Menzel, Carina Isabel: Miss of the Match - WM, das sind wir alle ... oder?

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Menzel, Carina Isabel: Miss of the Match - WM, das sind wir alle ... oder? Erscheinungstermin Winter 2016/17 Taschenbuch, ca. 180 Seiten Papierfresserchens MTM-Verlag

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind

zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2017 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbROberer Schrannenplatz 2, D- 88131 Lindau

Telefon: 08382/[email protected] Rechte vorbehalten.

Erstauflage 2017

Lektorat: Melanie WittmannHerstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM

www.literaturredaktion.deIllustrationen Titel: © snyGGG + A. Dudy - lizensiert Adobe Stock

Druck: Winterwork / Deutschland

ISBN: 978-3-86196-682-1 – Taschenbuch

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Miss of the Match

WM, das sind wir alle – oder?!

Carina Isabel Menzel

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Für Mama & Carola

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Die Menge tobt. Jubelschreie von beiden Seiten. Die Leute johlen, grölen. Brüllen den Namen des Spielers, der das Tor geschossen hat. Unablässig. Bald fangen meine Ohren an zu dröhnen. Ich werde ge-schubst und zur Seite gedrängelt. Jetzt, da wir führen, steigt das Fieber. Schweißnasse Trikots reiben sich an mir. Irgendwer hält meine Schulter umklammert. Nicht weit von mir qualmt es. Der beißende Geruch von Zigarettenrauch liegt in der Luft, vermischt sich mit dem von billigem Dosenbier, Schweiß und Deo. Ekelhaft. Die Luft ist aufgeheizt von der Körpertemperatur der Menschen. Tropisch.

Schweiß läuft mir in die Augen. Es brennt und ich muss blinzeln. Verpasse das nächste Tor. Das Dröhnen in meinem Kopf schwillt an, als die Menge erneut beginnt zu schreien. Eine Tröte direkt an meinem Ohr. Ich will mich zu dem Übeltäter umdrehen und ihn anschnauzen, doch ich stecke fest. Zwischen den ganzen Fans. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Panik steigt in mir auf. Die Tröte erklingt erneut. Dann noch mal. Ist das Spiel endlich vorbei?

Gut, dann kann ich hier raus. Doch niemand macht Anstalten, sich vom Fleck zu bewegen. Langsam nimmt mir die stickige Luft den Atem. Mein Mund wird trocken. Ich ringe nach Luft. Die Menge kocht. Auf-geheizte Körper dicht aneinandergedrängt. Zwängen mich ein.

Ich spüre kaum das klebrige Zeug, das irgendwer über mir verschüt-tet. Höre die gemurmelte Entschuldigung nicht. Vor meinen Augen fla-ckert es. Die Riesenleinwand verschwimmt. Immer noch der Druck von allen Seiten. Schiefes Gegröle. Vereinzelte Schreie. Ich schnappe nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Bekomme keine. Spüre, wie der Auflauf um mich herum dichter und dichter wird ...

Schweißgebadet fahre ich hoch, haue mir dabei den Kopf an der Dachschräge an und atme keuchend ein und aus. Nur ein Traum. Alles nur ein Traum.

Für Mama & Carola

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Mein Herz rast. Ich fahre mir mit der Hand durch das wirre Haar, während mein Blick das Zimmer scannt. Keiner da außer mir. Keine Menschenmassen.

Es ist noch dunkel, durch die Vorhänge fällt ein winziger Streifen Mondlicht ins Zimmer und beleuchtet meinen Schreibtisch. Die Ordner liegen da wie immer. Das Schreibzeug ist hingeworfen, ge-nauso wie ich es gestern Abend dort zurückgelassen habe. Alles ist so, wie es gehört. Ich bin nicht in einer Menge Fußballfans erstickt.

Langsam beruhigt sich mein Herz und ich kann wieder normal atmen. Die Leuchtziffern meines Weckers zeigen Viertel nach drei an. Erschöpft lasse ich mich zurück in die Kissen sinken und starre die dunkle Decke an. Immer noch schwirrt mir das Bild meines Traums im Kopf umher. Albträume, die von Fußball handeln. Ich muss grinsen, doch es vergeht mir, als sich mein Kopf mit einem stechenden Schmerz bemerkbar macht.

Ich setze mich vorsichtig wieder auf, schwinge die Beine aus dem Bett und tapse barfuß in Richtung Badezimmer. Ich mache mir nicht die Mühe, Licht anzuknipsen. Obwohl ich erst seit vier Wochen hier wohne, finde ich schon zum Badezimmer, ohne mich vorher in die Küche zu verlaufen. Die Fliesen sind angenehm kühl unter meinen Füßen. Hier gibt es kein Fenster und mir bleibt nichts anderes übrig, als eine gefühlte Ewigkeit nach dem Lichtschalter zu tasten, der nur aus einem winzigen Schalter inmitten lauter Kabel besteht, weil mein Bruder Marc, der all den Kram, zu dem ich nicht fähig bin, übernimmt, noch nicht dazu gekommen ist, eine Verklei-dung zu kaufen und anzuschrauben. Gott sei Dank hängt hier eine Energiesparlampe, sodass das Licht nur langsam hell wird und sich meine Augen allmählich daran gewöhnen können. Ich lasse mir kaltes Wasser über die Arme und das Gesicht laufen, dann knülle ich einen Waschlappen zusammen, tränke ihn und presse ihn gegen meinen Hinterkopf. Der Schmerz lässt augenblicklich etwas nach. Aus dem Spiegel starrt mir eine übermüdete, ungeschminkte Cyn-thia entgegen. Blass, dunkle Ringe unter den Augen. Meine rot-braunen Haare stehen in alle Richtungen ab, auf meinem Hals sind hektische rote Flecken zu sehen. Wieder kommen mir die Bilder aus meinem Traum in den Sinn. Das darf ich keinem erzählen, sonst werde ich ausgelacht.

