausbildungsein.Bei

einem (Fach-)Hochschulabschluss sollte die erforderliche Ausbildung im Beruf ebenfalls ein (Fach-)Hochschulabschluss sein.

Erwerbsarbeit und Einkommen.

Page 71: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

71

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Nach der Frage, ob Menschen mit Beeinträchtigung überhaupt eine Beschäftigung haben,stelltsichdieFrage,inwieweitdieseBeschäftigungdereigenenQualifikation entspricht. Nur gut zwei Drittel der Menschen mit Beeinträchtigungen üben einen Beruf aus, der mindestens ihrem Ausbildungsniveau entspricht. Dies gilt für die Er-werbstätigen mit Hochschulabschluss genauso wie für die Erwerbstätigen mit beruf-lichem Abschluss. Bei den Menschen ohne Beeinträchtigungen liegt der Anteil bei beiden Gruppen jeweils bei knapp 80 %. Somit ist davon auszugehen, dass Men-schenmitBeeinträchtigungdeutlichhäufigereinenBerufausüben,derunterihrer Qualifikationliegt.AndieserStellewirdmöglicherweisebrachliegendesPotenzialin Zeiten des Fachkräftemangels rein aufgrund von Vorurteilen nicht erschlossen.

Abbildung 3-3: Zufriedenheit von Erwerbstätigen mit und ohne Beeinträchtigungen mit ihrer Arbeit - auf einer Skala von 0 („ganz und gar zufrieden“) bis 10 („ganz und gar unzufrieden“).

7

16

24

36

69

49

0% 20% 40% 60% 80% 100%

Menschen ohne Beeinträchtigungen

Menschen mit Beeinträchtigungen

Unzufrieden (0-3) Mittelmäßig zufrieden (4-6) Zufrieden (7-10)

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG. Bezogen auf alle derzeit erwerbstätigen 18- bis 64-Jährigen.

In obenstehender Abbildung 3-3 wird die Zufriedenheit der Erwerbstätigen mit ih-rer Arbeit dargestellt. Während 69 % der Menschen ohne Beeinträchtigung mit ih-rer Arbeit zufrieden sind, sind es bei den Menschen mit Beeinträchtigung nur 49 %. Unzufrieden mit der Arbeit sind bei den Menschen mit Beeinträchtigung mit 16 % sogar mehr als doppelt so viele.

Beschäftigung im Arbeitsbereich „Werkstatt für behinderte Menschen“.

Werkstätten für behinderte Menschen dienen der Eingliederung der Menschen in das Arbeitsleben. Hierbei geht es darum, Menschen das Recht auf Beschäftigung zu verwirklichen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance haben. Zudem soll die Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen den Übergang auf dem ersten Arbeitsmarkt erleichtern.

Page 72: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

72

Die Zahl der Empfänger/-innen von Leistungen in anerkannten Werkstätten für be-hinderte Menschen ist in den Jahren 2009 bis 2013 insgesamt von knapp 60.000 auf gut 65.000 angestiegen. Mit ca. 4.000 Beschäftigten war der Anstieg unter Männern fast doppelt so hoch wie bei den Frauen mit ca. 2.500.

Tabelle 3-2: Empfängerinnen und Empfänger von Eingliederungshilfe für behin-derte Menschen in anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen (6. Kapitel SGB XII).

Jahr männlich weiblich insgesamt 2009 34 395 24 580 58 975 2010 32 838 23 509 56 347 2011 34 457 24 331 58 788 2012 37 339 26 516 63 855 2013 38 160 27 096 65 256

Quelle: IT.NRW, eigene Darstellung

Erwerbslosigkeit und Arbeitssuche.

In der Erwerbslosenquote wird die Anzahl der Erwerbslosen, die in den letzten vier Wochen aktiv nach einer Beschäftigung gesucht haben, der Anzahl der Erwerbstä-tigen gegenübergestellt. Die Erwerbslosenquote ist somit ein deutlicher Indikator für den unfreiwilligen Ausschluss vom Arbeitsmarkt.

Die Erwerbslosenquote von Menschen mit Beeinträchtigungen ist mit 14 % mehr als doppelt so hoch wie die Erwerbslosenquote der Menschen ohne Beeinträchti-gung (6 %).

Abbildung 3-4: Erwerbslosenquoten von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen.

14

6

0%

10%

20%

Menschen mit Beeinträchtigungen

Menschen ohne Beeinträchtigungen

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG. Zu den Erwerbslosen zählen alle Personen, die nicht erwerbstätig sind, und in den letzten vier Wochen aktiv nach einer Stelle gesucht haben. Anteile bezogen auf alle 18- bis 64-Jährigen, die z.Z. erwerbslos oder erwerbstätig sind.

Erwerbsarbeit und Einkommen.

Page 73: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

73

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Abbildung 3-5: Bestand an Arbeitslosen mit und ohne Behinderung, in Tausend.

1.058  1.013  852   757   800   780   729   733   763   763  

47   47  45  

41   42  44  

46   46   47  49  

20  

25  

30  

35  

40  

45  

50  

55  

60  

-­‐  

200  

400  

600  

800  

1.000  

1.200  

2005   2006   2007   2008   2009   2010   2011   2012   2013   2014  

Menschen  ohne  Behinderung  

Menschen  mit  Behinderung  

Quelle: Bundesagentur für Arbeit, eigene Darstellung

Der Bestand an Arbeitslosen insgesamt hat sich zwischen 2005 und 2014 deut-lich reduziert. Er ist von über 1.000.000 auf gut 760.000 zurückgegangen. Diese Entwicklung gilt jedoch nicht für den Bestand an arbeitslosen Menschen mit einer anerkannten Behinderung.

Dieser ist, mit einer leichten Erholung zwischen 2007 und 2011, insgesamt von 2005 bis 2014 um gut 1.800 Personen auf 49.000 angestiegen. Aufgrund der vor-liegenden Zahlen der Erwerbstätigenquote und der Entwicklung des Bestandes an Erwerbslosen zeigt sich, dass Menschen mit Behinderung insgesamt von der allge-meinen positiven Entwicklung des Arbeitsmarktes abgehängt sind.

Tabelle 3-3: Selbsteinschätzung von Nichterwerbstätigen hinsichtlich der Mög-lichkeit,einegeeigneteStellezufinden.

Menschen mit Beeinträchtigungen

Menschen ohne Beeinträchtigungen

Leicht / 26 % Schwierig 47 % 55 % Praktisch unmöglich

42 % 19 %

Insgesamt 100 % 100 %

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG. Bezogen auf 18- bis 64-Jähri-gen, die derzeit nicht erwerbstätig sind und angeben, dass es „eher wahrscheinlich“, „wahrscheinlich“ oder „ganz sicher“ ist, dass sie in Zukunft (wieder) eine Erwerbstätigkeit aufnehmen wollen.

Dies spiegelt sich auch in der Einschätzung der Nichterwerbstätigen hinsichtlich derMöglichkeit,einegeeigneteStellezufinden.Währendnur19%derMenschen ohne Beeinträchtigung angeben, dass es praktisch unmöglich ist, eine geeignete Stellezufinden, istesbeidenMenschenmitBeeinträchtigungmit42%schon nahezu die Hälfte.

Page 74: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

74

Abbildung 3-6: Dauer der Arbeitslosigkeit von Menschen mit und ohne Behinderung, in Tagen.

631   613  

540   542   558   556   568   585  

815   791  

720  672   652   658   682   703  

300  

400  

500  

600  

700  

800  

900  

2007   2008   2009   2010   2011   2012   2013   2014  

Menschen  ohne  Behinderung  

Menschen  mit  Behinderung  

Quelle: Bundesagentur für Arbeit, eigene Darstellung.

Ein weiterer Beleg für die Schwierigkeiten von Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt ist die Dauer der Arbeitslosigkeit. Es ist deutlich ersichtlich, dass die Dauer der Arbeitslosigkeit in allen Jahren bei den Menschen mit Behinderungen erheblich über derjenigen der Menschen ohne Behinderung lag. Menschen mit Be-hinderung waren im Jahr 2014 in der Regel zwei Jahre auf Jobsuche, wohingegen es bei den Menschen ohne Behinderung 20 Monate waren.

Einkommen

Abbildung 3-7: Anteil der Menschen zwischen 18 und 64 Jahren mit und ohne Be-einträchtigungen, die ihren persönlichen Lebensunterhalt überwiegend aus eigenem Erwerbseinkommen9 bestreiten.

44

65

48

71

89 80

0%

20%

40%

60%

80%

100%

18 bis 34 Jahre 35 bis 54 Jahre 55 bis 64 Jahre Alter in Jahren

Menschen mit Beeinträchtigungen

Menschen ohne Beeinträchtigungen

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG.

9 Beim Erwerbseinkommen wird der Verdienst aus dem Haupt- und Nebenjob sowie aus Selbstständigkeit berücksichtigt.

Erwerbsarbeit und Einkommen.

Page 75: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

75

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Der Anteil der Menschen, die ihren Lebensunterhalt überwiegend aus eigenem Er-werbseinkommen bestreiten können, ist unter den Personen mit Beeinträchtigung deutlich geringer als der Anteil der Menschen ohne Beeinträchtigung. Insgesamt 55 % der Menschen mit Beeinträchtigungen und 81 % der Menschen ohne Beein-trächtigungen können ihren Lebensunterhalt überwiegend aus eigenem Einkom-men bestreiten. Dies gilt für alle Altersgruppen.

Nur in der mittleren Altersgruppe sind mehr als die Hälfte der Menschen mit Beein-trächtigung in der Lage, ihr Leben aus eigenem Erwerbseinkommen zu bestreiten. Bei denjenigen ohne Beeinträchtigung sind es fast 90 %.

Tabelle 3-4: Empfängerinnen und Empfänger von Grundsicherung bei voller Er-werbsminderung zwischen 18 und 65 Jahren (4. Kapitel SGB XII).

durchschnitt-licher Brutto-

bedarf in € Jahr männlich weiblich insgesamt 2009 47 331 39 796 87 127 641 2010 49 923 42 111 92 034 652 2011 52 876 44 032 96 908 674 2012 57 601 47 984 105 585 686 2013 62 527 50 545 113 072 715

Quelle: IT.NRW, eigene Darstellung

Wer wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zumindest drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein sowie zwischen 18 und 65 Jahren alt ist (§ 43 SGB VI) gilt als voll erwerbsgemindert und hat Anspruch auf Grundsicherung nach dem SGB XII. Im Jahr 2013 galt dies für 113.072 Personen. Seit dem Jahr 2009 ist die Anzahl der Empfängerinnen und Empfänger insgesamt um 30 % angestiegen. Die Zunahme gilt für Frauen und Männer gleichermaßen, wobei der Abstand zwi-schen den Geschlechtern mit zunehmender Tendenz bei rund 9.000 Fällen liegt.

Der durchschnittliche Bruttobedarf wird im Wesentlichen nach Regelsätzen er-bracht. Er ist über den betrachteten Zeitraum von 641 Euro um 12 % auf 715 Euro angestiegen.

Page 76: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

76

Abbildung 3-8: Anteil der Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen, deren Haus-halt in der Regel im Monat kein Geld zurücklegen kann.

49

39 37

39 36

30

0%

20%

40%

60%

18 bis 64 Jahre 65 bis 74 Jahre 75 und älter Alter in Jahren

Menschen mit Beeinträchtigungen

Menschen ohne Beeinträchtigungen

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG.

UmRücklagen für finanzielle Engpässe zu bilden oder auch beispielsweiseVer-mögen für das Alter anzusparen, ist es notwendig, überhaupt Geld zurücklegen zu können. Insgesamt leben 44 % der Menschen mit Beeinträchtigung und 38 % der Menschen ohne Beeinträchtigung in einem Haushalt, der in der Regel im Monat kein Geld zurücklegen kann. Während des erwerbsfähigen Alters kann immerhin knapp die Hälfte der Menschen mit Beeinträchtigung (49 %) kein Geld zurückle-gen. Bei den Menschen mit Beeinträchtigung liegt dieser Anteil mit 39 % nur bei einem guten Drittel. Der Abstand zwischen den Gruppen ist im Rentenalter etwas geringer. Die Möglichkeit, keine Rücklagen zu bilden, nimmt bei beiden Gruppen mit zunehmendem Alter ab. Insgesamt leben 44 % der Menschen mit Beeinträchti-gung und 38 % der Menschen ohne Beeinträchtigung in einem Haushalt, der in der Regel im Monat kein Geld zurücklegen kann.

FrauenmitBeeinträchtigunglebenhäufigerinHaushalten,diekeinGeldzurückle-gen können (50 %), als Männer mit Beeinträchtigungen (36 %). Menschen mit Mi-grationshintergrundundmitBeeinträchtigungenlebenhäufigerinHaushalten,die kein Geld zurücklegen können (62 %), als Menschen ohne Migrationshintergrund und Beeinträchtigungen (37 %).

Erwerbsarbeit und Einkommen.

Page 77: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

77

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Abbildung 3-9: Anteil der Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen, die in einem armutsgefährdeten Haushalt10 leben.

21 23 22

18

11 9

10 12

0%

20%

40%

35 bis 54 55 bis 64 65 bis 74 75 und älter Alter in Jahren

Menschen mit Beeinträchtigungen

Menschen ohne Beeinträchtigungen

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG. Die Altersgruppe der 18- bis 34-Jährigen wird aufgrund geringer Fallzahlen nicht ausgewiesen.

Insgesamt liegt der Anteil der Menschen ohne Beeinträchtigung, die in armutsge-fährdeten Haushalten leben, bei 14 %. Bei den Menschen mit Beeinträchtigung liegt der Anteil mit 22 % und somit fast einem Viertel deutlich darüber. Dies gilt für alle Altersgruppen. Besonders groß ist der Unterschied mit 14 Prozentpunkten in der Altersgruppe der 55- bis 64-Jährigen: Während der Anteil der armutsgefährdeten Haushalte unter den Menschen ohne Beeinträchtigung hier am geringsten ist, ist die Armutsgefährdung der Menschen mit Beeinträchtigung während des Erwerbs-lebens besonders hoch.

FrauenmitBeeinträchtigungenlebenhäufigerineinemarmutsgefährdetenHaus-halt (25 %), als beeinträchtigte Männer (18 %). Zudem leben Menschen mit Beein-trächtigungen,dieeinenMigrationshintergrundhaben,häufigerineinemarmuts-gefährdeten Haushalt (44 %), als Menschen mit Beeinträchtigungen, die keinen Migrationshintergrund haben (15 %).

10 Von einem armutsgefährdeten Haushalt wird gesprochen, wenn das bedarfsgewichtete Haushaltsnettoeinkommen weni-

ger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median) der Gesellschaft beträgt.

Page 78: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

78

Abbildung 3-10: Anteil der Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen, die sich gro-ße Sorge um ihre wirtschaftliche Situation machen.

31 28

11 16

14

8

0%

20%

40%

35 bis 54 Jahre 55 bis 64 Jahre 65 Jahre und älter Alter in Jahren

Menschen mit Beeinträchtigungen

Menschen ohne Beeinträchtigungen

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG. Die Altersgruppe der 18- bis 34-Jährigen wird aufgrund geringer Fallzahlen nicht ausgewiesen. Die Altersgruppen der Personen im Alter von über 65 Jahren wurden zusammengefasst.

DiezusammengetragenenFaktenüberdiefinanzielleSituationderMenschenmit Beeinträchtigungen spiegeln sich in der Frage, ob sich diese Menschen Sorgen über ihre wirtschaftliche Situation machen. Insgesamt machen sich 21 % der Menschen mit Beeinträchtigungen und 15 % der Menschen ohne Beeinträchtigungen große Sorgen um ihre wirtschaftliche Situation. In der Gruppe der 35- bis 54-Jährigen betrifft dies immerhin 31 % der Menschen mit Beeinträchtigung im Gegensatz zu 16 % bei den Menschen ohne Beeinträchtigung. Insgesamt besteht die Tendenz je-doch, dass der Abstand zwischen den Gruppen sowie das Niveau unter den Älteren niedriger ist.

Männer mit Beeinträchtigungen machen sich etwas seltener „keine Sorgen“ um ihre wirtschaftliche Situation (30 %) als Frauen mit Beeinträchtigungen (37 %). Menschen mit Beeinträchtigungen und einem Migrationshintergrund machen sich häufiger „großeSorgen“um ihrewirtschaftlicheSituation (32%)alsMenschen mit Beeinträchtigungen ohne Migrationshintergrund (17 %).

Erwerbsarbeit und Einkommen.

Page 79: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

79

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Armut, soziale Ausgrenzung und die Auswirkungen auf Menschen mit Behinderungen. Gastbeitrag von Michaela Hofmann und Christian Schumacher, Diözesan-Caritas-verband für das Erzbistum Köln e. V.

Wie werden Armut und soziale Ausgrenzung erkannt und woran werden sie gemessen?

Einige einleitende Testfragen an die Leserinnen und Leser können den Einstieg in die komplexe Thematik von Armut und sozialer Ausgrenzung erleichtern:

• SiehattennochnieernsthaftefinanzielleProbleme?

• Sie haben eine Wohnung mit Telefon, Internet und Kabelfernsehen?

• Sie haben das Gefühl, dass Ihre Sprache, Religion und Kultur respektiert werden?

• Sie haben das Gefühl, dass Ihre Meinung zu politischen oder sozialen Fragen zählen und Ihnen zugehört wird, wenn Sie Ihre Meinung sagen?

• Sie werden von anderen um Rat gefragt?

• Sie haben keine Angst, von der Polizei angehalten zu werden?

• Sie wissen, wo Sie sich hinwenden können, wenn Sie Rat und Hilfe brauchen?

• Sie sind gut abgesichert für den Fall, dass Sie krank werden oder einen Unfall haben?

• Sie sorgen privat für Ihr Alter vor?

• Sie können jederzeit Freunde zu sich nach Hause einladen?

• Wenn Sie an die Zukunft denken, sind Sie optimistisch?

Je mehr Fragen davon mit Ja beantwortet werden, desto weniger arm und ausge-grenzt ist der Lebensalltag gestaltet und gestaltbar.

Page 80: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

80

Definitionen und Zahlen.

Fast 13 Millionen Menschen gelten in Deutschland als armutsgefährdet. Das ist im-merhin fast jeder Sechste. Aber was heißt das überhaupt, arm sein? Ist nur der arm, dessen Geld kaum reicht, um jeden Tag ausreichend auf dem Teller zu haben? Der, der sich keine eigene Wohnung mehr leisten kann? Oder auch der, der kein In-ternet hat, keinen Fernseher und kein Telefon?

Die entscheidende Grenze liegt in Europa bei 60 Prozent des mittleren Einkom-mens der Gesamtbevölkerung11, das sind hierzulande momentan 979 Euro netto im Monat – nach der statistischen Berechnung LEBEN IN EUROPA (EU-SIlC). Wer weniger hat, gilt als von Armut bedroht, ihm bleiben am Tag also etwas mehr als 30 Euro. Im Verhältnis zur Armutsgrenze der Weltbank von 1,25 US-Dollar, also etwa einemEuro,istdasviel.DiebeidenDefinitionenvonArmut,diedenbeidenBeträ-gen zugrunde liegen, unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt: Die deut-sche und europäische Armutsgrenze ist relativ: Arm ist man im Verhältnis zu den anderen.DieinternationaleArmutsschwellenachDefinitionderWeltbankdagegen ist absolut. Sie besagt, wer so wenig hat, kann kaum richtig leben, egal in welchem Land, egal wie viel die anderen in einer Gesellschaft besitzen. Das Argument, die Armen würden sich doch nicht arm fühlen, solange sie nicht wüssten, dass es Men-schen mit mehr Vermögen gebe, verliert in einer vernetzten, globalisierten Welt an Bedeutung.

ArmutbedeutetdeshalbnichtnureinenfinanziellenMangel,sonderneinenMangel an Gesundheit, an Bildung, an sozialen Kontakten. Die folgenden Indikatoren ver-deutlichen, was es ganz praktisch heißt, arm zu sein.

„VonerheblichermateriellerAusgrenzung“ ist einePersongemäßderDefinition der EU auf der Grundlage von EU-SILC betroffen, wenn aufgrund der Selbstein-schätzung des Haushaltes mindestens vier von den folgenden neun Kriterien erfüllt sind (EU-Deprivationsindikator)12:

1. Problem, die Miete oder Rechnungen für Versorgungsleistungen rechtzeitig zu bezahlen.

2. Problem, die Wohnung angemessen heizen zu können. 3. Problem, unerwartete Ausgaben in einer bestimmten Höhe aus

eigenenfinanziellenMittelnbestreitenzukönnen. 4. Problem, jeden zweiten Tag Fleisch, Fisch oder eine gleichwertige vegetarische

Mahlzeit essen zu können. 5. Problem, jährlich eine Woche Urlaub außerhalb der eigenen Wohnung zu verbringen. 6. Fehlen eines Autos im Haushalt. 7. Fehlen einer Waschmaschine im Haushalt. 8. Fehlen eines Farbfernsehgeräts im Haushalt. 9. Fehlen eines Telefons im Haushalt.

11 Ratsbeschluss der Europäischen Union im Rahmen des 3. Armutsprogramms am 19.12.1984 formuliert:

„Als verarmt sind jene Einzelpersonen, Familien und Personengruppen anzusehen, die über so geringe (materielle, kultu-relle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist.“

12 Pressemitteilung Nr. 454 vom 16.12.2014 Destatis – Statistisches Bundesamt

Gastbeitrag von Michaela Hofmann und Christian Schumacher.

Page 81: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

81

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Wer ist besonders betroffen?

Statistiken, die Auskunft darüber geben, wer und in welcher Art zu den Menschen in Armut gezählt wird, gibt es viele. Die Zahlen variieren deshalb auch immer. Ei-nigkeit herrscht aber über alle hinweg, dass die nachfolgenden Personengruppen besonders von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind:

• Erwerbslose

• Alleinerziehende

• Kinder und Jugendliche

• junge Erwachsene

• Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit

• Menschen ohne oder mit geringem Schul- oder Berufsabschluss.

Menschen mit Behinderungen sind in dieser Aufzählung nicht explizit aufgeführt. SiefindensichaberinnahezuallengenanntenPersonengruppenwieder.

Auswirkungen von Armut. Zusammenhänge von Bildung, Arbeit und Einkommen.

Damit ein Mensch sein Leben selbstständig, eigenverantwortlich und mit einer ge-wissen Qualität leben kann, sind die unten angegebenen Faktoren ganzheitlich zu betrachten. Wer über wenig Bildung verfügt, erhält in der Regel keine Arbeitsstelle, die unbefristet und auskömmlich bezahlt wird. Wohnen wird in Ballungsgebieten damitzueinemStress-undSchuldenfaktorundhäufigunbezahlbar.Erkrankungen können zu einem Arbeitsverlust und damit zu einer Verringerung des Einkommens führen, was das Wohnen und dann auch die gesellschaftliche Teilhabe gefährdet.

Grundsätzlich ist allerdings festzustellen, dass ein geringes Einkommen sich auf alle Lebensbereiche auswirkt (Dr. Thien/M.Hofmann Diözesan-Caritasverbände NRW).

Page 82: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

82

Verfestigung von Armut.

Armut geht häufig mit einem Mangel an Bildungsressourcen und unfreiwilliger Nichterwerbstätigkeit einher. Bei Personen, die von einem Mangel in mehreren Be-reichen (Einkommen, Bildung, Erwerbsbeteiligung) betroffen sind, ist die Gefahr von sich verfestigender Armut groß.

Über längere Zeit in Armut und/oder ohne Arbeit leben zu müssen, führt zu gesund-heitlichen Schäden. Der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen Personen mit niedrigem und solchen mit hohem sozioökonomischen Status in Deutschland beträgt bei Männern elf Jahre und bei Frauen acht Jahre (Robert Koch Institut, GBE Kompakt 2/2014). Mehr chronische psychische Erkrankungen, Herzinfarkte und Unfälle, auch bei Kindern, sind Beispiele für gesundheitliche Begleiterscheinungen.

Der Bildungsstand ist in Deutschland – auch im europäischen Vergleich – sehr aus-geprägt vom Einkommen der Eltern abhängig. Dieser Zustand hat sich seit Jahren nicht verändert. Das zeigt auf, dass wesentliche Ursachen für Armut nicht in der Person selbst liegen sondern gesellschaftliche Rahmenbedingungen keine ausrei-chende Chancengerechtigkeit bieten.

Der Blick auf gesellschaftliche Teilhabe und Leben sowie Ausgrenzung aus Sicht der Menschen mit Armutserfahrung.

Neben messbaren Faktoren der Armut haben Menschen mit Armutserfahrung mit Vorurteilen und Zuschreibungen zu kämpfen, die ihre soziale Isolation verfestigen können. • Zuschreibungen und Unterstellungen wie: Schmarotzer, Faulenzer, Säufer,

schlechte Eltern, verantwortungslos, wollen nicht arbeiten usw. • Ablehnung bei Banken, bei Arbeitgebern, bei der Wohnungssuche. • „Willkür“ bei Ämtern und Institutionen zum Beispiel beim Entscheid über die An-

erkennung der Angemessenheit der Wohnung, Erstausstattung, Klassenfahrten der Kinder usw.

• Haltung, dass ihnen nichts zusteht und sie ihre Rechte erst einklagen müssen (Sozialgerichtsklagen)

o dass sie trotz einer Erwerbstätigkeit auf keinen grünen Zweig kommen. o dass ihnen keiner zuhört. o dass von ihnen mehr verlangt wird als von vermeintlich „Fleißigen“.

Die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung. Am 26.03.2009 trat in Deutschland das Übereinkommen über die Rechte von Men-schen mit Behinderung der Vereinten Nationen (UN-BRK) in Kraft. Bund und Län-derhabendieRechteratifiziert,damitistsiebisaufdiekommunaleEbenebindend. Bereits in der Präambel der UN-Behindertenrechtskonvention wird darauf hinge-

Gastbeitrag von Michaela Hofmann und Christian Schumacher.

Page 83: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

83

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

13 Bundesgesetzblatt (BGBL) 2008 II, s. 1419: Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom

13.12.2006 14 Information und Technik Nordrhein-Westfalen, Geschäftsbereich Statistik: Statistische Berichte.-

Schwerbehinderte Menschen in Nordrhein-Westfalen am 31. Dezember 2013 15 Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen: Basisdaten zur weiteren Evaluation der

Entwicklung der Eingliederungshilfe sowie der Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten (Abgestimmt in der Fachkommission zur Förderung des selbständigen Wohnens von Menschen mit Behinderungen am 23. Februar 2010)

wiesen, dass „die Mehrzahl der Menschen mit Behinderungen in einem Zustand der Armut lebt“. Weiter heißt es, „dass die nachteiligen Auswirkungen der Armut auf Menschen mit Behinderungen dringend angegangen werden müssen“.13

Statistische Angaben zu Menschen mit Behinderung.

Nach einem statistischen Bericht zu schwerbehinderten Menschen in Nordrhein-Westfalen, herausgegeben von Information und Technik Nordrhein-Westfalen, wa-ren am 31. Dezember 2013 1,8 Millionen Menschen als schwerbehindert mit einem gültigen Schwerbehindertenausweis registriert. Das entsprach einem Anteil von rund 10,1 Prozent der Bevölkerung. Etwas mehr als die Hälfte (897 614) waren Männer.

Mehr als die Hälfte (55,3 Prozent) der Menschen mit Schwerbehinderung waren 65 Jahre und älter. Nimmt man die Altersgruppe der 55 bis unter 65-Jährigen (21,2 Prozent) dazu, waren drei Viertel der schwerbehinderten Menschen im fortge-schrittenenAlter.ImGegensatzdazufielderAnteilderunter25-Jährigenmit3,8 Prozent gering aus.14

Es gibt nicht die Behinderung, sondern unterschiedliche und vielfältige Formen von Be-hinderung. Der nachfolgende Text bezieht sich im Wesentlichen auf die Lebenslage der Menschen mit kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen sowie auf Menschen mit einer Sinnesbehinderung. Aus der wesentlichen Behinderung dieser Zielgruppe er-geben sich Leistungsansprüche nach dem SGB XII (Eingliederungshilfe).

Um die Entwicklung der Anzahl der Leistungsberechtigten einschätzen und die sich daraus ergebenden Leistungsansprüche ableiten zu können, bedarf es einer gesi-cherten Datenlage.

Eine Erhebung des Ministeriums für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen von Basisdaten zur weiteren Evaluation der Entwicklung der Eingliederungshilfe sowie der Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwie-rigkeiten gibt unter anderem Auskunft über die Anzahl der Plätze im stationären Wohnen sowie die Anzahl der bewilligten Anträge auf Leistungen des Ambulant Be-treuten Wohnens. Danach wurde am Stichtag 30.06.2014 die Zahl der Plätze im stationären Wohnen mit 43.121 und die Anzahl der bewilligten Anträge auf Leistun-gen des Ambulant Betreuten Wohnens mit 55.886 angegeben.15

Vergleiche mit mehrjährigen Statistiken belegen eine Fallzahlsteigerung.

Page 84: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

84

Der Einfluss von Armut auf Behinderung.

Die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung ist überwiegend von Benach-teiligung gekennzeichnet. Neben der materiellen Armut erfahren sie auch Ausgren-zung vom politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben.

Nicht selten müssen Menschen mit Behinderung ohne oder mit einem sehr gerin-gen Einkommen leben. Mit einem geringen Einkommen bzw. mit begrenzt zur Ver-fügungstehendenfinanziellenMittelnsinkendieMöglichkeitenzurTeilhabeamge-sellschaftlichen Leben. Zugänge zur medizinischen Versorgung, Gesundheit, zum Bildungssystem und zur Arbeit sind erschwert.

Insbesondere der Zugang zum Arbeitsmarkt ist für Menschen mit Behinderung ein großes Problem. Die in den vergangenen Jahren zu verzeichnende Entspannung am Arbeitsmarkt ging völlig an den schwerbehinderten Menschen vorbei. Nach ei-ner Information des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) im Mai 2015 ist die Zahl der schwerbehinderten Arbeitslosen in den vergangenen Jahren von 104.000 in 2008 auf 112.000 in 2014 angestiegen. Für schwerbehinderte Menschen sind die RisikenamArbeitsmarktbesondershoch.Siesindhäufigerarbeitslosundbeson-ders von Langzeitarbeitslosigkeit und Hartz IV-Bedürftigkeit bedroht.16

16 DGB Abteilung Arbeitsmarktpolitik: arbeitsmarkt aktuell, Nr. 05 / Mai 2015

Drei Fallbeispiele zu Lebenssituationen von Menschen mit Behinderung.

Die Lebenssituationen von Menschen mit Behinderung sind sehr unterschiedlich. Sie orientieren sich zum einen an den individuellen Hilfebedarfen und zum anderen an den individuellen Vorstellungen und Wünschen, das eigene Leben zu gestalten.

Im Folgenden wird exemplarisch an drei FalIbeispielen die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung dargestellt. Die Interviews, die von Pia Klinkhammer aus der Stabsabteilung Information und Kommunikation im Diözesan-Caritasver-band für das Erzbistum Köln e. V. in der Zeit von Juni bis Juli 2015 durchgeführt wur-den, geben den Originalton wieder. Die Einschätzung und Meinung der befragten Personen bezieht sich ausschließlich auf deren persönliche Lebenssituation und ist keinesfalls übertragbar auf andere Personen in ähnlichen Lebenslagen.

Herr K. wohnt ambulant betreut.

Herr K. ist 70 Jahre alt und hat eine kognitive Beeinträchtigung. Er wohnt seit zehn Jahren im Ambulant Betreuten Wohnen. Anfangs hat er sich mit einem Mitbewoh-ner eine Wohnung geteilt; seit einigen Jahren bewohnt er eine eigene Wohnung in einem Mehrfamilienhaus. Dort wohnen Mieter mit und ohne Behinderung. Herr K. besucht von montags bis freitags eine Werk- und Begegnungsstätte (tagesstruk-turierendes Angebot), die sich in Trägerschaft eines Leistungsanbieters der Be-

Gastbeitrag von Michaela Hofmann und Christian Schumacher.

Page 85: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

85

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

hindertenhilfebefindet.ErerhältproWochefünfFachleistungsstundenvoneinem Anbieter des Ambulant Betreuten Wohnens. Die Fachleistungsstunden, das ta-gesstrukturierende Angebot sowie eine Haushaltshilfe werden über die Eingliede-rungshilfefinanziert.DieKostenfürdieWohnungunddenLebensunterhaltwerden aus der Hilfe zum Lebensunterhalt (Grundsicherung) bestritten, die vom örtlichen Sozialhilfeträger übernommen wird. Für die laufenden Lebenshaltungskosten steht Herrn K. der monatliche Regelsatz für Haushaltsvorstände in Höhe von 399 Euro nach dem Sozialgesetzbuch XII (SGB XII) zur Verfügung.

