Meyer, Thomas - Der Unverbruechliche Vertrag

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Thomas M eyer

DERUNVERBRÜCHLICHE

VERTRAG

Roman zur Jahrtausendwende

Perseus Ver lag Base l

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Eine Inhaltsübersicht findet sich auf S. 357.

Umschlagbild: Marianne Wachberger

Korrektorat: Urs Meyer-Hala

© 1998 Perseus Verlag Basel

1. Aufl. Juni 1998

Satz und Druck: Freiburger Graphische Betriebe

ISBN 3-907 564-23-5

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Den wahren Schülern R udolf Steiners

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I.

Ein Neujahrserlebnis in New York

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V

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«lm übrigen gedenke ich meine No tizen am E nde des Jahrhu nderts selbst ab-zuholen.» Als Harold Freeman am Neujahrsmorgen des Jahres 1998 er-

wachte, tönte dieser Satz noch lange in ihm nach. Er hatte ihn im Traum

in einem Brief gelesen, der in kräftiger und eigenwilliger Schrift ge-

schrieben war. Noch sah er klar die Schriftzüge vor Augen, die ihmzunächst ganz fremd erschienen waren, um sich dann in die ihm wohl-

bekannten eigenen zu wandeln — so fremd und doch so eigen. An die-

sem Punkte war er aufgewacht. Es war gegen acht Uhr früh, draußen

fing es an zu dämmern.

Freeman konzentrierte sich, wie jeden Morgen, auf eine Vorstel-

lung, die er sich am Vorabend, bevor er einschlief, einzuprägen pflegte.

Dann wandte er sich diesem rätselvollen Traumgeschehen zu. Es war

ein Brief von damals. Doch an wen war er geschrieben worden? Und

wann war das gewesen? Wohl um die Mitte des Jahrhunderts, schätzte

er. «Meine Gattin», durchfuhr es ihn blitzschnell. «Ich schrieb den Brief

an meine Gattin.» Das Antlitz einer dunkelhaarigen Frau mit sanften

Zügen gewann vor seinem Seelenblick Kontur, um langsam wieder zu

verblassen.

Wie schon oft zuvor, war Freeman auch an diesem Morgen mit ei-

nem Bild aus seinem letzten Leben aufgewacht; das war für ihn nichtsUngewöhnliches. Das «Damals» war seit seinem neunten Lebensjahr

ein stetiger Begleiter seines Jetzt. Im allgemeinen hielt sich dieser Weg-

gefährte gleichsam ganz diskret am Schattenrand von Freemans

neuem Lebensweg. Doch manchmal trat der freundliche Gefährte

plötzlich aus dem Schatten in das volle Licht heraus. Freeman faßte das

im Lauf der Zeit als Zeichen dafür auf, daß er vor einem neuen Le-

bensabschnitt oder einem Umschwung stand.

Das Traumbild schien so weit geklärt. Und doch: Weshalb gerade

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dieser Satz aus jenem alten Brief? Warum gerade jetzt? Harold Freeman

ging zum Meditieren über.

Eine Stunde später setzte er sich in den Wagen und fuhr zum Central

Park. Er betrat das Vienna und bestellte sich ein Continental Breakfast.

Freeman liebte das Lokal, in welchem fast die ganze internationale

Presse auslag. «Wenn nur die Quantität und Vielfalt aus den Zeitungs-lesern schon wache Zeitgenossen machen könnte», dachte er, als er den

Economist herausgriff. Doch er wußte, welch ein mächtiges Betäubungs-

mittel in dieser Vielfalt steckte und wie es bei den allermeisten Men-

schen wirkte — indem es bloß den Traum des Informiertseins produzierte.

Harold Freeman stand seit einem Jahr als Volontär im diplomatischen

Dienst der US-Regierung. Er war der Mittelsmann — «Coordinator»nannte man den für ihn geschaffenen, neuartigen Posten — zwischen

den achtzehn EU-Botschaften in New York. Täglich nahm er mit den

Botschaftern Verbindung auf, per Tele-Video oder auch nahmündlich,

je nachdem. Seit er Yale, wo er in Wirtschaftswissenschaft und Recht,

und Georgetown, wo er in Internationaler Politik und Russisch gradu-

ierte, vor einem guten Jahr verlassen hatte, war er pausenlos am Un-

terhandeln, am Erstellen von Berichten, Lunchen und Dinieren. Selbst

an Wochenenden vertiefte er sich in diverse Unterlagen, Magazine, inMemoiren und politische Berichte. Oder er schrieb Briefe (hauptsäch-

lich an seine Freundin in Chicago) — außer kürzeren Besuchen in Mu-

seen fast die einzige Entspannung, seit er nach New York gekommen

war. Freizeit war für ihn, den Sprachgewandten, ein schlichtes Fremd-

wort. Doch das änderte sich jetzt. Eine diplomatische Erkundungsreise

sollte ihn ein Vierteljahr lang durch die Alte Welt und in den randsla-

wischen Osten führen. Nebst politischen Vor-Ort-Recherchen und per-

sönlichen Kontaktaufnahmen mit den Botschaftern fast aller Staaten

von Europa und des Ostens sollte er für eine internationale Wirt-

schaftskonferenz in Prag das Terrain vorbereiten und dazu die nötigen

Kontakte knüpfen. Doch dies alles erst nach einem wohlverdienten Ur-

laub, den er in Paris verbringen wollte. Im übrigen würde diese Reise

auch entscheiden, ob er dem diplomatischen Dienst auch künftig seine

Kräfte widmen wollte. Onkel Alfred, der ihn nach New York gerufen

hatte, hoffte es aus ganzem Herzen; Freeman selbst ließ es ganz offen.

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Auf der gestrigen Silvesterparty im World Trade Center hatte Jana-nanda, der Botschafter aus Indien, en passant kurz bemerkt:

«Wie ich hörte, Mr. Freeman, gehen Sie im neuen Jahr auf Reisen.

Wie sch ön! Nach diese n pausenlosen Jagden durch die Laby rinthe vo n

M anh attan dürfte Sie das siche rlich e ntspannen. Im übrigen», fügte derbejahrte M ann m it leisem Läche ln noch h inzu, «Sie wissen ja, wie m anim alten Indien sagte: <Nur dem Reisenden entdeckt die Welt sein wah-res Selbst.>»

Freemans Alter wurde meistens überschätzt. Trotz des dichten,

leichtgewellten schwarzen Haares, das sich einem strengen Scheitel

nur vorübergehend fügen wollte, und trotz des jugendlichen Leuch-

tens seiner Augen ging etwas Souveränes, ungewöhnlich Reifes von

ihm aus. Seine Züge waren ebenmäßig, der Teint der Haut sehr hell,was zu den dunklen Augen einen deutlichen Kontrast darstellte. Die

Gestalt war schlank und mittelgroß, die Hände feingliedrig und doch

energisch; kurz: M an m och te ih m gern gute Dreißig oder knappe Vier-zig geben. In Wirklichkeit war H aro ld Freem an im vergangenen Som -mer sechsundzwanzig Jahre alt geworden.

Am liebsten wäre e r schon h eute losgefahren, je tzt nach diesem T raum -gesicht. Do ch er m ußte sich noch e inen T ag gedulden. Die Qu een Eliza-beth fuhr erst am anderen Mittag ab.

Er bes chloß, den Vo rm ittag im Cloisters zuzubringen. Schon o ftm alsha tte e s ihn zu den Schätzen hingezogen, die das von einem Ro ckefel-ler eingerichtete Museum birgt, das im Norden von New York auf ei-

ner Anh öhe am Hudson River liegt. Nun nahm er sich die Zeit, s ie ein-m al aufzusuche n. Freem an war der ers te und — bis zu seinem We ggang

eine gute Stunde später — a uch der einzige Be suche r dies es O rtes. Alleswar geschmackvoll ausgestellt und arrangiert. Ganze Teile von roma-

nischen K apellen o der Kirche n ware n aus E uropa wo hlbeha lten in dieNeue Welt befördert worden. Nach den stilisierten Grabsteinen New

Yo rks, wie Freem an all die stolzen Wo lkenkratzer stets erschienen, er-lebte der Be sucher h ier so e twas wie ein stilles Grüßen aus ganz andernRäum en und auch Zeiten. Haro ld Free m an h atte plötzlich die Em pfin-dung, noch vor der Abfahrt nach Europa in gewisser Weise schon am

Ziel der Reise angelangt zu sein. Hier und jetzt betrat er, gleichsam

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durch die Zeittür anderer Jahrhunderte, das ihm wohlvertraute, lang-

vermißte Vaterland Europa. «Wie wenig machen wir doch von der

Möglichkeit zu solchen Seelenreisen in der Zeit Gebrauch», verwun-

derte er sich im Innern, während er die herrliche Madonna aus Autun

im Burgund bestaunte. «Ach, dieses große Mittelalter! Was wurde da

für Kunst geschaffen! Spirituell und schlicht, und nicht vertrackt undabgeschmackt wie das allermeiste, das im Guggenheim bewundertwird.»