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Ich verlasse das Badezimmer und mache mich direkt auf den Weg in die Küche. Schlaf kann ich jetzt sowieso vergessen. Ich lasse mich auf einen noch halb in Kartonpapier eingepackten Barhocker sinken, ziehe eine Tasse heran und stelle die Kaffeemaschine an. Das laute Klopfen und Rattern wird meine Nachbarn wecken, aber sei’s drum. Die sind sowieso beide Ärzte und vielleicht haben sie Glück und arbeiten gerade, sodass sie mein Krach nicht zu kümmern braucht. Außerdem haben sie mich sowieso nicht gerade gern, weil ich Bekanntschaft mit ihnen gemacht habe, als Marc und ich mein Bett lautstark die Treppe hochgeschleppt und sie damit aufgeweckt haben. Zum ersten Mal gesehen habe ich sie also, wie sie wütend im Bademantel vor ihrer Wohnungstür herumschrien. Damals waren sie nämlich zu Hause gewesen, nachdem sie die ganze Nacht in der Notaufnahme verbracht hatten. Und ich will nicht wissen, wer nachts so in die Notaufnahme eingeliefert wird. Ganz verziehen haben sie mir das bis heute nicht und sprechen nur das Nötigste mit mir.

Nach dem ersten Schluck Kaffee fühle ich mich schon um eini-ges wacher. Es dauert noch ein paar Stunden, bis ich mich fertig machen muss. Mein Blick schweift durch das provisorische Wohn-zimmer, das direkt an die offene Küche angrenzt. Eigentlich steht noch nichts drin außer einem Sofa und einem Fernseher, der noch nicht angeschlossen ist. Gestern habe ich versucht, ein IKEA-Regal aufzubauen, bin aber kläglich daran gescheitert.

Ich könnte staubsaugen, den ganzen Dreck wegmachen, den Marc und die anderen gestern beim Kabelverlegen hinterlassen haben. Sägespäne und Putzbrocken sind über den gesamten Boden verteilt. Seufzend rutsche ich vom Hocker. Das wird das größte Pro-blem in meiner eigenen Wohnung werden: Ordnung halten und regelmäßig staubsaugen.

Bis vor einem Monat habe ich noch bei meinen Eltern etwas außerhalb von Berlin gewohnt und meine Mutter hatte eigentlich schon vor Jahren beschlossen, mir mein Zimmer selbst zu überlas-sen, aber wenn es ihr zu unordentlich wurde, hat sie eben doch mal durchgesaugt. Meine Mutter kann Unordnung beim besten Willen nicht leiden. Mir dagegen fehlt einfach immer die Motivation, ir-gendetwas aufzuräumen, und meistens höre ich nach zehn Minuten

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wieder auf, weil es sowieso nur ein Etwas-von-einem-Schrank-in-den-anderen-Stopfen ist. Nur ist meine Mutter jetzt nicht mehr hier und räumt mir hinterher. Und ich will die Wohnung ja nicht komplett zumüllen.

Ich stecke das Radio in eine der wenigen funktionierenden Steckdosen und drehe es laut, damit ich es auch beim Staubsaugen hören kann. Natürlich läuft der WM-Song. Ich kann ihn langsam nicht mehr hören, obwohl die Fußballweltmeisterschaft noch nicht mal begonnen hat. Dieses typische Gute-Laune-Lied sollte mich ei-gentlich wacher machen, aber es nervt mich nur noch mehr. Genau wie ich diese dämlichen Karten mit den einzelnen Spielern über-all herumfliegen sehe, auf der Straße, in der Uni, selbst wenn ich meinen Cousin Clemens vom Kindergarten abhole, kommen die kleinen Kinder auf mich zugerannt. „Hast du den und den ...“

Die Kassiererinnen im Supermarkt, in dem man die Dinger ab zehn Euro Einkaufswert geschenkt bekommt, wissen inzwischen, dass sie mich gar nicht erst fragen müssen, wenn sie kein barsches „Nein, ich sammel den Scheiß nicht“ hören wollen.

Mal ehrlich: Welcher Idiot hat sich ausgedacht, dass die Fußball-WM dieses Jahr in Deutschland ausgetragen werden muss? Ich bin schon froh, dass ich diesen albernen Hype nur alle vier Jahre ertragen muss, wenn im Radio die aktuellen Lieder nur noch zu Fußballhymnen umgedichtet laufen, wenn im Fernsehen auf allen Kanälen nur über Stadien diskutiert, Spiele analysiert und ver-schwitzte Fußballspieler interviewt werden, wenn überall Plakate herumhängen und alles, was es irgendwo zu kaufen gibt, irgend-wie mit Fußball angepriesen wird, und wenn sich kein originelles Wortspiel mit Fußball oder WM daraus basteln lässt, zumindest von einem Nationalspieler beworben wird. Ich hoffe jedes Jahr, dass Deutschland möglichst früh rausfliegt (was es leider eigentlich nie tut), damit wenigstens das größte Chaos vorbei ist. Aber dieses Jahr ist es einfach furchtbar. Wenigstens hat man nicht angefangen, Stadien zu bauen, aber es reicht ja auch nicht, die Mannschaften aus der ganzen Welt in einfachen Hotels unterzubringen, nein, es wurden Millionen rausgeworfen, um wahnsinnige Anlagen zu bau-en, jede einzelne mit eigenem Trainingsplatz, mehreren Pools und Schlafzimmern, wie sie nicht mal in den teuersten Hotels zu finden