Frau W. möchte in eine eigene Wohnung ziehen.

Frau W. ist 42 Jahre alt und sowohl psychisch beeinträchtigt als auch lernbehindert. Sie wohnt seit sieben Jahren in einer stationären Wohneinrichtung und hat dort ein kleines Ein-Zimmer-Appartement. Frau W. nimmt an zwei bis drei Tagen der Wo-che an tagesstrukturierenden Angeboten bzw. Freizeitangeboten des Trägers der Wohneinrichtung teil (Kochen, Schwimmen, Filzen, Schneidern etc.).

DieKostendes stationärenWohnenswerdenüberdieEingliederungshilfe finan-ziert. Darüber hinaus erhält Frau W. einen monatlichen Barbetrag in Höhe von 125 Euro, einen monatlichen Anteil in Höhe von 16,50 Euro für eine Fahrkarte und einen monatlichen Betrag in Höhe von 206,85 Euro für Haushaltsverbrauchsmaterialien (Lebensmittel,Wasch-undPutzmittel,Körperpflegeartikeletc.).ZweimalimJahr erhält sie einen Betrag in Höhe von 166 Euro für Bekleidung. Frau W. möchte in ab-sehbarer Zeit in eine eigene Wohnung ziehen.

Herr S. arbeitet Vollzeit.

Herr S. ist 49 Jahre alt und seit früher Kindheit hochgradig hörbehindert (gehör-los). Er wohnt selbstständig in einer angemieteten Wohnung, ist in Vollzeit berufs-tätig und arbeitet im Schichtdienst. Neben seinem Verdienst erhält er ein monat-liches Gehörlosengeld in Höhe von 77 Euro. Herr S. ist geschieden. Aufgrund von Unterhaltsansprüchen verbleiben ihm nach Abzug der laufenden Kosten (Miete, Nebenkosten, Versicherung, Fahrtkosten zur Arbeit etc.) zwischen 150 und 200 Euro im Monat für seinen Lebensunterhalt. Herr S. hat regelmäßigen Kontakt zu einem kirchlichen Gehörlosenzentrum.

Erzählen Sie uns etwas zu Ihrer Lebenssituation?

Herr K.: Ich wohne seit zehn Jahren im betreuten Wohnen, hier in meiner 40 Qua-dratmeter-Wohnung. Essen bekomme ich jeden Tag auswärts, außerdem habe ich eine Putzhilfe. Fünf Stunden in der Woche verbringe ich mit meiner Betreuerin. Sie kauft auch für mich ein. Wenn wir uns treffen, dann sitzen wir meist ganz normal in einem Café und unterhalten uns darüber, wie es so läuft.

Page 86: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

86

Frau W.: Ich wohne jetzt seit 2008 in einer stationären Einrichtung in einem kleinen Ein-Zimmer-Appartement. Ich kann mir darin alles selbst gestalten und bin ziemlich unabhängig. Trotzdem wird alles gemacht und ich habe viel Hilfe. Davor habe ich in einer betreuten WG gewohnt, davor bei meiner Mutter. Seit 20 Jahren bin ich nun krank, habe eine Psychose. Damals ist mein Vater gestorben, mein Hund musste ein-geschläfert werden und meine Beziehung ging in die Brüche, das habe ich nervlich einfach nicht verkraftet. Jetzt ist mein Ziel, wieder in das betreute Wohnen zu kom-men und wieder selbstständiger zu sein.

Herr S.: Ich bin taub seit ich denken kann. Meine Oma hat mir mal erzählt, dass meine Mutter mir wohl mal eine zu hohe Dosis aggressiver Ohrentropfen gegeben haben soll. Ich weiß das nur aus Erzählungen. Ich wohne jetzt selbstständig in einer Wohnung in Köln-Kalk. Das ist eine ganz normale Wohnung, ich habe natürlich ein paar technische Hilfen, wenn es an der Tür klingelt, blinkt zum Beispiel ein Licht auf.

Ich bin ausgebildeter Teilezurichter, das gehört zum Bereich des Handwerks des Schlossers. Ich arbeite Vollzeit in einer Firma, gemeinsam mit anderen Hörbehinder-ten aber auch mit ganz normal Hörenden.

Wie zufrieden sind Sie? Was macht Ihnen Sorgen?

Herr K.: So, wie es jetzt ist, bin ich sehr zufrieden. Mir ging es sehr viel schlechter, ich hatte Depressionen und konnte nur eingesperrt leben. Ich war immer das Sorgen-kind der Familie. Jetzt bin ich zufrieden. Wenn es mal nicht mehr so geht, dann gehe ich in die Altentagesstätte gegenüber.

Frau W.: Eigentlich macht mir im Moment wenig Sorgen. Gut, das Geld ist schon sehr knapp. Ich bekomme zwar Haushaltsgeld, aber die 125 Euro Taschengeld reichen ei-gentlich überhaupt nicht. Ich würde schon mal gerne einkaufen, ohne immer auf den Preis achten zu müssen.

Herr S.: Ich bin so mittelprächtig zufrieden, mal läuft es ok, mal gar nicht gut. Manch-mal bin ich demotiviert, lasse den Haushalt liegen und bin frustriert, wenn ich höre, wie gut es den anderen geht, wie schön sie in ihrem Haus eingerichtet sind. Das ist mir nicht möglich.

Wo und wie erleben Sie Ausgrenzung?

Herr K.: Ich persönlich erlebe keine Ausgrenzung. Die Menschen auf der Straße sind nett zu mir. Ich weiß, dass sie anderen Behinderten schon mal nachrufen. Mir pas-siert das nicht. Ich habe viele Kontakte, ich habe eine große Familie in Berlin, die ich zweimal im Jahr besuche. Und ich bin hier im Schützenverein. Wir treffen uns, ich schaue auch gerne Fußball. Ich lebe gerne hier. Früher in Berlin hatte ich so viel Ärger mit den Behörden. Den brauche ich nicht mehr.

Frau W.: Natürlich wird man komisch angeschaut, wenn man sagt, man ist schizo-phren. Die Leute scheren einen schnell über den gleichen Kamm. Ich habe deutlich

Gastbeitrag von Michaela Hofmann und Christian Schumacher.

Page 87: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

87

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

gemerkt, wer meine wahren Freunde sind. Gott sei Dank hat meine Familie immer zu mir gehalten. Ich habe ohnehin noch viele soziale Kontakte und auch guten Kon-takt zu meiner Familie. Neben meiner Mutter habe ich noch einen Zwillingsbruder und einen älteren Bruder. Mit allen verstehe ich mich gut.

Herr S.: Durch meine Behinderung bin ich schon eingeschränkt. Könnte ich hören, wäre ich ein ganz anderer Mensch. Dann wäre ich offener, könnte besser kommu-nizieren, hätte keine Ängste. Weniger gut gebildete Menschen begegnen mir schon mit Vorbehalten. Ich habe nicht mehr so viele soziale Kontakte. Ich bin geschieden und habe durch die Scheidung nicht nur den Kontakt zu meiner Frau, sondern auch zur ganzen Familie verloren. Aufgewachsen bin ich in einem Kinderheim, da ging es mir eigentlich gut. Jetzt sind meine einzigen Kontakte hier im Gehörlosenzentrum von St. Georg. Hier komme ich regelmäßig hin und tausche mich mit anderen aus.

Was vermissen Sie? Welche Wünsche haben Sie?

Herr K.: Meine Mutter vermisse ich. Aber die ist schon tot. Früher habe ich viele ReisenmitderDampflokgemacht.Aberdabinichjetztauchzualt.Nein,sowiees jetzt ist, ist es gut. Wenn ich mehr Geld hätte? Dann würde ich gerne eine Stiftung gründen – für die Behindertenhilfe. Vielen geht es schlechter als mir.

Frau W.: So im Alltag vermisse ich nicht viel, da wird uns auch schon einiges an Frei-zeitangeboten hier in der Einrichtung geboten. Aber ich würde so gerne mit meiner MuttereinmalinUrlaubfahren.DasistfinanziellimMomentüberhauptnichtdrin.

Herr S.: Ich habe zwar ein Auto, kann damit aber nur zur Arbeit und zurück fahren. Sonst fahre ich mit der Bahn. Sauna oder Schwimmbad kann ich mir nicht leisten. Ich kann mir keinen schicken Anzug kaufen, das Geld reicht nur für ein T-Shirt.

Ich habe immer von einer Eigentumswohnung geträumt, oder von einem Haus. Seit ich klein bin wünsche ich mir das. Aber ich müsste mehr Geld verdienen. Seit sechs Jahren habe ich keine Gehaltserhöhung in meiner Firma bekommen. Alles wird teu-rer, aber ich bekomme einfach nicht mehr Geld.

Fühlen Sie sich arm?

Herr K.: Nein, auf keinen Fall. Ich habe so viele Möglichkeiten und so gut wie jetzt ging es mir lange nicht. Ich habe so viele Enttäuschungen hinter mir. Jetzt geht es mir doch gut.

Frau W.: Nein, arm würde ich nicht sagen. Mir geht es ja noch gut. Man muss auch zufrieden sein mit dem, was man hat. Wenn ich andere Menschen oder Kinder in anderen Ländern sehe, die gar nichts zu essen haben – die sind arm! Vergleichs-weise geht es mir gut. Ja, das Taschengeld könnte 20 oder 30 Euro mehr sein, das würde einiges entspannen.

Page 88: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

88

Herr S.: Ja, durchaus. Das Gehörlosengeld von 77 Euro im Monat reicht vorne und hinten nicht. Meine Kosten kann ich damit nicht decken. Manchmal bekomme ich nicht direkt mit, wenn etwas kaputt ist und dann wird es richtig teuer. Ich brauche spezielle Lampen, spezielle Uhren und kann das alles nicht bezahlen. Hilfe bekom-me ich nur noch von der Kirche, sonst kümmert sich keiner.

Behinderung ist ein Armutsrisikofaktor. Ob ein behinderter Mensch armutsgefährdet ist und sein Einkommen unterhalb von 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung liegt, hängt vom Alter, dem Grad der Behinderung und wie bei allen Menschen, die als armuts-gefährdet gelten, vom Bildungsstand und der Erwerbsfähigkeit ab. Liegt das Ein-kommen unter dem mittleren Einkommen von 979 bzw. 873 Euro17 oder erhalten die Menschen Leistungen nach dem SGB II oder XII, dann ist die in der UN-Behin-dertenrechtskonvention geforderte gleichberechtigte Teilhabe in allen Lebensbe-reichen so nicht zu realisieren.

Die drei Beispiele zeigen in anschaulicher Weise, dass sich die Interviewten in ihrem Lebensalltag mitunter erheblich einschränken müssen. Auch wenn sich zwei der drei Interviewten nicht als arm bezeichnen sind ihnen beispielsweise in der Teilha-be am gesellschaftlichen Leben enge Grenzen gesetzt, was in den nachfolgenden Beispielen erläuternd dargestellt wird.

Herr K. berichtet, dass er tagsüber eine Werk- und Begegnungsstätte besucht. Er fühlt sich dort sehr wohl und angenommen. Er trifft dort nette Leute, mit denen er bei einem Kaffee auch gerne ins Gespräch kommt und sich austauscht. Die Werk- und Begegnungsstätte ist jedoch ein Angebot einer Behindertenhilfeeinrichtung und somit ein Spezialangebot. Die Preise der Speisen und Getränke, die man dort kaufen kann, orientieren sich an den finanziellen Möglichkeiten der Zielgruppe. Aber aufgrund seiner wirtschaftlichen Situation ist es für Herrn K. eher schwierig, andere Angebote zu nutzen, wie beispielsweise ein Café in der Innenstadt seines Heimatortes, was dem Teilhabegedanken entsprechen würde.

Frau W. ist mit den Freizeitangeboten in ihrer Wohneinrichtung eigentlich ganz zu-frieden. Sie nimmt an verschiedenen Kursen und Freizeitangeboten teil, die von der Einrichtung für die Menschen, die dort leben, angeboten werden. Freizeitangebote jedoch, die darüber hinausgehen, wie der Kino- oder Konzertbesuch, der Besuch ei-nes Fußballspiels, die sportliche Aktivität in einem Verein etc. sind für Frau W. nicht finanzierbar.AuchdieUrlaubsreisemitderMutter,diesiesehrgernemachenwür-de, kann sie sich derzeit nicht leisten.

Mitden206,85EuromonatlichanVerpflegungsgeldmussFrauW.guthaushalten, damit das Geld auch bis zum Monatsende reicht. Der Betrag entspricht bei durch-schnittlich 30 Tagen im Monat 6,90 Euro pro Tag für Frühstück, Mittag- und Abend-

17 60 % des mittleren Einkommens nach EU-Silc = 979 € netto im Monat. Nach den Berechnungen in NRW = 873 € im Jahr 2013

Gastbeitrag von Michaela Hofmann und Christian Schumacher.

Page 89: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

89

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

essen. Auch die Getränke sind hiervon zu bezahlen. Mal Freunde nach Hause zum Essen bzw. zum Kaffee einzuladen, mal morgens in der Stadt zu frühstücken oder gar zum Essen in eine Gaststätte zu gehen, wird mit diesem Budget zu einer Her-ausforderung.

Bei Herrn S. bleibt trotz seiner Vollerwerbstätigkeit am Monatsende nichts übrig. Aufgrund seiner Hörbehinderung hat er einen erhöhten Bedarf an Hilfsmitteln; beispielsweise die Türklingel oder der Wecker, die statt eines akustischen Sig-nals ein Lichtsignal abgeben. Selbst der Besuch eines Schwimmbades ist für ihn unerschwinglich.SeinefinanzielleSituationträgtsicherlichmitdazubei,dasser kaumKontaktehat.DennauchsozialeKontaktezupflegen,kostetGeld.Geld,das er nicht hat. So ist sein einziger Bezugspunkt das Gehörlosenzentrum der katholi-schen Kirche.

Alle drei Beispiele zeigen, dass eine Teilhabe von Menschen mit Behinderung auch entsprechendefinanzielleMittelerfordert.EineTeilhabe,diesichamNormalisie-rungsprinzip und am Leben der Gesellschaft orientiert, kostet Geld. Dieses Geld steht aber vielen Menschen mit Behinderung nicht bzw. nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung. So haben sie oft nur die Möglichkeit, auf spezielle und institu-tionell geförderte Angebote zurückzugreifen.

MenschenmitBehinderungtreffeninihremLebennebendennichtfinanzierbaren Teilhabemöglichkeiten sowie dem bereits oben erwähnten problematischen Zu-gang zum Arbeitsmarkt auf weitere Armutsbarrieren. Zwei davon werden nachfol-gend kurz erklärt.

Ein großes Problem für Menschen mit Behinderung ist der Mangel an bezahlbarem, barrierefreiem Wohnraum. Nach einer Studie des Deutschen Mieterbundes NRW, die im April 2013 vorgestellt wurde, verknappt sich das Wohnraumangebot in den Wachstumsregionen Deutschlands und die Mieten steigen erheblich. In Nordrhein-Westfalen sind insbesondere die Großstädte und Ballungsräume mit ihren um-liegenden Einzugsgebieten von dieser Entwicklung betroffen.18 Aufgrund der seit Jahren geringen Bautätigkeit im sozialen Wohnungsbau ist eine neue Wohnungsnot absehbar. So stehen Menschen mit Behinderung in einer unübersehbar langen Rei-he von Wohnungssuchenden. Für sie stellt sich nicht die Frage „Wo will ich wohnen“, sondern eher „Wo kann ich Wohnen“ (bezahlbar und barrierefrei).

An Grenzen stoßen Menschen mit Behinderung auch beim Zugang zur medizini-schen Versorgung. Es fehlen barrierefreie Praxen, Krankenhäuser sind oftmals mit der Betreuung von Menschen mit Behinderung überfordert. Hilfsmittel werden zwar von den Krankenkassen bewilligt, aber lebensqualitätsverbessernde Hilfen könnennurmiteigenenfinanziellenMittelnerworbenwerden,diedenMenschen aber in der Regel nicht zur Verfügung stehen.

18 Deutscher Mieterbund NRW, Deutscher Gewerkschaftsbund NRW u. a.: Wohnungsmärkte in der Rheinschiene – jetzt Weichen

stellen,2013,http://www.mieterbund-nrw.de/fileadmin/user_upload/redaktion/news/StudieRheinschiene_-_DV_ doppelseitig_-__18.04.13.pdf(abgerufenam21.07.2015)

Page 90: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

90

Vor dem Hintergrund der beschriebenen Lebenssituationen wird deutlich, dass Menschen mit Behinderungen viele Teilhabemöglichkeiten nicht wahrnehmen können.Dazugehörtauch,dasssiehäufigangesellschaftlichenundpolitischen EntscheidungsprozessennichtbeteiligtwerdenundgeringeEinflussmöglichkeiten auf Entscheidungen, die ihren Alltag betreffen, haben. Der Zusammenhang von Be-hinderung und Armut auf Partizipationsmöglichkeiten ist gravierend. Diesbezüg-lich bleibt die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland deutlich hinter den in sie gesetzten Erwartungen zurück. Dies merkt auch der UN-Fachausschuss in seinen abschließenden Bemerkungen über den ersten Staaten-bericht Deutschlands (2013) an.19

Fazit ArmuthatfürdiebetroffenenMenschennichtnurfinanzielleProblemezurFolge, sondern bedeutet einen Ausschluss aus wesentlichen gesellschaftlichen Lebens-zusammenhängen. Die Sozialleistungen, die die Menschen erhalten, entsprechen weitgehend einer rein materiellen Fürsorge. Will man stärker als bisher die soziale und kulturelle Dimension in den Blick nehmen, muss es darum gehen,

• Sozialleistungen stärker an den Teilhabebedarfen und dem Wunsch- und Wahl-recht der Menschen mit Behinderung zu orientieren,

• die Unterschiedlichkeiten einer jeden Behinderung zu sehen und zu verstehen,

• die jeweiligen individuellen Möglichkeiten in den Mittelpunkt zu stellen und zur Grundlage einer Hilfeleistung zu machen,

• die Strukturen so zu verändern, dass Individualität möglich ist. Nicht die Men-schen müssen sich den Systemen anpassen, sondern die Systeme sind so auszu-richten, dass sie den Menschen Chancen eröffnen und Inklusion und Partizipation ermöglichen,

• ihre gleichberechtigte Teilhabe mit anderen am politischen und öffentlichen Le-ben sicherzustellen,

• ausreichende Finanzmittel bereitzustellen, die Menschen mit Behinderung eine Teilhabe am Leben der Gemeinschaft und eine unabhängige Lebensführung mit einem angemessenen Standard ermöglichen. Behinderungsbedingte Aufwen-dungen dürfen nicht selbst getragen werden müssen,

• einen inklusiven Arbeitsmarkt zu schaffen, der Menschen mit Behinderung die Teilhabe am Arbeits- und Erwerbsleben ermöglicht. Darüber hinaus müssen ge-eignete Möglichkeiten gefunden werden, die ihnen den Übergang von geförderten Arbeits- und Beschäftigungsmodellen in den ersten Arbeitsmarkt erleichtern,

• den Wohnungsmarkt so zu organisieren, dass Menschen mit Behinderung in aus-reichendem Maße barrierefreier und bezahlbarer Wohnraum zur Verfügung steht,

Gastbeitrag von Michaela Hofmann und Christian Schumacher.

19 UN- Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen: Abschließende Bemerkungen über den ersten Staatenbericht

Deutschlands, April 2015

Page 91: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

91

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

• ihnen den Zugang zu den neuen Medien zu ermöglichen,

• Menschen mit Behinderung zu befähigen, eine aktivere Bürgerrolle einzunehmen, die beispielsweise auch eine Teilhabe an politischen Partizipationsprozessen um-fasst.

Die dargestellten Lebenssituationen von Menschen mit Behinderung zeigen, dass sie in vielen Bereichen des täglichen Lebens Einschränkungen erleben und dass nach wie vor eine gesellschaftliche Marginalisierung besteht. Unser Beitrag will dazu anregen, den gesellschaftspolitischen Diskurs neu zu beleben und sich der Herausforderung einer gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinde-rung unter dem besonderen Aspekt von Inklusion, Partizipation und Selbstbestim-mung zu stellen. Die Einmischung in politische und gesellschaftliche Diskurse soll dazu beitragen, dass die zum Gelingen der Inklusion erforderlichen Rahmenbedin-gungen und Ressourcen von der Sozialpolitik in Bund, Ländern und Kommunen zur Verfügung gestellt werden.

Page 92: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

92

Selbstbestimmte alltägliche Lebensführung.

Dieses Kapitel befasst sich mit der Möglichkeit zur selbstbestimmten Gestaltung des täglichen Lebens. Im Rahmen der Teilhabe aller Menschen am Leben in der Gemeinschaft, wie die UN-BRK sie fordert „bedeutet die alltägliche Lebensführung, dass Menschen miteinander in Kontakt treten, sich austauschen, gegenseitig hel-fen oder Dienstleistungen erbringen und in Anspruch nehmen. Aus diesem Grund bedingt und ermöglicht eine allgemeine Lebensführung auch soziale Teilhabe“ (BMAS 2013, S. 168).

So hängt die Qualität des eigenen Lebens besonders davon ab, ob man selbst be-stimmen kann, wo und wie man wohnt, welches Verkehrsmittel man gerne nutzt oderwereinenpflegtundversorgt.DieZugänglichkeitundNutzbarkeitdereigenen Wohnung alleine genügt dafür nicht. Eine weitere unverzichtbare Voraussetzung ist dieBarrierefreiheitderInfrastrukturunddesöffentlichenRaumes.DieAuffindbar-keit, Zugänglichkeit und Nutzbarkeit von Gebäuden, anderen baulichen Anlagen und Verkehrsmitteln sowie Informations- und Kommunikationsmedien spielt für die selbstbestimmte alltägliche Lebensführung von Menschen mit Beeinträchti-gungen eine zentrale Rolle.

4. Selbstbestimmte alltägliche Lebensführung.

Page 93: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

93

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

In Artikel 19 der UN-BRK heißt es sinngemäß: Jeder Mensch hat das Recht, seinen Aufenthaltsort frei zu wählen und zu entscheiden, mit wem und wo er gerne woh-nen möchte. Die durch die gesellschaftlichen Umstände hervorgerufene Isolation von Menschen mit Beeinträchtigungen soll verhindert und abgebaut werden. Un-terstützungsleistungenundHilfen,wiePflegeundAssistenz,sollendezentralund gemeindenah erbracht werden. Menschen mit Beeinträchtigung sollen zudem in ihren Mobilitätsmöglichkeiten und in ihrer größtmöglichen unabhängigen persönli-chen Flexibilität unterstützt werden. Dies kann zum Bespiel durch die Entwicklung und kostengünstige Bereitstellung von hochwertigen Mobilitätshilfen erfolgen. Aus dem Parallelbericht der Monitoring-Stelle wird jedoch deutlich, dass es bei der Vielfältigkeit der Beeinträchtigungen bisher nur selten gelingt, allen Beeinträchtig-ten den Weg zu einer selbstbestimmten alltäglichen Lebensführung zu ebnen. So werdendurchdiederzeitigbestehendenGesetzehäufignuröffentlich-rechtliche Stellen gebunden. Private Anbieter, zum Beispiel von Wohnungen, unterliegen nur wenigenVerpflichtungenzurVermeidungvonBarrierenundkönnenoftnurunzu-reichend kontrolliert werden.

Dieses Kapitel befasst sich mit fünf zentralen Bereichen der Selbstbestimmung im alltäglichen Leben. Diese Bereiche sind Wohnen, Mobilität, öffentlicher Raum, Barrierefreiheit und politische Partizipation.

• Der Bereich des Wohnens betrachtet die Wahlmöglichkeit des Wohnortes und der Art zu leben sowie stationär und ambulant Betreutes Wohnen. Zudem umfasst das Unterkapitel Wohnen auch die angemessene Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der eigenen Wohnung.

• Unter dem Punkt Mobilität werden vor allem die Zugänglichkeit und Nutzbarkeit öffentlicher und öffentlich zugänglicher Verkehrsmittel und die zugehörigen An-lagen betrachtet.

• Abgrenzend davon wird die Barrierefreiheit alltäglich relevanter öffentlich genutz-ter Gebäude, Straßen und Plätze gesondert im Unterkapitel Öffentlicher Raum aufgeführt.

• Unter dem Punkt Barrierefreiheit wird ein Denkanstoß für eine neue Zählweise gegeben.

• Abschließend wird im Bereich politische Partizipation ein allgemeiner Blick auf die Möglichkeiten der eigenverantwortlichen Gestaltung der Lebensumstände geworfen.

Sind in den genannten Bereichen die Bedingungen der Erreichbarkeit, Zugänglich-keit und Nutzbarkeit, also die Bedingungen der Barrierefreiheit nach § 4 BGG NRW, nicht erfüllt, entstehen physische Barrieren, die zur Behinderung einer Person füh-ren können.

Page 94: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

94

Was wir ändern müssen. Die Förderung der Selbstbestimmung im alltäglichen Leben ist eine Herausforde-rung, der sich das Land NRW bereits stellt und weiterhin stellen muss. Der Anfang ist gemacht, nun wird sich zeigen, wie ernst es dem Land bei der Umsetzung des Aktionsplanes „Eine Gesellschaft für alle“ ist.

• Die Barrierefreiheit darf kein Nischenthema bleiben. Stattdessen sollte sie zu einer Querschnittaufgabe gemacht werden. Denn Barrierefreiheit ist nicht nur in Bezug auf Menschen mit Behinderung ein wichtiges Konzept auf dem Weg zur selbstbestimm-tenLebensführung.VielmehrfordertdiesauchderdemografischeWandel.

• In einer alternden Gesellschaft werden zukünftig immer mehr Menschen Hilfsmit-telwieRollstühleoderRollatoreninAnspruchnehmen.Auffindbare,zugängliche und nutzbare Wohnungen tragen nicht erst dann dazu bei, die Lebensqualität und die Selbstständigkeit und Selbstbestimmung von Betroffenen sicherzustellen und ihnen eine möglichst lange Zeit ein Leben in der eigenen Wohnung zu ermög-lichen. Heimeintritte könnten dadurch deutlich hinausgezögert und die kommu-nalen Kassen entlastet werden.

• Menschen, die einen Rollstuhl als Hilfsmittel nutzen, sind in der Wahl ihres Wohn-ortes nicht mehr eingeschränkt und könnten selbst frei entscheiden, wie und wo sie leben möchten.

• Um auch die Mobilität mit Hilfsmitteln zu ermöglichen, ist eine barrierefreie Be-förderungskette, also die Sicherstellung der barrierefreien Zugänglichkeit und NutzbarkeitdesöffentlichenPersonenverkehrs,wichtig.Hiervonprofitierenauch Mütter und Väter mit Kinderwägen, verletzte Bürgerinnen und Bürger, die an Krü-cken gehen oder ältere Menschen. Barrierefreiheit geht jeden etwas an.

• Zur Sicherung der politischen Partizipationsmöglichkeiten auch für Menschen mit Beeinträchtigungen sollten sämtliche bestehende rechtliche Gegebenheiten evaluiert und ggf. Neue geschaffen werden.

Selbstbestimmte alltägliche Lebensführung.

Page 95: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

95

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Page 96: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

96

Interview Herr Ladenberger

Erfahrungen aus dem Lebensalltag von Menschen mit Beeinträchtigung.

Interview mit Horst Ladenberger, Geschäftsführer des Zentrums für selbstbestimm-tes Leben NRW.

Es ist einfach zu verstehen, was Selbstbestimmung, Teilhabe und Gleichstellung für alle Menschen bedeuten: Jeder bestimmt selbst über das eigene Leben. Jeder kann überall ohne Barrieren mitwirken und mitmachen. Menschen wie der Diplom-Psycho-loge Horst Ladenberger und der Anwalt für Sozialrecht Carl-Wilhelm Rößler wissen jedoch aus eigener Erfahrung: Der Alltag von Menschen mit Behinderung wird immer noch stark durch die Verweigerung oder Einschränkung dieser Grundrechte geprägt. Horst Ladenberger leitet das Zentrum selbstbestimmtes Leben (ZsL) in Köln seit 1998, berät dort gemeinsam mit einem fachlich kompetenten Team.

Die Beratungsarbeit des ZsL ist bewusst parteilich ausgerichtet. Wer hier Rat sucht, wird als Experte in eigener Sache ernst genommen und trifft auf fachlich versierte Menschen, die alle selbst mit Behinderung leben, betont Horst Ladenberger. Im Zent-rumderBeratungsarbeitstehendiepersönlichenAnliegenderRatsuchenden.Häufig

Page 97: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

97

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

sindesProblemederfinanziellenSicherung,oderesgehtumdieThemenWohnen und Mobilität, um die Durchsetzung einer ausreichenden persönlichen Assistenz, um Auseinandersetzung mit Kostenträgern, Behörden und Einrichtungen der so genann-ten Behindertenhilfe.

Was ein Leben mit Behinderung bedeuten kann. Behinderung bedeutet ein Leben in Leid und Elend, ausgeschlossen von allem, was bisher Spaß macht. Diese auch heute noch landläufigen Annahmen entsprachen ziemlich genau dem, was Horst Ladenberger dachte, als er mit 21 Jahren nach einem Kopfsprung gelähmt in einem Spezialbett erwachte. Konfrontiert mit der Unbeweg-lichkeit von Beinen und Armen, fand sein wacher Verstand keinen Anker, keine Alter-native zu diesem Elends-Bild. Heute sagt er: „Was mir fehlte, war eine Perspektive, ein neuer Entwurf, der Gedanke an neue Möglichkeiten. Was vor mir lag, erschien mir begrenzt und ohne Spaß und Lust am Leben.“

Er fügt hinzu, dass er jetzt im Rückblick und aus der Mitte seines erfüllten Lebens nichts verharmlosen oder schönreden wolle. Ja, Behinderung sei einschränkend, viele Hindernisse müssen überwunden werden; massive gesundheitliche Probleme und die Auseinandersetzung mit Diskriminierungen kosten enorm viel Energie. Man brauche viel Kraft, um damit klar zu kommen. „Aber ich hatte auch Glück – ich erfuhr eine große Unterstützung durch meine Familie, und – besonders wichtig - durch meine Freunde. Das ließ in mir die Hoffnung keimen, dass es irgendwie weitergehen kann.

Aber erst, als ich nach mehreren Wochen im Reha-Zentrum Rollstuhlfahrer gesehen habe, die zu den „alten Hasen“ gehörten, begann ich, Mut zu fassen und zu hoffen, dass für mich nicht alle Türen in ein gutes Leben verschlossen bleiben. Zu diesem Zeit-punkt nahm ich auch wieder offene Türen für meine Zukunft wahr.“ Das darauf folgen-de Jahr im Reha-Zentrum war mit Krankengymnastik, Ergotherapie und funktionel-lem Training, mit dem Neuerlernen aller möglichen Alltagsverrichtungen ausgefüllt. Eine intensive Auseinandersetzung mit der neuen körperlichen Situation war nötig, und der Umgang mit dem Rollstuhl musste erarbeitet werden. „Im Schutz des Reha-Zentrums konnte ich mich auf das Leben draußen zwar vorbereiten“, betont Horst Ladenberger, “Leben lernen kam aber erst danach, als es sofort darum ging, ein neues Studium zu beginnen.“

Als Wendepunkt in der Auseinandersetzung mit seiner Behinderung und mit seiner Rolle in der Gesellschaft beschreibt er den Kontakt zur Selbstbestimmt-Leben-Be-wegung: „Die dort vertretene Haltung, selbstverständlicher und aktiver Teil der Ge-sellschaftzusein,sichnichtabzufindenmitDiskriminierung,dieLebenssituationBe-hinderter in diesem Land zu analysieren, Kritik zu formulieren und Forderungen zu vertreten – das hat mich tief beeindruckt.“ Diesen Weg hat er dann auch beschritten. Nach Abschluss seines Psychologie-Studiums und einer Familientherapie-Ausbildung imJahr1994fingHorstLadenbergeralshauptamtlicherMitarbeiterimZsLinKölnan und leitet die Beratungseinrichtung seit dem Jahr 1998.

Page 98: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

98

Endlich Rechtssicherheit schaffen.