Und dann die bunten Bildteppiche mit den kunstvoll dargestellten

Hof- und Jagdidyllen und mit dem rätselhaften Einhorn. Am stärkstenzog es ihn zu einem Brunnen hin, an dess en untere r Außenwand durcheinen Löwenmund das Wasser über das geheimnisvolle Einhorn fließt.

Wie um vom Einho rn vollkom m en gereinigt in die Erde e inzuström en.Wo könnte m an sich in New York auf eine Re ise nach Europa bes servorbereiten als an diesem Ort? Es war nicht Freem ans ers te Reise in dieAlte W elt. Doch die kurzen Flüge, die er im vergangenen Jah r m it On-kel Alfred unterno m m en ha tte — nach Lo ndon, Wa rscha u und Berlin —und die m eist nur zwei, drei Ta ge dauerten, ware n nichts als zweckge-bundene Kurzbesuche in die Botschaftszentren dieser Großstädte ge-

wese n. Diesm al re is te er a lle in, und diesm al würde e r zum ers ten M ale

wirklich nach Europa fahren. Und so hatte er beschlossen, sich diesesM al auch Zeit zu lasse n und das Schiff zu nehm en.

«Und jetzt noch einen Ga ng ins M etropo litan», entschied er a uf derRückfahrt in die City, während seine Blicke über den am Ufer da und

dort noch zugefrorenen Hudson River schweiften.

Zum x-ten M ale wo llte er ein ganz bestim m tes Bild betrachten. DenAristoteles von Rembrandt. Die königliche Haltung dieses Philosophenbeeindruckte ihn einmal mehr. Eine Hand ganz leicht und doch be-

stimmt auf das greise Haupt Homers gestützt, des großen Seher-Dich-

ters, der noch Plato inspirierte; und dann an goldener Kette das kleine

Medaillon mit dem zarten Porträt Alexanders. Sich stützend auf Ho-

mer, von Alexander unzertrennlich: Das ist der Aristoteles von Rem-

brandt. Freeman fühlte jedesmal erneut: Kein Biograph hat jemals bes-ser ze igen können, wie Aristoteles Ho m er vere hrte und seinen ZöglingAlexande r liebte.

Aristoteles in Ne w Yo rk City! Der Entdecker der Ge se tze a ller Lo gik

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und der Begründer aller Wissenschaft des Abendlandes. Freeman

m ußte jedesm al von neuem s taunen, wenn er vor dem Bilde s tand. Wiekommt es, daß gerade dieses Meisterwerk des großen Niederländers

im Jahre 1961 in die Neue Welt gekommen war? Wie dem auch sei:

Schon als er dieses Bild zum ersten Mal gesehen hatte - er war geradevierzeh n Jahre alt gewo rden -, ha tte e r so gleich em pfunden, daß es tiefbegründet war, daß dieser Rembrandt heute über dem Granitgestein

von Ne w Yo rk City hing. Schon dam als ha tte e r gefühlt: Heute is t «DerPhilosoph», wie man ihn im Mittelalter nannte, in Nordamerika ganz

genau am rechten Ort. Und seither hatte sich bei jedem weiteren Be-

such der erste Eindruck neu bestätigt.

Den Abend brachte Free m an in der ho chgelegenen Wo hnung inm ittenvon M anha ttan zu. Durch das brei te Fenster in dem Raum , in dem s ichseine Bibliothek befand, glitt sein Blick von Zeit zu Zeit fast wie ge-

wohnheitsmäßig zum World Trade Center und zur Freiheitsstatue vor

der Hafeneinfahrt. Die hocherhobene Freiheitsfackel machte auch an

diesem Abend irgendwie den Eindruck einer karikierten und vergrö-

berten Ve rbildlichung des wa h ren Freih eitsgeistes. «So e rhält hier vie-les , was e ins t aus der Alten We lt herüberkam , gewisserm aßen Ram ses-Züge», sann Freem an in die Fe rne, bevor e r s ich, wie plötzlich aus demSinnen fahrend, den Büchern hinter sich zuwandte.

Er zog ein schmales Bändchen aus den unteren Regalen - es han-

delte vo m Einfluß des bekannten Ya le-Clubs «Skull & Bo nes» a uf diegroße Politik des Landes. Ziellos blätternd schlug er jene ihm bereits

bekannte Stelle auf, welche von Demosthenes, dem größten redneri-

schen Demagogen Griechenlands, und von der Clubzahl 322 berich-

tete. 322 - die Zah l, die Ave rell Harrim an, selbst ein Yale-M ann und derwohl durchtriebenste von allen dubiosen Diplomaten des «amerikani-

sche n Jahrh under ts», beim Aufschließen des Aktenkoffers zu verwen-den pflegte ... Demosthenes hatte sich 322 v. Chr., gepeinigt und ver-

folgt, vergiftet; im gleiche n Jahr e, als der große Aristoteles vers tarb; einJahr nur nach dem T ode A lexander s . In se inen Flam m enreden ha t te e rden jungen Makedonier und mittelbar auch dessen Lehrer Aristoteles

m it einem Ha ß und einer Glut bekäm pft, die ihre sgleich en suche n unddie im ganzen Altertum in dieser Art wohl kaum ein zweites Mal zu

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finden sind. Doch letztlich war sein Kampf vergebens. Unvorstellbar,

was geschehen wäre, wenn die Flammenreden, die er schleuderte wie

Brandfackeln, Alexanders Weltmission vereitelt hätten! «Welch auf-

schlußreiche Signatur!» sagte Freeman zu sich selbst. Demosthenes, ge-

heim verehrt von wenigen, die nach der Macht begehren, und Alexan-

der-Aristoteles ganz offen vor den Augen aller Welt: Daß sich hier im

gleichen Lande, wo man in sehr einflußreichen Kreisen an das Wirken

von Demosthenes anknüpft, auch ein Bild von Aristoteles mit einem

Alexander-Medaillon befindet — es wollte Freeman jetzt und erstmals

unaussprechlich vielsagend erscheinen. Und er fühlte plötzlich, wie

sich — trotz der ihm schon längst bekannten Aussicht auf die Weltab-

gründe, die am Ende des Jahrhunderts alles, was die Menschheit je er-

reicht und noch zu hoffen hatte, vollends in sich zu verschlingen droh-ten — eine völlig neue, nie gekannte Zukunftshoffnung in ihm regte.

Mit dieser Hoffnung «beugte» er sich, wenn das Wort erlaubt ist, vor

dem Schlafengehen innerlich noch einmal über den von ihm geschrie-

benen Satz, mit dem er in der Frühe wachgeworden war: «Im übrigen

gedenke ich meine Notizen am Ende des Jahrhunderts selbst abzuho-

len.» Mit einem Male war für ihn das Ende des Jahrhunderts da, so

überraschend wie bestimmt und unabweisbar. Und er spürte, wie dieneuerstandenen Worte einen alten Vorsatz in ihm weckten. Sie würden

seiner großen Reise nach Europa ihren eigentlichen, zweiten Sinn ver-

leihen. Und während er noch fühlte, wie der neugeborene Satz von sei-

nen Willenstiefen aufgenommen wurde, versank er in den Schlaf.

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II.

Über den Atlantik

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Die Morgensonne schien schon in den Bibliotheksraum, als Freeman

noch einmal an die Regale trat. Er liebte es, den jeweiligen Lesestoff für

eine Reise erst im letzten Augenblick zu «konstellieren», wie er das zu

nennen pflegte. Diesmal zog es ihn zu seinen Klassikern. Er nahm den

Briefwechsel von Emerson und Herman Grimm heraus und steckteihn in seine Reisetasche. Dann einen Essayband des ersteren. Sollte er

auch noch den gleich danebenstehenden Band mitnehmen, der die

Briefe wiedergab, die Plinius der Jüngere an Tacitus geschrieben hatte?

Der junge Diplomat verzichtete darauf und begnügte sich statt dessen

mit den Goethe-Vorlesungen Grimms. Durch die Lektüre dieser Vorle-

sungen hatte er sich auf der High School im kanadischen Vancouver

einst die deutsche Sprache Satz um Satz erobert, oder besser, wie-

derum zurückerobert; denn letztes Mal war Harold Freemans Mutter-

sprache Deutsch gewesen. Schon auf der High School hatte er erfah-

ren, wie wunderbar es ist, einer Sprache, die einst Muttersprache war,

von neuem zu begegnen. Nun lernt man sie, fand Freeman, wie zum

ersten Male wahrhaft schätzen und in ihrer ganzen Objektivität be-

trachten.