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sind. Wirklich, das Geld könnte man auch anders verwenden. Bei uns in Deutschland ist es zwar kein so vieldiskutiertes Theam, weil es keine Slums oder so gibt, aber trotzdem.

Seit Anfang des Jahres kennt Berlin kein anderes Thema mehr als die anstehende WM. Schon im Januar haben die Sportmode-ratoren im Fernsehen hitzige Diskussionen über den diesjährigen Weltmeister geführt und die Bäcker haben schon zur Faschingszeit angefangen, ihre Brötchen in Fußballform zu backen. Und spätes-tens seit dem Sommeranfang sind alle am Durchdrehen. Ich habe das Gefühl, mich in einem Meer aus Schwarz-Rot-Gold zu befin-den, wenn ich durch die Innenstadt gehe. Fahnen in diesen Farben werden ja bei jeder WM aus den Fenstern gehängt, aber ich glaube, dieses Jahr ist die Zahl sogar noch um das Dreifache gestiegen.

Ich drücke ein paar Knöpfe am Radio, weil der Reporter wieder anfängt, über irgendwelche Strategien des Trainers zu fachsimpeln, und wechsle auf den Klassiksender. Die sprechen wenigstens über Menschen, die wirklich zu etwas fähig waren, zum Beispiel Bach, und nicht über Typen, die einen Ball neunzig Minuten über den Rasen kicken, versuchen, ein Tor zu treffen, ab und zu rumschreien, andere umrempeln und sich dabei noch besonders intelligent vor-kommen.

Während Händels Wassermusik durch mein Wohnzimmer dudelt, staubsauge ich und räume etwas auf, dann nehme ich aus einem der Umzugskartons das nächstbeste Buch, setze mich auf die ausgepackte Hälfte des Sofas und lese mit dem Licht der nackten Glühbirne an der Decke, bis sich die ersten Sonnenstrahlen den Weg durch die Fenster suchen und ich endlich zu meinem norma-len Morgenprogramm übergehen kann.

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„Kiki, ich hör dich nicht, ich bin auf dem Weg zur Bahn, ver-dammt!“

Das Hupen eines Autos direkt hinter mir verschluckt die Ant-wort meiner besten Freundin. Ich zwänge mich, das Handy an mein Ohr gepresst, durch den dichten Berufsverkehr in Richtung Bahnhof Zoo. In drei Minuten geht meine Bahn, und wenn das Gedrängel auf der Straße vor mir nicht bald lichter wird und sich für mich irgendwo eine Möglichkeit ergibt, zwischen den ganzen hupenden Autos hindurch einen Weg auf die andere Straßenseite zu finden, kann ich zwanzig Minuten dumm rumstehen und auf die nächste warten.

„Kiki, hör mal, ruf mich später noch mal an, ich ...“Ha, jetzt. Eine Lücke. Ich beeile mich und hetze auf die andere

Straßenseite, ohne die verärgerten Gesichter der Autofahrer zu be-achten. Auf dem Gehweg angekommen werfe ich einen Blick auf die Uhr und beschleunige meine Schritte. Noch zwei Minuten.

„Ich wollte einfach wissen, ob du heute Mittag mitkommst!“, brüllt Kiki mir ins Ohr.

Ich beachte die rote Ampel zwischen mir und dem Bahnhofs-gebäude nicht und beginne zu rennen, klemme mir das Handy zwi-schen Schulter und Ohr und krame gleichzeitig in meiner Tasche nach dem Ticket. „Kommt drauf an, wohin“, antworte ich und quetsche mich unsanft durch eine Gruppe Rocker, die den Eingang blockiert. Einer pfeift mir hinterher, doch ich beachte ihn nicht.

„Na ja, ich muss noch ein paar Einkäufe erledigen ...“ So wie Kiki klingt, weiß sie genau, dass ich absagen würde, wenn ich wüss-te, was für Einkäufe sie wirklich zu erledigen hat. Wahrscheinlich wieder irgendeine Messe, auf die niemand mitwill und die wieder an mir, ihrer besten Freundin seit der zehnten Klasse, hängen bleibt. Na danke.

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„Von mir aus. Ich ruf dich in einer halben Stunde noch mal an.“Ohne auf Kikis Antwort zu warten, beende ich das Telefonat,

stecke das Handy in meine Hosentasche und komme gerade recht-zeitig zum Bahnsteig, als die Bahn abfährt.

„Mist“, fluche ich und lasse mich auf einen der blauen Metall-sitze sinken, die jetzt, da fast alle Passanten in der Bahn sind, end-lich mal frei sind.

