Merkmale eines Fehlurteils; Characteristics of wrongful convictions;

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1 3 Zusammenfassung Fehlurteile bestrafen Angeklagte, welche die Tat nicht begangen haben. Da die Revision im Grundsatz nur prüft, ob das Urteil Rechtsfehler enthält, nicht aber, ob es richtig oder falsch ist, bleibt zur Kor- rektur von Fehlurteilen oft nur der schwierige Weg des Wiederaufnahmeverfahrens. Der Autor verdeutlicht an- hand eigener Erfahrungen in erfolgreichen Wiederaufnah- meverfahren einige typische Merkmale von Fehlurteilen, die insbesondere auf Fehlbeschuldigungen beruhen. Ge- fordert werden eine systematische Schulung von Richtern hinsichtlich der Fehlerquellen sowie eine Auswertung der Fehlleistungen durch das Bundesministerium der Justiz als Grundlage einer Reform des Wiederaufnahmerechts. Schlüsselwörter Wiederaufnahmeverfahren · Novum · Fehlbeschuldigung · Posttraumatische Störung · Borderline Characteristics of wrongful convictions Abstract Wrongful convictions punish accused persons who have committed no offence. Because the revision pro- cess basically only examines whether a verdict contains ju- dicial errors and not whether it was correct or false, to cor- rect a wrongful conviction there very often only remains the difficult way via an revision and a de novo trial. The author underlines some typical characteristics of wrong- ful convictions based on own experience in successful ap- peals which in particular involved wrongful accusations. Required are a systematic training of judges with respect to sources of error and an evaluation of errors of judgement by the Federal Ministry of Justice as a foundation for a reform of the right of appeal. Keywords Revision process · De novo · Wrongful accusation · Posttraumatic disorder · Borderline Die nachfolgende Darstellung beruht auf vom Verfasser angestellten Beobachtungen auch im Ergebnis mit Erfolg, nämlich mit der Aufhebung des Ersturteils und der Freispre- chung der Verurteilten durchgeführter strafprozessualer Wie- deraufnahmeverfahren. Diese werden durch die – ebenfalls eigene – Erfahrung mit auf die Revision des Angeklagten zurückverwiesenen Sachen bestätigt. Beim Bundesamt für Justiz wird lediglich die Zahl der erledigten Wiederaufnah- meanträge erfasst und danach differenziert, ob der Antrag beim Amts-, Land- oder Oberlandesgericht gestellt und zugunsten oder zuungunsten des Beschuldigten gestellt wor- den war. Eine – dem Statistischen Bundesamt nach Auskunft des Bundesamtes für Justiz mögliche – Darstellung auch der Ergebnisse der Verfahren unter Einbeziehung der Eigenart der Vorwürfe und des jeweils geltend gemachten Wieder- aufnahmegrundes hat das Bundesministerium für Justiz der Mitteilung seines Referats RB 2 gegenüber dem Verfasser zufolge in der Vergangenheit nicht in Auftrag gegeben. I. Von einem Fehlurteil spricht der Strafjurist, wenn der ver- meintliche Täter die festgestellte Tat nicht begangen hat. Gegen ein solches Urteil, für das sich nicht nur bei den Merkmale eines Fehlurteils Johann Schwenn J. Schwenn () Fachanwalt für Strafrecht, Große Elbstrasse 14, 22767 Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] Eingegangen: 17. August 2013 / Angenommen: 30. August 2013 / Online publiziert: 13. September 2013 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013 Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2013) 7:258–263 DOI 10.1007/s11757-013-0231-6 ORIGINALARBEIT

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Zusammenfassung Fehlurteile bestrafen Angeklagte, welche die Tat nicht begangen haben. Da die Revision im Grundsatz nur prüft, ob das Urteil Rechtsfehler enthält, nicht aber, ob es richtig oder falsch ist, bleibt zur Kor-rektur von Fehlurteilen oft nur der schwierige Weg des Wiederaufnahmeverfahrens. Der Autor verdeutlicht an-hand eigener Erfahrungen in erfolgreichen Wiederaufnah-meverfahren einige typische Merkmale von Fehlurteilen, die insbesondere auf Fehlbeschuldigungen beruhen. Ge-fordert werden eine systematische Schulung von Richtern hinsichtlich der Fehlerquellen sowie eine Auswertung der Fehlleistungen durch das Bundesministerium der Justiz als Grundlage einer Reform des Wiederaufnahmerechts.