Oft geht es bei den Beratungsgesprächen darum, wie Menschen mit Behinderung zu ihrem Recht kommen: Welche Ämter für welche Leistung zuständig sind, wie die Fi-nanzierung für benötigte Hilfsmittel oder für die persönliche Assistenz gesichert wer-den kann. Unterstützt wird Horst Ladenberger durch ein multiprofessionelles Team, bestehendausqualifiziertenKolleginnenundKollegenmit einer eigenenBehinde-rung. Nach den Erfahrungen des Juristen Carl-Wilhelm Rößler beginnen die Probleme mit einer rechtlichen Durchsetzung von Ansprüchen immer weit vor einem möglichen Prozess.MitdenGerichtenmacheerdurchauspositiveErfahrungen,aber:„Werpfle-gebedürftig ist und schon bei einem Spaziergang Hilfe braucht, der ist doch schnell überfordert, wenn es darum geht, gegen eine große Institution wie eine Krankenkasse zu klagen.“ Hinzu komme, dass Kostenträger die Schilderungen von Menschen mit Behinderungenhäufiganzweifeln,wieetwa,wenn jemandHilfebeimToilettengang benötigt.Ablehnungsbegründungenseienhäufigrealitätsfernundwillkürlich.Men-schen mit Behinderung, die staatliche Unterstützung in Anspruch nehmen müssen, um behinderungsbedingte Nachteile ausgleichen zu können, kämpfen teilweise jahre-lang gegen Ablehnungsbescheide. Sie müssen ihr Vermögen und auch ihr Einkommen offenlegen. Ihre Partnerinnen, Partner und Familien werden damit ebenfalls diskrimi-niert. Mehr als einmal sind Partnerschaften deshalb nicht zustande gekommen oder zerbrochen.

Ein zentrales Problem liege darin, dass bislang Teile der „Leistungen zur Teilhabe in der Gemeinschaft“ in der Sozialhilfe verankert sind. Dadurch können Menschen auf-grund ihrer Behinderung zu Sozialhilfeempfängern werden. Dieses Problem blenden die meisten Menschen aus, solange sie nicht betroffen sind. Da aber 89 % aller Behin-derungen nicht angeboren, sondern im Verlauf des Lebens erworben seien, drohe der soziale und wirtschaftliche Absturz in eine solche Fremdbestimmung derzeit jedem, betont Carl-Wilhelm Rößler. Das überfällige neue Bundesteilhabegesetz müsse hier für Abhilfe sorgen, unterstreicht der Jurist. Das sei keine soziale Initiative - es gehe vielmehr um die Sicherung von Rechten, die für Menschen ohne Behinderung ganz selbstverständlich sind.

Stärkung der Persönlichen Assistenz.

BeiderBetreuunginHeimenexistiertimRahmenintensiverPflege-undUnterstüt-zungsbedarfehäufigeineklatantesUngleichgewichtzwischenPflegerundGepfleg-tem; die enorme Abhängigkeit und erlebte Ohnmacht lässt einen Kontakt auf Augen-höhe selten zu. Horst Ladenberger fordert nicht nur die Veränderung der Verhältnisse in den Heimen. Er fordert, die freie Entscheidung aller Menschen mit Behinderung zu stärken. Sie müssen selbst entscheiden können, wo sie wohnen, arbeiten, von wem sie sich im Bedarfsfall unterstützen lassen möchten. „Das gilt selbstverständlich auch für Menschen mit einem hohen Unterstützungsbedarf. Dafür ist die Persönliche As-sistenz ein zentrales emanzipatorisches Modell. Der Anspruch darauf muss für alle Menschen mit Behinderung entsprechend ihrem Bedarf geltend gemacht werden.“ Von einem neuen Bundesteilhabegesetz fordert Horst Ladenberger spürbare Fort-schritte für die Menschen mit Behinderung.

Interview Herr Ladenberger

Page 99: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

99

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Sicherung von Mobilität.

Über kaum etwas können Menschen sich nachhaltiger ärgern, kaum etwas führt zu größerer öffentlicher Aufregung und Kritik, als Verspätungen oder sogar Totalausfäl-le des ÖPNV während größerer Streikaktionen. Auch staufördernde Baustellen auf den Straßen als Einschränkungen der Mobilität bringen den Alltag der Menschen aus demTaktundwerdenganzallgemeinalsempfindlicheEinbußederLebensqualität wahrgenommen. Das sieht Horst Ladenberger genauso und hält deshalb auch das aktuell noch immer gültige Verbot der Mitnahme von Elektro-Scootern in Bussen des ÖPNV für ausgrenzend und völlig unangemessen. Jede Entscheidung dieser Art habe einschneidende Auswirkungen für die betroffenen Nutzer von E-Scootern, denn es existiere eine alternativlose Abhängigkeit von einer Beförderung durch die Busse und Bahnen.

„Studien, die das reine Gefährdungspotenzial von Fahrrädern, Kinderwägen oder ungesichertem sperrigen Gepäck in Bussen und Bahnen untersuchen würden, kä-men sicherlich ebenfalls zu beunruhigenden Ergebnissen. Solche hat man aber nicht durchgeführt oder aber nicht mit den gleichen Konsequenzen öffentlich gemacht“, erklärt er.

Auch das oft vorgebrachte Argument, dass viele Menschen den Elektro-Scooter nur aus Bequemlichkeit nutzen, sei völlig abwegig und diskriminierend. Bereits vor dem Verbot im Dezember 2014 war bei vielen Verkehrsunternehmen die Beförderung an das Mitführen eines gültigen Schwerbehindertenausweises mit den Kennzeichen „G“ für gehbehindert oder „aG“ für außergewöhnlich gehbehindert gebunden.

Die E-Scooter-Diskussion ist für Horst Ladenberger eines von vielen Beispielen. Men-schen mit Behinderung werden an vielen Stellen in ihrer Mobilität eingeschränkt. Da-bei haben sie spätestens seit der UN-Konvention das gleiche Recht auf Mobilität wie nichtbehinderte Menschen. Mobilitätshindernisse und Einschränkungen wie kaputte Aufzüge in Bahnhöfen und Gebäuden, fehlende Blindenampeln, zugestellte Bürger-steige oder teuere Fahrtendienste belasten und erschweren den Alltag. Sie kosten zudem wertvolle Lebenszeit und treiben in der Konsequenz Menschen in die soziale Isolation, weil sie am öffentlichen Leben nicht angemessen teilhaben können.

Von Vera von Achenbach

Page 100: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

100

Fakten: Selbstbestimmte alltägliche Lebensführung in NRW.

Wohnen

Der Parallelbericht der Monitoring-Stelle hinterfragt für ganz Deutschland im Be-reich des Wohnens vor allem die nahezu konstante Zahl der Menschen in stationä-ren Wohnformen und den Mangel an alternativen Wohnmöglichkeiten. Zudem wird kritisiert, dass deutschlandweit die dominierende Wohnform für Menschen mit Be-einträchtigung noch immer das stationäre Wohnen ist. Es wird empfohlen, gemein-sam mit Menschen mit Beeinträchtigung einen Strukturwandel im Bereich Wohnen herbeizuführen. Dabei sollte auch die Eingliederungshilfereform an den Prinzipien von Inklusion und Selbstbestimmung ausgerichtet werden.Entgegen der Kritik im Parallelbericht kann für NRW eine Veränderung der Wohnsituation von Menschen mit Behinderung angeführt werden. So wurden zum Stichtag 30.06.2014 mehr An-träge auf Leistungen zum ambulant Betreuten Wohnen als zum stationären Woh-nen bewilligt. Die Zahl der weiblichen Antragssteller liegt beim ambulant Betreuten Wohnen deutlich über der Zahl der Antragstellerinnen für stationäres Wohnen.

Tabelle 4-1: Vergleich der bewilligten Anträge auf Leistungen zum stationären und ambulant Betreuten Wohnen in NRW, differenziert nach Geschlecht.

Stationäres Wohnen Ambulant Betreutes Wohnen

Nach Geschlecht

Männer 25.452

Frauen 17.692

Männer 29.676

Frauen 26.210

Summe NRW 43.144 55.886

Quelle: Basisdaten MAIS, eigene Darstellung

Auffällig ist, dass im stationären Bereich vor allem Menschen mit einer geistigen Behinderung untergebracht sind, während im ambulant Betreuten Wohnen vor al-lem Menschen mit einer seelischen Behinderung dominieren.

Tabelle 4-2: Bewilligte Anträge nach Wohnform und Behinderungsart.

Menschen mit einer geistigen Behinderung

Menschen mit ei-ner körperlichen

Behinderung

Menschen mit einer seelischen

Behinderung Suchtkranke

Stationäres Wohnen 27.757 2.028 10.401 2.936 Ambulant Betreutes Wohnen

12.618 1.113 34.539 7.586

Quelle: Basisdaten MAIS, eigene Darstellung

Die Wohnqualität ist für viele Menschen mit Beeinträchtigungen untrennbar ver-knüpft mit der Verfügbarkeit und der Qualität sozialer Dienste. Zusätzlich spielen die besonderen Rahmenbedingungen der Finanzierung von Hilfen zum Wohnen einegroßeRolle.Sokommteshäufigvor,dassPersonen,diebeeinträchtigtsind, aber keinen Antrag auf Betreutes Wohnen gestellt haben, in Wohnverhältnissen leben, die nicht ihren Bedürfnissen entsprechend barrierefrei ausgestaltet sind.

Selbstbestimmte alltägliche Lebensführung.

Page 101: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

101

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Gerade bei Neubauten muss daher der Aspekt der Barrierefreiheit in den Fokus gerücktwerden.ZudemdarfimHinblickaufdendemografischenWandeldasAu-genmerk nicht allein auf der Schaffung billigen Wohnraums liegen. Zu beachten ist, dass zum Beispiel Menschen, die in einen preiswerten Wohnraum einziehen, im Al-ter womöglich auf einen Rollstuhl oder einen Rollator angewiesen oder bewegungs-eingeschränkt sind. Ist die Wohnung nicht barrierefrei zugänglich und nutzbar und ein entsprechender Umbau nicht ohne erheblichen Mehrkostenaufwand möglich, müssen diese Menschen aus ihrer Wohnung ausziehen, ggf. in ein Wohn-, Alten- oderPflegeheim.DafürtragenbeieinkommensschwachenPersonendieKommu-nen die Kosten. Der Wohngeldzuschuss für barrierefreie Wohnungen ist hingegen wesentlich geringer als der für Wohnheimplätze. Studien der Bundesregierung ha-bendiesefiskalischenEffektebemessen.

Entlastungswirkungen der Barrierefreiheit.

Verwiesen sei hier vor allem auf die Studie „Potenzialanalyse altersgerechte Wohn-anpassung“ des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung aus dem Jahr 2014 sowie auf die Studie „Wohnen im Alter. Marktprozesse und wohnungspo-litischer Handlungsbedarf“ des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadt-entwicklung die in Zusammenarbeit mit dem KDA Köln im Jahre 2011 entstand. Sie beschreiben durch verschiedene Szenarien die Entlastungswirkungen der Barrie-refreiheit von Wohnungen zum Beispiel durch vermeidbare oder verzögerte Heim-eintritte. Barrierefreier Wohnraum kann also auch auf die Kommunen eine entlas-tende Wirkung haben.

Neben den Kommunen ist vor allem die Wohnungswirtschaft gefragt, neue Möglich-keitenzurHerstellungvonBarrierefreiheitzufinden.AlseinBeispieleinesflexib-len Umbaus zur Barrierefreiheit ist der Bürobau der letzten Jahrzehnte anzusehen. Dort werden Versorgungsleitungen in einzelnen Wänden ausgespart und Zwischen-wände so geplant, dass ein Versetzen leicht möglich ist. Es muss gemeinsam ein Weg gefunden werden, die Interessen von Vermietern, Mietern und Kommunen zu berücksichtigen und barrierefreien Wohnraum bereitzustellen. Denn in NRW gibt es zu wenig uneingeschränkt zugängliche und nutzbare Wohnungen.

Alleine wohnen, ohne alleine zu leben.

Damit ist auch die selbstbestimmte Wahlmöglichkeit des Wohnortes und der Wohnform für Menschen mit einer Beeinträchtigung eingeschränkt. Betroffene, die es sich leisten können und dazu in der Lage sind, verlassen daher die versor-gungsarmen Gebiete und ziehen in die Stadt. Dort ist die Zugänglichkeit und Nutz-barkeit der Wohnungen (einschließlich des unmittelbaren Wohnumfelds) auch für Menschen mit Beeinträchtigung eher gegeben. Ziel für NRW sollte an dieser Stelle die Förderung selbstbestimmten Lebens bzw. Wohnens unter dem Motto „Alleine wohnen, ohne alleine zu leben“ sein.

Page 102: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

102

Mobilität

Barrierefreiheit istdieAuffindbarkeit,ZugänglichkeitundNutzbarkeitdergestal-teten Lebensbereiche für alle Menschen (vgl. § 4 BGG NRW). Nach Artikel 20 der UN-BRK sollen die Vertragsstaaten wirksame Maßnahmen zur Sicherstellung der persönlichen Mobilität mit größtmöglicher Unabhängigkeit treffen. Dies bedeutet u. a. die Zugänglichkeit und Nutzbarkeit öffentlicher und öffentlich zugänglicher Verkehrsmittel und zugehöriger Anlagen herzustellen. Gelingen kann dieses Vor-haben, indem Bahnhöfe, Bahnsteige, Bus- und U-Bahnhaltestellen mit Aufzügen, Rampen, Leitsystemen aus Bodenindikatoren, Prismen- oder Brailleschrift, ertast-baren Lageplänen und Ähnlichem ausgestattet werden. Züge, Busse und U-Bahnen sollten zudem barrierefrei nutzbar sein. Neben rollstuhlgerechten Toiletten in Zü-gen sind auch hier digitale Informationssysteme, Ein- und Ausstiegshilfen und eine ausreichende Breite der Gänge zur Sicherung der Barrierefreiheit beispielhaft zu nennen.AnstellederStandardbussesolltenNiederflurbussezumEinsatzkommen. Diese erleichtern die selbstbestimmte Nutzung der Verkehrsmittel. Schlussendlich ist jedoch auch die Geschlossenheit der Beförderungskette für eine barrierefreie Mobilität wichtig. Es muss möglich sein, barrierefrei von einem Bus in einen ande-ren Bus oder eine U-Bahn umsteigen zu können. Daten über die Barrierefreiheit von Beförderungsketten liegen jedoch nicht vor. Hier zeigt sich eine deutliche Lücke im System.

Unterschiede zwischen Stadt und Land.

Zudem sind ländliche und städtische Regionen differenziert zu betrachten. Derzeit sind ländliche Gegenden wesentlich weniger barrierefrei als städtische Regionen. Davon sind vor allem ältere Menschen betroffen. Die kommunale Familie sollte ih-rem Auftrag aus Artikel 9 der UN-BRK deutlicher nachkommen.

Die Kommunen verkennen hier vollends die breite Verantwortlichkeit im Rahmen der Daseinsvorsorge der Mobilität. Eine Abgabe an Beauftragte (sprich Verkehrs-unternehmen oder Verkehrsverbünde) entlässt sie nicht aus der Verantwortung.

Der Erfüllungsauftrag im Gesamtkontext der Verfassung und der Gesetze liegt wei-terhin bei Ihnen. Gerade die Debatte um die Mitnahme der E-Scooter in den letzten Monaten zeigt, wie wenig Problembewusstsein hier vorliegt.

Öffentlicher Raum.

Ähnlich dem öffentlichen Verkehrsnetz sollten auch öffentlich genutzte Gebäude, Straßen und Plätze barrierefrei gestaltet werden. Dazu zählen vor allem Behörden, Ämter und Verwaltungsgebäude, aber auch Einkaufsläden und öffentliche Grün-anlagen.DerzeitstoßenBetroffeneindiesenBereichennochhäufigaufBarrieren.

Die Zugänglichkeit und Nutzbarkeit öffentlichen Raumes stellen Grundvorausset-zungen für eine selbstbestimmte Gestaltung des Alltags dar. Hier gibt es jedoch derzeit noch so viele Einschränkungen, dass die meisten Menschen mit Beeinträch-

Selbstbestimmte alltägliche Lebensführung.

Page 103: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

103

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

tigungen weit davon entfernt sind, das alltägliche Leben selbstbestimmt zu führen. Schlimmer noch, sie sind in ganzen Teilen von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Dieser Missstand muss behoben werden. Hier sind die Kom-munen in einer Bringschuld. Wichtig ist es, Fristen zu stellen und klar festzuhalten, bis wann der öffentliche Raum barrierefrei zu gestalten ist. Inzwischen haben die Kommunen dem Landesgesetzgeber und der Landesregierung mehrfach die Ein-grenzung der Landeskompetenz durch die Konnexität vor Augen geführt. Hier fällt dieseArgumentationaufdiekommunaleFamiliezurück,wodieErfüllungspflicht liegt.

Exkurs: Barrierefreiheit einmal anders gerechnet.

In vielen Debatten auf Landesebene und vor Ort wird die Chance des Zugewinns für die Gesellschaft durch ein „Denken an Alle“ nicht gesehen. An dieser Stelle sei vor allem auf die fehlende Entwicklung eines Universellen Designs im Sinne der UN-BRK hingewiesen. Gerade das Umdenken im Verlauf der Umsetzung der UN-BRK gibt uns aber die Möglichkeit, neue Ansätze zu sehen. An dieser Stelle soll versucht werden, den Vorteil der Barrierefreiheit etwas anders zu berechnen.

In der amtlichen Schwerbehindertenstatistik werden die Menschen mit einer körperlich motorischen Beeinträchtigung, wie folgt dargestellt.

Abbildung 4-1: Schwerbehinderte Menschen am 31.12.2013 nach der Art der Behin-derung.

Verlust  oder  Teilverlust  von  Gliedmaßen  

1%  

sons5ge  und  ungenügend  bezeichnete  

Behinderungen  31%  

Querschni?slähmung,  zerebrale  Störung,  geis5g-­‐seelische  Behinderung,  

Suchtkrankheiten  17%  

Beeinträch5gung  der  Funk5on  von  inneren  

Organen  bzw.  Organsystemen  

21%  

Verlust  einer  Brust  oder  beider  Brüste,  Entstellungen  u.a.  

2%  

Sprach-­‐  oder  Sprechstörungen,  

Taubheit,  Schwerhörigkeit,  Gleichgewichtsstörungen  

3%  

Blindheit  und  Sehbehinderung  

4%  

Funk5onseinschränkung  der  Wirbelsäule  und  des  Rumpfes,  Deformierung  

des  Brustkorbes  10%  

Funk5onseinschränkungen  von  Gliedmaßen  

11%  

Quelle: IT.NRW, eigene Darstellung

Deutlich wird die Orientierung der Verteilung der Schwerbehindertenstatistik an Einschränkungen in körperlichen Funktionen und Strukturen. So sind mit 21,1 % Be-einträchtigungen der Funktion von inneren Organen und mit 16,7 % Querschnitts-

Page 104: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

104

lähmung, zerebrale Störungen, geistig-seelische Behinderung und Suchtkranke die größten Gruppen spezifischer Behinderungsarten.Weitere häufiger auftretende Arten der Behinderung sind Funktionseinschränkungen von Gliedmaßen (11,3 %) und Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule (9,8 %). Die am wenigsten ver-tretene Art der Behinderung in der Schwerbehindertenstatistik sind Verluste oder Teilverluste von Gliedmaßen (0,5 %). Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Grup-pe der sonstigen und ungenügend bezeichneten Behinderungsarten mit 30,9 % verhältnismäßig groß ist.

Die Beschreibung der schwerbehinderten Menschen nach Art der Behinderung anhand dieser Statistik gibt keinen Aufschluss über die Anzahl der Menschen, die in NRW durch räumliche „Barrieren“ in ihrer gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe eingeschränkt werden. Im folgenden Beispiel wird der Versuch unternom-men, auch dieser Gruppe, also den durch räumliche Barrieren „behinderten“ Men-schen ein Gesicht zu geben.

Dem liegt die Fragestellung zugrunde, wer eigentlich etwas von einer barrierefreien oder zumindest barrierearmen Gestaltung des öffentlichen Verkehrsraumes hat.

Die folgende Tabelle 4-3 veranschaulicht für NRW die unterschiedlichen Gruppen von Bürgern, die ein Interesse an einer barrierefreien Gestaltung des öffentlichen Raums haben.

Tabelle 4-3: Bürgerinnen und Bürger in NRW, die ein Interessen an Barrierefreiheit im öffentlichen Raum haben.

Anzahl Säuglinge und Kleinkinder im Kinderwagen o.ä. Ca. 145.000 1-2-jährige Kinder im Kinderwagen Ca. 145.000 Menschen, die diese Kinder regelmäßig schieben Ca. 870.000 Rollstuhlfahrer/innen Ca. 350.000 Menschen, die diese regelmäßig schieben Ca. 110.000 Nutzer/innen von Rollatoren Ca. 400.000 Zwischensumme: 2.020.000 Zusätzlich: Menschen über 75, die ggf. bewegungseingeschränkt sind 1.800.000 Gesamt: 3.820.000

Quelle: Eigene Darstellung.

Diese Übersicht macht deutlich, dass weit über 20 Prozent der derzeitigen Bevöl-kerung heute ein Interesse an Barrierefreiheit bzw. zumindest an Barrierearmut ha-ben. Barrierefreiheit muss dabei auch über den kompletten Lebenszyklus gedacht werden. So sollte sich jeder bewusst machen, dass er im Verlauf seiner Kindheit selbst im Kinderwagen saß. Erfüllt sich im Erwachsenenalter der Traum von einem eigenen Kind, so schiebt man einen Kinderwagen. Zudem wünschen sich viele von uns Enkelkinder, die ebenfalls im Kinderwagen geschoben werden. In der Regel müssen viele von uns irgendwann im Leben auch einen Rollstuhl schieben. Und niemand wird ausschließen können, selbst eines Tages einen Rollator nutzen oder in einem Rollstuhl sitzen zu müssen.

Selbstbestimmte alltägliche Lebensführung.

Page 105: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

105

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Jeden oder jede von uns trifft es also mindestens einmal im Leben. Meistens sogar in mehreren Phasen unseres Lebens. Mehr als jeder Fünfte von uns ist derzeit be-troffen. Sollten wir also nicht alle mehr auf Barrierefreiheit achten und sie in abseh-barer Zeit auch durchsetzen?

Politische Partizipation.

Zu einem selbstbestimmten Leben gehören die Entscheidungsfähigkeit und die Möglichkeit einer eigenverantwortlichen Gestaltung der Lebensumstände. Eine solche Gestaltungsmöglichkeit ist die politische Partizipation auf Bundes-, Lan-des- oder Kommunalebene. In Artikel 3 Abs. 3 des Grundgesetzes heißt es: „Nie-mand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Gerade in Bezug auf die politische Partizipation sieht die Monitoring-Stelle in ihrem Parallelbericht hier nochvermehrtenHandlungsbedarf.Sieempfiehlt,dieBetroffenenbeiderErarbei-tung und Umsetzung von Gesetzen, Programmen und Strategien zur Umsetzung der UN-BRK aktiv einzubeziehen. So muss an dieser Stelle auch an die Gesetzge-ber appelliert werden. Das Justizsystem sieht zum Beispiel nur punktuelle Hilfen beibestimmtenBeeinträchtigungenvor.SofindenMenschenmitpsychosozialen und/oderLernschwierigkeitenhäufigkeinehinreichendeBerücksichtigung.Esfeh-len beispielsweise behinderungsgerechte Regelungen bzgl. Prozesskosten oder niedrigschwellige Beratungs- und Beschwerdemöglichkeiten. Auch das Wahlrecht schließt zwei Gruppen von Menschen mit Beeinträchtigungen per Gesetz von der aktiven selbstbestimmten Teilnahme an Wahlen aus. Davon betroffen sind Per-sonen, die in allen Angelegenheiten betreut werden und Personen, die im Maßre-gelvollzug leben. Zudem werden auch Nicht-sehende Personen und Personen mit motorischen Einschränkungen nicht selten bei der Ausübung ihres Wahlrechts be-hindert. Es kommt vor, dass keine Wahlschablonen in Brailleschrift vorhanden sind, da diese bisher nicht vom Gesetzgeber vorgeschrieben werden. Auch die barriere-freie Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der Wahllokale ist nicht überall gegeben. In NRW ist die politische Partizipation vor allem im Inklusionsbeirat, im Fachbeirat Partizipation und im Landesbehindertenbeirat gegeben.

Mit diesen Beiräten und den o.a. Projekten wurden in NRW wichtige Schritte unter-nommen, das Ziel einer gesetzlichen Regelung politischer Partizipation von Men-schen mit Beeinträchtigung in allen Bereichen sicherzustellen jedoch noch nicht erreicht. Insbesondere eine Änderung der Gemeindeordnung könnte hier die Ver-pflichtungvorOrtfürBehindertenbeiräte,BeauftragteoderBeteiligungsprozesse sicherstellen. An dieser Stelle besteht noch immer ein Mangel an Partizipation.

Vor diesem Hintergrund sollten in NRW zum einen sämtliche bestehende rechtli-che Instrumente zeitnah evaluiert und ggf. neue geschaffen werden. Zum anderen solltendieGepflogenheitenundPraktiken,diebislangdieHerstellungvonBarriere-freiheit beeinträchtigen und damit das selbstbestimmte Leben von Menschen mit Beeinträchtigungen im Alltag behindern, analysiert und beseitigt werden.

Page 106: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

106

Gesundheit.

5. Gesundheit.

Jeder Mensch, ob mit oder ohne Beeinträchtigung, hat ein Recht auf ein Höchstmaß an Gesundheit. In Artikel 25 der UN-BRK wurde dieser Grundsatz festgeschrieben. Auch Menschen mit Beeinträchtigungen haben ein Recht auf eine gleichberechtig-te,gemeindenaheundgeschlechtsspezifischeGesundheitsversorgung,ohnedabei Diskriminierung zu erfahren. Insbesondere sollen Leistungen in der gleichen Band-breite und derselben Qualität erbracht werden. Die UN-BRK betont hier besonders dieNotwendigkeitgleicherQualitätsstandardsfürsexual-undfortpflanzungsmedi-zinische Leistungen. Zudem ist es wichtig, die Gesundheitsleistungen unentgeltlich bzw. zu erschwinglichen Kosten anzubieten. Eine Vorenthaltung von Gesundheits-leistungen oder ein übermäßig hoher Beitrag bzw. Ausschluss aus Kranken- oder Lebensversicherungen ist eine nicht zu tolerierende Diskriminierung. Die UN-BRK fordert die Schulung der Angehörigen der Gesundheitsberufe im Umgang mit Menschen mit Behinderungen. Nur so kann eine gleiche Qualität der Versorgung sichergestellt werden. Zusätzlich müssen auch Gesundheitsleistungen angeboten werden, die speziell aufgrund der Behinderung benötigt werden, so zum Beispiel Früherkennung und Frühförderung.

Page 107: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

107

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Zur Lage in NRW. Die Landesgesundheitskonferenz.

Nordrhein-WestfalenbefindetsichbeiderUmsetzungdieserForderungenaufei-nem guten Weg. Auf der 22. Landesgesundheitskonferenz (LGK) 2013 wurden im Sinne der UN-BRK umfassende Anpassungen des Gesundheitssystems angesto-ßen. Die LGK ist ein Zusammenschluss aller wichtigen Akteure des Gesundheits-wesens in NRW unter der Leitung des Ministeriums für Gesundheit, Emanzipation, PflegeundAlter.SiesetztsichzusammenausdenSozialversicherungsträgern,der verfassten Ärzte- und Zahnärzteschaft, Apothekerinnen und Apothekern, den Kran-kenhausgesellschaften, Arbeitgebern und Gewerkschaften, den Wohlfahrts- und Landschaftsverbänden sowie den kommunalen Spitzenverbänden, Vertretern von Einrichtungen der Gesundheitsvorsorge und des Patientenschutzes und Vertretern der gesundheitlichen Selbsthilfe. Zusammen wollen sie das Gesundheitswesen in NRW weiterentwickeln. Dazu haben sie eine Analyse des Gesundheitswesens vor-genommenundachtdefizitäreBereichemitHandlungsbedarfgeneriert.InBezug auf diese acht Felder erfolgten Handlungsempfehlungen zur konkreten Umsetzung der Forderungen aus der UN-BRK.

Die Landesgesundheitskonferenz bezieht sich in ihren Ausführungen auf die An-passung des Gesundheitssystems für Menschen mit Beeinträchtigungen. Fragen rund um einen verantwortungsvollen Umgang mit dem menschlichen Leben an sich bleiben unberührt.

Das „Kompetenznetzwerk Stammzellforschung NRW“.

Diese ethischen Debatten werden an anderer Stelle geführt. Das Ministerium für Inno-vation, Wissenschaft und Forschung fördert für dieses Ziel das „Kompetenznetzwerk Stammzellforschung NRW“. Nordrhein-Westfalen unterstützt damit als einziges Bun-desland eine Initiative, die sich mit Fragen rund um das Thema Stammzellforschung auseinandersetzt. Das Kompetenznetzwerk umfasst Mediziner, Naturwissenschaftler, Philosophen, Sozialwissenschaftler, Juristen und Theologen. Gemeinsam diskutieren sie in zwei Arbeitsgemeinschaften (Biomedizin & Ethik-Recht-Sozialwissenschaften) über einen verantwortbaren und transparenten Umgang mit dem Thema der Stamm-zellforschung. Der Forschungsstand auf diesem Gebiet gibt Anlass zu der Erwartung, dass in einigen Jahren große Fortschritte auf dem Gebiet der Stammzelltherapie erzielt werden. Damit erscheint Stammzellforschung fähig, in einigen Bereichen den Zustand „Behinderung/Beeinträchtigung“ als solchen von einem unveränderlichen Zustand zu einem Status der „heilbaren Krankheit“ umzucodieren. Stammzellforschung wirft damit vielfältige ethische, aber auch rechtliche Fragen auf. Dieser Forschungszweig ist dadurch aber nicht per se zu verurteilen. So könnten beispielsweise vererbte Gende-fekte oder chronische Krankheiten gelindert und die Qualität des Lebens Betroffener dadurch gesteigert werden. Die breite Öffentlichkeit muss sich zwingend damit ausei-nandersetzen und Normen und Regeln vereinbaren, auf deren Grundlage Stammzell-forschung in der Gesellschaft akzeptiert und gefördert werden kann. Das Thema darf nicht allein eine von Experten geführte Fachdebatte bleiben.

Page 108: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

108

Zu diesem Zweck enthält das vorliegende Kapitel einen Gastbeitrag des Kompe-tenznetzwerks Stammzellforschung NRW. Er gibt einen kurzen, grundlegenden Überblick zum Thema Stammzellforschung und zum Stand der Therapieentwick-lung mit dem Ziel. Pateinten zu informieren. An dieser Stelle geht es ausdrücklich nicht um die Bewertung pränataler Diagnostik oder anderer vorgeburtlicher Prakti-ken. Abschließend folgt ein Kommentar zum Beitrag des Kompetenznetzwerks aus Sicht der katholischen Kirche von Pfarrer Dr. iur. Antonius Hamers.

Herausforderungen, denen wir uns stellen sollten. Mit der 22. Landesgesundheitskonferenz hat NRW bei der Umsetzung der UN-BRK einen großen Schritt in Richtung eines inklusiven Gesundheitssystems getan. So werden nicht nur einzelne Beeinträchtigungsformen oder einzelne Akteure Adres-sat von Handlungsempfehlungen. Stattdessen liegt der Fokus auf einer Verände-rung und einer besseren Verzahnung der einzelnen Systeme zu einem inklusiven Gesundheitssystem. Schnittstellenproblematiken zum Beispiel bei der Übernahme der Kosten für Behandlungen oder Heilmittel sollen so vorbeugend vermieden wer-den.ImSinnederInklusionwerdendabeispezifischeUnterstützungsbedarfezum Beispiel chronisch kranker Menschen sowie der Menschen mit unterschiedlichen Formen von Sinnesbeeinträchtigungen oder kognitiven Fähigkeiten prinzipiell mit-gedacht. Zudem wird der Herstellung einer umfassenden Barrierefreiheit als Teil-aspekt einer inklusiven Gesellschaft Rechnung getragen. Damit nimmt NRW eine Vorreiterstellung in Deutschland ein.

• Auf den verschiedenen Treffen und Veranstaltungen der Beauftragten der Länder und des Bundes wird seit dem Beschluss der 22. Landesgesund-heitskonferenz mit großem Respekt auf die Beteiligten in NRW geschaut. Die Umsetzung der Handlungsempfehlungen sollte jedoch zwingend regelmäßig evaluiert werden. Die Ergebnisse dieser Evaluationen werden zeigen, wie weit die Inklusion im Gesundheitswesen in NRW tatsächlich vorangeschritten ist.

• Ein weiterer großer Schritt im Gesundheitswesen kann für NRW in der vom Land geförderten Auseinandersetzung mit den Chancen und Risiken der Stammzell-forschung gesehen werden.