Neben mir sitzt eine kleine Gruppe Teenagermädchen mit Schultaschen, die sich zu viert über eine Zeitschrift beugen. Zwei kichern unentwegt, während eine andere nur leicht gelangweilt da-nebensitzt und frustriert wirkt. Die vierte, die das Heft in der Hand hält, zählt etwas an ihrer Hand ab und ruft jetzt genervt: „Jetzt seid doch mal leise, Mann, ich muss mich konzentrieren!“

Ich lasse meinen Blick zu dem Heft wandern. Welche Spielerfrau wärst du?

Oh Gott, Himmel hilf. Ich schüttele nur den Kopf und sehe wie-der weg. Mein Blick bleibt an einer riesigen Werbetafel hängen, die mir gegenüber über den Gleisen hängt. Chipswerbung. Und dem Trikot nach zu schließen, ist der Typ, der die Tüte Championchips breit grinsend in die Kamera hält, einer der deutschen Fußball-spieler.

Das bemerkt wohl auch gerade das frustrierte Mädchen neben mir, die wahrscheinlich nicht als Spielerfrau ihres Lieblingsspielers auserkoren wurde, denn auf einmal wird sie ganz aufgeregt und macht ihre Freundinnen auf das Plakat aufmerksam, die daraufhin in ein dreistimmiges hysterisches „Oh, mein Gott!“ ausbrechen.

Es wird mir zu dumm. Ich stehe auf und stelle mich zu einer Rei-segruppe Senioren, die etwas weiter abseitsstehen. Vielleicht nerven die mich nicht mit ihrem Fußballgetue.

„Das schaffen die nie, ich sag’s dir. Im eigenen Land mit so einem Trainer. Ich sag’s dir, Adelheid, damals 1974 ...“

Das gibt’s doch nicht! Am liebsten hätte ich geschrien. Entschlos-sen packe ich meinen iPod aus, um für den Rest der Wartezeit etwas anderes zu hören.

„Noch zwei Tage, meine Herrschaften, ist das nicht ein wunder-barer Gedanke?“ Professor Schelm strahlt die Menge gelangweilter

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Studenten an, die sich jetzt, da er von seinem eigentlichen The-ma, der Translation der Aminosäuren, abgeschweift ist und auf die Weltmeisterschaft zu sprechen kommt, in ihren Bänken etwas auf-richten und interessiert nach vorne zum Rednerpult sehen. Nur ich werde noch gelangweilter. „Die Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land“, der Professor streicht seinen weißen Kittel glatt, den er eigentlich nur anhat, um schlauer zu wirken, „ist eine Ehre für uns alle, nicht wahr? Es ist mit das größte Ereignis in eurem bisherigen Leben, oder? Ich meine, die WM wurde natürlich schon in Deutschland abgehalten, aber es ist doch einfach wunderbar, sich auf ein derartiges Ereignis freuen zu können, habe ich recht?“

Auf allen Seiten wird begeistert auf die Tische geklopft. Professor Schelm tritt hinter seinem Pult hervor und fährt sich durch die wenigen silbergrauen Haare, die er noch auf dem Kopf hat. Er rückt seine Brille zurecht und sein Blick wandert durch die Reihen.

„Wir alle werden natürlich hinter unseren Spielern stehen, nicht wahr?“

Das ist eine der Sachen, die ich an unserem Professor nicht leiden kann. Er muss sich immer erkundigen, ob er auch richtig liegt, egal, was er von sich gibt.

Zustimmendes Geklopfe und ein gerufenes „Aber hallo!“ sind die Antwort.

„Natürlich ist Fußball ein Sport und Sport ist anstrengend, auch für den Körper, oder?“ Er grinst nun übers ganze Gesicht und ich ahne schon, was jetzt kommt.

Jennifer neben mir offenbar nicht, denn sie beugt sich rüber, wobei ihre zehntausend Armreifen klimpern, und flüstert mir be-geistert zu: „Endlich mal ein Thema, das alle interessiert.“

Ha, danke. Ihr betörendes Vanilleparfum hüllt mich ein und ich muss niesen.

„Gesundheit!“, kommt es aus mehreren Ecken. Sie sind echt alle wach, kaum hat jemand das Thema WM an-

gesprochen. Unglaublich. Herr Schelm nutzt es aus. „Sie wissen gar nicht, was genau im

Körper beansprucht wird, wenn er solchen Leistungen ausgesetzt ist, oder?“ Er hat seinen Vortrag beendet und begibt sich wieder hinters Pult, wo er seinen Zeigefinger anfeuchtet und eine Seite

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in seinem Ordner umblättert, bevor er uns wieder ansieht. „Doch genau das werden Sie jetzt erfahren.“

Ich muss grinsen und diesmal bin ich diejenige, die sich inte-ressiert aufrichtet. Ich hab’s gewusst. Allgemeines Stöhnen macht sich breit. Die Studenten sinken wieder tiefer in ihre Sitze. Jennifer neben mir sieht ernsthaft beleidigt aus.

„Superüberleitung, Professor!“, erlaubt sich jemand, voller Ironie zu rufen.

Der Professor hebt die Schultern und tippt auf das Papier vor sich. „Wir sind hier schließlich nicht ausschließlich zum Spaß.“

Meine Füße sind eingeschlafen. Ich wackele mit den Zehen, um die Taubheit zu vertreiben. Kiki neben mir wippt ungeduldig auf der Stelle auf und ab.