Und Emerson? Er hatte Freeman ungefähr zur gleichen Zeit das Tor

zum eigentlichen, tieferen Amerika eröffnet. Und seine erste Reiseaußerhalb von Kanada hatte er nach Concord, Massachusetts, unter-

nommen. Unvergeßlich diese Stunden in dem Hause Emersons! Am

stärksten hatte ihn im Wohnzimmer ein Kupferstich beeindruckt, der

den Ausbruch des Vesuvs im Jahre 79 zeigte. Emerson hatte ihn von ei-

ner Reise nach Italien mitgebracht. Diese und noch weitere Erinnerun-

gen an die überaus bescheidene Behausung des großen Individualisten

zogen Freeman durch die Seele, als er kurz vor zwei Uhr nachmittags

an Bord des Luxusliners ging.

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Es war klar und trocken, als die Q ueen El izabeth um drei Uhr mittags

an der Liberty vorüberzog. Das Meer war ruhig und spielte leise mit

dem Lichtglanz auf den Wogen. Harold Freeman stand sehr still und

sinnend an der Reling auf dem Promenadendeck und freute sich ganzfrisch und frei auf das wahre Wiedersehen mit Europa. Das Schiff

nahm langsam Kurs auf Neufundland, während sich am Horizont ein

schmaler Wolkenstreifen zeigte. Ein Ausspruch Emersons kam Free-

man in den Sinn und begleitete ihn eine Weile wie die Möwen, die dem

Schiff ihr heiteres Gefolge gaben. «Wenn der Akt der Reflexion im Gei-

ste Platz greift, so entdecken wir, daß unser Leben eingebettet ist in

Schönheit.» «Wahrhaftig!» dachte Freeman und hätte dieses Wort bei-nahe hörbar ausgestoßen.

Später setzte er sich in die Grand Lounge und dachte an Fiona, seine

Liebe aus den Highschooljahren, seine erste und - wie er in vollem Ern-

ste meinte - wohl auch seine letzte Liebe. Denn welche andere Bezie-

hung hätte das noch steigern können, was sich zwischen ihm und

Fiona vom ersten Augenblicke an ereignet hatte und fort und fort ent-

wickelte? Fiona machte mittlerweile ihr Debüt als Sopranistin an der

Oper von Chicago. Sie hatte ihn gebeten, ihr zu schreiben, sobald Man-hattan außer Sicht war. «Was dem Blick entschwunden ist, kehrt sin-

gend aus dem Herzen wieder», hatte sie ihm einst gesagt. Wie oft schon

hatte er die Wahrheit dieser Worte selbst empfinden können, nach ei-

nem ihrer vielen Abschiede der letzten, so bewegten Jahre, wenn er ir-

gendwo auf einem Bahnsteig oder beim Verlassen einer Fernsprech-

zelle den vertrauten sanften Nachklang Fionas in sich spürte.

Doch diesmal nahm er nicht von einem Menschen, er nahm von ei-

nem ganzen Lande Abschied. Vielleicht wird jetzt Amerika, der Konti-

nent, den er nun erstmals ganz real verließ, in ihm zu singen und zu

klingen anfangen?

Freeman winkte einem Kellner, bestellte ein Getränk und schrieb:

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M eine liebe Fiona,

der K affee ist gerade erst bestellt und n och nicht angekommen, während ichdies schreibe. W ir nehmen bei fast wo lkenlosem Himm el Kurs auf das unsteuere Neufundland. So überquere ich nun erstmals auf dem W asser die alte

Heimatinsel von Atlantis, von der w ir oft gesprochen haben un d die, wie D uja weißt, durch einen K olossalverrat an den M ysterien buchstäblich zugrundeging. Wasserfluten brachen überall herein, und das alte Avalon der Kelten und

das Niflland der A ltgermanen sa nk für Tausende vo n Jahren in das Schatten-reich von Trau m und Sage, w o nicht in völlige Vergessenheit. D ie gleichenFluten, die Atlantis überspülten und versenkten, tragen heute unsere Schiffenach Europa oder nach Amerika. Doch die alte Kraft wird sich bald wieder re-

gen; die M agie, die dama ls herrschte, wird bald von neuem a uferstehen. DieFrage ist jedoch, in welche Hände sie gelangen wird.Hat nicht noch Shakespeare eine Ah nung von atlantischer M agie gehabt?

Ariel muß im «Sturm» auf Prosperos Geheiß um M itternacht auf den Bermu-das den «verhexten» und das heißt mit Kraft und W irksamkeit begabten Taugewinnen. Was ist jedoch d ie Kraft des Ta u? E s ist die Kraft des Lebens selbst.So wie sie den Atlantiern zum B etrieb von technischen G eräten und zur Fo rt-bewegung von V ehikeln diente, so wird im kommend en Jahrtausend die Tech-

nik sich erneut der Lebenskraft bedienen. Keely war sch on auf dem W eg dahin.Ande re Entdecker we rden folgen, ja sie sind, so fühle ich, schon da, an dieser

Schwelle des Jahrtausends.Schwelle des Jahrtausends! Was wird sich da nicht alles radikal verändern

und entscheiden müssen, soll es noch e in nächstes geben! Seit gestern w eißich, daß das End e des Jahrhund erts wirklich angefangen ha t, mit allen Stür-men, allen Kämpfen und Entscheidungen, von denen w ir so oft gesprochen ha-ben. Und ich w eiß auch, daß die Zeit gekommen ist, um meinen kleinen B ei-trag in dem groß en K amp f zu leisten. Er w ird zunächst darin bestehen, dieU nsrigen zu finden. Ich meine: jene, die sich «oben» scho n gefunden ha tten,nun auch «unten» zu versamm eln. Da s wird nun meine andere, geheime di-plomatische M ission sein, in der ich nach Europa reise. Niemand w eiß bis jetztum sie, außer Dir und m ir.

All das w urde m ir, nachdem ich kraftvoll meditierte, aus einem T raumbildklar, mit dem das n eue Jahr mich w eckte.

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Wäh rend Free m an einen Sch luck Kaffee trank, überlegte er, ob er die-sen Brief gleich via Fa x loss chicken so llte. Nein, entschied e r, erst vo nEngland aus per Luftpos t, in the go od o ld way . Dadurch h atte er Ge le-genhe it , die E rlebnisse und die G edanken dieser Re ise tage ers t etap-penweise aufzuschreiben und sie dann en bloc zu schicken. Er fuhr fort

zu schreiben:

Was ich auf dieser Reise nun empfinde, ich möchte es am liebsten mittelbar aus-drücken. Du erinnerst Dich, wie Herman Grimm, in noch verhältnismäßig jun-gen Jahren, im Hause eines Freundes eines Tages auf ein Buch von Emerson ge-stoßen war. Grimm blätterte darin — und war sogleich gebannt von einer ihm bisdahin unbekannten M eerestiefe der G edanken sowie auch von der Schönheit ih-

res Ausdrucks, obw ohl sein Englisch ihn zunächst meh r ahnen als verstehenließ. Die Stimme Emersons klang ihm so fort vertraut. Es wurden alte Schick-salsbande in ihm rege. Und von d iesem Zeitpunkt an will er im Grun de nurnoch einen Zeitgenossen kennenlernen — Ralph Waldo Emerson . Zwanzig Jahrespäter geht sein Wunsch dann in Erfüllung. Die beiden treffen sich in der Tos-kanastadt F lorenz, wo sie schon in früherer Zeit ein wechselvolles Leben hatten.Du erinnerst Dich vielleicht? Nun, mir ist zumute — ist das zu kühn verglichen?— wie Herman Grimm vor seiner Reise nach Florenz; und meine «Emersons»

sind meine guten, wahren F reunde aus dem «D amals» und vom O berland, andie mich mein Neujahrserlebnis neu und nachhaltig erinnerte. Und mehr als ein«Florenz» erwartet mich am andern U fer dieses großen Wassers.

So viel für jetzt. In einer halben Stunde fän gt der obligate VIP-Lunch an.Hoffentlich muß ich mich da mit all den B usinessmen und D iplomaten nichtunerträglich langweilen. Ü brigens war Grimm im Berlin von damals mit demBotschafter Amerikas befreundet.