Schlüsselwörter Wiederaufnahmeverfahren · Novum · Fehlbeschuldigung · Posttraumatische Störung · Borderline

Characteristics of wrongful convictions

Abstract Wrongful convictions punish accused persons who have committed no offence. Because the revision pro-cess basically only examines whether a verdict contains ju-dicial errors and not whether it was correct or false, to cor-rect a wrongful conviction there very often only remains the difficult way via an revision and a de novo trial. The author underlines some typical characteristics of wrong-ful convictions based on own experience in successful ap-

peals which in particular involved wrongful accusations. Required are a systematic training of judges with respect to sources of error and an evaluation of errors of judgement by the Federal Ministry of Justice as a foundation for a reform of the right of appeal.

Keywords Revision process · De novo · Wrongful accusation · Posttraumatic disorder · Borderline

Die nachfolgende Darstellung beruht auf vom Verfasser angestellten Beobachtungen auch im Ergebnis mit Erfolg, nämlich mit der Aufhebung des Ersturteils und der Freispre-chung der Verurteilten durchgeführter strafprozessualer Wie-deraufnahmeverfahren. Diese werden durch die – ebenfalls eigene – Erfahrung mit auf die Revision des Angeklagten zurückverwiesenen Sachen bestätigt. Beim Bundesamt für Justiz wird lediglich die Zahl der erledigten Wiederaufnah-meanträge erfasst und danach differenziert, ob der Antrag beim Amts-, Land- oder Oberlandesgericht gestellt und zugunsten oder zuungunsten des Beschuldigten gestellt wor-den war. Eine – dem Statistischen Bundesamt nach Auskunft des Bundesamtes für Justiz mögliche – Darstellung auch der Ergebnisse der Verfahren unter Einbeziehung der Eigenart der Vorwürfe und des jeweils geltend gemachten Wieder-aufnahmegrundes hat das Bundesministerium für Justiz der Mitteilung seines Referats RB 2 gegenüber dem Verfasser zufolge in der Vergangenheit nicht in Auftrag gegeben.

I.

Von einem Fehlurteil spricht der Strafjurist, wenn der ver-meintliche Täter die festgestellte Tat nicht begangen hat. Gegen ein solches Urteil, für das sich nicht nur bei den

Merkmale eines Fehlurteils

Johann Schwenn

J. Schwenn ()Fachanwalt für Strafrecht, Große Elbstrasse 14,22767 Hamburg, DeutschlandE-Mail: [email protected]

Eingegangen: 17. August 2013 / Angenommen: 30. August 2013 / Online publiziert: 13. September 2013© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2013) 7:258–263DOI 10.1007/s11757-013-0231-6

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Medien der die Unvermeidbarkeit des Schuldspruchs sug-gerierende Begriff „Justizirrtum“ eingebürgert hat, bietet das Gesetz nur einen unvollkommenen Schutz. Deshalb ist die Rechtskraft des Urteils ein Gütesiegel von zweifelhaftem Wert: Hat, wie bei Vorwürfen von Gewicht die Regel, als Gericht der 1. Instanz eine große Strafkammer des Land-gerichts das Urteil gefällt, so kann es nur mit der Revision angefochten werden, über die im Falle ihrer Zulässigkeit in beim Landgericht angeklagten Sachen der Bundesgericht-shof befindet. Die Revision dient jedoch nicht der Klärung der Frage, ob das angegriffene Urteil richtig oder falsch ist, sondern allein der Rechtskontrolle.

Auch wenn das Urteil mit der Revision angefochten worden war, bedeutet das oft nur, dass die Überprüfung der Urteilsgründe keinen Rechtsfehler zutage gefördert hat. Über die Qualität des gerichtlichen Verfahrens gibt die Rechtskraft nur Auskunft, wenn der Revisionsverteidiger Verfahrensrügen erhoben hat. Deren rechtsprechungskon-forme Darstellung überfordert jedoch viele Verteidiger. Ob der Revisionsverteidiger seiner Aufgabe gerecht werden kann, hängt nicht nur von dessen Vertrautheit mit der Revi-sion, sondern bei einer Vielzahl solcher Rügen v. a. von der vorherigen Wachsamkeit des Instanzverteidigers ab. Hat dieser nur auf die Atmosphäre im Gerichtssaal gesetzt und rechtsfehlerhafte Anordnungen des Vorsitzenden wid-erspruchslos hingenommen, so kann der Revisionsverteidi-ger den Widerspruch nicht nachholen, und die Rüge wäre aussichtslos.