„Können die nicht ein bisschen hinmachen?“, motzt sie. „Wa-rum lassen die nicht einfach mehr Leute rein? Haben die Schiss, wir rennen uns da drin gegenseitig über den Haufen?“

„Es war deine Idee hierherzukommen“, gebe ich zurück. „Zum Glück. Das hätte ich komplett vergessen.“ Rafael sieht

von seinem Smartphone auf, auf dem er zum Zeitvertreib irgendein schwachsinniges Spiel spielt. Natürlich in der WM-Edition.

„Du hättest es spätestens dann gemerkt, wenn du am Sonntag ohne dagestanden wärst.“ Sophie lacht und wirft ihre Haare zurück. Auch sie wirkt ungeduldig und trommelt mit den Fingern auf den Pfeiler neben sich.

Ich muss ebenfalls grinsen. Normalerweise habe ich nichts da-gegen, etwas mit meinen Freunden zu unternehmen, aber heute hätte ich gut und gerne daheimbleiben können. Trikots shoppen können sie auch ohne mich. Aber nein, ich muss unbedingt mit, als Beraterin. Meiner Meinung nach ist es sowieso völlig schwach-sinnig, sich für neunzig Euro eines dieser unförmigen Dinger zu kaufen, mal davon abgesehen, dass man sie eh nie anziehen kann außer zur WM- oder EM-Zeit, ohne komisch angesehen zu werden. Und was hat man davon, wenn Deutschland tatsächlich gewänne, ein ungültiges Trikot mit einem Stern zu wenig auf der Brust zu besitzen? Okay, die Antwort meiner Freunde kenne ich sowieso: neues kaufen.

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Schon alleine das hier würde mich davon abhalten. Wir stehen seit zwanzig Minuten in einer Schlange, die zweimal um das Ge-bäude herumführt, nur um in diesen Laden reinzukommen, der sich WM-Store nennt. Er hat bestimmt drei Stockwerke und ex-tra zur Weltmeisterschaft mussten mehrere Geschäfte ausziehen. Jetzt hängen draußen Plakate von der Nationalmannschaft, dem Maskottchen und den Stadien, sodass man nicht ins Innere sehen kann. Kiki hat sich geweigert, ihr Trikot im Internet zu bestellen, weil sie Angst hat, es könnte nicht rechtzeitig zum Eröffnungsspiel da sein, deswegen sind wir hier und vor uns stehen noch mindestens dreißig Leute. Die Schlange scheint nicht kürzer zu werden und es darf immer nur eine begrenzte Anzahl Kunden in den Store, in dem übrigens nicht nur Trikots verkauft werden, sondern laut Kiki alles, was etwas mit der WM zu tun hat. Sie hat mir vorhin gesagt, dass sie sich geschworen hat, nur ein Trikot zu kaufen und sonst nichts, denn wahrscheinlich würde sie da drin verführt werden, alles ein-zutüten.

„Was wird hier eigentlich verkauft, wenn keine WM ist?“, frage ich in die Runde.

„Nichts. Dann lebt der Typ, dem das gehört, von seinen Zinsen“, antwortet Rafael, ohne aufzusehen. „Der ist der Einzige, der Tri-kots im Laden verkauft. Was glaubst du, was der für einen Umsatz macht?“ Ich schüttele den Kopf. Oh Mann.

Nach weiteren zwanzig Minuten sind wir endlich vorne in der Schlange und werden von einem Typen im Deutschlandtrikot ein-gelassen. „Willkommen im Paradies“, grinst er, hält die Tür auf und ich frage mich, ob er den ganzen Tag über überhaupt etwas anderes sagt und ob ihm dieses Dauergrinsen nicht langsam wehtut. Ne-ben ihm steht ein als WM-Maskottchen verkleideter Mensch ‒ ein ziemlich lächerlicher, knallbunter Igel im Trikot ‒ und winkt affig.

„Alter Schwede!“, staunt Rafael, nachdem wir den Laden betre-ten haben.

„Oh mein Gott!“, kreischt Sophie begeistert, während Kiki ein-fach nur dasteht und sich überwältigt umblickt. Selbst ich bin für einen Moment sprachlos.

Das Geschäft scheint sich in die Unendlichkeit zu ziehen. Und alles, was man sich zu einer Fußballweltmeisterschaft nur wünschen

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kann, türmt sich um herum und vor mir auf. Angefangen bei Tri-kots. Die Kleidung von so ziemlich jedem Team der Welt ist hier zu finden, ordentlich sortiert nach Shirts, Hosen, Strümpfen, Trai-ningsjacken und Schuhen. Besonders teuer sind die Matchworn-Trikots, getragene Trikots der Nationalspieler. Hoffentlich sind die wenigstens gewaschen. Wahrscheinlich nicht. Das war’s auch schon mit bunt, sonst ist alles in drei Farben gehalten: Schwarz. Rot. Gold. Regale bis zur Decke voller Fanartikel. Flaggen fürs Auto und Überzieher für die Außenspiegel. Perücken in allen Größen und Formen. Etwas weiter hinten Wände voller Blumenketten. Noch weiter hinten Tröten und Kastagnetten, Pfeifen und Trommeln. Wir stehen auf Kunstrasen und direkt neben dem Eingang wird Torwandschießen, Tischkicker, Human Soccer oder FIFA angebo-ten, über etliche Fernseher flimmern Aufzeichnungen der deutschen Nationalmannschaft bei den letzten Weltmeisterschaften. Die Mit-arbeiter tragen alle eigene Trikots mit ihrem Namen auf dem Rü-cken. Die Menschen sind beladen mit Fanartikeln, Kinder rennen begeistert durch die Gegend, schreien ausgelassen und wedeln mit ihren Errungenschaften.