Zu seiner Überra schung fand sich Fre em an bald in ein Gespräch m it ei-nem ihm ganz unbekannten M r. Jones verwickelt. Jones war e in schlan-ker, hochgewa chsener M ann um fünfzig, m it wachen, blauen Augenund kurzem blondem Haar. Seine Züge waren scharf und wirkten

doch ve rbindlich, wenn nicht gar leicht entgegenkom m end. Jones w arauf der Rückfah rt nach Pa ris, wo er vor e in paar Jah ren Pam ela Harri-

m an von ihre m Botschaftsposten ablöste.

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«Es war ja höchste Zeit, daß Pamela» — fing Jones ganz freimütig zu

plaudern an, indem er klar das erste a betonte — «von der Diplomaten-

bühne abtrat, Mr. — ach, wie war doch gleich Ihr Name?»

«Freeman, Harold Freeman.»

«Danke, Mr. Freeman, danke! Auf den Botschaftsparties, Mr. Free-man, plauderte sie in den letzten Jahren ihrer Amtszeit fast nur noch

von Averell, dem letzten ihrer Gatten, oder von <Sir Winston>, dem er-

sten ihrer Schwiegerväter. Sie war ja, wie Sie wissen werden, kurz mit

Randolph, Churchills Sohn, verheiratet gewesen. Averell und Winston

waren nun mal die Heroen ihres Lebens. Sie redete sich immer mehr

ins Feuer und übersah dabei das selbstverständlich sehr diskrete Gäh-

nen, das in schöner Regelmäßigkeit die Runde ihrer Gäste machte. —

Doch von Pamelas nicht enden wollendem Geschwätz einmal ganzabgesehen: Wo findet man denn heutzutage Staatsmänner und Diplo-

maten vom Format von Harriman und Churchill, Mr. Freeman? Ich

frage Sie ganz offen: wo? Diese Männer wußten noch, daß zu der wah-

ren Weltherrschaft nur unsere Rasse fähig ist, so wie es früher einst die

Römer waren. Das sagten sie, nicht wahr, nicht laut heraus, doch jedes

ihrer Worte trug den Stempel dieser Auffassung. Ihre ganze Politik

entsprang aus ihr. Wer versteht denn Churchills Handeln in Europa,der diesen Grundimpuls nicht kennt? Daß Europa höchstenfalls die

Rolle einer mittleren Provinz gewährt wird, ist für einen Churchill

sonnenklar.»

Nach kurzem Sinnen fügte Jones hinzu:

«Ja, ja, für lange Zeiten kam der stärkste Einfluß in Europa aus der

Themse. Heute wird Europas Zukunft jedoch hauptsächlich vom Poto-

mac beeinflußt, nicht wahr, Mr. Freeman?»

«Vergessen wir den Tiber nicht!» ergänzte dieser, ebenso wie Jonesden Stadt- und Flußnamen vertauschend.

«Sehr richtig, Mr. Freeman. Auch vom Tiber! Doch in weltpoliti-

scher Hinsicht ist Rom doch längst ein Teil von Washington geworden.

Liegt nicht die älteste der Jesuiten-Anstalten von Nordamerika in ei-

nem alten Vorort Washingtons? Ich rede von der Georgetown-Univer-

sität.»

«Ich weiß, wovon Sie reden, Mr. Jones, ich habe auf der Georgetown

meinen diplomatischen Degree erworben.»

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«Na, umso besser! Dann kennen Sie wahrscheinlich auch das Werk des

großen Quigley, des Georgetown-Lehrers unseres verjazzten Mari-

huana-Präsidenten? Wissen Sie, was Quigley in bezug auf unsere Pläne

zur Verwirklichung der Neuen Weltordnung gesagt hat? Er sagte: <Das

Rollen dieses Rades ist jetzt unaufhaltbar. Niemand kann mehr in die

Speichen greifen!> Das war natürlich auch die Auffassung von

Churchill und von Harriman gewesen oder die von Bush, und nach

dem Abgang dieses Hippie-Präsidenten» — Jones verzog bei diesem

Ausdruck abschätzig den Mund — «wird sie zweifellos bald wieder

auch im Weißen Haus einziehen. Keiner kann mehr in die Speichen

greifen: Wenn das die Europäer doch nur einmal begreifen würden. Ihr

Traum von Geistesfreiheit, Individualismus und Kultur oder wie die

großen Illusionen dieser Leute alle heißen mögen, wird ohnehin baldein für allemal begraben sein.»

«Könnten Sie vielleicht etwas konkreter werden, Mr. Jones?» fragte

Harold Freeman freundlich.

«Glauben Sie, der jüngste Balkankrieg wird umsonst verlängert? Ich

meine, künstlich prolongiert?»

«Es scheint tatsächlich, daß man weder in der UNO noch der NATO

wirkliches Interesse daran hat, auf dem Balkan einen anhaltenden Frie-

denszustand herzustellen. Als die NATO vor fünf Jahren beispiels-weise unweit Bihac Flugpisten der Serben bombardierte und die gleich

daneben stationierten Jagdflugzeuge allesamt verschonte, wurde man-

cher Zeitbetrachter stutzig. Nach zehn Tagen waren alle Pisten wieder

vollkommen instandgestellt. Ich greife selbstverständlich nur gerade

eins von Hunderten von Beispielen heraus. — Doch wem soll das pro-

longierte Elend nützen, Mr. Jones?»

«Natürlich, eins von Hunderten, wie Sie ganz zu Recht bemerken.Doch sehen Sie, mein lieber Freeman», Jones sog an seiner dicken me-

xikanischen Zigarre, «wir müssen immer Vordergrund und Hinter-

grund sehr deutlich auseinanderhalten. Jene, die bei NATO oder UNO

ganz im Vordergrunde stehen und all die Reden halten und Verträge

unterzeichnen, mögen auf dem Balkan manchmal wirklich Frieden

wünschen. Doch entscheidend sind natürlich nicht die Leute, die die

sogenannten Friedenspläne und -verträge unterzeichnen, sondern

jene, die sie konzipieren. Das sind die wenigen, die hinter den Kulissen

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wirken. Es gilt noch heute, was der große Disraeli sagte: Ganz andere

Leute spielen bei den Weltereignissen die maßgeblichen Rollen, als

jene meinen, die nie hinter die Kulissen blicken. Die Leute hinter den

Kulissen wissen selbstverständlich ganz genau, daß alle Pläne territo-

rialer Abgrenzungen, im Gegensatz zur allgemeinen öffentlichen Mei-nung, niemals zu dem Ziele führen können, zu denen sie angeblich

doch so sicher führen sollen, und daß sie in gewisser Hinsicht nichts als

Totgeburten, ja schon Tot-Konzepte sind. Diese Leute richten sich nach

völlig andern Plänen, nach Langzeitplänen, über die man heute

manchmal sogar in der Presse detaillierten Aufschluß findet. Doch das

wird zum Glück ja kaum jemals beachtet. Die meisten Zeitgenossen in-

teressiert doch nur, was hier und jetzt geschieht. Was sind denn fünf-

zig, hundert, tausend Jahre Zukunft für die Menschen? So viel wie fürdie Atheisten Gott! Was sich hier und jetzt vor ihrer Nase abspielt, ist

doch einzig und allein, was für die Massen zählt. In bezug auf solche

Dinge schläft die Menschheit auch im Wachen fest.»

«In diesem Punkte haben Sie bedauerlicherweise recht», gab Free-

man offen zu. «Die Welt ist wirklich nicht sehr wach geworden.»

«Nicht wahr, Mr. Freeman, so ist das doch, so ist das doch! — Neh-

men wir als Beispiel für gewisse Langzeitpläne Huntington und Beed-

ham. Huntington von Harvard hat vor Jahren die Behauptung aufge-

stellt, daß wir es nach Aufhebung des Iron Curtain im 21. Jahrhundert

mit einem Aufeinanderprallen der Kulturen und der Religionen zu tun

bekommen werden. Velvet Curtain nannte er, was uns damit in Aus-

sicht stehe. Bedenken Sie, die Sache wird in Fo reign Affairs abgedruckt.

Und er fügte seinen Ausführungen eine Karte bei, auf welcher mitten

durch das Kriegsgebiet von Jugoslawien jene alte Grenze läuft, die

einst den römischen vom slawisch-orthodoxen Glauben trennte. — Wis-sen Sie, wie alt die Grenze ist?»

«Sie ist ein Resultat des großen Schismas vom Jahre 1054», sagte

Freeman prompt.

«Bravo! Großartig! Man sieht, Sie waren nicht umsonst in Yale und

auf der Georgetown!» Jones sog und paffte mehrmals kurz und kräftig.

«Nun, diese Grenze wird jetzt wieder aktiviert. Der Balkankrieg wird

haargenau so lange fortzuführen sein, bis der Konflikt der beiden

christlichen Parteien miteinander — und natürlich auch mit der islami-

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schen Fraktion — auf ein relatives Maximum gesteigert ist, was Hand in

Hand mit ethnischen Polarisierungen geschehen muß.»