Die Gastbeiträge in diesem Kapitel zeigen die damit verbundenen evtl. Möglichkei-ten der Therapierung von bisher unheilbaren Krankheiten. So ist im Falle einer Er-krankung an Leukämie eine Behandlung mit Blutstammzellen nach einer Bestrah-lung bereits gängige Praxis. Eine ähnliche Behandlung wäre zum Beispiel in Fällen von Multipler Sklerose, Querschnittslähmung und vielen weiteren ebenso denkbar, bisher fehlen hier jedoch abschließende wissenschaftliche Erkenntnisse. Durch kli-nische Studien bestätigte Therapien gibt es in diesen Fällen noch keine.

Berücksichtigt werden darf aber nicht nur der gesundheitsfördernde Aspekt. Je-dem Embryo wird mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle nach dem Em-bryonenschutzgesetz in Deutschland bereits als Ursprung menschlichen Lebens Würdeschutz zugesprochen. Zur Gewinnung embryonaler Stammzellen aber wer-den Embryonen verbraucht.

Gesundheit.

Page 109: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

109

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Damit können sie sich nicht mehr zu einem lebensfähigen Individuum entwickeln, aus ihnen können aber nahezu alle anderen Zellarten des menschlichen Körpers, die für die Forschung auf dem Gebiet der therapeutischen Anwendungen benutzt werden, gewonnen werden.

Hier stellt sich unweigerlich die Frage nach dem guten, dem „richtigen“ Handeln. Diese Frage sollte nicht allein auf fachlicher Ebene diskutiert werden. Vielmehr muss sich die Gesellschaft zwingend mit den moralischen, ethischen, medizinischen und therapeutischen Potenzialen der Stammzellforschung auseinandersetzen und die Herausforderung annehmen, gemeinsame Wege und Handlungsmöglichkeiten zu finden.DiedenkbarenMöglichkeitendurchStammzellforschungsolltennichtun-beachtet bleiben oder durch ein Verbot gänzlich vernichtet werden. Gleichzeitig be-nötigen wir im Umgang mit diesem Forschungszweig ethische Regeln und Normen, die ein angemessenes Handeln rechtfertigen und ermöglichen.

• Es ist auf Dauer zu einfach, die Diskussion erst dann zu führen, wenn im Bundestag zu diesem Thema eine Abstimmung ansteht. Zu dieser wichtigen Frage braucht es eine fortlaufende breite gesellschaftliche Debatte, die neuere Entwicklungen der Forschung, wie auch den historischen Vorbelastungen Deutschlands aus der Zeit der NS-Herrschaft gerecht wird. Wir Menschen mit Behinderung sind beson-ders herausgefordert, differenzierter zu diskutieren und die Entscheidungsfin-dung, wie und unter welchen Bedingungen Stammzellforschung umgesetzt wer-den darf, zu unterstützen. Denn es sind Menschen aus unseren Reihen, die nach Genesung und Erleichterung ringen. Wer, wenn nicht wir kann die Gesellschaft bei der Entwicklung einer ehrlicheren Haltung unterstützen?

Empfehlungen der Landesgesundheitskonferenz.

Die 22. Landesgesundheitskonferenz (LGK) hat im November 2013 ein Papier verab-schiedet, das die Umsetzung der von der UN-BRK geforderten Rechte für NRW an-stößt und regelt.

„Die Landesgesundheitskonferenz (LGK) bekräftigt mit dieser Erschließung, die Ziele der UN-BRK im Rahmen ihrer Verantwortlichkeit nachhaltig umzusetzen. Die MitgliederderLGKsetzensichdafürein,einewohnortnahe,barrierefreieundflä-chendeckende Versorgung mit Präventions-, Gesundheits-, Rehabilitations- und Pflegeangebotensicherzustellen,diefürMenschenmitBehinderungenzugänglich sind. Sie berücksichtigen dabei die unterschiedlichen Ausgangslagen und Lebens-weisen der Geschlechter“ (22. LGK S. 2).

Ziel ist es, die gesundheitliche Regelversorgung in NRW im Sinne der Inklusion unter der Achtung der Menschenwürde und individuellen Autonomie weiterzuentwickeln und zu stärken. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die soziale Lage von Men-schen mit Beeinträchtigungen gelegt.

Page 110: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

110

Zur Umsetzung der UN-BRK trifft die LGK Handlungsempfehlungen.

• Soempfiehltsiebis2023denAnteilderbarrierefreierreichbarenbzw.ausgestal-teten Einrichtungen des Gesundheitswesens zu erhöhen. Langfristiges Ziel muss die Erreichung einer vollständigen baulichen, räumlichen, strukturellen, kommu-nikativen und informativen Barrierefreiheit von Versorgungseinrichtungen des Gesundheitswesens sein. Hilfen zur Unterstützung bei Belastung und Problemen, die bei der Nutzung von Versorgungseinrichtungen zur Verfügung stehen, sollten angepasst bzw. weiterentwickelt werden. Bereits bestehende Hilfs- und Unter-stützungsangebote auf kommunaler Ebene sollten mit ambulanten und stationä-ren Versorgungsstrukturen verzahnt werden.

•ZurSicherstellungdernotwendigenfachlichenExpertiseempfiehltdieLGKdas WissenunddieKompetenzenderbehandelndenÄrzte,derPflegenden,Therapeu-ten sowie aller weiteren Beteiligten zusammenzutragen und in einfach zugäng-lichen Leitlinien festzuhalten. Dazu ist eine Verbesserung der Kommunikation untereinander notwendig. Durch Aus-, Weiter- und Fortbildungen müssen zudem alle in der Patientenversorgung Tätigen befähigt werden, Menschen mit Behinde-rungen in einer angemessenen Haltung zu begegnen. Ein moderner Inklusions-begriff sollte schon in der Ausbildung aller Gesundheitsberufe vermittelt werden. FernersolltenzurWahrungeinerqualitativhochwertigenVersorgungspezifischer Syndrome bzw. Erkrankungen interprofessionelle Leitlinien entwickelt und die Versorgungsforschung vorangetrieben werden.

•WeiterempfiehltdieLGKdieStärkungzielgruppengerechterKommunikation.Es ist notwendig, Patienteninformationen und –beratung nutzerfreundlich anzubie-ten und internetbasierte Information auszubauen. Die Kommunikationsformen Leichte Sprache, Gebärdensprache, Lormen und Unterstützte Kommunikation bedürfen besonderer Berücksichtigung. Vorhandene Maßnahmen zur Gesund-heitsförderung und Prävention sollten auf ihre Eignung für die Inanspruchnahme durch Menschen mit Behinderungen geprüft und ggf. verändert werden.

• Zur Sicherstellung einer problemlosen Überleitung von Menschen mit Behinde-rungen zwischen verschiedenen Versorgungsformen sollten Strukturen und Ab-läufe der Versorgungseinrichtungen und Kostenträger weiterentwickelt werden. DieLGKempfiehlteinesektorenübergreifendeKooperationderVersorgungsein-richtungen. Ziel muss es sein, diese Überleitungsprozesse zum Nutzen der Men-schen mit Behinderungen zu verbessern.

• Im Zuge der Reform der Eingliederungshilfe empfiehlt die LGK auf eine Verfahrensvereinfachung an diesen Schnittstellen hinzuwirken. Zusätzlich ist eine enge Zusammenarbeit der Institutionen des Gesundheitswe-sens mit der Selbsthilfe erforderlich. Selbsthilfeangebote sollten auf ihre Barrie-refreiheit hin überprüft werden.

• Die Landesgesundheitskonferenz bittet die kommunalen Gesundheitskonferen-zen, die Weiterentwicklung der medizinischen Versorgung von Menschen mit Be-hinderungen im Sozialraum und vor Ort voranzutreiben.

Gesundheit.

Page 111: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

111

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Hohe Erwartungen: Therapeutische Perspektiven der Stammzellforschung. Gastbeitrag von Ira Hermann und Martin Heyer, Kompetenznetzwerk Stammzell-forschung NRW.

„Stammzellkliniken verkaufen Hoffnung“. So überschrieb das Nachrichtenmagazin Focus eine Meldung im Jahr 2012. Darin erfahren wir, dass es weltweit mehr als 100 Kliniken und Praxen gibt, die Therapien mit Stammzellen anbieten. Für viele schwe-re und bis jetzt unheilbare Erkrankungen wie Alzheimer, Diabetes und Multiple Sklerose, aber auch Querschnittslähmung und Zerebralparese, werden in solchen Kliniken Behandlungen angeboten. Wissenschaftler und Vertreter von Ärzte- und Patientenorganisationen warnen vor diesen Therapieangeboten. Woher kommt das große Interesse an der Stammzellforschung und sind die Hoffnungen berechtigt?

Warum Stammzellen?

Ein Erwachsener besteht aus 100 Billionen (100.000.000.000.000) einzelnen Zel-len. Nicht alle diese Zellen sind gleich. Eine Zelle im Herzmuskel sieht ganz anders aus und kann ganz andere Dinge als beispielsweise eine Nervenzelle im Rücken-mark. Von den verschiedenen Zellarten (also beispielsweise Muskelzellen, Ner-venzellen, Leberzellen u.s.w.) gibt es im menschlichen Körper ca. 200. Aber woher kommen diese verschiedenen Arten von Zellen, die dann im Körper so unterschied-liche Aufgaben erfüllen?

Offensichtlich sind bereits am Anfang des menschlichen Lebens, also im Embryo, alle Anlagen für den komplexen Bauplan des menschlichen Körpers vorhanden. Hier hat man so genannte embryonale Stammzellen entdeckt, die sich in alle 200 verschiedenen Zellarten verwandeln können (man spricht von Pluripotenz). Aber auch im Körper des geborenen Menschen müssen lebenslang Zellen ersetzt wer-den. Das bekannteste Beispiel ist das blutbildende System des Menschen, dessen verschiedene Komponenten wie die Blutkörperchen, Plättchen und verschiedene Immunzellen zum Teil nur wenige Stunden lang ihre Aufgabe erfüllen, bis sie durch frische Zellen ersetzt werden. Nur so kann man, ohne gesundheitlichen Schaden zu nehmen, Blut spenden, weil Stammzellen des blutbildenden Systems ständig für Nachschub sorgen.

Page 112: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

112

Diese Stammzellen, die an verschiedenen Orten in unserem Körper vorhanden sind und entweder ständig oder auf ein bestimmtes Signal hin – wie eine Hautverlet-zung etwa – für Zellersatz sorgen, nennt man adulte Stammzellen.

Adulte Stammzellen können sich nicht mehr in alle Zellarten des menschlichen Kör-pers differenzieren, sondern nur noch in bestimmte Zellarten (etwa verschiedene Zelltypen der Haut, der Leber oder des Nervensystems). Solche Zellen bezeichnet man als multipotent.

Nun sind viele Erkrankungen auf den Verlust von Zellen oder Zellfunktionen zurück-zuführen. Bei der Zuckerkrankheit kommt es zu einem Funktionsverlust bestimm-ter Zellen in der Bauchspeicheldrüse. Diese Insel- oder β-Zellen produzieren nor-malerweise das Hormon Insulin. Insulin wird gebraucht um Zucker zu verdauen. Wenn kein Insulin mehr produziert wird, kann Zucker, der bei der Ernährung aufge-nommen wird, nicht mehr abgebaut werden und der Körper überzuckert, was zu schweren Schäden führen kann. Aber auch bei neurologischen Erkrankungen ist der Ausfall von Zellen oft die Ursache. Bei Alzheimer, der Amyothrophen Lateralsklero-se oder der Multiplen Sklerose verlieren verschiedene Zellarten ihre Funktion und anders als im oben beschriebenen blutbildenden System gibt es hier offensicht-lich keine adulten Stammzellen, die bereit stehen, für Nachschub zu sorgen. In der Tat verfügt der menschliche Körper über so genannte regenerative und nicht (oder wenig) regenerative Organe. Während uns ein Muskelfaserriss, ein Knochenbruch oder eine Hautwunde lediglich Unannehmlichkeiten bereiten, regeneriert sich ein menschliches Herz nach einem schweren Herzinfarkt oder das Gehirn nach einem Schlaganfall leider kaum. Bei den meisten inneren Organen und dem neurologi-schen System – also Gehirn und Rückenmark - gilt: Zellen, die einmal abgestorben sind, können nicht mehr (oder nur noch in sehr geringem Maße) ersetzt werden.

Haut Hautzellen werden ständig erneuert. Je nach Alter dauert eine vollständige Erneu-erung zwei Wochen bis acht Wochen.

Knochen Knochenmaterial wird ebenfalls laufend aber langsamer erneuert. Man schätzt, dass manche Knochen bis zu 30 Jahre lang erhalten bleiben.

Darmepithel Die Auskleidung des Darms wird laufend erneuert. Nach wenigen Tagen ist die Runderneuerung vollständig.

Herz Das Herz gehört zu den kaum regenerativen Organen. Man schätzt, dass max. 1 % des Gewebes pro Jahr erneuert werden. Bei älteren Personen liegt dieser Wert deutlich niedriger

Leber Die Leber ist eins der wenigen regenerativen inneren Organe. In ca. 8 Monaten kann es hier zu einer Regeneration kommen.

Nerven/ZNS Nerven und das Zentrale Nervensystem sind ebenfalls wenig regenerativ. Mit den allermeisten Zellen muss man ein Leben lang auskommen.

Soweit die (bekannte) schlechte Nachricht. Nun kann man aber im Labor nach-weisen, dass besonders die oben erwähnten embryonalen Stammzellen, unter entsprechenden Wachstumsbedingungen, dazu gebracht werden können, alle 200

Gastbeitrag von Ira Hermann und Martin Heyer

Page 113: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

113

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

verschiedenen Zellarten herzustellen. Bilder von pumpenden Herzzellen und elekt-risch aktiven Nervenzellen gingen um die Welt und damit war die Hoffnung auf die so genannte Zellersatztherapie geboren. Die Idee dahinter: Man stellt aus Stamm-zellen den für den Patienten benötigten Zelltyp im Labor her und transplantiert diese dann dorthin wo die Ersatzzellen benötigt werden. Damit würden nicht nur krankheitsbedingte Zellverluste wie bei den oben beschriebenen Erkrankungen wie Diabetes oder Alzheimer auszugleichen sondern bestenfalls auch durch Unfälle er-zeugte Querschnittlähmungen oder Erblindungen zu heilen sein.

Der Stand der Forschung.

Die Stammzellforschung ist eine der jüngsten biomedizinischen Disziplinen. Menschliche embryonale Stammzellen etwa sind erst seit rund 15 Jahren bekannt. Aber aufgrund ihres großen Anwendungspotentials in der Medizin laufen die For-schungsarbeiten auf Hochtouren. Für die Entwicklung von gesicherten Zellersatz-therapien allerdings sind folgende Hürden noch zu nehmen:

• Sichere Umwandlung der Stammzelle in den benötigten Zelltyp.

• Herstellung einer genügend großen Anzahl des benötigten Zelltyps und anschlie-ßende Transplantation.

• Sicherstellung der Integration ins Zielgewebe und langfristige Funktionsübernah-me der transplantierten Zellen.

Während es bislang für die Herstellung von verschiedenen Zelltypen wie den un-terschiedlichen Nervenzellen etablierte Protokolle gibt, stellen die langfristige In-tegration der Ersatzzellen und die gesicherte Funktionsübernahme am Ort der Er-krankung eine größere Herausforderung dar. So müssen die transplantierten Zellen mit ihren Nachbarn kommunizieren und beispielsweise auch an die Blutversorgung angeschlossen werden.

Für die Erforschung stammzellbasierter Therapien wird parallel an adulten, emb-ryonalen und einer neuen Stammzellart, den induziert pluripotenten Stammzel-len (iPS), gearbeitet. Letztere lassen sich durch genetische Umprogrammierung von beispielsweise Hautzellen eines Patienten gewinnen und scheinen ähnliche Fähigkeiten wie die embryonalen Stammzellen zu besitzen. Ob und in welchem Umfang iPS Zellen in Zukunft therapeutisch eingesetzt werden können, muss noch erforscht werden. Bis heute ist nicht völlig klar, in welcher Hinsicht sich iPS Zellen von embryonalen Stammzellen unterscheiden und ob diese Unterschiede auch für den therapeutischen Einsatz von Bedeutung sind. Unabhängig davon, stellen diese patientenabgeleiteten Zellen eine gute Möglichkeiten für die Testung von Medika-menten dar und erlauben damit deutlich genauere Aussagen z.B. zu Verträglichkei-ten als es Tierversuche oft können. Außerdem bieten diese Zellen die Möglichkeit Krankheiten auf der Zellebene, also in der Kulturschale im Labor, untersuchen zu können. Daher nehmen iPS Zellen einen wichtigen Platz in der aktuellen Stamm-zellforschung ein.

Page 114: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

114

Welche Therapien gibt es bisher?

Bislang gibt es nur eine Gruppe von Krankheiten, die erfolgreich und regelmäßig mit Hilfe von Stammzellen behandelt wird. Diese Stammzelltherapie kennen die meisten noch unter dem Namen Knochenmarkspende. Bei Menschen, die an Leu-kämien oder verwandten Er-krankungen des Blut- und Immunsystems leiden, wird das erkrankte blutbildende System im Knochenmark mit Hilfe von Bestrahlung oder Chemotherapie zerstört. Bei dieser Behandlung werden aber leider auch die Blutstammzellen, die neues Blut und die Zellen des Immunsystems herstellen, zer-stört. Da niemand auf Dauer ohne ein Immunsystem leben kann, brauchen Men-schen, die so behandelt werden, neue Blut-Stammzellen. Dies wird erreicht, indem man Stammzellen eines passenden Spenders transplantiert.

Bei den übertragenen Blut-Stammzellen handelt es sich um adulte Stammzellen. Bis heute ist die Knochenmarkspende (heute sagt man auch Stammzelltransplan-tation) die einzige Therapie mit Stammzellen, die als Standardtherapie von den Be-hördenzugelassenistundweltweitangewendetwird.DochinjüngsterZeitfinden weitere Stammzellbasierte Behandlungsmethoden ihren Weg in die Anwendung. So gibt es nun eine in Europa zugelassene Zellersatztherapie für die Hornhaut des Auges, wenn diese durch Verbrennungen stark geschädigt ist und eine Erblindung droht.

Bevor ein Medikament oder eine Behandlungsmethode für die Behandlung von Menschen zugelassen wird, muss man erst sicher sein, dass sie wirkt und nicht mehr Schäden verursacht als andere, bereits bekannte Methoden (Nutzen-Risiko Abwägung).Umherauszufinden,obeineTherapiewirktundsicherist,werdenzu-nächst Tierversuche gemacht. Erst wenn bei diesen Tierversuchen festgestellt wird, dass eine Erprobung beim Menschen voraussichtlich sicher ist, wird die Therapie ineinemmehrstufigenVerfahrenamMenschenerprobt.DiesesVerfahrennennt man klinische Studie. Therapien, die noch nicht erfolgreich eine klinische Studie bestanden haben, dürfen nicht angeboten oder verkauft werden und können nur in seltenen Ausnahmen bei Menschen eingesetzt werden. Um eine solche Ausnah-me (genannt individueller Heilversuch) handelt es sich, wenn es kein zugelasse-nes Medikament gibt, um einen Patienten zu behandeln und der Arzt keine andere Möglichkeit sieht, um dem Patienten zu helfen, als den Einsatz der ungetesteten Therapie In den letzten Jahren sind vermehrt klinische Studien mit Stammzellen begonnen worden. Darunter sind Studien für Erkrankungen wie Amyothrophe La-teralsklerose, Diabetes, Herzinfarkt, Makuladegeneration, Morbus Parkinson, Mul-tiple Sklerose, Querschnittlähmung und Schlaganfall.

Gastbeitrag von Ira Hermann und Martin Heyer

Page 115: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

115

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Welche Fragen sollte ein Patient stellen?

Obwohl wir gerade festgestellt haben, dass es bislang nur wenige zugelassene The-rapien mit Stammzellen gibt, haben wir am Anfang dieses Artikels gelesen, dass es inzwischen überall auf der Welt Kliniken und Praxen gibt, die Behandlungen mit Stammzellen anbieten. Wie kommt das?

Die angebotenen Behandlungen sind in fast allen Fällen nicht gründlich erforscht. Man kann sich nicht sicher sein, dass sie überhaupt wirken und es besteht die Ge-fahr von Nebenwirkungen. In sehr vielen Fällen wird das gleiche Verfahren für die unterschiedlichsten Erkrankungen (in ganz verschiedenen Organen) verwendet. Die meisten Wissenschaftler, die sich mit Stammzellforschung befassen, haben große Zweifel, dass derartige unspezifische Verfahren überhaupt eine Wirkung auf die Erkrankung haben. Zudem sind mit diesen Behandlungen hohe Kosten für die Patienten verbunden. Bei einer Klinik, die in Deutschland solche Stammzellbe-handlungen angeboten hatte, kam es bei mehreren Patienten zu schweren Schä-digungen. Einer der Patienten verstarb sogar nach einer Behandlung, allerdings aufgrund eines chirurgischen Fehlers. Die betroffene Klinik wurde daraufhin von den deutschen Behörden geschlossen und bietet seitdem in Deutschland keine Be-handlungen mehr an.

Aus all diesen Gründen warnen ärztliche Fachorganisationen und Wissenschaftler davor, sich zum jetzigen Zeitpunkt einer ungeprüften Stammzellbehandlung zu un-terziehen.

Wenn Sie sich für eine Stammzellbehandlung interessieren, sollten Sie Vorsicht walten lassen. Erkundigen Sie sich bei Ihrem Hausarzt und holen Sie zusätzlich die Meinung eines ausgewiesenen Spezialisten ein. Wenn Sie nicht sicher sind, ob die angebotene Stammzellbehandlung sicher und wirksam ist, sollten Sie folgende Fragen stellen: • Gibt es zu der Behandlungsmethode klinische Studien oder beruhen Aus-

sagen über die Wirksamkeit auf Einzelberichten von Patienten? • Entspricht das Formular zu Patienteninformation und Einwilligung, das

der Anbieter ausgibt, den professionellen Standards? • Verfügt der Anbieter über eine Zulassung der Behandlung durch einen un-

abhängigen Ausschuss (zum Beispiel eine lokale Ethik - Kommission)? • Verfügt der Anbieter über die Zulassung einer Aufsichtsbehörde (zum

Beispiel der Europäischen Arzneimittelagentur)? Ein Patientenhandbuch finden Sie unter: http://www.stammzellen.nrw.de in der Rubrik „Über Stammzellen“

Page 116: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

116

Die Früchte des verbotenen Baumes?

Wie dargestellt, gibt es bislang nur in wenigen Anwendungsbereichen Behandlun-gen mit Stammzellen, die in klinischen Studien geprüft wurden und daher als wirk-samundsichergelten.JedochfindenimmermehrklinischeStudienmitStamm-zellen statt. Darunter sind auch Studien, in denen Zellersatz für erkranktes Gewebe aus humanen embryonalen Stammzellen gewonnen und eingesetzt werden soll.

Noch mal zur Erinnerung: Embryonale Stammzellen sind pluripotente Zellen, die (im Unterschied zu den multipotenten adulten Stammzellen, die in unserem Körper vorkommen) nur im menschlichen Embryo vorhanden sind. Während man adulte Stammzellen einfach aus dem Blut eines Spenders gewinnen kann, kann man em-bryonale Stammzellen nur aus 3 - 5 Tage alten Embryonen gewinnen. Die Stamm-zellen werden aus der so genannten Blastozyste entnommen, wobei der Embryo dabei zerstört wird. Bis heute gibt es keine Möglichkeit embryonale Stammzellen zu gewinnen und den Embryo gleichzeitig zu erhalten.

Quelle der Zeichnung: Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften

Die Frage, ob es zulässig ist, Zellen zur Forschung zu nutzen, die nur gewonnen wer-den konnten, indem man einen menschlichen Embryo zerstört, beantworten unter-schiedliche Länder anders. Im Wesentlichen hängt das davon ab, ob das Recht ei-nes Landes sehr frühe Embryonen schon als schützenswertes menschliches Leben behandelt. (Wenn Sie sich näher für die rechtliche und ethische Debatte um emb-ryonaleStammzelleninteressieren,findenSieeineausführlicheDarstellungunter http://www.stammzellen.nrw.de/ueber-stammzellen.html).

Gastbeitrag von Ira Hermann und Martin Heyer

Page 117: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

117

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

In Deutschland gilt seit der Verabschiedung des Embryonenschutzgesetzes 1991 jeder Embryo ab der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle als schützenswertes menschliches Leben. Die Zerstörung von Embryonen zu Forschungs- oder irgend-welchen anderen Zwecken ist in Deutschland daher verboten. Aus diesem Grund ist es in Deutschland auch nicht zulässig, embryonale Stammzellen zu erzeugen. Anders ist die Rechtslage aber, wenn deutsche Forscher an Stammzellen forschen wollen, die im Ausland hergestellt wurden. Das Stammzellgesetz von 2002 erlaubt es, Stammzellen, die im Ausland aus so genannten „überzähligen Embryonen“ ge-wonnenwurden, nachDeutschland zu importierenundunter strengenAuflagen daran zu forschen. Unter „überzähligen Embryonen“ versteht man solche Embry-onen, die bei einer Kinderwunschbehandlung erzeugt wurden, aber nicht weiter zu diesem Zweck verwendet werden können. Um dem Vorwurf zu begegnen, der deut-sche Gesetzgeber verbiete die Zerstörung von Embryonen in Deutschland, nehme es aber hin, dass im Ausland Embryonen verbraucht werden, wurde eine Stichtags-regelung eingeführt. Erlaubt ist der Import von Stammzellen nur dann, wenn sie vor einem bestimmten Datum im Ausland hergestellt wurden. Auf diesem Weg soll ausgeschlossen werden, dass extra für deutsche Forschung im Ausland Embryo-nen verbraucht werden, um Stammzellen zu erzeugen. Nur die Stammzelllinien, die schon zu diesem Zeitpunkt bestanden, können zu Forschungszwecken eingeführt werden. Bei der Arbeit mit adulten Stammzellen gibt es keine Einschränkungen. Somit besteht auch für deutsche Forscher die Möglichkeit in Zukunft mit adulten und embryonalen Stammzellen zu arbeiten und Therapien und andere Anwendun-gen zu entwickeln.

Klar ist, dass die Stammzellforschung eine innovative, aber auch umstrittene For-schungsdisziplin ist, die eine Vielzahl wichtiger Fragen an die Gesellschaft stellt. Eine fortlaufende ethische, juristische und politische Diskussion zu dem Thema ist von hoher Bedeutung um einen verantwortungsvollen Umgang mit Metho-den und Ergebnissen der Stammzellforschung sicher zu stellen. Die Aufgabe des Kompetenznetzwerks Stammzellforschung ist es einen Bezug zwischen natur-wissenschaftlicher Forschung und einem wertebezogenen Dialog über Forschung herzustellen. Durch Einbeziehung unterschiedlichster Standpunkte und ethischer Bewertungsansätze in die Arbeit unserer Gremien, wollen wir sicher stellen, dass die Grundsatzfragen der Stammzellforschung präsent bleiben ohne dabei den Blick auf neue ethische Herausforderungen, wie sie sich etwa aus dem weltweiten Angebot ungeprüfter Therapien ergeben, zu verstellen.

Zusammenfassung

Die bisherigen Ergebnisse der Stammzellforschung geben berechtigten Anlass zu der Erwartung, dass sie in Zukunft neue Therapien hervorbringen wird. Embryonale Stammzellen haben ein großes Anwendungspotential und es gibt eine wachsende Anzahl an klinischen Studien sowohl mit adulten, als auch mit embryonalen Stamm-zellen. Ob und wann jedoch stammzellbasierte Zellersatztherapien verfügbar sein werden, ist zurzeit noch ungesichert. Unklar ist, ob die Stammzellforschung in allen Bereichen, in denen momentan geforscht wird, Ergebnisse zeigen wird oder ob nur

Page 118: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

118

Therapien für bestimmte Organe/Erkrankungen entwickelt werden können. Genau wie Medikamente, müssen auch Zelltherapien gesichert und wirksam sein, damit sie für die Anwendung am Menschen zugelassen werden können. Dieses kann nur durch abgeschlossene klinische Studien und die Zulassung durch die zuständigen Behörden sicher gestellt werden.

Das Interesse von Patienten an privaten Anbietern von „neuen und innovativen“ The-rapien ist – besonders bei unheilbaren Erkrankungen – angesichts der ermutigenden Ergebnisse der bisherigen Forschung verständlich. Dabei ist aber dennoch größte Vorsichtgeboten.VieleAngebote,dieSieimNetzfinden,genügennichtdenmedi-zinischen Standards und sind weder wirksam noch sicher. Dazu kommt, dass viele dieser Angebote mit sehr hohen Kosten verbunden sind, die von den Kassen nicht übernommenwerden.IndemInformationskastenaufSeite115findenSieeinigeFra-gen, die Ihnen helfen können. die Wirksamkeit von neuartigen Stammzelltherapien kritischzuhinterfragen.AusführlichereInformationenfindenSieunter:

http://www.stammzellen.nrw.de. Zusätzlich sollten Sie immer auch Rücksprache mit Ihrem behandelnden Arzt oder auch einer medizinischen Fachgesellschaft halten. Ger-ne stehen Ihnen auch die Mitarbeiter des Kompetenznetzwerks Stammzellforschung NRW zur Verfügung. Sie können uns unter [email protected] erreichen.

Gastbeitrag von Ira Hermann und Martin Heyer

Page 119: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

119

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Page 120: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

120

Stammzellforschung – Anmerkungen aus ethischer Sicht. Kommentar von Pfarrer Dr. Antonius Hamers20, Leiter des Katholischen Büros NRW und Mitglied im Beirat des Kompetenznetzwerks Stammzellenforschung NRW.

Die Forschung an und mit menschlichen Stammzellen nimmt weltweit zu. Damit wächst die Hoffnung, auch bisher unheilbare Krankheiten zu therapieren und zu besiegen. Nur: Bislang haben sich die Hoffnungen und Erwartungen, die einige Forscher in Aussicht gestellt haben, bei weitem nicht erfüllt. Vielfach sind die Ri-siken nicht abschätzbar, und man kann nicht sicher prognostizieren, in welchem Verhältnis die Risiken zum Nutzen bzw. zum Therapieerfolg stehen. Diese Unwäg-barkeit macht die Hoffnung zur bloßen Spekulation. Derartige Therapien sind nicht nur rechtlich verboten. Sie sind zudem ethisch nicht vertretbar. Denn: Sie entspre-chen nicht einem guten und vernünftigen Handeln. Und genau dieser Frage geht die Ethik nach: Was ist gutes und vernünftiges Handeln? Dabei orientiert sich die Ethik, die Lehre vom guten und richtigen Handeln, an einer Grundaussage: Was immer du tust, handle klug und bedenke das Ende.

Eine Stammzelltherapie, die schon jetzt gut ist, weil sie etwas Gutes, sprich einen Heilungserfolg,hervorbringenkann, istdie landläufigals „Knochenmarkspende“ bekannte Therapie bei Blutkrebserkrankungen. Bei dieser Therapie werden dem Patienten adulte Blutstammzellen eines Spenders zugeführt, um die Neubildung des Blutes nach einer Chemotherapie wieder zu ermöglichen und anzuregen. Die dazu erforderlichen adulten Stammzellen werden aus dem Blut des Spenders ge-wonnen, der durch die Spende nicht oder nur wenig beeinträchtigt wird. Auch das macht eine solche Spende aus ethischer Sicht unproblematisch: Menschliches Le-ben wird weder vernichtet noch über Gebühr gefährdet.

Anders verhält es sich bei den Stammzellen, die aus einem Embryo gewonnen wer-den. Im Gegensatz zu den adulten Stammzellen, die sich nicht in beliebig viele ande-re Zellformen verwandeln können und daher nur multipotent sind, können sich die embryonalen Stammzellen zu nahezu allen anderen Zelltypen entwickeln und sind daher pluri- oder totipotent. Während sich pluripotente Zellen zwar in alle anderen Zelltypen verwandeln können, jedoch nicht mehr die Fähigkeit besitzen, zu einem

Gastbeitrag von Pfarrer Dr. Antonius Hamers

20 Wichtige Anregungen verdanke ich Herrn Dipl.-Theol. Christoph Krauß von der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentral-

stelle in Mönchengladbach.

Page 121: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

121

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

lebensfähigen Organismus heranzureifen, können sich totipotente Zellen zu einem selbstständig lebensfähigen Organismus entwickeln. Pluripotente Zellen können nach geltendem Recht zu Forschungszwecken in Deutschland eingeführt werden.