„Wahnsinn“, haucht Kiki. „Los, sehen wir uns um.“Im zweiten Stockwerk geht es genau so weiter. In Kühlregalen,

die sich über die ganze Wand ziehen, stehen ordentlich Cola- und Bierdosen sowie -flaschen, signiert von den deutschen Spielern und Trainern. Überall Plakate und Pappaufsteller mit den einzelnen Typen in Trikots, die auf die Menschenmassen, die überall stehen und staunen, herabblicken. Das hier scheint eine Art Lebensmittel-abteilung zu sein, denn etwas weiter hinten finden wir Gummi-bärchen, Kekse und alles erdenklich Essbare in Fußballform und Schwarz-Rot-Gold.

Ein Stockwerk höher gibt es Stuhl- und Sofabezüge. Bettwäsche. Handtücher. T-Shirts, sogar Cocktailkleider und High Heels in den Deutschlandfarben. Geräumige Umkleiden bieten Platz zum An-probieren. Aus Hunderten Lautsprechern schallen Fußballlieder und WM-Hymnen und die ausgelassenen Besucher grölen laut mit.

Der vierte Stock ist noch geschlossen. Laut Kiki finden dort wäh-rend der WM Public Viewing und anschließend (wenn das Spiel gewonnen wurde) Partys statt.

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Wir verbringen mehrere Stunden nur damit, uns umzusehen und die einzelnen Dinge zu bestaunen. Ich bin völlig überwältigt von dem Ganzen, sodass ich komplett vergesse, dass es etwas mit Fußball zu tun hat. Sophie bringt mich sogar dazu, eines der Cock-tailkleider anzuprobieren, von denen sie sich später eines kauft, und Kiki zwingt mich, ein Trikot anzuziehen und davon Bilder in der Umkleidekabine zu schießen. Als Beweis, dass ich auch mal ein Trikot anhatte.

„Wenn sie erst mal Weltmeister sind, wirst du stolz darauf sein“, behauptet sie.

Wir stehen ewig vor den Kühlregalen, weil meine Freunde exakt die Coladosen mit den Unterschriften ihrer Lieblingsspieler haben wollen, aber sie sind nicht die Einzigen, die die Regale aus- und umräumen, bis sie die richtigen Dosen gefunden haben. Die pas-senden Trikots sind schnell gefunden, und als wir am Abend das Gebäude verlassen, schleppen Rafael, Sophie und Kiki ganze Tüten voller Fanzeugs mit nach Hause – so viel zum Thema „Nur ein Tri-kot kaufen“.

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„Der Countdown läuft“, jubelt der Sprecher, der seine Nach-richten heute im Deutschlandtrikot präsentiert. Marc hat den Fernseher endlich zum Laufen gekriegt und ist gerade dabei, mein missglücktes IKEA-Regal auseinanderzuschrauben, um es richtig zusammenzufügen. Ich stehe in der Küche und räume die Schränke ein. Zum Glück hat der Vorbesitzer die Ausstattung komplett drin gelassen. Die schönste ist sie zwar nicht, aber ich kann mich daran gewöhnen und es spart mir außerdem einen Haufen Geld.

Trotzdem ist meine Wohnung noch längst nicht fertig. Ich muss seufzen bei dem Gedanken, was noch alles vor uns liegt. Und Marc und seine Kumpels werden in der nächsten Zeit auch nicht mehr so oft zum Helfen anrücken können. Weltmeisterschaft. War ja klar. Morgen um sechs Uhr abends ist das Eröffnungsspiel. Ich bin so ziemlich die Einzige, die keine Karte hat. Kiki wollte mich über-reden, dann würde ich mal diese einzigartige WM-Stimmung erle-ben und es komme ja gar nicht so auf Fußball oder auf den Sieg an, sondern darauf, Spaß zu haben und neue Leute kennenzulernen. Und vor allem darauf, diese einzigartige Stimmung zu erleben, doch sie hat mich nicht überzeugt. Mich kriegen keine zehn Pferde in ein überfülltes Fußballstadion, in dem lauter Wahnsinnige und vielleicht noch ein paar Hooligans sitzen, in dem es so laut ist, dass man es zwanzig Kilometer weiter noch hört, und in dem Bier bis zum Umfallen gesoffen wird. Nein, danke. Und weil bei Fußball die Leute, warum auch immer, doppelt so verrückt drauf sind wie bei irgendeinem anderen Sport, ist das Eröffnungsspiel für mich über-haupt nichts. Somit werde ich den Abend wohl alleine verbringen müssen, aber mein Gott. Es gibt Hunderte Möglichkeiten, sich irgendwie zu beschäftigen.

Jens, ein Kumpel von Marc, kommt in die Küche. „Der Flur ist gestrichen“, meint er, lässt sich auf einen Barhocker sinken, wischt

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sich den Schweiß von der Stirn und fährt sich durch die wirren blonden Haare. „Hast du irgendwas zum Trinken?“

„Im Kühlschrank steht Wasser“, antworte ich. In der letzten Zeit ist es so warm geworden, dass ich selbst das Mineralwasser kühl lagern muss, damit ich es nicht halb siedend trinken muss.