«Doch wem soll das Ganze nützen, außer jenen, die nach allen Sei-

ten Waffen liefern?» fragte Freeman.

«Mr. Freeman», sagte Jones und faßte seinen Partner kurz und ein-

dringlich ins Auge, «der Balkan muß in Unruhe gehalten werden, so-lange in Europa die Tendenz vorhanden ist, dort eine Politik nach eu-

ropäischer Manier zu treiben. Solang die Europäer noch die Neigung

haben, den Traum von Geistesfreiheit, Individualismus und derglei-

chen auch ins slawische Gebiet zu tragen. Und deshalb mußten wir

auch Deutschland in den Balkankrieg einfädeln. Das ist ja rasch und

leicht geschehen. Die Germans sind zum Glück im allgemeinen weit

gefügiger geworden, als sie es vor hundert Jahren waren. Man brauchtnur auf Berlin zu weisen und die Deutschen und die Welt dabei von

Zeit zu Zeit an die alte Reichshauptstadt zu mahnen — und Deutsch-

land wird vor Scham und Gram fast alles tun.»

«Es war gewiß politisch unklug von den Deutschen, nach der

Wende nach Berlin zu ziehen», meinte Freeman.

«Das kommt ganz auf den Standpunkt an, Mr. Freeman. Des einen

Dummheit ist des andern Chance. Das war von jeher so. Doch schwei-

fen wir nicht ab. Bleiben wir noch etwas bei den Plänen. Schauen Sie,vor ein paar Jahren erschien im Wirtschaftsmagazin — beachten Sie —

The Economist ein anderer Artikel, auch er mit einer Karte. Sie zeigte ei-

nen Kontinent, der Euro-America hieß, neben einem zweiten namens

Euro-Asia. Europa wird von neuem aufgeteilt. Und wie bei Hunting-

ton verläuft die Grenze auch entlang der alten Trennungslinie zwi-

schen römischer und orthodoxer Christenheit. Man braucht bloß einen

ganz bestimmten Punkt auf dieser Karte schärfer ins Visier zu nehmen,

um zu sehen, wie genial das Ganze ist.»

«Genial?» erkundigte sich Freeman höflich.

«Ich meine, welche Langzeitplanung hinter solchen Karten steckt.»

Jones klang etwas ärgerlich. «Fassen Sie auf dieser Karte nur Sankt Pe-

tersburg ins Auge.»

«Ich weiß: Es liegt in Euro-America.»

«Aha, Sie kennen diese Karte also. Umso besser! Nun ...?»

«Der sogenannte Große Peter», sagte Freeman, «der die Stadt er-

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baute, hat Rußland für den Westen aufgerissen. Dadurch konnten ganz

bestimmte westliche Interessen im slawischen Bereich zur Geltung

kommen. Doch das ist viel zu früh geschehen.»

«Man kann auch sagen: Gerade noch zur rechten Zeit. Sonst hätten

doch Europas Träume längst den ganzen Osten angesteckt! Auch hier-bei handelt es sich selbstverständlich um den Standpunkt, den man

einnimmt. — Auf jeden Fall enthält auch diese Karte ein Programm, das

eine ganz beträchtliche Vergangenheit besitzt und ganz gewiß noch

eine lange Zukunft hat. Das wußte auch ein Mann wie Bush, als er mit

Gorbatschow den Iron Curtain hob. — Sie waren, wie ich hörte, selbst in

Yale, nicht wahr? Nun, bei den jährlich rekrutierten <Bonesmen> wird

bekanntlich großer Wert darauf gelegt, die Weltgeschichte vom Ge-

sichtspunkt unserer Langzeitplanungen zu überblicken. Den letztenSchliff verleiht man ihnen dann in Georgetown und, nicht wahr, in Ox-

ford, wohin man sie mit einem Rhodes-Stipendium schickt. Schließlich

landen sie im CFR oder in der Redaktion von dessen Hausblatt Fore ign

Affairs.»

«Ein derartiger Aufstieg, Mr. Jones», setzte Freeman an zu scherzen,

«wird meiner Wenigkeit, da ich noch nie in Oxford war, wohl ewiglich

verschlossen bleiben. Und da ich auch nie <Bonesman> wurde, werdenmir die tieferen Geheimnisse der US- Planungen mit mindestens sechs

Siegeln fest verschlossen bleiben.» Freeman lächelte charmant.

«Nicht doch, Mr. Freeman», wehrte Jones entschieden ab. «Nicht

doch! Ein Mensch wie Sie braucht Oxford nicht. Das gewisse Know-

how haben Sie auch ohnedies schon in den Knochen!» Jones sah Free-

man von der Seite an, so daß ihm das harmonische Profil des jungen

Diplomaten auffiel. «Sie sind ein Bonesman, ohne daß Sie es erst

werden mußten— sozusagen ein geborener Bonesman eben.» Jones undFreeman lachten über diesen Witz. — «Doch kehren wir zurück: Glau-

ben Sie, Bush nannte diesen Jelzin nur so aufs Geratewohl hin einen

neuen Peter den Großen, vielleicht um ihm zu schmeicheln?»

«Ganz gewiß nicht, Mr. Jones.»

«Und glauben Sie, daß es ein Zufall ist, daß man seit den Achtzigern

in den USA wiederum vermehrt auf den Erbauer Petersburgs hin-

blickt? Massie, ein begabter Schriftsteller und Historiker — nicht wahr,

Sie werden ihn doch kennen —, hat viel dafür getan, in der Neuen wie

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auch in der Alten Welt ein neues <Peter-Klima> aufzubauen. All das

läuft ganz einfach in der Linie, die wir schon im sogenannten Testa-

ment des großen Zaren aufgezeichnet finden: die Zukunft aller Slawen

vom Westen aus zu dirigieren und zu formen. Dieser Leitgedanke

stand auch Pate bei der Vorbereitung für die <sanfte Wende>, die den

Sozialismus aus dem Osten fegte.» Jones hielt kurz inne und fuhr in

schwärmerischem Tone fort: «Ach, neunzehnhundertneunundachtzig!

Das war doch eine große Zeit! Aus mit dem sozialistischen Experiment,

das wir vor über hundert Jahren planten und 1917 starteten.» Jones'

Schwärmen steigerte sich noch. «Vor hundert Jahren war es losgegan-

gen. Sie kennen doch die Karte, die schon 1890 in der Wochenschrift

The Truth erschien? Europas Monarchien hatten darauf Republiken

Platz gemacht, während über Rußland nur der Ausdruck <Desert>stand. Das war ein öffentlich verkündetes Programm: in Rußland soll-

ten nach dem großen Krieg, den man für unvermeidlich hielt, soziali-

stische Versuche unternommen werden, welche sich die westlichen

Nationen nicht gefallen ließen, weil die schlicht enorme Biegsamkeit

und Fähigkeit zur Anpassung der Slawen ihnen einfach fehlt. Beden-

ken wir doch nur einmal: Punkt für Punkt ist das Programm verwirk-

licht worden! Ist das nicht ganz einfach fabelhaft!» Da Freeman

schwieg, fuhr Jones in ruhigerem, fast ernstem Tone fort: «Doch 89 gabes auch gewisse Risiken. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, wie da und

dort die alten Phrasenideale der Französischen Revolution auftauch-

ten. Durch einen Mann zum Beispiel, welcher Heinrich oder ähnlich

hieß. Und als dann derart unverfrorene Leute wie Heerhauser und

Rauhwetter in Deutschland glaubten, im Osten miternten zu können,

was wir — natürlich mit der Unterstützung Roms — von langer Hand im

Westen säten, da mußte selbstverständlich eingegriffen werden. IhrTod war eine klare Botschaft an die Europäer, die ihren Traum von kul-

tureller oder wirtschaftlicher Unabhängigkeit in den Osten tragen wol-

len. Wie sagte doch Brzezinski, unser zuverlässiger Kanal nach Rom:

<Möglicherweise wäre die Botschaft, die Europa der Welt vermitteln

könnte, ein Extrakt der guten Seiten des amerikanischen Way of life

ohne seine schlechten.>

Das sagte er wortwörtlich, Freeman. Und es war gut gesagt! Anders

gibt es keine Zukunft für Europa! Das sollten sich die Europäer endlich

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hinter ihre Ohren schreiben! Je eher, desto besser.» Jones drückte bei

den letzten Worten den Stummel der Zigarre gründlich und energisch

in den Aschenbecher.