Aus katholischer Sicht ist ethisch problematisch, dass die Pluri- oder Totipotenz „erkauft“ wird mit der Zerstörung des Embryos. Das widerspricht dem Grundsatz, dass in der Stammzellforschung kein menschlicher lebendiger, autonomer Orga-nismus zerstört werden darf. Denn bereits der befruchteten Eizelle wird als Ur-sprung menschlicher Entwicklung eine Würde zugesprochen, die es aus ethischer Sicht verbietet, dieses menschliche Wesen, auch um der Heilung eines anderen Menschen willen, zu töten.

In diesem Zusammenhang wird darüber diskutiert, ab wann dem Embryo diese (Menschen-)Würde zukommt und ob es nicht noch anderer, externer Faktoren be-darf, damit sich der Embryo zum Menschen entwickelt - wie etwa der Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter. Dem ist entgegenzuhalten, dass be-reits die befruchtete Eizelle die Potenz hat, sich zu einem Menschen zu entwickeln, und dass die menschliche Würde nicht von anderen Eigenschaften oder Voraus-setzungen abhängig gemacht werden darf als allein von der Tatsache, ein mensch-liches Lebewesen zu sein. Ansonsten könnten auch Krankheiten, Behinderungen oder Einschränkungen die menschliche Würde relativieren. Aus katholischer Sicht muss dem menschlichen Leben Vorrang gegeben werden vor dem etwaigen For-schungs- und Therapieerfolg.

Dagegen ist es – wie bereits erwähnt – ethisch unproblematisch, Körperzellen zu verwenden, die als adulte Stammzellen bezeichnet und als multipotent angesehen werden. Bislang sind diese adulten, multipotenten Stammzellen eher Spezialisten, die nur bestimmte Zelltypen regenerativ ersetzen können, während pluripotente Zellen als „Alleskönner“ bezeichnet werden können. Diese Alleskönner gibt es aber eben nur auf Kosten der Zerstörung des Embryos. Hier könnte sich eine – ethisch erlaubte – Lösung abzeichnen:

In der medizinischen Forschung ist es gelungen, sogenannte induzierte pluripoten-te Stammzellen (iPS-Zellen) zu gewinnen. Dazu werden adulte Zellen verändert, indem man ein Gen hinzufügt und die adulten Zellen so mit den pluripotenten Ei-genschaften einer embryonalen Stammzelle versieht. Diese von japanischen Wis-senschaftlern entdeckte Möglichkeit bietet viele Chancen: Durch eine Reprogram-mierung erreicht man die Rückbildung zu einer pluripotenten Stammzelle. Diese Zellen können zwar als pluripotente Stammzellen verstanden und verwandt wer-den, entwickeln sich jedoch nicht zu einem vollständigen, lebensfähigen Organis-mus weiter. Allerdings ist dies technisch möglich, da die Reprogrammierung ein langwieriger Prozess ist, der nach Erreichen des Zustands der pluripotenten Zelle abgebrochen wird.

Page 122: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

122

Nun könnte man fragen, ob ein solcher Abbruch ähnlich wie beim „Embryonen-verbrauch“21 menschliches Leben zerstört und insoweit ethisch problematisch sein könnte. Doch die Körperzellen besitzen – anders als die embryonalen Stammzellen – kein autonomes Entwicklungspotential, so dass sie sich nicht zu einem neuen menschlichen Individuum entwickeln könnten. Allein durch Handlungsabsicht des Wissenschaftlers erhalten die Körperzellen pluripotente Eigenschaften. Aus unse-rer ethischen Sicht sind sie daher den adulten Stammzellen vergleichbar, die ja be-reits für Forschungs- und Therapiezwecke verwandt werden dürfen.

Zum Teil wird eingewandt, dass die induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS-Zel-len) andere ethische Fragen aufwerfen können. So könnte sich die Zelle unkontrolliert zu einer Keimzelle weiterentwickeln, deren „Aufgabe“ dann wiederum die Erzeugung eines neuen Organismus wäre. Doch wird die Entwicklung einer reprogrammierten Zellevondem„Programmierer“beeinflusst,derdieseEntwicklungaufdempluripo-tenten Status abbrechen kann. Insofern kann sich mit den iPS-Zellen einen Ausweg aus dem Zwiespalt bieten, entweder ethisch bedenkliche pluripotente Zellen zu ver-wenden oder ethisch unbedenkliche multipotente Zellen mit eingeschränkten Mög-lichkeiten zu verwenden. Hier wird weitere Forschung notwendig sein.

Die Verwendung von iPS-Zellen könnte zudem eine andere ethische Problemlage in Deutschland beenden: die Stichtagsregelung im Stammzellgesetz. Danach dür-fen momentan in Deutschland embryonale Stammzellen importiert und genutzt werden, die vor einem Stichtag im Ausland gewonnen worden sind. So wird in Kauf genommen, dass im Ausland menschliches Leben im embryonalen Zustand ver-nichtet worden ist. Zugleich entsteht der Eindruck, dass deutsche Forscher von ei-nemTunausländischerForscherprofitieren,wasvonunsausethischenGründen abgelehnt wird. Auch hier könnten iPS-Zellen einen gangbaren Ausweg bieten.

Der Bericht des LBB kommt zu Recht zu dem Ergebnis, dass die Stammzellenfor-schung berechtigten Anlass zu der Erwartung gibt, dass dieser Forschungszweig neue Therapien hervorbringen und Menschen begründete Hoffnung geben wird. Dass dies auch in einer Weise gelingt, die ethisch vertretbar ist und die das Leben in allen Stadien berücksichtigt und respektiert, daran gilt es ebenfalls zu arbeiten – damit die Hoffnung eine gute bleibt.

21 Mit diesem Begriff bezeichnet man die Tatsache, dass zur Gewinnung embryonaler Stammzellen, etwa aus „überzähligen“

Embryonen im Rahmen einer künstlichen Befruchtung diese getötet werden.

Gastbeitrag von Pfarrer Dr. Antonius Hamers

Page 123: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

123

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Page 124: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

124

Freizeit, Kultur und Sport.

6. Freizeit, Kultur und Sport.

Freizeit ist die Zeit im Leben, über die tatsächlich frei verfügt werden kann und in derdieRegenerationundErholungvomAlltagstattfindet.Zeit, indergearbeitet, Hausarbeit verrichtet, Ärzte besucht oder Reha-Maßnahmen wahrgenommen wer-den, zählt nicht dazu. Freizeit ist damit die Zeit, die übrig bleibt, wenn alle Dinge des Alltags erledigt sind. In diesen Erholungsstunden können Bedürfnisse nach Kom-munikation, Geselligkeit, Information, Bewegung und vieles mehr selbstbestimmt umgesetzt werden. Die Freizeit bietet somit Raum für freie Wahlmöglichkeiten, be-wusste Entscheidungen und selbstbewusstes soziales Handeln.

ZudemfindenwichtigeSozialisationsprozesse -dieEinordnungdesEinzelnen in die Gesellschaft – in der Freizeit statt. So entfalten kulturelle Handlungen, wie ein-fach mal ins Kino gehen und Sport in der Regel eine sinn-, identitäts- und gemein-schaftsstiftendeWirkung;siehaltenseelischundkörperlichfit.Freizeitaktivitäten entscheiden somit auch über den Grad der Inklusion jedes Einzelnen in der Gesell-schaft und tragen wesentlich zur Identitätsbildung und Selbstverwirklichung bei.

Artikel 30 der UN-Behindertenrechtskonvention garantiert das Recht auf kulturelle Partizipation, gemeint ist damit der Besuch von Museen, Bibliotheken, Kinos, The-ater, Sehenswürdigkeiten, touristischen Stätten und die Teilnahme an öffentlichen Freizeit- und Sportaktivitäten.

Die für die kulturelle Partizipation zur Verfügung stehende freie Zeit von Menschen mitBeeinträchtigung ist jedochhäufigeingeschränkt.SowendenMenschenmit

Page 125: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

125

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Beeinträchtigung mehr Zeit für die gesundheitliche Versorgung und die Verrichtung alltäglicher Dinge auf. Die tatsächliche Freizeit verringert sich damit im Vergleich zu Menschen ohne Beeinträchtigung. Dies geht oft zu Lasten sozialer Kontakte.

Im Rahmen der Ausgestaltung ihrer Freizeit haben Menschen mit Beeinträchtigung zudem nicht selten mit Vorurteilen zu kämpfen. Vor allem beim Thema Reisen be-steht noch immer die Annahme, Menschen mit Beeinträchtigungen, die einen Roll-stuhl nutzen, seien nicht mobil und würden in ihrer Freizeit eigenständig keine Rei-sen unternehmen. Urlaubs- und Erholungsangebote, die speziell für Menschen mit Beeinträchtigungausgeschriebensind,sprechendeshalbhäufigdieBetreuungs-personen der Betroffenen an. Nicht selten wird gleichzeitig mit Betreuungsange-boten vor Ort für Menschen mit Beeinträchtigung und mit Erholungsangeboten für Angehörige geworben. Damit steht auch der Bereich der Freizeitgestaltung noch immer unter einem Fürsorgegedanken. Menschen mit Beeinträchtigung werden viel zu selten als gleichberechtigte Adressaten und Nutzer von Angeboten im Frei-zeitbereich wahrgenommen.

Ein Wandel ist jedoch zu verzeichnen. Neben immer mehr barrierefreien Touris-musangeboten in NRW entsteht ein neues Problembewusstsein. So sollte es nach der UN-BRK jedem Menschen, ob mit oder ohne Beeinträchtigung, möglich sein, grundsätzlich ohne fremde Hilfe reisen zu können. Entsprechend muss auch die Beförderungskette zum Urlaubsziel hin und zurück bereits barrierefrei ausgestal-tet sein. Hier treten nicht selten Einschränkungen oder Hindernisse in der Zugäng-lichkeit und Nutzbarkeit auf. Ein Hotel mit Aufzug allein reicht nicht aus. So sollten sowohl Schlafzimmer als auch der Speisesaal, Flure und Toilettenräume rollstuhl-gerechtzugänglichundnutzbarsein.AuchfürAusflugszieleisteinebarrierefreie Ausgestaltung notwendig. Barrierefreiheit sollte in diesem Sinne nicht nur an bau-lichen Gegebenheiten festgemacht werden. Es mangelt an informativer Barriere-freiheit, so zum Beispiel an Stadtführern in Leichter Sprache oder als Audioversion. Touristenguides, wie zum Beispiel Stadt- oder Museumsführer müssten zudem in Leichter Sprache, zumindest aber in leicht verständlicher Sprache und im Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigung geschult werden. So könnten auch zwischen-menschliche Barrieren abgebaut werden. Eine Vernetzung aller Akteure und Ange-bote miteinander ist geboten, um Barrieren in den Übergängen von einem Angebot zueinemzweitenausfindigzumachenundbehebenzukönnen.

Als Annäherung an das große Thema Reisen enthält dieses Kapitel ein Experteninter-view mit Frau Drabner von der BAG katholische Jugendreisen. Als weiterer Experte wurde Herr Mecklenburg, der Vorsitzenden des Landesjugendrings sowie beschäf-tigt im Amt für Jugendarbeit der evangelischen Landeskirche, interviewt. Ziel dieser Interviews ist es, die Errungenschaften aber auch die noch bestehenden Baustellen aus praxisorientierter Sicht zu erläutern. Zusätzlich dazu enthält dieses Kapitel ei-nen Gastbeitrag zum Thema Teilhabe im Sport von Dr. Volker Anneken aus dem For-schungsinstitut für Inklusion durch Bewegung und Sport (FIBS gGmbH). Die FIBS gGmbH ist eine Gesellschaft der Gold-Kraemer-Stiftung, der Lebenshilfe NRW und der Deutschen Sporthochschule Köln mit dem Ziel, die Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Behinderungen zu erforschen und zu fördern.

Page 126: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

126

Was wir ändern müssen. Auch im Freizeitbereich ist die Partizipation von Menschen mit Beeinträchtigung nur teilweise gegeben. Noch immer verhindern visuelle, strukturelle oder bauliche Barrieren sowie Barrieren in den Köpfen oft eine gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung. Freizeit als Möglichkeit zur Regeneration und Er-holung vom Alltag ist jedoch für den Einzelnen von ebenso hoher Relevanz wie für die Gesellschaft. Hier eröffnet sich ein Raum zur Etablierung und Festigung der Ge-danken der Inklusion unabhängig vom Leistungsdenken. Freizeit und Sport werden vor allem durch soziale Kontakte bestimmt. Die in diesen Bereichen bestehenden Barrieren führen zu einem deutlichen Unterschied der Lebenswelten von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung. Menschen mit Beeinträchtigung treffen weniger oftFreunde,VerwandteoderNachbarnundmachenwesentlichwenigerAusflüge oder Reisen als Menschen ohne Beeinträchtigung. Ebenso besuchen sie deutlich seltener kulturelle Veranstaltungen. Wie im Abschnitt „Familie und Soziales Netz“ zeigt sich auch im Freizeitbereich, dass Menschen mit Beeinträchtigung mehr Zeit alleineverbringenundhäufigereinsamsind.

• Vor allem in Bezug auf das selbstbestimmte Reisen sind Veränderungen möglich und dringend notwendig.

• Die Barrierefreiheit der Tourismusangebote darf nicht nur an baulichen Gegeben-heiten festgemacht werden. Auch informative Barrieren müssen abgebaut und Reiseveranstaltungen idealerweise im Universellen Design angeboten werden.

• Ein besonderes Augenmerk sollte das Land auf die Vernetzung aller Akteure und Angebote touristischer Attraktionen legen. Nur so können Barrieren an Schnitt-stellen zwischen zwei Angeboten verringert und bestenfalls ganz verhindert wer-den.

Auch im Sport ist ein Umdenken notwendig. Menschen mit Beeinträchtigung trei-ben grundsätzlich weniger Sport, wobei Frauen sportlich aktiver sind als Männer. Der Index für Inklusion im Sport ist noch nicht ausreichend umgesetzt. Die Ent-wicklung eines inklusiven Breitensportangebots ist dabei etwas weiter vorange-schritten als die Entwicklung des Angebots im Mannschafts- und Leistungssport. Hier dominiert noch immer eine Separation und die Veränderungen hin zu einem inklusiven System kommen nur schleppend voran. Gründe dafür liegen nicht selten in bestehenden Unsicherheiten im Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigung.

• Das Thema Inklusion sollte darum schon in Trainerlehrgängen aufgegriffen wer-den. An dieser Stelle muss im Sinne der Inklusion mehr Bewusstseinsbildung ge-leistet werden.

• Der Kultur- und Sportbereich bietet großes Potenzial zur Umsetzung inklusiver Angebote, das in NRW noch allzu wenig genutzt ist. Das Land sollte hier mehr in-vestieren, damit Inklusion in der Gesellschaft ankommt.

Freizeit, Kultur und Sport.

Page 127: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

127

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Page 128: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

128

Interview Frau Drabner

Dazugehören – auch in der Freizeit. Impulse für die Förderung von inklusiven Kinder- und Jugendreisen.

Interview mit Martina Drabner, Leiterin der BAG Katholisches Jugendreisen.

Im 1. Workshop des Landesbehindertenbeauftragten im Februar 2011 zum Thema „ReisenfürMenschenmitBehinderung“wurdenProblemfelderidentifiziert,diedie Durchführung inklusiver Reiseangebote erschweren. Was hat sich seitdem weiterent-wickelt? Welche Erfahrungen wurden gemacht? Welche Rahmenbedingungen sind notwendig? Was trägt zu gelingender Inklusion bei Ferienfreizeiten und Reisen bei?

Das Projekt „Einfach weg“, unser Anspruch, unser Ziel.

Für den Zeitraum 2013 bis 2016 führt die BAG Katholisches Jugendreisen das Projekt „Einfach weg – Auf zu inklusiven Jugendreisen“ durch. Als Förderer konnten wir die Aktion Mensch e.V. und die Stiftung Deutsche Jugendmarke e.V. gewinnen. Wir wollten und wollen mit dem Projekt erreichen, dass es deutlich mehr Angebote an buchbaren inklusiven Kinder- und Jugendreisen gibt – dass Kinder mit Behinderungen „einfach“ wegfahrenkönnenindenFerien.DerFocusdesProjekteslaginderQualifizierungaller am Prozess des Reiseangebotes beteiligten Personen sowie der individuellen Bera-tung der Träger. Von den auf dieser Grundlage für 2015 konzipierten Reisen wurden 6

Page 129: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

129

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Reiseanbieter wissenschaftlich begleitet. Dabei stehen die Fragen der Veranstalter so-wie der TeamerInnen, ihre Erfahrungen und darauf basierenden Schlussfolgerungen währendderQualifizierung,derPlanung,VorbereitungundDurchführungeinerinklu-sivenReiseimMittelpunkt.SiesollenidentifiziertunddarausAbleitungenimSinne von Gelingensbedingungen für inklusive Kinder- und Jugendreisen entwickelt werden. Die detaillierte Auswertung steht noch bevor, jedoch lassen sich Tendenzen und erste Erkenntnisse schon heute beschreiben.

Bewusstseinswandel hat stattgefunden

Die Motivation sowohl von Leitungskräften als auch TeamerInnen, sich dem Thema zu widmen und an entsprechenden Fortbildungsmaßnahmen teilzunehmen, ist seit 2011 deutlich gestiegen. Die im Rahmen des Projektes erfolgte Befragung von Kindern und Jugendlichen mit Handicaps und deren Eltern an Förder- und GU-Schulen hat im Ge-genzug gezeigt, dass es ein hohes Interesse an Angeboten gibt, es jedoch Vertrauen in die Institution braucht und klare Signale des Willkommenseins. Aufgrund der begon-nenen Vernetzung und Zusammenarbeit mit Partnern aus der Behindertenhilfe wird Veranstaltern immer deutlicher, dass bei TeilnehmerInnen mit Behinderungen die Abfrage und Berücksichtigung individueller Bedürfnisse für die Reise einen höheren Stellenwert einnimmt als es bisher im Rahmen der Jugendhilfe üblich war. Dies setzt Organisationen jedoch trotz großem Interesse gleich vor ein Dilemma: Sowohl die in-dividuellen Gespräche im Vorfeld als auch die Bemühungen zur Umsetzung in Bezug auf barriere-freie Anreise und/ oder engerer Betreuung bzw. persönlicher Assistenz kosten Zeit und Geld.

Inklusive Reiseangebote brauchen eine neue Fördersystematik, damit die Angebote für alle erschwinglich bleiben. Eine Verankerung des Themas Inklusion sollte selbst-verständlicher Bestandteil der Juleica-Ausbildung werden, denn ohne Basiswissen geht es nicht.

Behindertenhilfe vs. Jugendhilfe

Im Zuge der Netzwerkarbeit wird deutlich: Behindertenhilfe und Jugendhilfe waren bis-her separate Systeme mit eigener gewachsener Struktur, Fördersystematik und Gesin-nung. Während die Behindertenhilfe dem Ursprung nach auf Schutzbedarf sowie fachlich professionelleUnterstützungundfinanzielleFörderzugängedesEinzelnensetzt,basiert Jugendhilfe auf Stärkenorientierung, Ehrenamt und Partizipation. Viele Organisationen beider Arbeitsfelder suchen den Austausch, um voneinander zu lernen und für Kinder mit Beeinträchtigungen Vertrauen in die Institution zu schaffen bis hin zur Aufstellung von Teams aus beiden Arbeitsfeldern – der Teufel steckt jedoch im Detail wie z.B. unter-schiedliche Tätigkeiten, Zuständigkeiten und Vergütung des Einsatzes.

Es bedarf hier der Entwicklung einer neuen Arbeitskultur. Aber auch seitens der Teil-nehmerInnen mit Behinderung bzw. deren Eltern bedarf es ein Loslassen und Zutrau-en in neue Wege und Stärken des eigenen Kindes, um eine Reise ohne Eltern als Be-reicherung und Entwicklungsfeld zu betrachten. Eine Annäherung kann nur Schritt für Schritt erfolgen und braucht Zeit.

Page 130: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

130

Barrierefreiheit

Nach wie vor hapert es noch an ausreichenden Angaben über Barrierefreiheit der Un-terkünfte und Programmangeboten am Urlaubsort, was die Planung einer inklusiven Reise erschweren kann, da diese Informationen aufwändig erhoben werden müssen. ZugangsbarrierensindaberaucheinfehlenderInformationsflussüberJugendreise-angebotevorallembeiKindernausFörderschulen.HierwäreeineAuflagezurAufbe-reitung von Angaben zur Barrierefreiheit für alle Institutionen und Unterkünfte hilf-reich. Veranstalter aus dem Bereich der Jugendhilfe müssen ihre Vertriebswege und -orte neu überdenken und stärker dort werben, wo sich Kinder mit Beeinträchtigun-gen aufhalten.

Strukturelle Verankerung

Inklusion bei Jugendreisen – ein auf Freiwilligkeit beruhender Bereich – ist kein Projekt auf Zeit mit schnellen Erfolgen, sondern ein Prozess, der bei den Reiseanbietern struk-turell verankert sein und langsam wachsen muss. Es braucht die „richtige“ Einstel-lung, eine gute Vorbereitung der Mitarbeiter/innen auf allen Ebenen und einen „langen Atem“, um aus gemachten Erfahrungen zu lernen und sich weiterzuentwickeln.

Interview Frau Drabner

Page 131: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

131

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Page 132: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

132

Interview Herr Mecklenburg

Einfach anfangen. Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit.

Interview mit Roland Mecklenburg, Vorsitzender des Landesjugendrings NRW

Kinder und Jugendliche mit Behinderungen sind in jugendverbandlichen Angeboten unterrepräsentiert, stellt eine Studie der Universität Kassel fest. Am ehesten neh-men sie an Freizeiten teil. Andererseits wird deutlich: Dort, wo sie in Jugendverbän-den mitmachen und das Verbandsleben mitgestalten, sind die gemachten Erfahrun-gen auf allen beteiligten Seiten positiv. Aus der konkreten Erfahrung heraus entsteht der Wunsch, dass diese Teilnahme und Teilhabe selbstverständlich werden.22 Roland Mecklenburg, Vorsitzender des Landesjugendrings NRW, bestätigt das mit neuen Er-fahrungen aus dem landesweiten G5 Inklusionsprojekt „Under Construction“, das in den Jahren 2013 bis 2015 an 15 Standorten mit Förderung des Jugendministeriums NRW durchgeführt worden ist. Er unterstreicht, dass damit über den Projektzeitraum hinaus ein längerer Weg verbunden ist: „Schon der Titel des Projekts weist darauf hin, dass in der Kinder-, Jugend- und Jugendsozialarbeit mit der Umsetzung der Inklusi-on ein Umbauprozess und ein Prozess der Weiterentwicklung einhergeht“. In dem Ar-beitskreis G5 sind die landesweiten Organisationen der Jugendarbeit und der Jugend-sozialarbeit vertreten, zu denen der Landesjugendring zählt.

22 Gunda Voigts, Universität Kassel, in: Deutsche Jugendfeuerwehr, Inklusion in der Jugendfeuerwehr, S. 5.

Page 133: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

133

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Die Motivation für dieses landesweite Projekt lag vor allem darin, so Roland Mecklenburg: „Inklusion auf vielfältige Weise in der Praxis erlebbar zu machen und daraus Beispiele für die Kinder- und Jugendarbeit vor Ort zu gewinnen, die Mut machen, einfach anzu-fangen und zu erproben, wie das Miteinander gelingen kann.“ Zentrale Ergebnisse aus der Projektpraxis fasst er so zusammen:

• Veranstalter und Träger wurden ermutigt, ihre Freizeiten als offen für alle zu bewer-ben und sich zu trauen, Jugendliche mit Behinderung mitzunehmen.

• Einrichtungen wurden motiviert, Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Inklusion voranbringen und bei ihren Angeboten auf die Stärken der Kinder und Jugendlichen zu bauen.

•Barrier enwurdenidentifiziertundmusstenüberwundenwerden.BarrierefreieInfra-strukturen sind das langfristige Ziel. Auf dem Weg dahin müssen

• variable Lösungen gefunden und mehr mobile Angebote entwickelt werden.

„Die GruppenleiterInnen, TeamerInnen und Teilnehmenden hatten zunächst Angst, im Umgang mit den beeinträchtigten Jugendlichen etwas falsch zu machen. Eine ge-wisse Berührungsangst war zu spüren“, heißt es in einem Projektbericht.

Roland Mecklenburg sieht in diesen und ähnlich lautenden Erfahrungen die schon län-gervorhandeneErkenntnisbestätigt,dassFortbildungundQualifizierungfürehren-amtliche und hauptamtliche Akteure der Kinder- und Jugendarbeit unerlässlich seien. Ebenso müssten auch die Universitäten und Fachhochschulen das Thema Inklusion in die Ausbildungsgänge der Pädagogik und der Sozialen Arbeit integrieren.

Ermutigen, nicht verordnen.

An den Projektstandorten wurden Beispiele dafür entwickelt, wie Inklusion gelingen kann. Roland Mecklenburg weist darauf hin, dass dabei auch die Stolpersteine sicht-bar geworden seien: „Wir können und wollen Inklusion nicht verordnen und nicht die Illusion nähren, dass man sie im Hauruck-Verfahren einführen kann. Da ist zum einen das wichtige emanzipatorische Prinzip unserer Arbeit, nach dem Kinder und Jugendli-che in den Verbänden freiwillig und selbstbestimmt ihre Interessen und Vorstellungen realisieren. Sie verarbeiten, was ihre Eltern, die Gesellschaft und ihre Vorbilder vorle-ben und formen daraus ihre Einstellungen. Diese Eigenlogik bietet zugleich die große Chance, Prinzipien wie Ressourcenorientierung und Selbstorganisation im Bereich der Inklusion noch stärker zu verankern“. Zum anderen müsse berücksichtigt weren, dass im Zuge der Inklusion auch Systeme aufeinandertreffen, die eine lange Zeit gegenein-ander relativ abgeschottet gewirkt haben: Sowohl das System der Behinderten- bzw. der Eingliederungshilfe als auch das der Kinder- und Jugendhilfe verfügen über eigene Strukturen und Ressourcen für unterschiedliche Zielgruppen. Da gelte es auch, Barri-eren zugunsten einer engeren Kooperation und eines offenen Austauschs abzubauen. Auch Fördersysteme müssten harmoniert und bedarfsgerecht ausgestattet werden, um Synergien zu erzeugen. Denn auch in der Kinder- und Jugendarbeit gelte, dass es Inklusion nicht zum Nulltarif gibt.

Page 134: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

134

Es geht weiter.

Wie vielversprechend die Erfahrungen aus dem Projekt „Under Construction“ sind, drückt der Mädchentreff Bielefeld e. V. in seinem Bericht aus: „Die tollen Teuto-Tage waren für das Team des Mädchenhauses ein wichtiger Einstieg in die inklusive Mäd-chenarbeit. Es ist ein guter Kontakt zu einer Bielefelder Förderschule für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung entstanden. Über den Landschaftsverband Westfalen-Lippe hat die Einrichtung weitere Fördermittel für inklusive Angebote im Offenen Bereich erhalten, was die Weiterentwicklung inklusiver Konzepte möglich macht.“

Dokumentation des Projekt „Under Construction“ im Internet Video:https://youtu.be/rslXbMUlUwQ;DerProjektbericht(http://ljr-nrw.de/filead-min/content_ljr/Dokumente/Landesjugendring/Themenseiten/Inklusion/Under-Construction_GesamtDokumentation.pdf) ist auch in leichter Sprache erschienen (http://ljr-nrw.de/fileadmin/content_ljr/Dokumente/Landesjugendring/Themen-seiten/Inklusion/UnderConstruction_LeichteSprache.pdf)

Von Vera von Achenbach

Interview Herr Mecklenburg

Page 135: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

135

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Fakten: Freizeit, Kultur und Sport in NRW. Geselligkeit und Reisen.

Die Geselligkeit mit Freunden, Verwandten und Nachbarn ist die grundlegendste Form der Freizeitgestaltung. Sie ist wichtig, um soziale Kontakte zu pflegen und nicht alleine zu sein. Hier zeigen sich jedoch deutliche Unterschiede. Während sich Menschen ohne Behinderung zu knapp 80 % jede Woche oder zumindest einmal im Monat mit Freunden, Verwandten oder Nachbarn treffen, tun dies Menschen mit Behinderung nur zu 67 %. Die Anzahl der Menschen mit Behinderung, die nie Ge-selligkeit erleben ist mit 5 % mehr als doppelt so hoch wie die der Menschen ohne Beeinträchtigung.

FrauenmitBeeinträchtigungenpflegenetwashäufigerKontaktealsMänner.Sie berichten zum Beispiel zu 41 % über mindestens monatliche gegenseitige Besu-che. Unter den Männern mit Beeinträchtigungen sind es nur 31 %.

Abbildung 6-1: HäufigkeitgegenseitigerBesuchevonNachbarn,FreundenoderBe-kannten, Familienangehörigen oder Verwandten, Menschen mit und ohne Beeinträch-tigungen.

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG.

BeiReisenundkurzenAusflügenzeigensichbesondersdeutlicheUnterschiede: MenschenmitBeeinträchtigungmachenwesentlichwenigerAusflügeoderkurze Reisen als Menschen ohne Beeinträchtigung. Der Anteil der Personen, die nie einen Ausflugmachen,istunterdenMenschenmitBeeinträchtigungmit26%doppelt so hoch.

InderGruppe,die jedeWocheodermindestenseinmal imMonateinenAusflug macht, liegen Menschen mit Beeinträchtigung zu einem Fünftel unter dem Anteil der Menschen ohne Beeinträchtigung.

Page 136: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

136

Menschen mit Beeinträchtigungen und Migrationshintergrund verzichten ebenso häufigeraufAusflügeundReisen.41%vonihnenmachennieAusflügeoderkur-ze Reisen. Unter den Menschen mit Beeinträchtigung ohne Migrationshintergrund sind es 21 %.

Abbildung 6-2: HäufigkeitAusflügeoderkurzeReisenzumachen,Menschenmitund ohne Beeinträchtigungen.

5 4

17 28

52

56

26 13

0%

20%

40%

60%

80%

100%

Menschen mit Beeinträchtigungen Menschen ohne Beeinträchtigungen

nie

seltener

mindestens einmal pro Monat

mindestens jede Woche

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG.

Kulturelle Aktivitäten

Menschen mit Beeinträchtigung besuchen kulturelle Veranstaltungen deutlich sel-tener. In den beiden folgenden Abbildungen wird jeweils dargestellt, wie groß der Anteil der Personen ist, die nie in die Oper oder ins Kino gehen.

Abbildung 6-3: Anteile von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen, die in ihrer freien Zeit nie kulturelle Veranstaltungen (wie Oper, klassische Konzerte, Theater, Aus-stellungen) besuchen.

77

62

42 44

64

50 43 39 38

43

0%

20%

40%

60%

80%

100%

18 bis 34 Jahre 35 bis 54 Jahre 55 bis 64 Jahre 65 bis 74 Jahre 75 Jahre und älter Alter in Jahren

Menschen mit Beeinträchtigungen

Menschen ohne Beeinträchtigungen

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG.

Freizeit, Kultur und Sport.

Page 137: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

137

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Bei den Menschen ohne Beeinträchtigung ist das Interesse an kulturellen Veran-staltungen über die Altersklassen hinweg tendenziell zunehmend. Insgesamt be-suchen 53 % der Menschen mit Beeinträchtigungen und 43 % der Menschen ohne Beeinträchtigungen in ihrer freien Zeit nie kulturelle Veranstaltungen. Während in der Gruppe der 18- bis 34-Jährigen noch 50 % kulturelle Veranstaltungen besuchen, sind es in der Gruppe der 65- bis 74-Jährigen nur noch 38 %. Bei den Menschen mit Beeinträchtigung unterscheidet sich das Verhalten zwischen den Altersgruppen deutlich. 77 % der jungen Beeinträchtigten zwischen 18 und 34 Jahren gehen nie in eine kulturelle Veranstaltung. In den höheren Altersgruppen fällt dieser Anteil dann deutlich ab, bis er das niedrige Niveau der Menschen ohne Beeinträchtigung zwi-schen den 55- und 74-Jährigen nahezu erreicht. Das Verhalten der Menschen mit und ohne Beeinträchtigung gleicht sich hier an. Zwischen den 75 Jahre und älteren Menschen unterscheidet sich das Verhalten dann wieder deutlich.

Menschen mit Beeinträchtigungen und Migrationshintergrund besuchen seltener kulturelle Veranstaltungen. 66 % von ihnen geben an, nie welche zu besuchen. Un-ter den Menschen mit Beeinträchtigung ohne Migrationshintergrund sind es 49 %.

Abbildung 6-4: Anteile von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen, die in ihrer freien Zeit nie Kinos, Popkonzerte, Discos, Tanz- oder Sportveranstaltungen besuchen.