„Gut.“ Jens erhebt sich und schlurft zum Kühlschrank hinüber. „Wir müssen auch gleich weitermachen, damit wir die Diele heute noch schaffen.“

„Nichts da.“ Die Tür wird erneut aufgestoßen und Sven kommt herein, beladen mit weißen Pappschachteln vom Chinesen. „Erst das Vergnügen, dann die Arbeit.“

Nun kriecht auch Marc unter dem Sofa hervor, unter dem er die Kabel für die Stereoanlage positioniert hat. „Dafür wäre ich auch.“ Er klopft den Staub von seinen Klamotten, schlendert in die Küche und will eine der verführerisch nach gebratenen Nudeln duftenden Schachteln ergreifen, doch Sven weicht aus.

„Erst Hände waschen“, meint er mit einem Kopfnicken auf Marcs schwarze Finger, dann stellt er die Schachteln auf der Ar-beitsplatte ab und küsst mich. „Hey.“

Ich lächele. „Hey. Wie war’s in der Uni?“Er zuckt mit den Achseln. „Wie immer. Nicht wirklich span-

nend.“„Kann ich verstehen“, grinse ich.Sven und ich führen seit drei Jahren das, was Kiki offiziell eine

Beziehung nennt, und ich muss gestehen, dass ich damit eigentlich sehr glücklich bin. Blöd ist nur, dass wir uns nicht so oft sehen können, denn Sven studiert Medizin und muss deshalb oft tagelang büffeln, um irgendeine Prüfung zu bestehen. Dagegen komme ich mir mit meinem Lehramtsstudium mickrig vor.

Ich nehme eine der Schachteln und ziehe den Deckel ab. Bei dem Anblick des dampfenden süß-sauren Hähnchens läuft mir das Wasser im Mund zusammen.

„Eigentlich komisch.“ Sven schnappt sich eins und steckt es sich in den Mund. „Sogar der Chinese veranstaltet Public Viewing. Ich meine, ist der überhaupt für Deutschland?“

„Wahrscheinlich nicht“, entgegne ich. „Aber irgendwie müssen die doch ihre Kunden anlocken.“

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In letzter Zeit ist mir extrem aufgefallen, dass so gut wie jeder noch so kleine Biergarten ein Schild vor dem Haus stehen hat. WM live. Ich frage mich, ob man überhaupt irgendwo essen gehen kann, ohne dass auf einem Fernseher in der Ecke ein Spiel übertragen wird. Na, lustig, in ein paar Tagen haben Sven und ich Jahrestag und ich würde liebend gerne irgendwo hingehen, wo keine Leute im Trikot herumsitzen und die Spieler im Fernseher anfeuern oder beschimpfen. Jens hat sich eine Schachtel genommen und beißt in ein dampfendes Hühnchen. „Geht ihr zum Eröffnungsspiel?“, nuschelt er mit vollem Mund.

„Aber hallo!“, rufen Sven und Marc gleichzeitig. Ich schüttle den Kopf. „Nö. Ich mach’s mir hier gemütlich. Viel-

leicht gehe ich auch einkaufen oder so. Dann muss ich an der Kasse wenigstens nicht Schlange stehen.“

Jens schüttelt verständnislos den Kopf. „Du bist mir unheim-lich.“

Ich zucke mit den Schultern. „Lieber unheimlich als fußball-wahnsinnig“, meine ich, nehme mir noch ein Hühnchen und setze mich auf die Küchenanrichte. „Mal was ganz anderes, Sven: Ich hoffe, du hast einen Anzug.“

„Anzug?“ Für einen Moment starrt er mich verständnislos an. „Ach so. Ja, natürlich.“

„Ich wollte nur sicher sein. Nicht, dass du an Emmas Hochzeit am Ende im Trikot auftauchst, weil du nichts anderes mehr hast.“

Meine Cousine Emma heiratet nämlich in vier Tagen. Weil sie in Rottweil lebt, werden Sven und ich schon einen Tag früher fahren. Ich hab mir mein Kleid schon vor einem Vierteljahr gekauft, plus Schuhe und Schmuck, aber Sven erledigt so etwas immer auf den letzten Drücker und ich habe keine Lust, mich auf der Hochzeit für meinen Freund schämen zu müssen, nur weil er nichts Vernünftiges im Schrank hat.

„Sag mal, ist an dem Tag nicht ein Deutschlandspiel? Haben die da einen Fernseher?“ Er sieht so ernsthaft verunsichert aus, dass ich lachen muss.

„Dann schaust du eben mal kein Deutschlandspiel.“„Ey, komm, das ist ja wohl beschissen“, motzt er und auch Marc

sieht etwas säuerlich aus.

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Ich fasse es nicht. „Ihr seid echt unmöglich.“ Ich stehe auf und gehe genervt aus dem Zimmer. Sollen sie sich ohne mich bei Jens ausheulen.

„Du hasst Fußball, oder?“ Sven kommt ins Schlafzimmer und rubbelt sich im Gehen mit dem Handtuch über die nassen Haa-re. Er lässt sich neben mich auf das Bett sinken und sieht mich lächelnd an.