«Mr. Jones, ich glaube nicht, daß diese Dinge ohne weiteres in der

von Ihnen aufgezeigten Richtung weiterlaufen müssen», bemerkte Free-

man und war selber überrascht, wie gelassen und doch sicher diese

Worte über seine Lippen kamen.

«Ach, das habe ich in Ihrem Alter auch bezweifelt, Freeman. Doch

warten Sie bloß ab: fünf Jahre weiter in dem Job, und Sie werden selber

konstatieren, auf welcher Linie sich die Schwerpunkte der Macht be-

wegen. — Sie bleiben doch im diplomatischen Dienst?» fügte er nach

kurzer Pause fast etwas unsicher hinzu.

«Wir werden sehen», sagte Freeman ruhig.«Wir werden sehen», wiederholte Jones, halb fragend, halb in Zu-

versicht, und fuhr, wie um sich selber abzulenken, zu reden fort. «Im

übrigen, schauen wir uns einfach nüchtern an, wie die Chancen stehen:

Die Karten und die Langzeitpläne, von denen wir gesprochen haben,

werden ja von niemand ernstgenommen. Deshalb können sie so leicht

verwirklicht werden. Sie können leicht die Probe aufs Exempel ma-

chen: Sie brauchen einem aufgeklärten Menschen von diesen Dingen

nur ganz offen etwas anzudeuten, und er schleudert ihnen gleich das

Wort <Verschwörungstheorie> entgegen, wie wenn Sie ihn mit Dreck

beworfen hätten. Die <Aufgeklärten> schlafen tief. Am meisten, wie es

scheint, die Staatsmänner Europas, und zwar zum großen Teil durch

Schlafmittel, die wir ihnen verabreicht haben, wie Marshall-Hilfe, deut-

sches Wirtschaftswunder, Europäische Union, Euro und wie sie alle

heißen mögen ... Gut so! Nun, was wollen Sie: Die Dinge, die wir pla-

nen, werden heute unverblümt und öffentlich geäußert — ernstgenom-men werden sie fast ausschließlich von jenen, die wir mit der Aus-

führung der Planungen betrauen. Sie sehen also: eine gute, ja vielleicht

die beste Tarnung solcher Pläne ist es heute, sie ganz öffentlich be-

kanntzugeben. Dadurch lenken wir am besten ab von ihnen und kön-

nen uns ganz ungestört der Arbeit widmen.» Im Sattel seiner An-

schauungen nun scheinbar unverrückbar installiert, schien Jones die

Mischung aus Zynismus mit jener Form von Überlegenheit, an der sich

seinesgleichen zu erkennen pflegt, in vollen Zügen zu genießen.

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«Machiavelli würde sich an Ihren Ausführungen sicherlich ergöt-

zen, Mr. Jones», meinte Harold Freeman ruhig und ohne jede Absicht,

Einwände zu machen.

«Ich danke für das Kompliment», sagte Jones, als er von einer Dame

angesprochen wurde. «Entschuldigen Sie mich bitte, ich vergaß, daß

ich von meiner Frau erwartet werde.» Nach kurzer Vorstellung botJones der eleganten Gattin sehr galant den Arm und entfernte sich mit

ihr. «Fortsetzung muß folgen», sagte er, während er sich nochmals um-

wandte und Freeman einen kurzen, vieldeutigen Blick zuwarf.

Harold Freeman suchte noch die Grill Lounge auf und zog sich bald

darauf zurück. Er beschloß, den Abend ohne jegliche Gesellschaft inder Außenbordkabine zuzubringen. Er genoß die Stille, die ihm un-

störbar erschien und die vom leisen Summen der Motoren gleichsam

einen dauernden Akzent erhielt. Für eine unmeßbare Weile versenkte

er sich in die Essays Emersons. Später las er in den Grimmschen

Goethe-Vorlesungen, und zwar auf deutsch. Beides regte ihn, wie im-

mer, intensiv zum Schreiben an. Was lag näher, als den angefangenen

Bericht an Fiona fortzusetzen? So begann er seinen zweiten Brief an

seine ferne Freundin:

M eine allerliebste F iona,

Du machst D ir keine Vorstellung davon, was ich heute nachm ittag schon aufdem Schiff erlebte. Kaum hatte ich den R aum betreten, in welchem für die ein-geladenen VIP s der traditionsgemäße A nkunftscocktail offeriert wird, sprachmich ein M r. Jones an — wah rscheinlich hat ihn O nkel Alfred auf mich auf-merksam gem acht. Dieser Jones verwickelte mich auf der Stelle in ein fesseln-des, doch auch beklemmendes Gespräch. Das heißt, im G runde war es kein Ge-spräch. Er sprach, ich ließ ihn reden und machte nur v on Zeit zu Zeit die eine

oder andere B emerkung. Jones gehört zu jenen Leuten, die von der Ü berzeu-gung fest durchdrungen sind, daß die U SA ge genwä rtig und in Zukunft zurW eltherrschaft berufen seien. Er kennt die Perspe ktiven der Entw icklungganzer Völker und ist ein Advo kat des großen Brückensch lages in den O sten,

der ohne die Ve rmittlung von Europa straff «gemanagt» werden soll, um mich

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seines Ausdrucks zu bedienen. Er sprach von alten und von neuen Karten,vom sozialistischen Experiment, dem jetzigen B alkankrieg, vom europäischenTraum von G eistesfreiheit, von der Zukunft von Europa. Und was für eineZukunft! Europa als Vorzeige-Amerika, nur mit den Sonnenseiten des großenBrud ers in der Neuen Welt! Es könnte einem schwindlig werden vor so vielWeitsicht und zugleich B orniertheit!

All dies ist uns ja an sich schon lange wohlbekannt. Und doch: Nun selberzu erleben, wie solche Ü berzeugungen konkret in einem M enschen leben, hatschon etwas Erschütterndes. Solche M enschen glauben nur an eines, an dieM acht. Als ich zum Ausdruck brachte, daß sich M achiavelli an seinen A us-führungen freuen würde , fühlte er sich sehr geschm eichelt.

Jones faßte offenbar zu mir ein ziemliches Vertrauen. Denn er sprach ganz

offen und ho fft auf F ortsetzung der U nterredung. Ich war natürlich wie ge-wohn t zurückhaltend und freundlich. Nur einmal gab ich zu verstehen, daßdie Langzeitpläne, von denen er fast unaufhörlich redete, in Zukunft vielleichtnicht so ohne w eiteres verwirklichbar sein würden wie bisher. Er winkte ab,verwies auf die enorme Schläfrigkeit der Zeitgenossen, womit er ja auch leidergar nicht unrecht hat. Ich konnte ihm natürlich nicht von den ganz an derenLangzeitplänen sprechen, die jene Planungen, die er und seinesgleichen selbst-verständlich für die einzig relevanten halten, weitgehend durchkreuzen wer-den. Ich will es ganz konkret ausdrücken: Das ganze M oltke-Schicksal stelltesich mir während seiner Ausführungen vor die Seele. Im Grunde sagte Jonesja eigentlich nichts anderes als: Was P apst Nikolaus im 9. Jahrhundert au sweltgeschichtlicher Notwe ndigkeit in den O sten wie auch in den W estenschieben mußte, damit Europa sich für eine Weile (vom O sten und vom W e-sten) ungestört entwickeln konnte, was dann zum Schisma von 10 54 und dasheißt zur kulturellen W est— O st-Spaltung im Abendland geführt hat, das soll

heute und in Zukunft nicht durch Europa w ieder aufgehoben werden, sondernin veränderter G estalt als G egensatz verhärtet bleiben. Da s w idersprichtnatürlich ganz real den Z ielsetzungen, mit denen jene Individualität, die erstin Nikolaus und dann im jungen M oltke wirkte, von neuem w irken wird, jawie ich fühle, doch schon heute w irkt. Diese Individualität wird, wie wir durchden großen Lehrer wissen, am Ende des Jahrhunderts, also jetzt, mit aller Gei-steskraft für einen neuen Brückenschlag, der West und O st verbindet, die star-ken F undamente legen. Doch dies der große U nterschied: Die Jones-Brücke

hat nur zwei P feiler, einen westlichen und einen östlichen. Die M oltke-Brücke

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wird drei Pfeiler haben, der dritte in der Mitte wird aus europäischer Substanz

gebildet (wobei ich «europäisch» nicht rein geographisch meine); sie hat zweikleine B rückenbögen, die jeweils in Europa enden u nd beginnen. Jones undseinesgleichen wo llen nur den großen B rückenschlag und glauben ohne M it-telpfeiler auszukommen. Doch diese Brücke «trägt» nur — Leid und Katastro-

phen. Du siehst, das alte «divide et impera» (trenne und herrsche) auf der ei-nen, M oltkes Trennen un d Verbinden auf der anderen Seite.