Zur Beseitigung eines Fehlurteils lässt sich die Revi-sion ohnehin regelmäßig nur mittelbar einsetzen: Hebt der Bundesgerichtshof das Urteil mit den Feststellungen zum abgeurteilten Geschehen auf, so ist der Weg frei für eine neue Hauptverhandlung und damit für ein neues Urteil. Scheitert die Revision, bleibt – neben der Verfassungsbe-schwerde – lediglich die Wiederaufnahme, die nur unter besonderen Voraussetzungen zugelassen wird.

Die eigene, freisprechende Sachentscheidung des Revi-sionsgerichts ist die seltene Ausnahme. Sie kommt nur in Betracht, wenn für den Angeklagten belastende Feststel-lungen ausgeschlossen erscheinen. So verhielt es sich im „Pistazieneisfall“ nach wiederholter Revision der Angeklag-ten: In jenem Fall hatten die mit der Sache nacheinander befassten Landgerichte Stuttgart und Heilbronn jeweils die Tante des getöteten Kindes für die Täterin gehalten, obwohl die dafür angenommenen Gründe auch für die Täterschaft der Mutter sprachen und überdies eine fehlgeschlagene Produkterpressung mit nicht vertretbaren Gründen ausge-schlossen worden war1.

Mit einer bloß abweichenden Bewertung lässt sich bei der Wiederaufnahme nichts ausrichten, mag die auch noch

1 Siehe dazu BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung, unzureichende 14 und BGH NJW 1999, 1562 ff.

so überzeugend erscheinen. Denn allen Wiederaufnahme-gründen (Tab. 1) ist gemein, dass der Antragsteller dem Wiederaufnahmegericht etwas Neues bieten muss. Dass ihm das gelingen kann, liegt in dem bis zum erstinstanzli-chen Urteil vom Amtsermittlungsgrundsatz beherrschten Strafverfahren alles andere als nahe.

Den Wiederaufnahmeverteidiger darf das nicht hindern, sich das Urteil sehr genau anzusehen, und zwar gerade dann, wenn der erwogene Antrag auf den am ehesten erfolgver-sprechenden Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO gestützt und also geltend gemacht werden soll, dass

neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht sind, die allein oder in Verbindung mit den früher erho-benen Beweisen die Freisprechung des Angeklagten oder in Anwendung eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung oder eine wesentlich andere Entscheidung über eine Maßregel der Besserung und Sicherung zu begründen geeignet sind.

Je mehr das Urteil auf von dem Verurteilten selbst geschaffene Beweismittel gestützt ist, umso weniger ist wahrscheinlich, dass man es mit einem Fehlurteil zu tun hat. So verhält es sich typischerweise bei Wirtschaftsstrafsachen, bei denen

Tab. 1 § 359 StPO-Wiederaufnahme zugunsten des VerurteiltenDie Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abge-schlossenen Verfahrens zugunsten des Verurteilten ist zulässig, wenn …

1. eine in der Hauptverhandlung zu seinen Ungunsten als echt vorgebrachte Urkunde unecht oder verfälscht war

2. der Zeuge oder Sachverständige sich bei einem zuungunsten des Verurteilten abgelegten Zeugnis oder abgegebenen Gutachten einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Verletzung der Eidespflicht oder einer vorsätzlichen falschen uneidlichen Aussage schuldig gemacht hat

3. bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der sich in Beziehung auf die Sache einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten schuldig gemacht hat, sofern die Verletzung nicht vom Verurteilten selbst veranlasst ist

4. ein zivilgerichtliches Urteil, auf welches das Strafurteil gegründet ist, durch ein anderes rechtskräftig gewor-denes Urteil aufgehoben ist

5. neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht sind, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung des Angeklagten oder in Anwendung eines milderen Strafgesetzes eine gering-ere Bestrafung oder eine wesentlich andere Entscheid-ung über eine Maßregel der Besserung und Sicherung zu begründen geeignet sind

6. der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht

Nr. 6 angefügt durch Gesetz v. 09.07.1998 (BGBl I S. 1802) m.W.v 15.07.1998

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1.