33

47

61

90

22

35

53

70

0%

20%

40%

60%

80%

100%

35 bis 54 Jahre 55 bis 64 Jahre 65 bis 74 Jahre 75 Jahre und älter Alter in Jahren

Menschen mit Beeinträchtigungen

Menschen ohne Beeinträchtigungen

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG. Die Altersgruppe der „18- bis 34-Jährigen“ wird aufgrund geringer Fallzahlen nicht ausgewiesen.

Insgesamt 58 % der Menschen mit Beeinträchtigungen und 30 % der Menschen ohne Beeinträchtigungen besuchen in ihrer freien Zeit nie Kinos, Popkonzerte, Dis-cos, Tanz- oder Sportveranstaltungen. Menschen mit Beeinträchtigung geben so-mitgrundsätzlichhäufigeran,nieVeranstaltungenbzw.VeranstaltungsortewieKi-nos oder Popkonzerte zu besuchen. Interessant ist jedoch, dass beide Gruppen eine vergleichbare Systematik im Antwortverhalten zeigen. Je höher die Altersgruppe ist,destohäufigerbesuchensienieentsprechendeVeranstaltungen.Sonehmen 34 % in der untersten Altersgruppe der Menschen mit Beeinträchtigung nie an ei-ner entsprechenden Veranstaltung teil, in der obersten Gruppe sind es hingegen 89 %. Der Anteil der jeweiligen Altersgruppe der Menschen ohne Beeinträchtigung

Page 138: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

138

liegt im Schnitt 12 Prozentpunkte niedriger. Es ist anzunehmen, dass die Attraktivi-tät solcher Veranstaltungen bei beiden Gruppen mit zunehmendem Alter abnimmt.

Der Anteil der Männer mit Beeinträchtigungen, die diese Veranstaltungen „seltener als mo-natlich“ oder „nie“ besuchen (95 %), ist größer als der Anteil der Frauen (88 %).

Sport

Abbildung 6-5: Anteile von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen, die in ihrer freien Zeit nie aktiv Sport treiben.

36 40 45

74

27 32 38

51

0%

20%

40%

60%

80%

100%

35 bis 54 Jahre 55 bis 64 Jahre 65 bis 74 Jahre 75 Jahre und älter Alter in Jahren

Menschen mit Beeinträchtigungen

Menschen ohne Beeinträchtigungen

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG. Die Altersgruppe der 18- bis 34-Jährigen wird aufgrund geringer Fallzahlen nicht ausgewiesen.

Menschen mit Beeinträchtigung treiben grundsätzlich weniger Sport. Der Anteil der Personen mit Beeinträchtigung, die nie Sport treiben, liegt in allen Altersgrup-pen über dem Anteil der Menschen ohne Beeinträchtigung. Besonders groß ist der Abstand mit 23 Prozentpunkten bei den Menschen, die 75 Jahre und älter sind. Gleich ist jedoch: Sowohl bei den Menschen mit als auch bei den Menschen ohne Beeinträchtigung nimmt der Anteil derjenigen, die nie in ihrer Freizeit aktiv Sport treiben, mit ansteigender Altersgruppe deutlich zu.

Insgesamt 48 % der Menschen mit Beeinträchtigungen und 29 % der Menschen ohne Beein-trächtigungen treiben in ihrer freien Zeit nie aktiv Sport. Bei Menschen mit Beeinträchtigungen zeigt sich ein Zusammenhang zwischen den sportlichen AktivitätenunddemGeschlecht.FrauenmitBeeinträchtigungenmachenhäufiger-mindestens monatlich- Sport (44 %) als Männer mit Beeinträchtigungen (36 %).

Freizeit, Kultur und Sport.

Page 139: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

139

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Mehr Teilhabe im Sport schaffen! Gastbeitrag von Dr. Volker Anneken, Forschungsinstitut für Inklusion durch Bewegung und Sport (FIBS gGmbH)23.

Die mit dem Status eines einfachen Bundesgesetzes seit dem 26. März 2009 in Deutschland in Kraft getretene Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) der Verein-ten Nationen fordert auch für den Freizeitbereich die gleichberechtigte Teilhabe für Menschen mit Behinderungen. Sport als ein zentraler und wichtiger Freizeitbereich wird in Artikel 30 explizit ausgeführt. Im 5. Absatz wird formuliert, dass geeignete Maßnahmen zu treffen sind, um auf allen Ebenen des Sports die „gleichberechtigte Teilnahme an Erholungs-, Freizeit- und Sportaktivitäten zu ermöglichen…“.

Um dieser Forderung nachkommen zu können, sind gesellschaftliche Rahmenbe-dingungen im Teilsystem „Sport“ zu schaffen, die eine selbstbestimmte und inte-ressengeleitete Teilhabe an Bewegung und Sport ermöglichen. Selbstbestimmt, weil die Person selbst entscheiden sollte, ob und in welchem Maße sie sich an sportlichen Aktivitäten beteiligen möchte. Erst dann wird die Forderung nach einer „full and effective participation and inclusion in society“ nach Artikel 3 der UN-BRK erfüllt. Interessengeleitet, weil eine motivierte und selbstbestimmte Teilhabe an sportlichen Aktivitäten in der Freizeit nur dann erfolgen wird, wenn ein interessie-rendes Angebot wohnortnah genutzt werden kann. Große Entfernungen zum Woh-numfeld und nicht passende Angebote in den bestehenden Strukturen des allge-meinenSportsstellenfürMenschenmitBehinderungennachwievordiehäufigsten Hürden einer selbstbestimmten und interessengeleiteten Teilhabe am Sport dar. Die Anforderung durch die UN-BRK im Sport besteht somit in einer vielfältigen Ge-staltung von Bewegungs- und Sportangeboten. Nur dann kann den Wünschen, Nei-gungen und Interessen, aber auch den individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten der Menschen mit Behinderungen entsprochen werden.

23 FIBS gGmbH ist eine Gesellschaft der Gold-Kraemer-Stiftung, der Deutschen Sporthochschule Köln und der Lebenshilfe NRW mit dem Ziel, die Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Behinderungen zu erforschen und zu fördern.

Page 140: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

140

Teilhabesituation im Sport in NRW

Obwohl sportliche Aktivität von Menschen mit Behinderungen gleichermaßen ge-wünscht wird wie von Menschen ohne Behinderungen, sind Menschen mit Behin-derungen nach wie vor im Freizeit- und Breitensport seltener sportlich aktiv. Abbil-dung 6-5 zeigt, dass Erwachsene im mittleren und hohen Lebensalter zunehmend inaktiver werden und im Vergleich zu Menschen ohne Behinderung seltener Sport treiben (vgl. Abb. SOEP).

Abbildung 6-5: Anteile von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen, die in ihrer freien Zeit nie aktiv Sport treiben.

36 40 45

74

27 32 38

51

0%

20%

40%

60%

80%

100%

35 bis 54 Jahre 55 bis 64 Jahre 65 bis 74 Jahre 75 Jahre und älter Alter in Jahren

Menschen mit Beeinträchtigungen

Menschen ohne Beeinträchtigungen

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG. Die Altersgruppe der 18- bis 34-Jährigen wird aufgrund geringer Fallzahlen nicht ausgewiesen.

Bei der Vereinszugehörigkeit von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen ist der Teilhabeunterschied im organisierten Sportsystem besonders ausgeprägt. Dies konnte anhand einer Befragung von 937 SchülerInnen mit sog. Förderbedarf körperlich-motorischer Entwicklung, Sehen, Hören, Kommunikation und Sprache an insgesamt elf Förderschulen des LVR festgestellt werden. Die Befragung fand im Rahmen einer Expertise des Forschungsinstituts für Inklusion durch Bewegung und Sport im Rahmen des Projekts „Inklusiv aktiv“ statt, beauftragt vom Ministeri-um für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport (MFKJKS) und dem Landschafts-verband Rheinland (LVR). In der Befragung gaben zwar 75 % der SchülerInnen im Alter von 10 bis 19 Jahren an, auch aktuell schon in der Freizeit Sport zu treiben; dies deckt sich mit den Angaben der Kinder und Jugendlichen ohne Behinderung im Bundesgebiet. Aber nur 39 % der befragten Kinder und Jugendlichen mit För-derbedarf sind im Sportverein sportlich aktiv (Abb. 2). Im Vergleich dazu waren in Deutschland laut dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) im Jahr 2012 in der Altersgruppe von 7 bis 18 Jahren Jungen zu über 60 % und Mädchen zu über 50 % in einem Sportverein angemeldet.

Gastbeitrag von Dr. Volker Anneken

Page 141: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

141

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Abbildung 6-6: Wo machst du in deiner Freizeit Sport?

58,8%  

41,4%   39,4%  35,7%  

15,5%  11,9%  

0%  

10%  

20%  

30%  

40%  

50%  

60%  

70%  

80%  

90%  

100%  

mit  Freunden   in  der  Schule   im  Verein   mit  der  Familie   sons?ges   alleine  draußen  Sport  in  der  Freizeit  

Wo  machst  du  in  deiner  Freizeit  Sport?  (N=678)  rela%v

e  An

gabe

 in  %  

Die sportlicheAktivität der SchülerInnenmit Förderbedarf findet in der Freizeit hauptsächlich in der Familie und mit Freunden statt, aber auch in der Schule. Auch AG-Angebote werden interessanterweise von den FörderschülerInnen mit 41 % als Freizeitsportangebote wahrgenommen. Ein wesentlicher Grund für die geringere Teilhabe der FörderschülerInnen sind die mangelnde Freizeit im Anschluss an die Ganztagsbeschulung sowie die fehlende Kenntnis entsprechender individueller An-gebote vor Ort. Die Partnerschaft von Förderschulen mit dem organisierten Sport und seinen Vereinen kann eine zentrale positive Rolle spielen, denn die Schulen ha-ben im Alltag der Kinder und Jugendlichen einen zentralen Stellenwert. Ein nicht zu unterschätzender Anteil der Freizeitsportangebote wird schulisch organisiert und kann weitere sportliche Aktivität anbahnen. Die Vernetzung mit Sportvereinen kann dabei helfen, zeitliche Ressourcen zu nutzen und den Transfer von Informati-onen zu gewährleisten.

Die für den Bereich der Förderschulen des LVR gewonnenen Ergebnisse lassen auch Rückschlüsse auf den Bereich der Zusammenarbeit inklusiver Schulen mit den lokalen Sportvereinen zu. Die Möglichkeit von Betreuungsangeboten im Ganz-tag bietet für die Sportvereine die Chance, inklusive Bewegungs- und Sportange-bote systematisch und nachhaltig in der Schule zu verankern. Außerdem können Erfahrungen in der Umsetzung von Angeboten des sog. inklusiven Sports gesam-melt werden. An den inklusiven Schulen bietet die Begleitung von FörderschülerIn-nen durch SchulbegleiterInnen oder IntegrationshelferInnen eine gute Möglichkeit für ausreichend Unterstützung vor, während und nach einer Sporteinheit. Das kann den Umgang mit Heterogenität erleichtern und unterstützen, denn Heterogenität stellt eine wesentliche Herausforderung im inklusiven Sport dar. ÜbungsleiterIn-nen/TrainerInnen können die gesammelten Erfahrungen dann in die Vereinsarbeit einbringen.

Page 142: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

142

Sportvorlieben der Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen in NRW.

Im Rahmen der bereits benannten Expertise des MFKJKS und des LVR wurde auch untersucht, welche sportlichen Angebote von FörderschülerInnen gewünscht wer-den und, ob diese gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen ohne Behinderung durchgeführt werden sollen. Das Ergebnis ist eindeutig und einfach: 88 % der Be-fragten wünschen ein gemeinsames Sporttreiben mit Kindern und Jugendlichen ohne Behinderung. Das betrifft die Sportarten, die auch von Kindern und Jugend-lichen ohne Behinderung bevorzugt werden. Denn die Lieblingssportarten der be-fragten FörderschülerInnen sind damit nahezu identisch: Bevorzugen Jungen Fuß-ball,SchwimmenundBasketball,findenMädchenReiten,TanzenundSchwimmen attraktiv. Nachvollziehbare Unterschiede existieren bei der Sportartenpräferenz in Abhängigkeit der vorliegenden Beeinträchtigung (vgl. Abb.3).

Abbildung 6-7: Wunschsportarten differenziert nach Förderschwerpunkten, in Prozent.

24,8   21,0   17,7  31,2   22,0   17,0  34,4   29,9   28,5  33,0   24,0   20,3  0  

5  

10  

15  

20  

25  

30  

35  

40  

1.  Wahl   2.  Wahl   3.  Wahl  

KmE  (N=233)   Sprache  (N=239)   Hören  und  KommunikaEon  (N=140)   Sehen  (N=61)  

Fußball   Fußball  

Fußball  

Fußball  Sc

hwimmen  

Schwimmen  

Schwimmen  

Basketball  

Basketball  

Reiten  

Reiten   Schwimmen  

rela

%ve  

Häufi

gkei

t  in  

Proz

ent  

Wunschsportarten  differenziert  nach  Förderschwerpunkt  

Schlussfolgerungen:

• Inklusive Angebote sollte es insbesondere in den Sportarten geben, die von allen Kindern bevorzugt werden: Fußball, Schwimmen, Basketball, Reiten und Tanzen.

• Diese Sportarten sollten so weiterentwickelt werden, dass sie auch in heteroge-nen Gruppen für Menschen mit und Menschen ohne Behinderungen durchführ-bar sind.

• Neben Formen des Wettkampfes und des sportlichen Vergleiches wäre insbe-sondere auch die wettkampffreie Gestaltung und breitensportliche Orientierung klassischer Sportarten voranzutreiben.

• Die zuständigen Fachverbände sollen die einzelnen Sportarten im Hinblick auf eine inklusivere Ausrichtung intensiv unterstützen und fördern. Denn es geht zu-nächstumeinesportartspezifischeKompetenzvermittlung.DieEntwicklungvon alternativen Angeboten einer Sportart von außen wird nicht erfolgreich sein.

• Menschen mit Behinderung sollten an dieser Weiterentwicklung zwingend beteiligt werden.

Gastbeitrag von Dr. Volker Anneken

Page 143: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

143

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Die Notwendigkeit der Einbindung von Kindern und Jugendlichen von Förderschu-len in die Vereinslandschaft des Sports bestätigt sich auch in einer Studie der Gold-Kraemer-Stiftung. Es konnte festgestellt werden, dass die Kinder und Jugendlichen mit körperlichen oder kognitiven Beeinträchtigungen (N=153) an Wochentagen körperlich aktiver sind als am Wochenende. Dabei ist auffällig, dass die körperliche Aktivität der Jungen und Mädchen vor allem am Wochenende weit unter den in-ternationalen Empfehlungen liegt. Jedoch weisen Kinder und Jugendliche, die Mit-glied ineinemSportvereinsind,einesignifikanthöherekörperlicheAktivitätauf. Erfreulich ist dabei, dass sich diese Kinder und Jugendliche mit Vereinsanbindung wochentags entsprechend der internationalen Empfehlung bewegen.

Die Umwelt macht den Unterschied

Der veränderte Behinderungsbegriff in der UN-BRK, der auch dem neuen Teilha-bebericht der Bundesregierung zugrunde liegt, führt weg von den individuellen körperlichen oder kognitiven Einschränkungen einer Person hin zu einer verstärkt kontextbezogenen Sichtweise von Behinderung. Im Sport treten damit Umwelt-faktoren in den Mittelpunkt. Eine grundlegende Voraussetzung zum Sporttreiben ist zum Beispiel eine gute Hilfsmittelversorgung; ist sie schlecht, so stellt das eine Barriere zur Mobilität dar. Weitere Barrieren zu einer selbstbestimmten Teilhabe am Sport in der Freizeit können für nicht mobile Zielgruppen der Transport zu ei-nemBewegungsangebotodereine fehlendesozialeundfachspezifischeKompe-tenz von TrainerInnen oder ÜbungsleiterInnen sein. Die Rolle gesellschaftlicher Rahmenbedingungen tritt somit in den Vordergrund, die Individualität einer Person wird als gegeben angenommen. Auch im Sport wird Behinderung zu einer komple-xen und mehrdimensionalen Herausforderung für das System. Intensive Anstren-gungen sind erforderlich, um eine Teilnahme am Sport im Sinne von Artikel 30 zu gewährleisten und eine Zugänglichkeit im Sinne des Artikels 9 der UN-BRK zu er-reichen. Die hier im Mittelpunkt stehenden Rahmenbedingungen gehen über die reine„physischeBarrierefreiheit“durchflacheBordsteineoderBlindenleitsysteme hinaus. Denn für eine große Anzahl von Menschen mit Behinderungen ist auch bei guten baulichen Bedingungen ein selbstverständlicher und selbstbestimmter Zu-gang zum Sport eingeschränkt.

Eine aktuelle Studie des Forschungsinstituts für Inklusion durch Bewegung und Sport aus dem Bereich der Eingliederungshilfe im betreuten Wohnen von erwachsenen Menschen mit geistiger Beeinträchtigung in NRW, die von der Aktion Mensch geför-derten wurde, macht deutlich, dass auch personelle Faktoren berücksichtigt werden müssen. Es stellte sich heraus, dass die Teilhabe am Sport der Menschen mit Behin-derung in betreuten Wohnformen im hohen Maße von den Einstellungen der Mitar-beiterInnen abhängt. Sind diese gegenüber Bewegungs- und Sportangeboten positiv eingestellt, so begünstigt das die Organisierung von Assistenz oder den Transport und schafft insgesamt dafür förderliche Rahmenbedingungen. Bei gleichgültiger und we-niger positiver Grundhaltung scheiterte die Teilhabe in vielen Fällen. Das Sprichwort „Wo ein Wille, ist auch ein Weg“ bestätigte sich hier. Es bestätigt sich jedoch auch: Die Selbstbestimmung für Menschen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf im Bereich von Bewegung, Spiel und Sport ist noch lange nicht erfüllt.

Page 144: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

144

Teilhabefaktor persönliche Unterstützung

Von Exklusion im Sport sind besonders Menschen betroffen, die einen erhöhten Unterstützungsbedarf im Alltag aufweisen. Eine Person mit hohem Unterstüt-zungsbedarf kann etwa aufgrund einer kognitiven Beeinträchtigung nicht alleine denWegzumSportzurücklegen.Häufigscheitertesauchdaran,dassimWohn- und Betreuungsumfeld einer sportinteressierten Person die Begleitung zu einem Bewegungs- und Sportangebot nicht geleistet wird. Ungeachtet der Gründe, stellt dieseinenhäufigenExklusionsgrundimSportdar.

In der bereits angesprochenen Studie wird dies bestätigt. Acht der insgesamt elf für die Bewegungsangebote in Sportvereinen verantwortlichen ÜbungsleiterInnen und TrainerInnen gaben an, dass die insgesamt 125 Teilnehmenden der Studie ihrer Meinung nach eine Assistenz zur Sicherstellung einer Teilnahme benötigten. Be-stätigt wurde dies durch die Aussagen von insgesamt 125 Fachkräften aus dem Be-reich Wohnen für Menschen mit Behinderung im Rahmen einer Online-Befragung. 70 % der befragten Fachkräfte bejahten die Notwendigkeit einer pädagogischen undfachlichenAssistenzinBewegungsangeboten.ZudemsolltenpflegerischeAs-pekte oder das An- und Umkleiden durch Assistenz unterstützt werden. Des Wei-teren berichteten die Fachkräfte der Wohnanbieter in 79 % der Fälle, dass die Ori-entierungunddasEinfindeninderGruppevorOrteinerUnterstützungbedürfen. Auch wurde mit 88 % deutlich, dass eine Assistenz zur Unterstützung beim Auf-suchen/Verlassen des Angebotes benötigt wird. Die verantwortlichen Personen in den Wohnsettings und auch auf der Seite der Sportanbieter schätzen den Bedarf an Assistenz sehr hoch ein.

Für die Teilhabe von erwachsenen Menschen mit Behinderung an regelmäßigen ex-tern organisierten Bewegungs- und Sportangeboten spielen die strukturellen und finanziellenRahmenbedingungenzurAssistenzeinegroßeRolle.Derzeitbehindern die Rahmenbedingungen in der Regel eine Teilhabe.

Ein hoher Aufklärungsbedarf.

Deutlich wird ein hoher Bedarf an Aufklärung und Schulung rund um das Thema zur Assistenz im Bereich freizeitorientierter Bewegungs- und Sportangebote. Ins-besondere im Rahmen der Eingliederungshilfe. Dadurch könnte auch im Sport im Sinne des Artikels 19 der UN-BRK gewährleistet werden, dass „Menschen mit Be-hinderungen Zugang zu einer Reihe von gemeindenahen Unterstützungsdiensten … haben, einschließlich der persönlichen Assistenz, die zur Unterstützung des Le-bens in der Gemeinschaft und der Einbeziehung in die Gemeinschaft sowie zur Ver-hinderung der Isolation und Absonderung von der Gemeinschaft notwendig ist“. In-formationen über die Möglichkeiten von Transport und Assistenzen auch im Sport sollten den Fachkräften in Begleitung der Menschen mit Behinderungen, aber auch den TrainerInnen und ÜbungsleiterInnen im Sportsystem systematisch vermittelt werden.Esgilt,durchdieVerbindungvorhandenerfinanziellerundpersonellerRes-

Gastbeitrag von Dr. Volker Anneken

Page 145: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

145

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

sourcen beider Systeme Synergieeffekte zu erzielen. Durch eine Verzahnung der Selbsthilfe, der Wohlfahrtsverbände und des Sports können Netzwerkstrukturen für die Entwicklung individueller und vielfältiger Angebote entstehen. Vorausset-zung dafür ist zunächst die Öffnung der grundverschiedenen „Systeme“ für eine Zusammenarbeit. Denn Sport ist im Allgemeinen noch stark ehrenamtlich organi-siert und steht dem System der Behindertenhilfe mit Kosten- und Personaldruck im Bereich der hauptamtlich Beschäftigten gegenüber.

Die komplexe Thematik Assistenz.

Die Ergebnisse zeigen die Notwendigkeit der ergänzenden inhaltlichen Auseinan-dersetzung mit der komplexen Thematik „Assistenz“ im Rahmen von Eingliede-rungshilfe und Sport. Insbesondere sollten in diesem Zusammenhang die mög-lichen Synergieeffekte der beiden Teilsysteme analysiert und optimiert werden. Dies wird derzeit durch ein von der StiftungWohlfahrtspflege NRW gefördertes Forschungsprojekt „DASpo - Durch Assistenz zu mehr Sport“ untersucht. Dabei werden auch Fragen zu den pädagogischen Aufgaben gegenüber den reinen Über-nahmetätigkeiten während der Assistenz differenzierter zu betrachten sein.

Fazit

Aus den dargestellten Befragungen lässt sich schlussfolgern, dass weiterhin großer Handlungsbedarf besteht, um die Teilhabe von Kindern, Jugendlichen und Erwach-senen mit Behinderungen am Sportsystem zu verbessern. Die gewünschte Ge-staltung von inklusiven Sportangeboten für Menschen mit und ohne Behinderung erfordert entsprechende förderliche Rahmenbedingungen. Aufgabe des Sportsys-tems ist es in diesem Zusammenhang, Möglichkeiten für ein gemeinsames Sport-treiben zu schaffen, die den Wünschen und Bedürfnissen von Menschen mit und ohne Behinderungen gerecht werden.

Es bedarf dazu erheblicher Anstrengungen der zuständigen Sportverbände, ge-meinsam mit den Menschen mit Behinderung und ihren Vertretern in den Selbst-hilfeverbänden und Einrichtungen der Behindertenhilfe kreative Modelle und Ange-bote zu entwickeln.

• Ein Schlüssel für den Erfolg adaptierter oder neuer Angebotsformen sind ausrei-chendinformierteundqualifizierteFachkräfteindenbeteiligtenSystemen.Da-durchlassensichklareZuständigkeitendefinierenunddieFörderungderInklusi-on im Sport lässt sich auf breitere Schultern verteilen.

• Ein zentraler umweltbezogener Erfolgsfaktor zur Teilhabe im Sport bleibt die be-darfsorientierte und individuelle Unterstützung von Menschen mit Behinderung in Form von persönlicher Assistenz und durch die Organisation des Transports.

Veränderungsprozesse zu mehr Teilhabe und Inklusion im Sport werden nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, Barrieren in den Köpfen abzubauen und stattdes-sen eine positive Einstellung und den Willen zur Veränderung zu verankern. Dies trifft

Page 146: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

146

gleichermaßen für sport- und sozialpolitische Entscheidungsträger, wie für die Fach-kräfte in Schulen und Eingliederungshilfeeinrichtungen, für die Vorstände, die Trainer und die Übungsleiter vor Ort zu.

Zwei beispielhafte Projekte. Erste positive Erfahrungen werden in Nordrhein-Westfalen in zwei Praxisprojekten unter wissenschaftlicher Begleitung gesammelt. • Im Projekt „Inklusiv aktiv“ von Sportministerium NRW und Landschafts-

verband Rheinland (LVR) geht es um das Sammeln von Erfahrungen bei der Kooperation zwischen ausgewählten Förderschulen und möglichen Partnern vor Ort. Hier wird vor allem er-probt, welche Rahmenbedingun-gen eine erfolgreiche Kooperation zwischen den Partnern erleichtern können.

• In einem weiteren Projekt von Sportministerium NRW, BRSNW und Lan-dessportbund NRW stehen Entwicklungsprozesse in ausgewählten Sport-vereinen auf ihrem Weg zu inklusiven Sportangeboten im Fokus. Auch hier stellt sich die Frage nach geeigneten bzw. optimalen Rahmenbedingun-gen, die den Vereinen ihren Weg zu inklusiven Sportangeboten erleichtern können.

Page 147: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

147

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Page 148: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

148

Tätigkeitsbericht von Norbert Killewald,

Mein Kernziel als Landesbehindertenbeauftragter, stabile Netzwerke zwischen den Beteiligten der Behindertenpolitik zu stärken, habe ich erreicht. Ich konnte vielfach fruchtbare Dialoge zwischen den Verbänden und Vereinen, der Selbsthilfe, der Ver-waltung, den Behindertenbeauftragten, -koordinatoren und -beiräten, den Men-schen mit Behinderung vor Ort ebenso wie der Landesregierung und den Fraktionen des Landtages unterstützen oder zumindest herstellen. Hierzu war ich viel unter-wegs: Insgesamt sind 2.300 Termine in knapp fünf Jahren zusammen gekommen.

Zeugnis des erfolgreichen Austausches und der Vermittlung der Kernaussagen und Kernforderungen in den Themengebieten sind die zahlreichen Erfolge, die ich während meiner Amtszeit für uns Menschen mit Behinderung begleiten durfte. Der Besuch vor Ort ist notwendig, um Themen zu erkennen und Inhalte gestalten zu können. Hierzu haben viele Menschen in NRW ihren Beitrag geleistet.

Zur Schaffung einer größtmöglichen Transparenz meiner geleisteten Arbeit habe ich nachfolgend die wichtigsten Daten und Fakten aus fünf Jahren Amtszeit zusam-mengeführt.

Beauftragter der Landesregierung für die Belange der Menschen mit Behinderung in Nordrhein-Westfalen in den Jahren 2010 – 2015.

Tätigkeitsbericht von Norbert Killewald

Page 149: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

149

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Daten und Fakten gesamt 18.10.2010 – 31.05.2015 Gefahrene Strecke

Tabelle 7-1: Gefahrene Strecke gesamt 18.10.2010 - 31.05.2015

Genutztes Transportmittel

Zurückgelegte Kilometer

Auto insgesamt

222.000 Km insgesamt / 45.-50.000 Km pro Jahr im Land zu Einrichtungen, Konferenzen, Tagungen, Gesprächspartnern…

Zug Ca. 14.000 Km mit dem Zug pro Jahr. Flugzeug Viele Reisen nach Berlin und zurück.

Terminübersicht

Tabelle 7-2: Terminübersicht gesamt 18.10.2010 - 31.05.2015

Jahr 2010 ab 18.10.10

2011 2012 2013 2014 2015 bis 31.05.15

Politik: Landtag, Fraktion, Aus-schüsse, Arbeitsgruppe u.a.

28 185 121 182 153 73

Verbände, Organisationen, Kon-gresse

26 107 66 121 42 21

Kontakte und Besuche im Büro

26 136 118 160 115 77

Kontakte und Besuche im Land

20 116 88 81 55 41

Gremien (Landesbehinderten-beirat, Fachbeiräte, u.a.)

2 9 19 21 24 13

Termine auf Bundes- ebene, Treffen der Landesbehin-dertenbeauftragten

3 13 1 9 16 11

Summen der Jahre 105 566 413 574 405 236

Bearbeitete Eingaben und Stellungnahmen

Tabelle 7-3: Bearbeitete Eingaben und Stellungnahmen gesamt 2010 - 31.05.2015

Jahr 2010 2011 2012 2013 2014 2015 bis 31.05.15

Eingaben per Post/Mail 463 487 459 477 422 230 Eingaben telefonisch 90 113 108 120 140 60 Stellungnahmen 1 12 7 12 9 7 Summen der Jahre 544 612 574 609 571 297

Page 150: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

150

Stellung beziehen – Interessen vertreten!

Im §12 Abs. 3 des Behindertengleichstellungsgesetzes Nordrhein-Westfalen ist festgeschrieben: „…die Ministerien hören die oder den Landesbeauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderung bei Gesetzes- und Verordnungsvorhaben sowie bei der Erarbeitung von Verwaltungsvorschriften des Landes rechtzeitig vor einer Kabi-nettbefassung an, soweit sie Fragen der Belange von Menschen mit Behinderung behandeln oder berühren. Die Ministerien geben der oder dem Landesbehinder-tenbeauftragten bei sonstigen Ressortabstimmungen, die die Belange der Men-schen mit Behinderung betreffen, rechtzeitig Gelegenheit zur Stellungnahme. Die in§1Abs.2Sätze1und2genanntenTrägeröffentlicherBelangesindverpflichtet, die oder den Landesbeauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderung bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu unterstützen, insbesondere die erforderlichen Auskünfte zu erteilen und ihnen Akteneinsicht zu gewähren. Die Bestimmungen zum Schutz persönlicher Daten bleiben unberührt…“

Seit 2010 hat die Umsetzung dieses Paragraphen an Bedeutung gewonnen. Es ist selbstverständlich geworden, dass der Mehrwert des Landesbehindertenbeauf-tragten von der Regierung genutzt wird, bevor sie eine Entscheidung im Kabinett oder in einem Kabinettsentwurf fällt. Viele Häuser nutzten den Rat des Landes-behindertenbeauftragten schon vor der Entwurfsfassung. Hier ist beispielhaft die PflegegesetzgebungoderaberdasHochschulzukunftsgesetzzunennen.

Mit dem Beschluss der Landesregierung, die Normprüfung auf Vorschlag des MAIS in 2011 und 2012 durchzuführen und schließlich als Regelinstrument der Landesre-gierung zu etablieren, existieren ein anderes Bewusstsein und eine andere Bereit-schaft zur Umsetzung der Grundsätze der UN-Behindertenrechtskonvention. Dies ist der wesentliche Bewusstseinssprung der Landesregierung in den Jahren von 2010 bis 2015. Nur so lässt sich die große Bereitschaft zur Veränderung im Sinne der Menschen mit Behinderungen erklären. An dieser Stelle ist es angebracht, den wenigen Personen, die den Vorschlag der Normprüfung gedacht, erarbeitet und umgesetzt haben, zu loben. Dieses Lob gehört allein einigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des MAIS.

DieStellungnahmendesLandesbehindertenbeauftragtenerfolgtenhäufigvielfrü-her als der Kabinettsbeschluss, so zum Beispiel die erste Stellungnahme zum Akti-onsplan bereits im Jahr 2011. In der folgenden Liste sind jeweils die ersten abgege-benen Stellungnahmen des Landesbehindertenbeauftragten aufgeführt, nicht die Stellungnahmen zu veränderten Entwürfen. Um bei dem Beispiel des Aktionsplans zu bleiben heißt das, dass bis zur Woche des Kabinettsbeschlusses im Juli 2012 mehrere Stellungnahmen von Seiten des Landesbehindertenbeauftragten abgege-ben wurden. Dieses Beispiel zeigt auch, dass die Regierung selbst an vielen Stellen denDiskursvollzogenhat.NachfolgendeAuflistungstelltweitereThemendar,zu denen Stellung bezogen wurde.

Tätigkeitsbericht von Norbert Killewald

Page 151: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

151

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Tabelle 7-4: Abgegebene Stellungnahmen 2010 - 30.05.2015 Jahr Stellung bezogen zu 2010 • Campingplatz VO 2011 • Parkerleichterungen für schwerbehinderte Menschen.