Ü berhaupt: stehen nicht die F euerworte Trennen und V erbinden über demgrandiosen Schicksalsgang der M oltke-Individualität geschrieben, wenn m anihre jüngsten drei Verkörperun gen (einschließlich der jetzigen) ins Auge faßt?

Als M oltke noch vor hundert Jahren am Hof des Zaren seinen Handschuh fal-len ließ, war es w ie ein Aufblitzen der früheren M ission, dem O sten Fehde an-

zusagen. Wenn man aufmerksam betrachtet, wie er dann den orthodoxen Kul-tus miterlebt und schildert, so zeigt s ich darin scho n d as W etterleuchtenseiner späteren, und das heißt doch seiner gegenwärtigen M ission: Im Bu ndemit dem wahren deutschen Volksgeist — der mit dem deutschen G egenvolks-geist, der im Hitlerismus wirkte, freilich nichts zu tun hat — wird die M oltke-Individualität verbinden helfen, was sie einst zu trennen hatte.

Die ganze we lthistorische Dimension des G eisteskamp fes, in welchem w irdarinnenstehen, geht mir jetzt in vollem M aße auf. Allem äuß eren politischen

G eschehen der G egenwart liegt auch dieser Geisteskampf zugrunde.Leute wie der Jones, sie glauben: Allein, was sich mit M acht durch setzt, sei

das wirklich Wahre oder w ahre W irkliche, und zwar für alle Zeiten. Doch sierechnen nicht damit, daß das, was heute mächtig ist — und dieses Heute magvielleicht Jahrhunderte umspannen — , schon morgen seine Ma cht verlierenkann. Und vor allen Dingen rechnen sie nicht mit der M acht der Wahrh eit. (Sieist die einzige, von der man Ew igkeit behaup ten kann.) Desha lb hat es solchen

M enschen gegenüber wenig Sinn, mit Argumenten der Vernunft zu kommen.Liebste Fiona! Als ich dann in die Kabine kam, mußte ich mich erst einmal

bei Emerson und G rimm erholen! Ich schlug bei Emerson den Satz auf.• «DieDinge, die w irklich für dich bestimmt sind, grav itieren auf d ich zu.» Das giltfür das, was un s von au ßen trifft, nicht minder als für das, w as auf dem Schau-platz des Bew ußtseins, diesem wu nderbaren Sanktuarium des M enschen, auf-

tritt. So gravitierte heute Jones von auße n auf m ich zu. Nun m öchte ich D iraber auch noch nä her schildern, was schon seit Tagen aus dem Innern zu m ir

gravitiert.

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Da s Neujahrserlebnis brachte mich, wie schon gesagt, in eine m ir ganzneuartige Reinkarnationsstimmung hinein. Ich meine: vieles w ird mir wo hl innächster Zeit von damals (und von o ben) aufgehen, damit ich meine Au fgabeerfül len kann. M it dieser St imm ung lese ich nun Em erson und G rimm. Ich

achte nun genau auf manche ihrer Ä ußerungen, welche w ie durch unsichtbareF äden m it ihren früheren Verkörperungen verbunden sind. Bedenke nu r:Grimm lebte ja als Plinius der Jüngere, w ie unser Lehrer zeigte, und dan n alsBeatrix von Tuscien; Em erson als der von Plinius so hoch verehrte Tacitus, derspäter als die Tochter dieser Beatrix verkörpert wurde (= M athilde). Bedenkeferner: In einem Brief an Tacitus schildert Plinius dem Freund als

Augenzeuge, wie beim berühmten Ausbruch des Vesuvs im Jahre 79 auch derältere Plinius, sein O nkel, umgekomm en w ar; in allen Einzelheiten. Er hat

also den A usbruch des Vesuv s erlebt, kurz nachdem er achtzehn Jahre alt ge-worden w ar. Und jetzt lasse Dir einmal den folgenden Vergleich, den HermanG rimm bezüglich G oethe macht, durch D eine Seele ziehen. «Go ethe hat imgeistigen Leben Deu tschlands gewirkt, wie eine gewaltige Naturerscheinungim P hysischen ge wirkt hätte. Unsere Steinkohlenlager erzählen von Zeitentropischer Wärm e, wo Palmen bei uns wuch sen. Unsere sich aufschließendenHöhlen berichten von Eiszeiten, wo Rentiere bei uns heimisch w aren. In un-geheuren Zeiträumen vo llzogen sich auf dem deu tschen Bod en, der in seinemheutigen Zustande so sehr den Anschein des ewig Unverä nderlichen trägt,kapitale Umwä lzungen. Der Vergleich also läßt sich ziehen, daß G oethe auf diegeistige Atmosph äre D eutschlands gew irkt habe etwa wie ein tel lurischesEreignis, das unsere klimatische Wärme um so und so viel Grade im D urch-schnitte erhöhte.»

Nimm die von mir unterstrichenen A usdrücke zusamm en, und D u w irstsehen: abgesehen davon, daß sie in Bezug auf G oethe dem gedanklichen Geh alt

nach d urchau s treffen, ist der auf ihnen ruhen de Vergleich vielleicht geradedeshalb de rart wirkungsvoll , weil er aus einer t ief verschütteten Erlebnis-schicht von G rimm selbst inspiriert ist. Wir haben es daher mit einem nichtnur objektiv (in Bezug auf Goethe), sondern auch noch subjektiv (in Bezug aufG rimm selbst) tief begründeten M etaphernbau zu tun.

Ist dieser Ausbruch des V esuvs im übrigen nicht wie ein Realsymbol dafür,

daß die M enschen während ein paar tausend Jahren — insgesamt betrachteteine kurze Zeit! — das Sch icksal haben sollten, die Erlebnisse, die sie in frühe-

ren Erdenleben durchm achten, verschüttet zu bekommen?

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Un d nun stelle noch das folgende daneben. Wie Emerson an G rimmschrieb, hatte er in seinem A lter kaum mehr H offnung, nochmals in die A lteWelt zu kommen, wiewohl er G rimm sehr gern getroffen hätte. Was veranlaßtnun die Reise, die im F rühjahr 187 3 zum Treffen beider M änner in Florenzführt? D er Brand des H auses Emersons in Co ncord! (Ich stand in diesem

Haus einst tief beeindruckt vor dem K upferstich, der den Vesuv-Ausbruchdarstellt, wie Du D ich gewiß erinnerst.) F reunde wo llten für den Neubau sor-gen und finanzierten dem nun plötzlich obdachlos Gew ordenen eine uner-wartete Europareise, mit einem «U mweg» nach Ägypten. Auch hier, welch eingewaltiges Realsymbol: bevor er jenen M enschen trifft, der ihm durch zweivergangene Erdenleben am allernächsten stand, hat Emerson gewissermaßeneine Feuerprobe durchzumachen. Der Brand des Hauses rief ihm w ie mit ei-

nem Ruck die völlige Vergänglichkeit von allem, was persönlich ist, von allem,was in jedem M enschen an ein Hier und Jetzt gebunden ist, ins Bew ußtseinoder in Erinnerung. Zugleich erweckte er in seiner Seele ein Bew ußtsein des-sen, was in jedem M enschen unvergänglich ist und jedes F euer überdauert.Das ist nun aber jenes Selbst, das sich schon o ft verkörpert hat und auch nochoft verkörpern wird. Jetzt erst, nachdem er gleichsam Zeuge der Zerstörungder gewöhnlichen Persönlichkeit geworden war — das Haus, das niederbrennt— , durfte Emerson dem Freund begegnen!

Wir alle werden lernen m üssen, eine solche feurig-unpersönliche G e-stimmtheit zu entwickeln, wenn w ir das Verlangen haben (das nur in solcherWeise ein geweihtes wird), zu den oft unter einer dicken Lavaschicht wie M u-mien konservierten, längst vergessenen Erlebnissen hinabzustoßen , welcheuns aus früheren Verkörperungen aneinander binden.