Ein erstes Signal, dass der Erstrichter die Hauptverhand-lung nicht genutzt hat, um den Sachverhalt ergebnisoffen zu untersuchen, ist die Sprache, in der die Urteilsgründe abge-fasst sind. Juristen wird oft ein kaltes, menschenfeindliches Deutsch vorgeworfen, was in Verbindung mit den Justizver-brechen der nationalsozialistischen Zeit zu dem von Ingo Müller geprägten Wort vom „furchtbaren Juristen“ beigetra-gen haben mag.4 Die Sprache des Fehlurteils verrät das Maß des Mitgefühls mit der Nebenklägerin, von der oft nicht mehr mit dieser, ihr Interesse am Ausgang der Sache sicht-bar machenden Verfahrensrolle oder derjenigen der Zeugin, sondern mit dem Vornamen die Rede ist, als habe sich die Aufgabe des Gerichts in der Fürsorge für die Nebenklägerin erschöpft. Je distanzloser die Urteilsgründe die Äußerun-gen der Nebenklägerin wiedergeben, desto deutlicher wird das Unvermögen des Erstrichters, deren Angaben kritisch zu würdigen. So fanden sich in dem später aufgehobenen Urteil des Landgerichts Hannover vom 07.05.20045 Wort-lautzitate von „Jennifer“, die jeweils in Weinen endeten. Dass deren Ausbrüche nicht, wie die unwiderlegt gutgläu-bige Strafkammer in ihrem Urteil hervorgehoben hatte, „aus tiefster Seele“ kamen, sondern Bestandteil einer bloßen Inszenierung waren, hat sich erst dem Wiederaufnahmeg-ericht erschlossen.

2.

„Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Haupt-verhandlung geschöpften Überzeugung“, bestimmt § 261 StPO. Diese Freiheit erlaubt dem Gericht zwar nicht, dem ersten Anschein zu vertrauen. Andererseits muss es nahe-liegende Schlussfolgerungen nicht ziehen, solange es sie erörtert und konkrete Gründe für seine Überzeugung anfüh-rt.6 Das gefundene Ergebnis muss also nur vertretbar sein. Andernfalls hebt schon das Revisionsgericht das Urteil auf. Hat der Erstrichter diese Freiheit im Urteil wiederholt in Anspruch genommen, so nimmt die Wahrscheinlichkeit zu,

S 80 ff. [82]) oder, wie in der Sache Rohrbach, der Schädel des Mor-dopfers in einem wegen des heißen Sommers ausgetrockneten Tümpel gefunden wird und der Erstrichter festgestellt hatte, die Angeklagte habe den Kopf ihres von ihr ermordeten Mannes in der gemeinsamen Wohnung „teilweise im Küchenherd verbrannt“ (siehe auch dazu K. Peters, a. a. O., 105 ff. [121, 119]).4 I. Müller (1987) Furchtbare Juristen. Kindler, München.5 KLs/3774 Js 34680/01 34a 7/03– der im Wiederaufnahmever-fahren durch Urteil des LG Lüneburg vom 08.09.2010-20 Kls/1304 Js 10340/09 (5/09) – freigesprochene Verurteilte war wegen Vergewal-tigung in 5 Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie wegen Körperverletzung auf eine Gesamtfrei-heitsstrafe von 12 Jahren und 8 Monaten verurteilt worden.6 BGH, Beschl. v. 11.04.2013 – 5 StR 261/12.

der Schuldspruch auf der – zunehmend per E-Mail geführten – Korrespondenz der Angeklagten im Tatzeitraum beruht, oder in Korruptions- oder Betäubungsmittelverfahren, wenn den Tatbeteiligten die Überwachung ihrer Telekommunika-tion zum Verhängnis geworden ist. Ob das Gericht solchen Äußerungen den Geständnischarakter zu Recht beigelegt hat, wird den Wortlautzitaten im Urteil stets zuverlässig zu entnehmen sein.

Beruht der Schuldspruch aber auf der Aussage eines einzigen Zeugen, ist Misstrauen angebracht. Soll der Zeuge zugleich das Opfer der festgestellten Tat gewesen sein, so lohnt es sich, die Gründe darauf zu untersuchen, warum der Erstrichter dieser Aussage gefolgt ist. Besonders lohnend ist diese Prüfung, wenn ein männlicher Täter ein weib-liches Opfer vergewaltigt, anderweitig sexuell genötigt oder missbraucht haben soll. Die dramatische Häufung2 von Verfahren, bei denen sich nach erfolgreicher Revision oder in der Wiederaufnahme herausstellt, dass das frühere Urteil den Falschen getroffen hat, sodass der Angeklagte und die Nebenklägerin später die Rollen tauschen müs-sen, spricht dafür, dass auch Gerichte mit der vorzeitigen Zuschreibung der Opfereigenschaft dem entsprechenden, zum Mainstream gewordenen Appell „An die Opfer denkt keiner“ nicht immer widerstehen können oder wollen. Diese Entwicklung hat zu einer Renaissance der Wiederaufnahme geführt – einem Rechtsbehelf, dem sonst kaum einmal Erfolg beschieden war.