• Entwurf eines Gesetzes im Vollzug des Therapieunterbringungsgesetzes in Nordrhein-Westfalen.

• Soziale Wohnraumförderung im Programmjahr 2012. • Fünfzehnten Staatsvertrag zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsver-

träge (Fünfzehnter Rundfunkänderungsstaatsvertrag). • Ressortabstimmung „Einrichtung des Amtes einer/eines Patientenbe-

auftragen der Landesregierung“. • Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur frühen

Bildung und Förderung von Kindern (Kinderbildungsgesetz – KiBiz). • Ständig e Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik

Deutschland. Entwurf „Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen“.

• Entwurf einer Ordnung für den Vorbereitungsdienst und der Staatsprü-fung für Lehrämter an Schulen (Ordnung des Vorbereitungs-dienstes und der Staatsprüfung – OVP).

• Auf dem Weg in ein inklusives NRW“ - Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Nordrhein-Westfalen voranbringen.

• Entwurf für den neuen Landesentwicklungsplan. • Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der gesellschaftlichen Teilhabe

und Integration in NRW- Ressortabstimmung gemäß § 57 GGO. • Gesetz über die Hilfen für Blinde und Gehörlose des Landes Nordrhein-

Westfalen. 2012 •

•GesetzzurÄnderungderLandebauordnung§49(Rauchmelderpflichtin Wohnungen).

E ntwurf eines Gesetz zur Änderung des Ausführungsgesetzes zum Schwan-gerschaftskonfliktgesetz.

E ntwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der VN-Behindertenrechtskonventi-on in den Schulen (9. Schulrechtsänderungsgesetz). A usführungsverordnung zum Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) - Sozialhilfe (AV-SGB XII NRW). R essortabstimmung „1.000 zusätzliche Außenarbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen in NRW“. Änderung der Verordnung zur Durchführung des Gesetzes bei Volksinitiati-ve, Volksbegehren und Volksentscheid. R essortabstimmung Kabinettvorlage zum CDU-Antrag „Elternassistenz für gehörlose Eltern durch Kostenübernahme für Gebär-dendolmetscher“.

Page 152: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

152

Jahr Stellung bezogen zu2013 • Entwurf einer Verordnung zur Änderung der Ausbildungsordnung son-

derpädagogische Förderung (AO-SF). • Drittes Gesetz zur Änderung des Kinderbildungsgesetzes (KiBiz). • Gesetz über die Zulassung von Zentren und über die Einrichtung der

Ethikkommission für Präimplantationsdiagnostik in Nord-rhein-West-falen (Präimplantationsdiagnostikgesetz Nordrhein-Westfalen - PIDG NRW).

• Ressortabstimmung gem. § 57 GGO: Sozialberufe-Anerkennungsgesetz. • Krankenhausplan des Landes Nordrhein-Westfalen - Einrichtung von

Spezialangeboten. • Neufassung der Verwaltungsvorschriften (VV) zur Ausbildungs- und Prü-

fungsordnung - Sek. I (APO-S I). • Entwurf einer Verordnung über die Mindestgrößen der Förderschulen

und der Schulen für Kranke; Ressortabstimmung. • Ausbildungsordnung Grundschule - AO – GS. • VV-ÖPNVG NRW. • Ressortabtstimmung Entwurf einer Kabinettvorlage zur Frühförderung. • Eckpunkte der Landesregierung Nordrhein-Westfalen für ein Gesetz zur

Förderung und Entwicklung der Kultur, der Kunst und der Kulturellen. Bildung in Nordrhein-Westfalen - Kulturfördergesetz (KFG).

2014 • Regierungsentwurf zum „Gesetz über die staatliche Anerkennung von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, Sozialpädagoginnen und Sozial-pädagogen sowie Kindheitspädagoginnen und Kindheitspädagogen (Sozi-alberufe-Anerkennungsgesetz – SobAG)“.

• Ressortabstimmung „Dritte Verordnung zur Änderung der Ausführungs-verordnung zum SGB XII“.

• Kabinettvorlage der Landesregierung - Information der Landesregierung zum Stand der Umsetzung des Aktionsplans „Eine Gesellschaft für alle - NRW inklusiv“.

• Ressortabstimmung: Entwurf einer Verordnung zur Änderung der Aus-bildungsordnung Grundschule - AO-GS - und der Ausbil-dungs- und Prü-fungsordnung Sekundarstufe I - APO-S I .

• Hochschulzukunftsgesetz. • Ressortabstimmung gemäß § 57 GGO, Bericht über die Evaluierung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes.

• Rechts- und Verwaltungsvorschriften des MGEPA - Überprüfung des WeiterbildungsgesetzAlten-undGesundheits-undKran-kenpflege (WGAuGuKrpfl)sowiederWeiterbildungs-undPrüfungsordnungfür Pflegeberufe(WBVO-Pflege-NRW).

• Eckpunkte der Landesregierung NRW zur Weiterentwicklung des Lan-despflegerechtsundSicherungeinerdemographiefestenInf-rastruktur fürAlte,PflegebedürftigeundderenAngehörigedurcheinLandesdemo-graphiegesetz und durch eine Reform des Wohn- und Teilhabegesetzes.

• Verordnung über die Gewährung der Pauschale zur Beteiligung an den SchulkostenfürdieAusbildungvonAltenpflegerinnenundAltenpflegern (AltPflSchulkoVO).

Tätigkeitsbericht von Norbert Killewald

Page 153: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

153

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Jahr Stellung bezogen zu2015 • Verordnung über Bau und Betrieb von Sonderbauten (Sonderbauverord-

nung - SBauVO) - Entwurf der Neufassung der Sonder-bauverordnung. • Entwurf des ersten allgemeinen Gesetz zur Stärkung der Sozialen Inklu-

sion in NRW. • Entwurf einer Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen. • Gesetz über die Krebsregistratur und Änderung des Gesundheitsdaten-

schutzgesetzes. • Entwurf eines E-Government-Gesetzes NRW. • Entwürfe zur Überarbeitung von Vorschriften zur Lehrerausbildung 2015

(LABG). • VO-Entwurf zur Zweiten Änderung der Freistellungs- und Urlaubsverord-

nung NRW.

Soziale Wohnraumförderung im Programmjahr 2012.

Mit dem Entwurf der Wohnraumförderungsbestimmungen des damaligen Ministe-riums für Wirtschaft, Energie, Wohnen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfa-len wurde im Februar 2011 die DIN 18040 Teil 2 erstmals Bestandteil eines gelten-den Erlasses des Landes NRW. Die DIN 18040-2 umfasst die barrierefreie Planung, Ausführung und Ausstattung von Wohnungen und deren Außenanlagen. Daran anschließend wurde der in der DIN 18040-2 geprägte Begriff der Barrierefreiheit ab 2012 auch in weitere bau- und wohnraumbetreffende Bestimmungen übernom-men. Dies ist umso erfreulicher, als dass die oberste Bauaufsicht des Landes schon im Jahr 2011 die DIN 18040 erster Teil als Beschreibung zur Barrierefreiheit gesetzt hatte. Mit der Etablierung der DIN 18040 Teil 1 und 2 als Standard in die soziale Wohnraumförderung im Programmjahr 2012 wurde ein anderes Verständnis von Barrierefreiheit in NRW geprägt. Damit wurde nicht nur positiv auf die langjährigen Forderungen der Menschen mit Beeinträchtigung reagiert, sondern weitergehend ein entscheidender Beitrag zur Umsetzung der Ziele der UN-Behindertenrechts-konvention in NRW geleistet. Diesen vom Ministerium eingeleiteten Prozess bzgl. der Ziele der Förderungskonditionen habe ich begrüßt und meine vollständige Un-terstützung zugesichert.

„Auf dem Weg in ein inklusives NRW“ – Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Nordrhein-Westfalen voranbringen.

Der Antrag der SPD- und der Bündnis 90/Die Grünen-Fraktion befasste sich mit der Vorbereitung, der Einführung und der Umsetzung des Aktionsplans „Eine Ge-sellschaft für alle“ in NRW. Als oberste Richtschnur allen Handelns sieht der Land-tag in dem Antrag das Selbstbestimmungsrecht Betroffener. Das geltende Recht müsse im Lichte der UN-BRK überprüft und entsprechend weiter entwickelt wer-den. Einem eigenständigen Bundesleistungs- und Teilhaberecht müsse das Be-griffsverständnis von Behinderung nach der UN-BRK zu Grunde liegen. Ein Kos-

Page 154: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

154

tenvorbehalt (§ 13 SGB XII) müsse aufgehoben und Sondereinrichtungen auf allen Ebenen überwunden werden. Geleistete Unterstützung sollte personen- und nicht leistungsorientiert stattfinden. Zudem müsste eine diskriminierungsfreie medi-zinische Versorgung von Menschen mit Beeinträchtigung gewährleistet werden. Schlussendlich müsse die Landesregierung einer mehrfachen Diskriminierung von Frauen und Mädchen mit Beeinträchtigung entgegengewirkt werden. Dieser Antrag hat wesentliche Forderungen der Menschen mit Behinderung in NRW aufgegriffen und wurde damit auch von mir begrüßt.

Konkretisierend wurde anhand einiger Punkte des Landesbehindertenbeirates an-geregt, dass die Sonderstellung inklusiver Bildung zuzüglich ihrer Herauslösung aus der Koordinationsverantwortung des Ministeriums für Arbeit, Integration und Soziales unverständlich sei und der Aktionsplan und der Inklusionsplan zusam-mengeführt werden müssen. Zudem wurde die Forderung eingebracht, die DIN 18040 in eine Neufassung der Landesbauordnung einzubeziehen, öffentliche Mit-tel zur Förderung der Herstellung von Barrierefreiheit zu gewähren und als Land bei Neubauten auf uneingeschränkte Barrierefreiheit zu setzen. Nicht zuletzt wurde die Verankerung des Mitspracherechts von Menschen mit Beeinträchtigung in der Gemeindeordnung gefordert.

Entwurf für den neuen Landesentwicklungsplan.

Der Landesentwicklungsplan (LEP) legt auf Landesebene die langfristigen strate-gischen Ziele zur räumlichen Entwicklung des Landes Nordrhein-Westfalen fest. Seine querschnittsorientierten Festlegungen sind für die nachgeordnete Regional-, Bauleit- und Fachplanung bindend. Bisher waren die Ziele und Grundsätze der Lan-desplanung in Nordrhein-Westfalen in zwei verschiedenen Planwerken, dem Lan-desentwicklungsprogramm (LEPro) und dem Landesentwicklungsplan Nordrhein-Westfalen von 1995 geregelt. Mit der Zusammenführung von LEPro und LEP ‚95 im neuen Landesentwicklungsplan wurde das nordrhein-westfälische Regelwerk gestrafft, konzentriert und trägt somit zur Vereinfachung der Rechtsvorschriften in NRW bei. In dem Entwurf fehlte der Bezug zur UN-Behindertenrechtskonvention, diederBundunddieLänderimMärz2009ratifizierthatten.Artikel4Nr.1aderUN-BRKverpflichtetallestaatlichenEbenen„allegeeignetenGesetzgebungs-,Verwal-tungs- und sonstigen Maßnahmen zur Umsetzung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen“. Der Landesentwicklungsplan wurde von mir als eine grundsätzlich wirkende Maßnahme angesehen. So habe ich deutlich gemacht, dass die veränderte Rechtsgrundlage in die Landesentwicklungsplanung, die Ge-bietsentwicklungsplanung sowie die Flächennutzungsplanung hereinwirkt und der LEP dieser Grundlage Rechnung tragen müsse. Ziel war die Darlegung der Grund-sätzlichkeit der gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Meiner Empfehlung, eine Textpassage einzufügen, die den Bezug auf die UN-Behindertenrechtskonvention herstellt, wurde gefolgt.

Tätigkeitsbericht von Norbert Killewald

Page 155: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

155

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der VN-Behindertenrechtskonvention in den Schulen (9. Schulrechtsänderungsgesetz).

Das Erste Gesetz zur Umsetzung der UN-BRK in den Schulen (9. Schulrechtsände-rungsgesetz vom 5. November 2013) trat am 1. August 2014 in Kraft. Auf wesentli-che Änderungen wurde an anderer Stelle hier im Bericht eingegangen.

Neben dort aufgeführten Argumenten ist es notwendig, sich klar zu machen, dass das 9. Schulrechtänderungsgesetz für eine bestimmte Anzahl von Schülerinnen und Schülern mit anerkanntem Förderbedarf sowie den betreffenden „nachkom-menden“ der künftigen Schulkinder berechnet wurde. Weitere betroffene Kinder sind bereits geboren. Für diese werden wir in der nächsten Legislaturperiode die notwendigen gesetzlichen Vorkehrungen treffen müssen.

Entwurf einer Verordnung zur Änderung der Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung (AO-SF).

Das Ministerium hat durch Verordnung vom 29. September 2014 die Ausbildungs- und Prüfungsordnung sonderpädagogischer Förderung (AO-SF) aus dem Jahr 2005 an das 9. Schulrechtsänderungsgesetz angepasst. Von mir wurde vor allem empfohlen eine genaueste Beschreibung, wie gehandelt werden muss, abzugeben. Gerade in Bezug auf § 11 ehemals Nr. 3, dass das Stellen von Anträgen auf Förderung nach Abschluss der Klasse 6 nicht mehr möglich sei, wurde zu bedenken gegeben, dass dabei Härtefälle und Bedarfe, die zum Beispiel durch Unfälle eines Jugendlichen entstehen, nicht abgedeckt werden. Empfohlen wurde, die Sprachregelung „nur noch in Ausnahmefällen durchführen“ aufzuneh-men. Dieser Empfehlung wurde im neuen § 11 Nr. 4 nachgekommen.

Gesetz über die Zulassung von Zentren und über die Einrichtung der Ethikkom-mission für Präimplantationsdiagnostik in Nordrhein-Westfalen (Präimplantati-onsdiagnostikgesetz Nordrhein-Westfalen – PIDG NRW).

Unter der Präimplantationsdiagnostik versteht man eine invasive Diagnostik an durch In-vitro-Fertilisation entstandenen Embryonen vor dem Einsetzen in die Gebärmutter. Dabei können evtl. vorliegende vererbbare, schwere Erkrankungen nachgewiesen werden. Mit dem Gesetz über die Zulassung von Zentren und über die Einrichtung der Ethikkommission für Präimplantationsdiagnostik in Nordrhein-Westfalen werden die in der Verordnung des Bundes zur Regelung der Präimplan-tationsdiagnostik getroffenen Verfahrensvorgaben umgesetzt.

Page 156: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

156

Wesentlicher Inhalt dieses Gesetzes sind die Bestimmungen der für die Zulassung von Zentren für Präimplantationsdiagnostik zuständigen Behörde und der Einrich-tung einer Ethikkommission für Präimplantationsdiagnostik sowie ihrer Verfah-rensweise und Zusammensetzung. Als Beauftragter für die Belange der Menschen mit Behinderung stand und stehe ich der PID aufgrund ihres Potentials der Diskri-minierung behinderter Menschen kritisch gegenüber. Zum Zeitpunkt meiner Betei-ligung war die Grundsatzentscheidung zur Ermöglichung von PID in bestimmten Grenzen aber bereits getroffen. Positiv anerkannt habe ich die Einrichtung nur ei-ner zuständigen Ethikkommission. Eine Reise durch mehrere Kommissionen würde so betroffenen Menschen erspart werden. Empfohlen wurde, die Ethikkommission bei einer Ärztekammer anzusiedeln, da auch andere Ethikkommissionen bei Ärz-tekammern angesiedelt sind. Die Bestimmung einer Ärztekammer als zuständige Behörde für die Zulassung von Zentren wurde als vertretbare Lösung angesehen. DieAusgestaltungals„PflichtaufgabezurErfüllungnachWeisung“gibtdemLand meines Erachtens nach eine ausreichende Kontrolle.

Entwurf einer Verordnung über die Mindestgrößen der Förderschulen und der Schulen für Kranke; Ressortabstimmung.

Zeitgleich mit dem Ersten Gesetz zur Umsetzung der UN-BRK ist die Verord-nung über die Mindestgrößen der Förderschulen und der Schulen für Kranke vom 16. Oktober 2013 verschärft worden.

Unter die erforderliche Mindestgröße fallen bis auf wenige Ausnahmen allein die För-derschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen. Fällt eine Förderschule unter die er-forderlicheMindestgröße,musssienichtzwangsläufiggeschlossenwerden.DieSchul-träger können Förderschulen zusammenlegen und Schulen an Teilstandorten führen. Der Bestand der Förderschulen mit den Förderschwerpunkten Hören und Kommuni-kation, Sehen, geistige Entwicklung sowie körperliche und motorische Entwicklung ist derzeit stabil. Diese Verordnung wurde von mir mitgetragen. Sie ist ein Steuerungsinstrument und ein Steuerungszwang für die Akteure vor Ort. Nur durch solche strukturellen Maßnah-men wird die Landschaft vor Ort gezwungen zu handeln.

Eckpunkte der Landesregierung Nordrhein-Westfalen für ein Gesetz zur För-derung und Entwicklung der Kultur, der Kunst und der Kulturellen Bildung in Nordrhein-Westfalen – Kulturfördergesetz (KFG).

Ziel des Kulturfördergesetzes ist es, die Kulturförderung im Land NRW auf eine ver-lässlichere Grundlage zu stellen. Neues Instrument einer verlässlichen und trans-parenten Kulturförderpolitik des Landes soll dabei vor allem ein Kulturförderplan auf Landesebene sein. Eine wesentliche Funktion des Kulturfördergesetzes bzw. des auf seiner Grundlage erstellten Kulturförderplans muss die Sicherstellung ei-ner gewissen Stabilität der Kulturförderung des Landes sein. Kulturschaffenden und -verantwortlichen soll damit eine Planungssicherheit gegeben und so zum Er-

Tätigkeitsbericht von Norbert Killewald

Page 157: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

157

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

halt der vielfältigen Kulturlandschaft in NRW beigetragen werden. Darüber hinaus soll das Gesetz erreichen, dass Kulturpolitik auch in Zukunft immer wieder zur öf-fentlichen Diskussion gestellt wird.

Wichtig war es hier, die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behin-derung in die allgemeinen Erklärungen bzw. die Ziele des Gesetzes einzubringen. Der Artikel 30 UN-BRK schreibt klar eine Ermöglichung der Teilhabe am kulturellen Leben fest. Zur Gewährung der gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderung habe ich daher empfohlen, die in Art. 30 UN-BRK ge-nannten Maßnahmen aufzunehmen. DesWeiterenhabe ichdazuaufgefordert,beiderGebäudefinanzierung,entspre-chend der Bauvorschriften DIN 18040 die Grundsätze der Barrierefreiheit und der Erreichbarkeit zu gewährleisten. Die UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderung wurde in die Erklärung des Kulturfördergesetzes übernommen.

Hochschulzukunftsgesetz

Wie an anderer Stelle schon erwähnt, ist dieses Gesetz schon vor der Kabinetts-befassung und dem Referentenentwurf in einer ungewöhnlich breiten Art und Wei-se mit den Behindertenvertretern erörtert worden. Ein Zitat einer über Jahrzehnte „kampferprobten“ Streiterin aus der Behindertenszene ist mir noch im Ohr: „Ich hätte nicht gedacht, dass wir unsere Forderungen mit nur einem Gesetz durch-kriegen. Wie sich die Zeiten ändern.“ Ein größeres Lob für ein Gesetz und für das Gesetzesverfahren habe ich aus der Szene in den fünf Jahren nicht gehört. Die Än-derungen des bestehenden Hochschulzukunftsgesetzes beziehen sich auf die Be-reiche des Zusammenwirkens von Land und Hochschulen, die interne Hochschul-verfassung und das Studium, die Gleichstellung und Diversity. So soll u.a. ein neuer Landeshochschulentwicklungsplan verfasst und ein einheitliches, standardisiertes Controlling initiiert, sowie ein modernes Finanzierungsmodell entwickelt werden.

Zudem soll die Hochschulverfassung modernisiert und ein modernes, professio-nelles Hochschulmanagement entwickelt werden. Für uns Menschen mit Behinde-rung ist vor allem der dritte Punkt von großem Interesse gewesen. So sollten die Umstände einer guten Studierbarkeit und unsere und andere Unterpräsenz in Wis-senschaft und Forschung angegangen werden. Auch eine Berücksichtigung der zu-nehmenden Heterogenität der Gruppe der Studierenden sollte berücksichtigt wer-den. Die Regierung wurde aufgefordert, gemäß der UN-BRK die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit und ohne Behinderung in der Verantwortung der Hoch-schulen sicherzustellen. Es wurde daher empfohlen, einen Abschnitt zur frühzeiti-gen Beteiligung von Menschen mit Behinderung zur Durchsetzung ihrer Rechte im Gesetz zu verankern. Dabei sollten die Rechte der Menschen mit Beeinträchtigung auch in den Bewerbungsverfahren besondere Berücksichtigung finden. Zudem solltendieStudierendenwerkedazuverpflichtetwerden,diestaatlichenMittelim Sinne der Konvention einzusetzen.

Page 158: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

158

Eckpunkte der Landesregierung NRW zur Weiterentwicklung des Landespfle-gerechts und Sicherung einer demographiefesten Infrastruktur für Alte, Pfle-gebedürftige und deren Angehörige durch ein Landesdemographiegesetz und durch eine Reform des Wohn- und Teilhabegesetzes.

Von Beginn an waren der Landesbehindertenbeauftragte sowie viele Betroffenen-organisationen in den Prozess eingebunden. Der lange Weg zur Gesetzgebung wur-de in der Beteiligungskette nie unterbrochen. Für einige Behindertenverbände war es zum Teil kaum leistbar, an allen Sitzungen und Stellungnahmen teilzunehmen. Ich hatte den Eindruck, dass in diesem Prozess die Verbände auch erkennen muss-ten, wie zeitaufwändig ein „Nicht über uns ohne uns“ sein kann. Da u. a. die Heimge-setzgebung für die Betroffenenverbände von großer Bedeutung ist, wurde die Ar-beit jedoch gern eingesetzt. Die Eckpunkte der Landesregierung wurden begrüßt. Die angesprochenen Gesetze stellen eine wichtige Weiche für die Umsetzung der UN-BRK in NRW. Angeregt wurde vor allem, in den Vorbemerkungen die gleichbe-rechtigte Teilhabe aller Bürger anzusprechen. Da Teilhabe nicht nur ein Thema für Menschen im Alter ist, macht es wichtig, ebenso die Gruppe der Menschen mit Be-hinderung zu berücksichtigen und keine Spezialisierungen vorzunehmen. So wur-deempfohlen,auchbeimThemaGewalt inderPflegedieGruppederMenschen mit Behinderungen mitzudenken. Auch wurde angeraten, die Teilhabesicherung und –unterstützung stärker zu betonen und die umfassenden Mitwirkungs- und Mitbestimmungs-rechte von Bewohnerinnen und Bewohnern zu gewährleisten.

Ein solches Mitbestimmungsrecht bedeutet aktive Entscheidungsmöglichkeiten und damit ein tatsächliches Selbstbestimmungsrecht. Die grundsätzliche Orien-tierung der Gesetze an der UN-BRK begrüßte ich ausdrücklich.

Entwurf des ersten allgemeinen Gesetzes zur Stärkung der Sozialen Inklusion in NRW.

Was als Ausführungsgesetz zum SGB XII in Zeiten der Erörterung des 9. Schul-rechtsänderungsgesetzes angefangen hat, entwickelte sich zu einem Artikelgesetz über viele Lebenslagen der Menschen mit Behinderung. Angemerkt wurde hier mit Nachdruck, dass die Träger öffentlicher Belange eine barrierefreie Kommunikation gewährleisten müssen. Dazu sollte das Instrument der Leichten Sprache verwen-det und Kompetenzen für die Kommunikation in Leichter Sprache aufgebaut wer-den. Nur so könne dem Rechtanspruch auf geeignete Kommunikation aus § 8 BGG Rechnung getragen werden. Viele Menschen in NRW wünschten sich zudem eine Änderung der Gemeindeordnung an dieser Stelle. Die nächsten Monate der par-lamentarischen Beteiligung werden zeigen, wie weit NRW die Grundzüge der UN-BRK in die Gesetzgebung in NRW aufnehmen wird.

Tätigkeitsbericht von Norbert Killewald

Page 159: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

159

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Entwurf einer Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen.

Nach über drei Jahren wurde die Verbändeanhörung zur Novelle der Landesbau-ordnung vorgelegt. Im Entwurf sind viele Forderungen der Behindertenszene auf-genommen worden, so zum Beispiel eine klarere Regelung zur Barrierefreiheit, auch in Bezug auf Konsequenzen bei Nicht – Einhaltung der Regelungen. Die Lan-desregierung hat die Zeichen der Zeit erkannt. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Wohnungswirtschaft hier Gegenakzente im Parlament setzen kann.

Der Landesbehindertenbeirat und der Fachbeirat Partizipation. Mein Amt habe ich immer durch Kooperation und engen Austausch gestaltet. Der Landesbehindertenbeirat ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Beratungs-gremium für mich gewesen und von mir als solches genutzt und wahrgenommen worden. In ihm sind die wichtigsten Akteure und Experten für das Leben der Men-schen mit Behinderung in NRW vereint. Auch der Fachbeirat Partizipation des In-klusionsbeirats war ein weiteres für mich wichtiges Beratungsgremium. Die Bei-ratsmitglieder vertreten Organisationen und Selbsthilfegruppen der Menschen mit Behinderung, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, die kommunalen Spitzenverbände, LandschaftsverbändeunddieFreieWohlfahrtspflege.Sierepräsentierendamitdie Gesamtheit der Menschen mit Behinderung. Viele Akteure sind in beiden Räten ak-tiv, ihnen war eine doppelte Belastung nicht zumutbar, zumal viele ehrenamtlich an den Sitzungen teilnehmen. Deshalb werden die Tagungen beider Räte seit einiger Zeit gemeinsam abgehalten.

Tabelle 7-5: Der Landesbehindertenbeirat NRW. Organisation Mitglieder Stellvertretungen 1. Bank: Selbsthilfe Blinde und sehbe- hinderte Menschen

Gerd Kozyk (BSNV) Poolbildung NN (Leben mit Usher Syndrom e.V.) Heidi Rittlewski-Flaake (Vorsit-zende der AG der Eltern blinder u. sehbehinderter Kinder) Jörg-Michael Sachse-Schüler (Pro Retina Deutschland e.V.)

Gehörlose und schwerhörige Menschen

NN (Landesverband der Gehör-losen)

Poolbildung

Jutta Siewering (DSB Landes-verband der Schwerhörigen und Ertaubten NRW e.V.)

Menschen mit Körperbehinde-rung

Maria Poquett (1. Vorsitzende im Landesverband Nordrhein-West-falen für Körper- und Mehrfach-behinderte e.V.) Camilla von Loesch (Bundes-verband SELBSTHILFE Körper-behinderter e.V., Landesver-band NRW)

Page 160: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

160

Menschen mit psychischer Behinderung

Dorothee Daun (Autismus Lan-desverband NRW) Wiebke Schubert (Vorsitzende des LV der Angehörigen psy-chisch kranker Menschen e.V.)

Verbandsvertreter/in aus Berei-chen mit den Schwerpunkten Integration, Inklusi-on, (Kinder-garten, Schule, Berufsausbil-dung)

Hans-Georg Kalbhenn (Schrift-führer im Vorstand von „Lernen Fördern – LV zur Förderung von Menschen mit Lernbehin-derungen NRW e.V.)

Poolbildung

Bernd Kochanek (Vorsitzender Gemeinsam Leben Gemeinsam Lernen Landesarbeitsgemein-schaft NRW e.V.) Dieter Winkelsen (Vorsitzender des LV von Eltern-, Angehö-rigen- u. Betreuerbeiräten in Werkstätten u. Wohneinrich-tungen NRW)

Menschen mit geistiger Behin-derung

Rita Lawrenz (Geschäftsführe-rin Arbeitskreis Down-Syndrom e.V.)

NN (Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung LV NRW e.V.)

Landesarbeitsgemeinschaft SELBSTHILFE behinderter und chronisch kranker Menschen NRW

Geesken Wörmann (Vorsitzen-de der LAG Selbsthilfe behin-derter u. chronisch kranker Menschen)

Hans-Joachim Wöbbeking

Netzwerk von Frauen und Mäd-chen mit Behinderung in NRW

Gertrud Servos Claudia Seipelt-Holtmann

Interessensverband Selbst-bestimmt Leben ISL

Bianka Becker (Zentrum für selbstbestimmtes Leben)

Poolbildung

Horst Ladenberger (Zentrum für selbstbestimmtes Leben) Ellen Marquardt (Interessens-vertretung Selbstbestimmt Leben) Carl-Wilhelm Rößler (Zentrum für selbstbestimmtes Leben)

Sozialverband Deutschland SoVD

Friedrich-Wilhelm Herkelmann Daniel Kreutz Michael Spörke

Sozialverband VdK Franz-Josef Sauer 2. Bank: Freie Wohlfahrtspflege LAG FW NRW Rudolf Boll (Paritätischer Lan-

desverband NRW) Christian Huppert (Paritäti-scher Landesverband NRW)

Evelyn Plau (Deutsches Rotes Kreuz LV NRW e.V.)

Hubertus Strippel (Caritasver-band für das Bistum Essen)

Tätigkeitsbericht von Norbert Killewald

Page 161: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

161

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

3. Bank: Kommunale Spitzenverbände/Landschaftsverbände LWL/LVR Matthias Münning (LWL) Dirk Lewandrowski (LVR)

Karin Fankhaenel (LVR) Ulrich Adlhoch (LWL)

Arbeitsgemeinschaft der kom-munalen Spitzenverbände

Hermann Allroggen (Landkreis-tag/ Rhein-Siegen-Kreis)

Heinz Hörbelt (Städtetag Nord-rhein-Westfalen)

Angelika Maria Wahrheit (Städ-tetag NRW / Bundesstadt Bonn, Familiendezernat (Kin-der, Jugend, Schule, Soziales)

4. Bank: Gewerkschaften, Schwerbehindertenvertretungen, Unternehmensverbände, Regio-naldirektion NRW der BA

Gewerkschaften Ingo Jungen (Vertrauensperson bei der Gesamtschwerbehin-dertenvertretung der Deut-schen Telekom AG in Aachen)

Michael Blaucza (DGB Bezirk NRW)

Wolfgang Römer (DBB NRW Beamtenbund und Tarifunion)

Günter Uhlworm (DBB NRW Beamtenbund und Tarifunion)

Schwerbehindertenvertretun-gen

Martin Bsdurek (AG der Schwerbehindertenvertretun-gen NRW)

Erika Ullmann-Biller (Ar-beitsgemeinschaft der Hauptschwerbehindertenver-tretungen der obersten Lan-desbehörden NRW)

Heinz Pütz (AG der Haupt-schwerbehindertenvertretun-gen u. Schwerbehinderten-vertretungen der obersten Landesbehörden NRW)

Unternehmer NRW Dr. Axel Borchard (Landesver-einigung der Unternehmens-verbände Nordrhein-Westfalen e.V.)

Poolbildung

Claudia Dunschen (Verband der Metall- u. Elektroindustrie NRW e.V.)

Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen

Dagmar Lorré-Krupp (Regio-naldirektion NRW der Bundes-agentur für Arbeit)

Anke Schulte (Regionaldirekti-on NRW)

5. Bank: Behindertenbeauftragte/ Behindertenkoordinatoren Arbeitskreis der kommunalen Behindertenbeauftragten

Doris Rüter (Stadt Münster – Sozialamt)

Rainer Damerius (Behinderten-beauftragter der Stadt Siegen) Martina Gleiß (Koordinations-stelle für Menschen mit Behin-derung der Stadt Hagen)

Page 162: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

162

Fachbeirat Partizipation

Tabelle 7-6: Der Fachbeirat Partizipation. Organisation Mitglieder Stellvertretungen Landesregierung MAIS Roland Borosch

NN MIK NRW Andrea Duifhuis

Dr. Natascha Linzenich MFKJKS Dagmar Friedrich

Rosemarie Meyer-Behrendt

MGEPA NRW Dr. Daniela Grobe Patientenbeauftragter NRW Dirk Meyer Berater Berater Dr. Harry Fuchs Selbsthilfe

Blinden- und Sehbehinderten-verein Westfalen e.V.

Klaus Hahn

Bund zur Förderung Sehbehin-derter LV NRW e.V.

Bernd Neuefeind

Arbeitsgemeinschaft der Eltern blinder und sehbehinderter Kin-der in Westfalen-Lippe e.V.