„Ich kann dieser Sportart einfach nichts abgewinnen“, entgegne ich und verschränke die Arme vor der Brust. „Wenn man es als Hobby spielt, habe ich ja nichts dagegen, aber ich verstehe nicht, warum so ein entsetzlicher Hype darum gemacht wird.“

„Ist halt Fußball“, erwidert Sven schlicht.Ich schnaube. „Aber warum? Andere Weltmeisterschaften sind

nicht halb so populär.“„Ach, das verstehst du nicht. Wenn du dich einfach mitziehen

ließest, könntest du es nachvollziehen. Weißt du, Fußball bringt Leute zusammen, Fußball vereint Nationen ...“ Sein Ton wird schwärmerisch. „Fußball-WM ist einfach ... einzigartig, verstehst du?“

Sein Geschwafel erscheint mir eher albern, deshalb schüttele ich verständnislos den Kopf. „Nicht wirklich.“

„Aber du würdest es verstehen, wenn du einfach mitkämst. Probier’s doch mal aus. Ich war auch kein Fußballfan, bevor ich diese einzigartige WM-Stimmung mal hautnah miterlebt habe. Und die kann man nicht beschreiben. Du musst es fühlen, um es nachzuvollziehen.“ Er legt das Handtuch beiseite und knipst die Nachttischlampe aus. Ein schwacher Streifen Mondlicht erhellt sein Gesicht. Seine Augen leuchten.

„Das hast du auch gesagt, als du mich letztes Mal in den Free-Fall-Tower geschleppt hast. Und hinterher war mir den ganzen Tag übel, falls du dich daran noch erinnerst“, meine ich sarkastisch.

Sven lächelt immer noch, er legt sich neben mich und streicht mir einzelne Haarsträhnen aus dem Gesicht. Seine Finger wandern über meine Wangen, fahren über meine Lippen, dann beugt er sich vor und küsst mich. Ich schließe instinktiv die Augen und werde von dieser wunderbaren Wärme erfüllt, die nur Sven mir bescheren

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kann. Doch er hat sich so schnell wieder von mir gelöst, dass ich nicht dazu komme, seinen Kuss zu erwidern.

„Aber das ist etwas ganz anderes.“ Er nimmt meine Hände und schiebt seine Finger zwischen meine.

Ich seufze, die Augen immer noch geschlossen. „Mir wird schon bei dem Gedanken an brüllende Menschenmengen schlecht. Und jetzt hör auf, über dieses verdammte Thema zu sprechen. Du weißt, du kriegst mich nicht rum.“

Er schüttelt den Kopf. „Ich werde dich nie verstehen, Cynthia.“Ich spüre, wie sich sein Gesicht erneut dem meinen nähert und

diesmal lässt er sich Zeit. Seine Hände wandern meine Arme hoch, graben sich in meine Haare, und noch während wir uns küssen, lösen sie sich wieder und streifen meinen Rücken hinunter bis zum Saum meines Schlafshirts. Ich öffne die Augen, als er beginnt, mei-nen Hals zu küssen. Überall dort, wo seine Lippen meine Haut berühren, bleibt eine prickelnde Stelle zurück. Meine Hände ruhen auf seinen Schultern, während seine sich unter meinem Shirt einen Weg zu meinem BH-Verschluss suchen.

Ich schließe die Augen wieder und seufze. „Ich werde dich auch nie verstehen, Sven.“

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„Ich kann es immer noch nicht glauben.“ Kiki rutscht unruhig auf meinem Sofa herum und zupft nervös an ihrer Blumenkette. Sie hat mir als „Nervennahrung für später“ Kinderschokolade mit-gebracht, von deren Packungen einem seit Neuestem die National-spieler als Kinder entgegengrinsen. Nur hat Kiki, wie es mir scheint, Nervennahrung um einiges nötiger als ich. Alle paar Sekunden schnellt ihr Blick auf ihre Uhr und sie wird von Minute zu Minute zappeliger.

Ich lehne mich zurück. Ich bin genervt. Sehr sogar. Seit heute Morgen sind alle Leute, denen ich begegne, furchtbar euphorisch drauf, hetzen herum und können keine Minute stillsitzen. Und alles wegen dieses blöden Eröffnungsspiels. Meine Wohnung ist leider näher am Stadion als Kikis und sie hat schon vor zwei Stunden ge-klingelt, um hier zu warten, damit ihr Weg nicht so weit ist. Sophie und Rafael haben, wie halb Berlin, vor dem Stadion gecampt, um einen guten Platz zu bekommen, und vor einer guten Stunde hat Sophie völlig aufgekratzt angerufen und in ihr Handy gebrüllt, dass gerade die deutsche Nationalmannschaft in ihrem Bus angekom-men ist und sie es tatsächlich geschafft hat, alle auf ihrem Trikot unterschreiben zu lassen. Sophie steht auf die halbe Nationalmann-schaft und schwärmt mir andauernd von ihnen vor. Eigentlich schaut sie Fußball nur wegen der Spieler – ich habe mich mit diesen Typen noch nie auseinandergesetzt, kenne sie eigentlich nur flüch-tig aus der Werbung oder von diesen vermaledeiten Sammelkarten und finde sie auch nicht attraktiver als andere Männer, nur weil sie Fußballspieler sind.

Das gleiche Trikot wie Sophie, nur ohne Autogramme, trägt Kiki auch gerade, zusammen mit einer schwarz-rot-goldenen Perücke und Make-up in Deutschlandfarben, außerdem baumelt diese ver-dammte Blumenkette um ihren Hals, an der sie schon die ganze

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