II.

Ob eine Tatsache im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO neu und geeignet ist, lässt sich ohne Auseinandersetzung mit dem Ersturteil nicht sagen. Hätte das jeweilige Novum den Schuldspruch verhindert, so wird gegen die Zulassung der Wiederaufnahme nichts einzuwenden sein. Aber schon die Entscheidung, ob der für den Verteidiger mit einer Wie-deraufnahme verbundene Arbeitsaufwand angesichts der spätestens durch das voraufgegangene Verfahren herbeige-führten Mittellosigkeit des Verurteilten vertretbar erscheint, hängt maßgeblich davon ab, ob die Gründe des Ersturteils die Aussicht rechtfertigen, dass sich neue Tatsache oder Beweismittel beibringen lassen werden. Streng genommen handelt es sich bei Tatsachen und Beweismitteln, deren Erreichbarkeit schon nach den Urteilsgründen wahrschein-lich ist, um „unechte“ Nova, weil die Aufklärungspflicht schon dem Erstrichter deren Heranziehung gebot.3

2 Vgl. die Beiträge des Verf. in StV 2010, 705 ff. und 2012, 255 f.3 Von einem „echten“ Novum muss dagegen gesprochen werden, wenn sich, wie im Mordfall Lettenbauer, nach Jahren der Strafvollstreckung der wahre Täter meldet (siehe dazu Karl Peters (1972) Fehlerquellen im Strafprozess – Eine Untersuchung der Wiederaufnahmever-fahren in der Bundesrepublik Deutschland, Bd I, Müller, Heidelberg,

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Merkmale eines Fehlurteils

5.

Geradezu eine Einladung zur Wiederaufnahme ist der in den letzten Jahren häufig anzutreffende Versuch des Erstrich-ters, widersprüchliche, lückenhafte, nach Akteneinsicht des Nebenklägervertreters den Akten oder dem Ergebnis der Beweisaufnahme „berichtigte“ oder als objektiv falsch erwiesene Angaben der Nebenklägerin mit einer durch das angeklagte Geschehen hervorgerufenen posttraumatischen Belastungsstörung zu erklären und auch diese für eine Bestätigung der Aussage der Nebenklägerin zu halten. Der mit einer solchen Schuldspruchbegründung notwendig ver-bundene Zirkelschluss10 wird nicht erkannt, die – allerdings an ärztliche Leser gerichtete – Warnung Dörners missa-chtet, die posttraumatische Belastungsstörung sei „ein inter-essengesteuertes Modekonstrukt, an dem Sie Ihre Patienten möglichst vorbeisteuern sollten“.11

6.

Dass die Symptome der angenommenen posttraumatischen Belastungsstörung auf eine andere psychische Störung der Nebenklägerin zurückgehen, die, wie die Persönlich-keitsstörung vom Borderline-Typ oder die schwere Puber-tätskrise nicht die Folge der angeklagten Taten, sondern die Ursache einer falschen Verdächtigung des Verurteilten ist, liegt besonders nahe, wenn der Erstrichter die in Anspruch genommene Sachkunde keinem unabhängigen psychia-trischen Sachverständigen, sondern dem Arzt der Nebenklä-gerin oder deren nicht notwendig medizinisch vorgebildetem Therapiepersonal verdankt, das er als Zeugen gehört hatte. Dieses immer wieder vom Verfasser beobachtete Vorgehen war die Hauptursache auch des Fehlurteils des Landgerichts Halle vom 29.10.2004.12

Besonders verdächtig ist es, wenn Therapiepersonal in der „‚Geburtsstunde‘ der Beschuldigung“13 zugegen oder bei der Entstehung oder der Entwicklung der Aussage behilflich gewesen sein soll und ihm in den Augen des Erstrichters das „Verdienst“ zukommt, den vermeintlichen Missbrauch aufgedeckt zu haben.