Geesken Wörmann

LV der Gehörlosen NRW e.V. Frank Köllen Dt. Schwerhörigenbund LV NRW Anna Maria Koolwaay Pro Retina Deutschland e.V. Jörg-Michael Sachse-Schüler

Leben mit Usher-Syndrom e.V. NN Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung Landes-verband NRW e. V.

NN

Behinderten-Arbeitsgemein-schaft Kreis Soest

Brigitte Piepenbreier

MOBILE Selbstbestimmtes Leben Behinderter e. V.

Christiane Rischer Manuel Salomon

Landesseniorenvertretung Dr. Martin Theisohn Birgit Povel Landesintegrationsrat NRW Erkan Zorlu Netzwerk Frauen u. Mädchen mit Behinderungen NRW

Gertrud Servos

Deutsche ILCO LV NRW e.V. Bernd Haufe Interessensverband Selbstbe-stimmt Leben NRW e.V.

Horst Ladenberger

SoVD Nordrhein-Westfalen e. V. Friedrich-Wilhelm Herkelmann SoVD Nordrhein-Westfalen e. V. Dr. Michael Spörke Sozialverband VdK Franz-Josef Sauer Sozialverband VdK NRW, Kreis-verband am Niederrhein

Robert Walter

Tätigkeitsbericht von Norbert Killewald

Page 163: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

163

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Freie Wohlfahrtspflege LAG FW NRW/ AWO Bezirksver-band Niederrhein Kommunale Spitzenverbände/Landschaftsverbände Landschaftsverband Westfalen-Lippe

Matthias Münning Paul Griestop

Landschaftsverband Rheinland Dr. Birgit Stermann Bernd Woltmann-Zingsheim Städte- und Gemeindebund NRW

Dr. Matthias Menzel

Städtetag Nordrhein-Westfalen Friederike Scholz Schwerbehindertenvertretungen Arbeitsgemeinschaft der Schwerbehindertenvertretung NRW e. V.

NN

Behindertenbeauftragte/Behindertenkoordinatoren Stadt Münster -Sozialamt Doris Rüter

Page 164: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

164

Anhang

Die Definition von Beeinträchtigung und Behinderung.

Beeinträchtigung bedeutet im Verständnis der ICF-Klassifikation (International Classification of Functions): Es muss eine dauerhafte Einschränkung der Leis-tungsfähigkeit aufgrund einer Schädigung von Körperfunktionen, inkl. psychischer Funktionen oder Körperstrukturen vorliegen.

Sind Aktivitäten und Teilhabe durch ungünstige Kontextbedingungen dauerhaft beeinträchtigt, wird von einer Behinderung gesprochen. In gegenwärtigen Daten-beständenkanneinesodefiniertePersonengruppenurnäherungsweiseermittelt werden: Für die erwachsenen Menschen mit Beeinträchtigungen wird anhand der Daten des SOEP Beeinträchtigung abgegrenzt. Für Kinder und Jugendliche unter 18JahrenfindenDatenderStudie„GesundheitvonKindernundJugendlichenin Deutschland“ (KiGGS) des Robert-Koch-Instituts Anwendung.

Die multidisziplinäre Langzeitstudie SOEP.

Das SOEP des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ist die größte und am längsten laufende multidisziplinäre Langzeitstudie in Deutschland. Jährlich werden Informationen zur sozialen Lage von Menschen in Deutschland erhoben. Hierzu be-fragen jedes Jahr etwa 600 Interviewerinnen und Interviewer vom Umfrageinstitut TNS Infratest Sozialforschung mehr als 20.000 Menschen in rund 11.000 Haushal-ten. Durch das Stichproben-Design sowie Hochrechnungsfaktoren wird eine best-mögliche Repräsentativität der SOEP-Daten für die Bevölkerung in Privathaushal-ten sowie die Zahl der Privathaushalte am Wohnsitz in Deutschland angestrebt. In seinen Eckdaten (Verteilung nach Region, Alter, Geschlecht, Haushaltsgröße und Nationalität) entspricht das SOEP dem amtlichen Mikrozensus. Aufgrund der ho-hen Einwohnerzahl ist das SOEP auch repräsentativ für NRW.

Nicht repräsentativ erhoben werden im SOEP Personen in so genannten Anstalts-haushalten. Mit Blick auf Menschen mit Beeinträchtigungen hat dies zur Folge, dass keine Aussagen zu Personen getroffen werden können, die in einem Wohn-heimoderineinerPflegeeinrichtungleben.MenschenmitSinnesbeeinträchtigun-gen können dagegen durch den Einsatz verschiedener Interviewmethoden relativ gut erreicht werden.

Anhang

Page 165: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

165

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Was wird wie abgefragt?

Auf Basis der Befragungswelle 2013 des SOEP lässt sich über zwei Wege auf das Vorliegen einer dauerhaften Schädigung der Körperstrukturen oder -funktionen sowie eine dauerhafte Beeinträchtigung der Aktivitäten und der Teilhabe im Sinne derICF-Definitionschließen.

• E rstens kann hierzu die Frage nach dem Vorliegen einer amtlich festgestellten Erwerbsminderung oder Schwerbehinderung herangezogen werden. Eine solche Feststellung bedeutet, dass gutachterlich eine dauerhafte Einschränkung der kör-perlichen Funktionen, der geistigen Fähigkeiten oder der seelischen Gesundheit sowie Beeinträchtigungen bei Aktivitäten und bei der Teilhabe festgestellt wurde.

• Ein Hin weis auf eine dauerhafte Beeinträchtigung im Sinne der ICF ist zweitens, wenn Befragte angeben, dass sie schon länger als ein halbes Jahr durch ein ge-sundheitliches Problem bei Tätigkeiten des normalen Alltagslebens eingeschränkt sind.JenachgewählterDefinitionkanndabeivoneinerBeeinträchtigungausge-gangenwerden,wennBefragtestarkeingeschränktsind(engeDefinition)oder wennsiemindestensetwaseingeschränktsind(weiteDefinition).

Diese neu in das SOEP aufgenommene Abfrage ist gut geeignet, um dauerhafte Be-einträchtigung der Aktivitäten und der Teilhabe abzubilden. Die hiermit mögliche Eingrenzung von Menschen mit Beeinträchtigungen liegt deutlich näher an der De-finitionderICF,alsdiesnochimTeilhabeberichtderBundesregierungmöglichwar.

AllerdingsistauchmitdieserAbfrageeinedefinitorischeUnschärfeverbunden,da als Ursache der Beeinträchtigung explizit auf „ein gesundheitliches Problem“ ab-gestellt wird. Dies birgt die Gefahr, dass lediglich körperliche (somatische) Schä-digungen von Körperfunktionen oder Körperstrukturen in den Blick genommen werden, während psychische und geistige Aspekte tendenziell unberücksichtigt bleiben.

Trotz der beschriebenen Unschärfe wird im vorliegenden Datenbericht immer dann von einer Beeinträchtigung ausgegangen, wenn eine amtlich festgestellte Erwerbs-minderung oder eine Schwerbehinderung vorliegt oder wenn Personen seit länger als einem halben Jahr durch ein gesundheitliches Problem stark bei Tätigkeiten desnormalenAlltagslebenseingeschränkt sind.DamitwirdeineengeDefinition von Beeinträchtigung gewählt.

Insgesamt umfasst die Stichprobe Daten von 5.047 volljährigen Personen in NRW. Hochgerechnet entspricht diese Stichprobe 14,6 Millionen Personen ab 18 Jahren in Privathaushalten in NRW.24 Mit diesen Daten für NRW ermöglicht das SOEP ei-nen relativ hohen Differenzierungsgrad nach Alter, Geschlecht und Migrationshin-tergrund, der aber an seine Grenzen stößt, sobald tiefergehende Analysen vorge-nommen sollen.

24 Die amtliche Statis tik für das Land NRW gibt auf Basis des Mikrozensus zum Stichtag 31.12.2013 eine Bevölkerungszahl von

14,7 Millionen Personen im Alter ab 18 Jahren an.

Page 166: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

166

Um die Teilhabesituation von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen abzubilden, wurde auf die Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) des Robert-Koch-Instituts zurückgegriffen.

Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland – KiGGS.

Die erste KiGGS-Studie (KiGGS-Basiserhebung) wurde von 2003 bis 2006 durch-geführt mit dem Ziel, umfassende und bundesweit repräsentative Daten zur Ge-sundheit der in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen von 0 bis 17 Jahren zu erheben. Die Datenerhebung erfolgte an 167 Orten in ganz Deutschland in Form eines kombinierten Untersuchungs- und Befragungssurveys. Insgesamt haben 17.641 Jungen und Mädchen mit ihren Eltern an der Studie teilgenommen.

Zwischen 2009 und 2012 erfolgte eine Wiederholungsbefragung (KiGGS Welle 1). Dabei wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Basiserhebung erneut be-fragt sowie neue Personen in die Befragung mit einbezogen, um eine bundesweit repräsentative Datenerhebung zu ermöglichen. „Die Studienergebnisse sollen repräsentativ sein für alle (deutschen und ausländischen) Jungen und Mädchen im Alter von 0 bis 17 Jahren, die im Erhebungszeitraum in Deutschland mit Haupt-wohnsitz gemeldet sind (Querschnitt).“25

Anders als die Basiserhebung wurde im Rahmen der KiGGS Welle 1 ausschließ-lich eine telefonische Befragung durchgeführt. Dabei wurden Eltern zu ihren 0- bis 17-jährigen Kindern befragt. Ab einem Alter von 11 Jahren wurden die Kinder und Jugendlichen zusätzlich selbst telefonisch interviewt. Im vorliegenden Datenbe-richt beziehen sich die Angaben, wenn nicht anders angegeben, auf die Elternbe-fragung.26

Für den vorliegenden Datenbericht wurde die KiGGS Welle 1 (2009 - 2012) verwen-det. Dabei wurde eine Eingrenzung auf Kinder und Jugendliche mit Wohnsitz im Bundesland NRW vorgenommen.

Auf Basis der KiGGS Welle 1 lässt sich über die folgenden drei Fragen im Eltern-fragebogen auf das Vorliegen einer dauerhaften Schädigung der Körperstrukturen oder -funktionen sowie eine dauerhafte Beeinträchtigung der Aktivitäten und der TeilhabeimSinnederICF-Definitionschließen:

• Is t Ihr Kind in irgendeiner Art und Weise eingeschränkt oder daran gehindert, Dinge zu tun, die die meisten gleichaltrigen Kinder tun können?

• Geschieht dies aufgrund einer Krankheit, Verhaltensstörung oder eines anderen gesundheitlichen Problems?

• D auert dieses Problem bereits 12 Monate an oder ist eine Dauer von mindestens 12 Monaten zu erwarten?

25 R obert-Koch-Institut: „Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ KiGGS Welle 1 Eckdatenpapier.

Im Internet unter: http://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Studien/Kiggs/Kiggs_w1/Eckdatenpapier.pdf?__ blob=publicationFile

26 Robert-Koch Institut: „Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ KiGGS Welle 1 Eckdatenpapier

Anhang

Page 167: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

167

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Leider erfolgte – anders als in der KiGGS Basiserhebung – keine explizite Abfrage, ob eine Behinderung amtlich anerkannt wurde.

Zu den Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen werden auf Grundlage der KiGGS-Studie Welle 1 somit im Folgenden all jene gezählt, die nach Einschät-zung der Eltern seit mindestens 12 Monaten in Folge eines gesundheitlichen oder psychischen Problems in irgendeiner Art und Weise eingeschränkt oder daran ge-hindert sind, Dinge zu tun, die die meisten gleichaltrigen Kinder tun können.

MitdieserDefinitionisteineUnschärfeverbunden,daalsUrsachederBeeinträch-tigung explizit auf eine Krankheit oder ein anderes gesundheitliches Problem be-ziehungsweise eine Verhaltensstörung abgestellt wird. Möglicherweise bleiben dagegen andere Ursachen von Einschränkungen, die zum Beispiel im Bereich der geistigen Entwicklung liegen oder die psychische Auffälligkeiten betreffen, nicht aber unter Verhaltensstörungen fallen, unberücksichtigt.

Insgesamt werden die Daten von 2.130 Kindern und Jugendlichen bis 17 Jahren in NRW berücksichtigt.

Datentabellen

Tabelle 8-1: Erwachsene Menschen mit Beeinträchtigungen in NRW in Privathaus-halten(engeDefinitionvonBeeinträchtigung).

Insgesamt 18 bis 64 Jahre 65 bis 74 Jahre 75 Jahre und älter Anzahl (in Mio.)

Anteil (in %)

Anzahl (in Mio.)

Anteil (in %)

Anzahl (in Mio.)

Anteil (in %)

Anzahl (in Mio.)

Anteil (in %)

Amtlich festgestellte

Schwerbehinderung oder

Erwerbsminderung

2,1 15 % 1,1 11 % 0,6 29 % 0,4 25 %

Keine amtlich festgestellte

Schwerbehinderung oder

Erwerbsminderung, aber

seit mindestens einem

halben Jahr durch gesund-

heitliche Probleme stark

einge-schränkt

0,5 4 % 0,2 2 % 0,1 6 % 0,2 13 %

Insgesamt 2,6 18 % 1,3 12 % 0,7 35 % 0,6 38 %

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG.

Page 168: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

168

Tabelle 8-2: Erwachsene Menschen mit Beeinträchtigungen in NRW in Pri-vathaushalten(weiteDefinitionvonBeeinträchtigung)

Insgesamt 18 bis 64 Jahre 65 bis 74 Jahre 75 Jahre und älter Anzahl (in Mio.)

Anteil (in %)

Anzahl (in Mio.)

Anteil (in %)

Anzahl (in Mio.)

Anteil (in %)

Anzahl (in Mio.)

Anteil (in %)

Amtlich festgestellte

Schwerbehinderung oder

Erwerbsminderung

2,1 15 % 1,1 11 % 0,6 29 % 0,4 25 %

Keine amtlich festgestellte

Schwerbehinderung oder

Erwerbsminderung, aber

seit mindestens einem hal-

ben Jahr durch gesundheit-

liche Probleme stark oder

etwas eingeschränkt

2,7 19 % 1,6 15 % 0,5 25 % 0,6 38 %

Insgesamt 4,8 33 % 2,7 25 % 1,1 54 % 0,9 63 %

Quelle: SOEP-Daten der Befragungswelle 2013, gewichtet. Eigene Berechnungen Prognos AG.

Anhang

Page 169: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

169

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

ABBILDUNG 0-1: ANTEIL DER MENSCHEN MIT BEEINTRÄCHTIGUNGEN IN NRW AB 18 JAHREN. 10 ABBILDUNG 0-2: ANTEIL DER MENSCHEN MIT BEEINTRÄCHTIGUNGEN AB 18 JAHREN AN DER GLEICHALTEN GESAMTBEVÖLKERUNG. 20 ABBILDUNG 1-1: ANTEIL DER MENSCHEN MIT UND OHNE BEEINTRÄCHTIGUN-GEN, DIE VERHEIRATET ZUSAMMENLEBEN, IN EINER EINGETRAGENEN GLEICH-GESCHLECHTLICHEN LEBENSPARTNERSCHAFT ZUSAMMENLEBEN ODER EINE FESTE PARTNERSCHAFT HABEN. 31 ABBILDUNG 1-2: ANTEIL DER KINDER UND JUGENDLICHEN MIT UND OHNE BEEINTRÄCHTIGUNGEN, DIE HAUPTSÄCHLICH BEI DEN LEIBLICHEN ELTERN LEBEN. 32 ABBILDUNG 1-3: ANTEIL DER MENSCHEN MIT UND OHNE BEEINTRÄCHTIGUN-GEN, DIE OFT DAS GEFÜHL HABEN, DASS IHNEN DIE GESELLSCHAFT ANDERER FEHLT, AUßEN VOR ZU SEIN ODER DASS SIE SOZIAL ISOLIERT SIND. 33 ABBILDUNG 1-4: KINDER UND JUGENDLICHE MIT UND OHNE BEEINTRÄCH-TIGUNGEN, DIE EINEN ODER MEHRERE GUTE FREUNDE ODER FREUNDINNEN HABEN. 34 ABBILDUNG 2-1: SCHÜLERINNEN MIT SONDERPÄDAGOGISCHEM FÖRDERBE-DARF PRIMARSTUFE UND SEK I. 53 ABBILDUNG 2-2: VERTEILUNG DER SCHÜLER MIT SONDERPÄDAGOGISCHER FÖRDERUNG AUF ALLGEMEINBILDENDE SCHULEN 2014/2015, PROZENTUALE ANTEILE AN ALLEN SCHÜLERN MIT SONDERPÄDAGOGISCHEM FÖRDERBE-DARF. 54 ABBILDUNG 2-3: ENTWICKLUNG DES ANTEILS DER SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER MIT SONDERPÄDAGOGISCHEM FÖRDERBEDARF IM GEMEINSAMEN UNTERRICHT. 56 ABBILDUNG 2-4: NEUABSCHLÜSSE VON AUSBILDUNGSVERTRÄGEN IN „BE-RUFEN FÜR MENSCHEN MIT BEHINDERUNG“ ABSOLUT UND ALS ANTEIL AN ALLEN NEUABSCHLÜSSEN 2009 BIS 2013 59 ABBILDUNG 2-5: VERTEILUNG NACH ZUSTÄNDIGKEITSBEREICHEN (HAND-WERK, LANDWIRTSCHAFT, INDUSTRIE UND HANDEL, HAUSWIRTSCHAFT, ÖF-FENTL. DIENST, FREIE BERUFE BEI NEU ABGESCHLOSSENEN AUSBILDUNGS-VERTRÄGEN IN „AUSBILDUNGSBERUFEN FÜR MENSCHEN MIT BEHINDERUNG“ UND „REGULÄREN AUSBILDUNGSBERUFEN“. 60 ABBILDUNG 3-1: ERWERBSTÄTIGENQUOTEN VON MENSCHEN MIT UND OHNE BEEINTRÄCHTIGUNGEN, NACH ALTERSKLASSEN 69 ABBILDUNG 3-2: ERWERBSTÄTIGE, DIE EINEN BERUF AUSÜBEN, DER DEM EIGENEN AUSBILDUNGSNIVEAU ENTSPRICHT ODER EIN HÖHERES AUSBIL-DUNGSNIVEAU ERFORDERT. 70 ABBILDUNG 3-3: ZUFRIEDENHEIT VON ERWERBSTÄTIGEN MIT UND OHNE BEEINTRÄCHTIGUNGEN MIT IHRER ARBEIT - AUF EINER SKALA VON 0 („GANZ UND GAR ZUFRIEDEN“) BIS 10 („GANZ UND GAR UNZUFRIEDEN“). 71 ABBILDUNG 3-4: ERWERBSLOSENQUOTEN VON MENSCHEN MIT UND OHNE BEEINTRÄCHTIGUNGEN. 72 ABBILDUNG 3-5: BESTAND AN ARBEITSLOSEN 73

Page 170: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

170

ABBILDUNG 3-6: DAUER DER ARBEITSLOSIGKEIT IN TAGEN 74 ABBILDUNG 3-7: ANTEIL DER MENSCHEN ZWISCHEN 18 UND 64 JAHREN MIT UND OHNE BEEINTRÄCHTIGUNGEN, DIE IHREN PERSÖNLICHEN LEBENSUN-TERHALT ÜBERWIEGEND AUS EIGENEM ERWERBSEINKOMMEN BESTREITEN. 74 ABBILDUNG 3-8: ANTEIL DER MENSCHEN MIT UND OHNE BEEINTRÄCHTIGUN-GEN, DEREN HAUSHALT IN DER REGEL IM MONAT KEIN GELD ZURÜCKLEGEN KANN. 76 ABBILDUNG 3-9: ANTEIL DER MENSCHEN MIT UND OHNE BEEINTRÄCHTIGUN-GEN, DIE IN EINEM ARMUTSGEFÄHRDETEN HAUSHALT LEBEN. 77 ABBILDUNG 3-10: ANTEIL DER MENSCHEN MIT UND OHNE BEEINTRÄCHTI-GUNGEN, DIE SICH GROßE SORGE UM IHRE WIRTSCHAFTLICHE SITUATION MACHEN. 78 ABBILDUNG 4-1: SCHWERBEHINDERTE MENSCHEN AM 31.12.2013 NACH DER ART DER BEHINDERUNG. 103 ABBILDUNG 6-1: HÄUFIGKEIT GEGENSEITIGER BESUCHE VON NACHBARN, FREUNDEN ODER BEKANNTEN, FAMILIENANGEHÖRIGEN ODER VERWANDTEN, MENSCHEN MIT UND OHNE BEEINTRÄCHTIGUNGEN. 135 ABBILDUNG 6-2: HÄUFIGKEIT AUSFLÜGE ODER KURZE REISEN ZU MACHEN, MENSCHEN MIT UND OHNE BEEINTRÄCHTIGUNGEN. 136 ABBILDUNG 6-3: ANTEILE VON MENSCHEN MIT UND OHNE BEEINTRÄCHTI-GUNGEN, DIE IN IHRER FREIEN ZEIT NIE KULTURELLE VERANSTALTUNGEN (WIE OPER, KLASSISCHE KONZERTE, THEATER, AUSSTELLUNGEN) BESUCHEN. 136 ABBILDUNG 6-4: ANTEILE VON MENSCHEN MIT UND OHNE BEEINTRÄCHTI-GUNGEN, DIE IN IHRER FREIEN ZEIT NIE KINOS, POPKONZERTE, DISCOS, TANZ- ODER SPORTVERANSTALTUNGEN BESUCHEN. 137 ABBILDUNG 6-5: ANTEILE VON MENSCHEN MIT UND OHNE BEEINTRÄCHTI-GUNGEN, DIE IN IHRER FREIEN ZEIT NIE AKTIV SPORT TREIBEN. 138 ABBILDUNG 6-6: WO MACHST DU IN DEINER FREIZEIT SPORT? 141 ABBILDUNG 6-7: WUNSCHSPORTARTEN DIFFERENZIERT NACH FÖRDERSCHWERPUNKTEN. 142

TABELLE 0-1: MENSCHEN MIT BEEINTRÄCHTIGUNGEN IN NRW AB 18 JAHREN, NACH GESCHLECHT UND ALTERSKLASSEN. 19 TABELLE 0-2: MENSCHEN MIT BEEINTRÄCHTIGUNGEN IN NRW AB 18 JAHREN, NACH MIGRATIONSHINTERGRUND. 21 TABELLE 0-3: KINDER UND JUGENDLICHE IN NRW, NACH GESCHLECHT. 22 TABELLE 0-4: KINDER UND JUGENDLICHE MIT BEEINTRÄCHTIGUNGEN IN NRW, NACH ALTERSKLASSEN. 22 TABELLE 1-1: VERTEILUNG DER MENSCHEN MIT UND OHNE BEEINTRÄCHTI-GUNGEN NACH HAUSHALTSGRÖßE, NACH ALTERSKLASSEN. 30 TABELLE 1-2: ANTEILE DER 25- BIS 59-JÄHRIGEN FRAUEN UND MÄNNER MIT UND OHNE BEEINTRÄCHTIGUNGEN, MIT UND OHNE MINDERJÄHRIGE KINDER. 32 TABELLE 2-1: ENTWICKLUNG DER KINDPAUSCHALEN FÜR KINDER MIT UND OHNE BEHINDERUNG IN KINDERTAGESEINRICHTUNGEN; KINDERGARTENJAH-RE 2010/2011 BIS 2015/2016. 50

Anhang

Page 171: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

171

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

TABELLE 3-1: ERWERBSTÄTIGENQUOTEN VON MENSCHEN MIT UND OHNE BEEINTRÄCHTIGUNGEN, NACH ALTER, GESCHLECHT UND MIGRATIONS- HINTERGRUND. 70 TABELLE 3-2: EMPFÄNGER/-INNEN VON EINGLIEDERUNGSHILFE FÜR BE-HINDERTE MENSCHEN - (6. KAPITEL SGB XII) JEWEILS AM 31.12. - HIER: EMPFÄNGER/-INNEN VON LEISTUNGEN IN ANERKANNTEN WERKSTÄTTEN FÜR BEHINDERTE MENSCHEN. 72 TABELLE 3-3: SELBSTEINSCHÄTZUNG VON NICHTERWERBSTÄTIGEN HINSICHT-LICH DER MÖGLICHKEIT, EINE GEEIGNETE STELLE ZU FINDEN, IN PROZENT. 73 TABELLE 3-4: EMPFÄNGER/-INNEN VON GRUNDSICHERUNG BEI ERWERBS-MINDERUNG - (4. KAPITEL SGB XII) JEWEILS AM 31.12. - HIER VOLL ERWERBS-GEMINDERT UND 18 BIS UNTER 65 JAHREN. 75 TABELLE 4-1: VERGLEICH DER BEWILLIGTEN ANTRÄGE AUF LEISTUNGEN ZUM STATIONÄREN UND AMBULANT BETREUTEN WOHNEN IN NRW, DIFFERENZIERT NACH GESCHLECHT. 100 TABELLE 4-2: BEWILLIGTE ANTRÄGE NACH WOHNFORM UND BEHINDE-RUNGSART. 100 TABELLE 4-3: BÜRGERINNEN UND BÜRGER IN NRW, DIE EIN INTERESSEN AN BARRIEREFREIHEIT IM ÖFFENTLICHEN RAUM HABEN. 104 TABELLE 7-1: GEFAHRENE STRECKE GESAMT 18.10.2010 - 31.05.2015 149 TABELLE 7-2: TERMINÜBERSICHT GESAMT 18.10.2010 - 31.05.2015 149 TABELLE 7-3: BEARBEITETE EINGABEN UND STELLUNGNAHMEN GESAMT 2010 - 31.05.2015 149 TABELLE 7-4: ABGEGEBENE STELLUNGNAHMEN 2010 - 30.05.2015 151 TABELLE 7-5: DER LANDESBEHINDERTENBEIRAT NRW. 159 TABELLE 7-6: DER FACHBEIRAT PARTIZIPATION. 162 TABELLE 8-1: ERWACHSENE MENSCHEN MIT BEEINTRÄCHTIGUNGEN IN NRW IN PRIVATHAUSHALTEN (ENGE DEFINITION VON BEEINTRÄCHTIGUNG). 167 TABELLE 8-2: ERWACHSENE MENSCHEN MIT BEEINTRÄCHTIGUNGEN IN NRW IN PRIVATHAUSHALTEN (WEITE DEFINITION VON BEEINTRÄCHTIGUNG) 168

Page 172: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

172

Verzeichnis der Gastbeiträge und Interviews.

Bundesarbeitsgemein-schaft Katholisches Jugendreisen.

Martina Drabner. (Leiterin) Interview „Dazugehören – auch in der Freizeit. Impuls für die Förderung von inklusiven Kinder- und Jugendreisen.“, S. 128.

Bundesverband behin-derterPflegekindere.V.

Waltraud Timmermann (Stellv. Vorsitzende) Interview „Wer sichert das Recht der Kinder, in einer Fa-milieaufzuwachsen?EinblickeindenAlltageinerPflege-familie.“, S. 26.

Diözesan-Caritasver-band für das Erzbis-tum Köln e. V.

Michaela Hofmann (Referentin für Allgemeine Sozialberatung, Armutsfragen, Frauenhäuser und Gewaltschutz) Christian Schumacher (Abteilungsleiter Behindertenhilfe) Gastbeitrag „Armut, soziale Aus-grenzung und die Aus-wirkungen auf Menschen mit Behinderun-gen.“, S. 79.

Familie Frese Anke Frese (Mutter) Interview „Architekten für Lebensplanung gesucht. Wie Franziska doch noch Lesen, Schreiben und Rechnen lern-te.“, S. 46.

Forschungsinstitut für Inklusion durch Bewe-gung und Sport (FIBS gGmbH)

Dr. Volker Anneken (Geschäftsführer) „Gastbeitrag Mehr Teilhabe im Sport schaffen!“, S. 139.

Katholischen Büros, Vertretung der Bischö-fe NRW.

Pfarrer Dr. iur. Antonius Hamers (Leiter des Büros) Kommentar „Stammzellforschung – Anmerkungen aus ethischer Sicht.“, S. 120.

Kompetenznetzwerk Stammzellenfor-schung NRW.

Ira Hermann (Geschäftsstellenleiterin) Martin Heyer (Koordinator der ethisch-rechtlichen Arbeitsgemein-schaft) Gastbeitrag „Hohe Erwartungen: Therapeutische Pers-pektiven der Stammzellforschung.“, S. 111.

Kompetenzzentrum selbstbestimmtes Le-ben NRW (KSL) Bera-tungsstelle für Behin-derte von Behinderten.

Horst Ladenberger (Geschäftsführer) Interview „Erfahrungen aus dem Lebensalltag von Men-schen mit Beeinträchtigung.“, S. 96.

Anhang

Page 173: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

173

Auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft.

Lebenshilfe Bünde Sven Hartmann (Leiter der Additiven Kindertagesstätte „Abenteuerland“) Interview „Die Kita Abenteuerland in Bünde, ein Vorreiter für Inklusion.“, S. 42.

Landesbehinderten-beirat NRW

Gertrud Servos (Vorsitzende, Sprecherin des Netzwerk Frauen und Mäd-chen mit Behinderung und chronischer Erkrankung NRW) Interview „Partizipation ist ein Menschenrecht.“, S. 12.

Landesjugendring NRW

Roland Mecklenburg (Vorsitzender) Interview „Einfach anfangen. Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit.“, S. 132.

Gemeinnütziger Verein für die Rehabilitation psychisch Behinderter Steinfurt e. V.

Klaus Hahn (Vorstands-Vorsitzender) Ute Donnermeyer (Pädagogische Leitung des Pro-jekts Unicat) Andrea Hesselmann (Verkäuferin im „Unikat“) Interview „Unikate, die oft kopiert werden sollten. Über Wege in Beschäftigung für Menschen mit psychischer Beeinträchtigung.“, S. 66.

Page 174: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

174

Page 175: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

175

Herausgeberin Elisabeth Veldhues Die Beauftragte der Landesregierung für die Belange der Menschen mit Behinderung in NRW

Fürstenwall 25, 40219 Düsseldorf Telefon 0211 855-3008 Fax 0211 855-3037 E-Mail [email protected] www.lbb.nrw.de

Konzept, Text und redaktionelle Mitwir-kung: Caroline Blome, Eva Heinrich, Susanne Kai-ser, Norbert Killewald, Markus May, Mareike Schimmelpfennig, Kerstin Wirrwar

Textbearbeitung und Interviews: Vera von Achenbach, Kreativ-Werkstatt Inklusion

Fotografie Pressefoto Meyer

Gestaltung designbüro andreasmischok

Druck Woeste Druck + Verlag GmbH & Co. KG

© 2015 / Die Beauftragte der Landesregierung für die Belange der Menschen mit Behinderung in NRW Die Druckfassung kann bestellt werden: • Im Internet unter: www.lbb.nrw.de • Per E-Mail unter: [email protected] • Telefonisch: 0211 855-3008

Düsseldorf, Oktober 2015

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Herausgebers.

Diese Druckschrift wird im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit der Landesregierung Nordrhein-Westfalen herausgegeben. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlwer-bern oder Wahlhelfern während eines Wahl-kampfes zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden. Dies gilt für Landtags-, Bundestags- und Kommunalwahlen sowie auch für die Wahl der Mitglieder des Euro-päischen Parlaments.

Missbräuchlich ist insbesondere die Vertei-lung auf Wahlveranstaltungen, an Informa-tionsständen der Parteien sowie das Einle-gen, Aufdrucken oder Aufkleben parteipo-litischer Informationen oder Werbemittel. Untersagt ist gleichfalls die Weitergabe an Dritte zum Zwecke der Wahlwerbung. Eine Verwendung dieser Druckschrift durch Par-teien oder sie unterstützende Organisatio-nen ausschließlich zur Unterrichtung ihrer eigenen Mitglieder bleibt hiervon unberührt.

Unabhängig davon, wann, auf welchem Weg und in welcher Anzahl diese Schrift der Em-pfängerin oder dem Empfänger zugegangen ist, darf sie auch ohne zeitlichen Bezug zu einer bevorstehenden Wahl nicht in einer Weise verwendet werden, die als Parteinah-me der Landesregierung zugunsten einzel-ner Gruppen verstanden werden könnte.

Page 176: Menschen leben mit einer Beeinträchtigung in Nordrhein ... · tion für die Politik. Sie wurde 2009 von Deutschland ratifiziert und beschreibt die Teilhabe der Menschen mit Behinderung

Die Beauftragte der Landesregierung für die Belange der Menschen mit Behinderung in Nordrhein-Westfalen

Fürstenwall 25 40219 Düsseldorf Telefon 0211 855-3008 Fax 0211 855-3037

E-Mail [email protected] www.lbb.nrw.de