10 Vgl. BGH, Urt. v. 25.01.2011– 5 StR418/10; siehe M. Steller (2002), NJW-Sonderheft für Gerhard Schäfer, 69 ff. (70 ff.) und H.-L. Kröber (2006) in: Fabian/Nowara (Hrsg), Neue Wege und Konzepte in der Rechtspsychologie. Lit, Münster, S 53 ff.11 K. Dörner (2004) Posttraumatische Belastungsstörungen – Neues Fass im Gesundheitsmarkt. Trauma Berufskrankh 6(Suppl 3):327–S 328.12 28 KLs 170 Js 3025/04 StA Halle – aufgehoben durch Urteil des LG Magdeburg v. 15.06.2012 – 25 Kls 19/11.13 BGHR StPO § 244 Abs. 2 Aussageentstehung 1 unter Berufung auf H. Leferenz bei Göppinger/Witter (1972) Handbuch der forensischen Psychiatrie, Bd II. Springer, Berlin, S 1334 ff., 1339.

dass der wirkliche Sachverhalt ein anderer war als der im Urteil festgestellte.

3.

Kennzeichnend für ein mögliches Fehlurteil ist auch das Aufwerten von Scheinbeweisen, also solchen, die das ver-meintliche Opfer selbst geschaffen hat, wie angebliche Tagebücher, E-Mails und SMS, die im Urteil jeweils als die Aussage bestätigender Sachbeweis gewertet werden und deren Minderwert in dem erwähnten Hannoveraner Fall auch der Bundesgerichtshof nicht erkannt hat:

„Das Landgericht hat dargelegt, dass das von dem Mädchen geschilderte Geschehen zahlreiche Realitätskennzeichen und zudem Besonderheiten auf-weist, die eine falsche Aussage ausgeschlossen ers-cheinen lassen. Ihre Angaben stimmen mit tatzeitnah verfassten E-mail- und SMS-Nachrichten überein und werden zum Randgeschehen, aber auch zu erlittenen Verletzungen von anderen Beweismitteln bestätigt.“7

Bei den anderen Beweismitteln handelte es sich nur um Per-sonen, denen die Nebenklägerin von den angeblichen Taten berichtet hatte. Die Verletzungen hatte sie sich nach den Urteilsausführungen teils selbst zugefügt; teils konnten sie selbst beigebracht sein. Dass es bei allen Verletzungen so war, ergab das Wiederaufnahmeverfahren.

4.

Für die Wahrscheinlichkeit eines Fehlurteils spricht auch die Bereitschaft des Erstrichters, sich von den Erkenntnis-sen der Rechtsmedizin zu entfernen und etwa die Erhaltung des Hymens der Nebenklägerin nach einer Mehrzahl mit Gewalt erzwungener Penetrationen, sei es durch mehrere Männer, mit unterschiedlicher Begegnungsgeometrie bei wiederholt erzwungenem Verkehr oder durch den Einsatz von Werkzeugen, für vereinbar zu halten. So sollte der Vater der Nebenklägerin in den beiden von der Journalistin Sabine Rückert8 entdeckten Osnabrücker Fehlurteilsfällen9 bei seiner als Nebenklägerin auftretenden Tochter einen Abtreibungsversuch mit einem Kleiderbügel, der später Freigesprochene in dem Hannoveraner Fall in die Scheide der Opferzeugin eine PET-Flasche mit einem Durchmesser von 10 cm mit der Bodenseite voran eingeführt haben.

7 BGH, Beschl. v. 09.08.2005-3 StR 64/04 (StV 2006, 14).8 S. Rückert (2007) Unrecht im Namen des Volkes. Hoffmann & Campe, Hamburg.9 LG Osnabrück, Urt. v. 31.03.1995 – 17 Js 36603/94 20 KLs (III 9/95) – und v. 29.01.1996 – 15 Js 11659/95 20 Kls (III 30/95) – aufge-hoben durch LG Oldenburg, Beschl. v. 02.10.2006 – 6 KLs 16/06– und Urt. v. 14.12.2005 – 6 KLs 2/04.

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Wiederholungen entgegengewirkt wird. Diese Erwartung wird bisher enttäuscht: Während die Evaluierungswelle längst sogar Behörden erfasst hat, scheuen sich die für die Fortbildung von Richtern und Staatsanwälten Verantwortli-chen sogar, die Häufung gleichartiger Fehler aufzugreifen und geeignete berufspraxisbegleitende Seminare anzubi-eten. Das ist umso weniger verständlich, als zwei von den fünf Strafsenaten des Bundesgerichtshofs inzwischen mit strenger gewordenen Anforderungen an die Erörterungsp-flicht in dem durch die Eigenart der Revision eröffneten beschränkten Rahmen zur Vermeidung der Rechtskraft eines Fehlurteils das ihnen Mögliche tun.17

Im Übrigen wird offenbar in der schonungslosen Ausein-andersetzung mit den Ursachen von Fehlurteilen ein Angriff auf die richterliche Unabhängigkeit gesehen. Während ange-sichts von Rechtsfehlern im engeren Sinne, also der falschen Anwendung des materiellen oder des prozessualen Rechts auf einen feststehenden Sachverhalt, Urteilsschelte auch in polemischer Form juristische Werke oft erst lesbar macht, überwiegt die kollegiale Anteilnahme mit dem Verursacher des Fehlurteils die Sorge um den Schutz potenzieller weit-erer Justizopfer. Anscheinend ist der für die Auseinander-setzung mit Rechtsfragen und der Erörterung verschiedener, jeweils vertretbarer Lösungen ausgebildete Jurist durch die Konfrontation mit einem Fehlurteil überfordert: Vertretbar kann die Verurteilung eines Unschuldigen ja nicht gut sein.

Das Desinteresse des Bundesministeriums für Justiz am Ertrag aller bisher durchgeführten Wiederaufnahmever-fahren legt den Verdacht nahe, man wolle den Handlung-spflichten ausweichen, die sich aus den Beobachtungen für das Gesetzgebungsverfahren ergeben könnten. Schon die nach der von Peters durchgeführten Untersuchung18 vorgenommene Einfügung des § 140a in das Gerichtsver-fassungsgesetz, der die Wiederaufnahme einem anderen Gericht als dem des Erstrichters überträgt, hat trotz der

17 Siehe etwa BGH, Urt. v. 12.08.2010 – 2 StR 185/10 – u. v. 27.04.2010 – 5 StR 127/10 – (selbstverletzende Handlungen des vermeintlichen Opfers erfordern ein psychiatrisches Gutachten), v. 27.10.2010 – 5 StR 319/10– (mangels wissenschaftlicher Anerkennung der Forderun-gen der psychologischen Traumatologie im Zusammenhang mit der Glaubhaftigkeitsbeurteilung stellt es keine relevante Lücke dar, wenn die Traumatisierung der Nebenklägerin nicht als Ursache für die Qual-itätsmängel der Aussage der Nebenklägerin herangezogen worden ist) u. v. 25.01.2011 – 5 StR 418/10 – (wird die mindere Qualität einer für richtig gehaltenen Aussage der Nebenklägerin mit deren Trauma-tisierung erklärt, so kann ein Wertungsfehler vorliegen. Die maßge-bliche Begründung des Schuldspruchs mit dieser Diagnose ist ein Zirkelschluss); Beschl. v. 10.11.2010 – 2 StR 403/10– („Aussagekon-stanz“ bei Detailarmut – StV 2011, 525) v. 09.02.2012 – 2 StR 316/11– („unübersichtliche, z. T. laienhaft wirkende Beweiswürdigung“). Nicht zufällig sind dem Verfasser bisher Wiederaufnahmemandate aus den diesen beiden Strafsenaten zugewiesenen Oberlandesgerichts-bezirken bisher nicht einmal angetragen worden. In den dieser Darstel-lung zugrunde liegenden Fällen war die Revision durch den 1., 3. oder 4. Strafsenat jeweils als offensichtlich unbegründet verworfen worden.18 Siehe oben Fn. zu Mordfall Lettenbauer und Rohrbach.

7.

Ein Hinweis auf ein Fehlurteil liegt auch in der Mitwirkung sogenannter Beratungsstellen wie Wildwasser, Zartbitter, Allerleirauh oder Violetta, die sich nicht auf Rat und Hilfe für mögliche Opfer von Sexualstraftaten beschränken, sondern am Zustandekommen und der Präsentation der Aussage auch durch Überlassen vermeintlich geeigneter Literatur mitwirken – wie des Bestsellers Trotz Allem: Wege zur Selbstheilung für sexuell missbrauchte Frauen14. Das feministisch geprägte Werk enthält eine – neuerdings hal-bwegs camouflierte – Anleitung zum Erfinden von Realken-nzeichen (dort S. 136 ff.) und wird gezielt zum Aushebeln dieses Kontrollkriteriums der wissenschaftlichen Aussag-eanalyse eingesetzt.

In den Gründen des genannten Fehlurteils des Landgeri-chts Halle findet sich das folgende aufschlussreiche Kom-pliment der zur polizeilichen Aussage der Nebenklägerin als Zeugin gehörten kriminalpolizeilichen Sachbearbeiterin:

„Nur durch die Einflussnahme der immer anwesenden Mitarbeiterin des Wildwasser e. V. sei zu verhindern gewesen, dass die Zeugin vollständig den Kontakt zur Vernehmungssituation abgebrochen hätte und in ihrer Vorstellungswelt gefangen worden wäre.“

8.

Schließlich liegt der Verdacht auf ein Fehlurteil nahe, wenn der Erstrichter ein aussagepsychologisches Gutachten eingeholt hat und dieses Gutachten nicht auf eine hypoth-esengeleitete Aussageanalyse15 gestützt, sondern auf der „Grundlage intuitiver Charakter-Beurteilungen oder irratio-naler Zuschreibungen“16 erstattet worden war.

III.

Haben Mängel wie die hier dargestellten nicht nur ein-mal, sondern immer wieder zu einem Fehlurteil geführt, so wäre angesichts der mit einem solchen Missgriff nah-ezu regelmäßig verbundenen Vernichtung der beruflichen Existenz der Verurteilten, der ihnen durch die Strafvoll-streckung oft zugefügten irreparablen Gesundheitsschäden und der weiteren – entschädigungspflichtigen – materiellen Folgen der vermeidbaren Fehlleistung zu erwarten, dass

14 E. Bass, L. Davis (2009) Trotz allem: Wege zur Selbstheilung für sexuell missbrauchte Frauen, 15. „Jubiläums“-Aufl. Orlanda Frauen-verlag, Berlin.15 Vgl. BGHSt 45, 156 ff.16 T. Fischer in: Strafverteidigung, Revision und die gesamten Strafrechtswissenschaften – Festschrift für Gunter Widmaier zum 70. Geburtstag (2008; nachstehend: FS-Widmaier), 191 ff. [203]).

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moderaten Begründung des Regierungsentwurfs, auf die-sem Wege solle nur der Eindruck vermieden werden, das Gericht könne dem Wiederaufnahmebegehren nicht gänzlich unbefangen gegenüberstehen19, in der Richter-schaft zu beträchtlicher Verstimmung geführt.20 Wollte der Gesetzgeber vermeidbare Fehlleistungen der Erstrichter zum Anlass einer Reform des Rechts der Wiederaufnahme nehmen, wären andere Reaktionen zu erwarten. Gedacht ist hier namentlich an das bisherige Fehlen eines Inhaltsproto-kolls der in 1. Instanz beim Land- und beim Oberlandesg-ericht durchgeführten Hauptverhandlung, dessen Wirkung v. a. wäre, des Phänomens „Der falsche Film“21 wirksam Herr zu werden. Es handelt sich um die absichtliche, als Rechtsbeugung strafbare22, oder die versehentliche Ver-fälschung des Hauptverhandlungsinhalts im schriftlichen Urteil, die dessen Gründe von sonst durchgreifenden

19 BTDrucks. VII/2600, 11.20 Zum Widerstand von Richtern und Staatsanwälten während des Gesetzgebungsverfahrens W. Krägeloh NJW 1975, 137 ff., (138).21 Begriff bei A. Nack (2002) in: Festschrift für Peter Rieß zum 70. Geburtstag, 361 ff. (368) –; siehe dazu auch R. Eschelbach (2008) in: FS-Widmaier, 137 ff. [131 ff.].22 Vgl. BGHSt 43, 212 ff. [216].

Erörterungsmängeln befreit – mit der Folge, dass dem Ver-schwiegenen weder mit der Revision noch mit der Wieder-aufnahme beizukommen ist. Denn die „Nova“ wären nicht neu, und der Beweis der Rechtsbeugung scheitert am Bera-tungsgeheimnis: Weil ein Richter überstimmt worden sein kann, muss jedem Richter zugute gehalten werden, dass er dieser eine war.

Die Vermeidbarkeit des Fehlurteils wird indessen durch seine Gründe bewiesen. Müssen deren Urheber schon das Strafrecht nicht fürchten, so ist kein Grund ersichtlich, ihnen – gleichsam im Gnadenwege – die systematische Fehleranalyse und deren Veröffentlichung von Amts wegen zu ersparen.

Interessenkonflikt  Der Autor versichert, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.