Es ist schon merkwürd ig: umgeben von den Wassermassen dieses Ozeansbelebt sich mir der Sinn für das Zerstörende sowie Befreiende des F euers in derWelt! Be lebt sich mir erneut der Sinn für die umfassen de, die wahrhaft feurigeG eschichtswahrheit von Reinkarnation und Ka rma. Nun, Du w irst daran er-messen können, w ie sehr mich diese Tage aus dem Phlegma weckten, in das ichinnerlich trotz aller Hektik meines äußeren Daseins in letzter Zeit zu stark ge-raten bin. Doch daß ich nun in solcher Stimmung bin — ich deute es als Vor-zeichen von baldigen Begegnungen, zu denen sie mich vorbereiten. —

Noch eine andere Entdeckung habe ich gemacht. Grimm stand im Mittel-alter zum späteren Freunde Emerson in einem sehr harmonischen Verhä ltnis

(als M utter zu der Tochter). Blutsverwandt und fest verbunden, standen beide

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F rauen, die von echter Religiosität getragen un d befeuert wurden , inmittengroßer zeitgeschichtlicher Ereignisse und Um wälzungen. Zum ReformpapstGregor p flegten sie sehr freundschaftliche Beziehungen. Zu ihrem Schloß C a-nossa, wo sich Gregor aufhielt, begab sich Kaiser Heinrich IV, um sich nach

dreitägigem W arten in Kälte und in Schnee reu ig vor dem Pap st zu beugen.Was wird aus dem Familiensinn, den beide Frauen dergestalt inmitten die-

ser Zeitereignisse in schönster Weise kultivierten? Er metamorphosiert sich inden Sinn für geistige F amilienbildung, für das, was Go ethe so schön «W ahl-verwan dtschaft» nennt. Weißt D u, was Herman G rimm einmal an seinenF reund, den w eltberühmten Geiger Joseph Joachim, geschrieben hat? Erschrieb ihm eines Tages: «Es ist mir ein wahrer T rost, daß Du mich nicht ver-ehrst, dabei kommt nie etwas G utes heraus (...) Kein M ensch steht über dem

andern , es ist uns aber erlaubt, Fam ilien geistig zu bilden, und da m ögen ei-nige näher beieinander stehen und andere w eiter ab, in dem Sinne laß uns zu-einander halten.» Du siehst: sein physischer Familiensinn von einst wandeltsich zum Sinn für geistige Familienbildung um. All das muß man vo m M eta-morphose-Gedanken Goethes aus betrachten. Die Zeit ist da, die GoethescheZentralidee auch a uf die wah re seelisch-geistige Entwicklung anzuw enden,die sich durch die Erdenleben zieht. Was bleibt sich gleich? — so müssen w ir

uns au f der einen Seite fragen. Was zieht sich gleichsam als ein roter F adendurch? U nd was wandelt sich in dem, was gleichbleibt? Auf beides muß manachten lernen. Es wird nun Erdenleben geben, da überwiegt das letztere, an-dere mit mehr von dem, was gleichbleibt. Selten werden die Verkörperungensein, in welchem beides miteinander au sgeglichen au ftritt. Wenn ich a n diewahrverwandten* F reunde von damals und von oben denke, welche ich baldfinden werde, dann werde ich sie wohl an einem leichten Ü bermaß von G leich-gebliebenem erkennen. W arum ich m ir das solcherart vorstelle, sollst Du ein

nächstes Ma l erfahren.

Nun, Liebste, lebe wohl! Durch das Schreiben dieses Briefes habe ich mich aus-geruht und vollkommen erfrischt — doch nur, weil ich der Resonanz in DeinemHerzen ganz gewiß sein kann.

* Ich ha be m ich ver schrieben; doch is t «wah rverwa ndt» nicht hübsch? — Ich will

künftig im m er e inen unteren Rand freilass en — für Fußnoten von so lche r o der auchseriösere r Art. Der a lte Do ktor s teckt mir noch im Seelenleibe.

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Haro ld Freem an trat ans Fenster der Kabine. Draußen war e s Nach t ge-worden. Der Orion, hell und funkelnd, wogte leise auf und ab.

Als Freeman bald darauf den Schlafanzug aus seinem Koffer zog,

glitt ein Buch heraus und kam voll aufgeschlagen auf den Fußboden

vor ihm zu liegen. Er h ob e s auf und las: «Lese n wir die Briefe des jün-gere n Plinius: dies Ge sch wätz, diese ineinande r verfloch tenen Nichtig-keiten, lauter Privathändel, nirgends Sinn für den Gang der öffentli-

chen Angelegenheiten und mitten in diesem fruchtlosen Treiben die

ersten Christen!» Freeman klappte, fast wie leicht erschrocken, das

Buch nach dies en Sätzen wiede r zu und legte e s zurück in seinen Ko f-fer. Er griff nochmals zur Feder und fügte seinen letzten Zeilen an

Fiona bei:

P.S. Als ich nach diesem so ereignisreichen T ag soeben zu de n Sternen w ollteund den Schlafanzug aus meinem Koffer holte, fiel Grimms Roman Unüber-windliche M ächte heraus und blieb vor meinen Füß en liegen, und zwar auf-geschlagen. (Ich hatte ganz vergessen, das Bu ch nach m einer letzten Reise aus-zupacken. Das kommt davon, w enn man den R eisekoffer in der Eile nach derRüc kkehr nicht ganz leert ...) Du weißt, ich bin nicht abergläubisch, aber wen n

der vielverkannte Zufall in einem B uche blättert und vor einem eine gan z be-

stimmte Seite aufschläg t, dann lohnt es sich, den Blick darauf zu richten. Nun,was las ich? Eine der R omanfiguren, ein A merikaner, zieht tüchtig über Pli-nius den Jüngeren vom Leder! Dessen Briefe nennt er schlicht Geschwätz, völ-l ig leere Nichtigkei ten, P rivathändel usw . , und dan n spricht er no ch demM anne jeden Sinn für öffentliche An gelegenheiten ab! Dabei war P linius einhoher Staatsbeamter, im Jahre 100 K onsul, und Trajan schickte ihn zum Zei-chen seiner W ertschätzung als Statthalter oder als «Finan zstratege», wie wir

heute sagen würden, nach Bithynien, wo er ein paar Jahre später starb. DenkeD ir: Plinius, erneut verkörpert, stellt in dichterischer Ph antasie den alten P li-nius als einen Schwä tzer hin! Ich erschrak vor innerem Entzücken über daszutiefst Gesunde , das darin zum A usdruck komm t. Es zeigt sich eine herrlicheDistanz der Individualität zur abgelegten irdischen P ersönlichkeit von da-mals. Keine Spur von Kokettieren. So muß es sein. Und auch, w enn G rimmsPersönlichkeit in seinem oberen Bew ußtsein die Idee der Reinkarnation nichtin allem Ernste faßte: der große D ichter-Träum er in ihm wuß te es viel besser

und sorgte auch schon für die nötige Distanz, die man zum eigenen D amals

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braucht. Was kann ma n nicht von diesen Dingen lernen! Wen n die Literatur-studenten unserer Co lleges künftig über solche Themen sinnen werd en, dannwird es m it dem G eistesleben vielleicht allmä hlich w ieder aufwärts gehen.Vielleicht! Nun a ber gute Nacht!

«Bonjour , M onsieur Freem an», hör te le tzterer , am Frühstückstisch derGrand Lounge eben mit dem köstlichsten Gebäck beschäftigt, unver-

mittelt eine ihm nicht unbekannte Stimme sagen. Es war Mrs. Jones,

die ihn in freundlichs tem Französisch a ngere det ha tte.«Ge statten?» se tzte deren G atte oh ne abzuwa rten gleich h inzu, und

auf das freundlich-stumme Nicken Freemans setzte sich das Ehepaar

an seinen Tisch.«M eine Ga ttin ist gebürtige Fra nzösin», sa gte Jones , wie um auf eine

ungeäußerte Vermutung Freemans einzugehen. «Sie freut sich sehr,

bald wiede r he im atliche n Bode n zu betreten, nicht wah r, Na dine?»Mrs. Jones strahlte ganz vor Freude und begann von Frankreich,

insbesondere natürlich von Paris zu schwärmen.

«Ist Paris nicht im m er noch das Bijou aller M etropolen? Wo so nst in

diese r We lt gibt es e ine so lche Ansam m lung von Beauté?» Als Free m annur mit einem wenig aufschlußreichen Lächeln nickte, fragte Mrs.

Jones: «Sie kennen doch die Seinestadt, M r. Freem an?»«Leider habe ich von dieser zweifellos sehr schönen Stadt bisher

kaum mehr gesehen als einige Fassaden ausländischer Botschaftshäu-

ser», gestand nun dieser ebenso galant wie höflich. «Außerdem sind

mir noch Impressionen von sehr imposanten Straßenzügen, Monu-

menten, noblen Konferenzsälen und Hotelzimmern in Erinnerung ge-

bliebe n. — U nd natürlich a uch vo n tristen Be ttlern in der M etro und a nStraßenecken.»

«Quel horre ur!» r ief M rs. Jones in echtem Schrecken aus. «Da sieh tman wieder einmal», sagte sie, mehr zu ihrem Ehemann gewandt als

zu Harold Freem an, «wie ba rbar isch do ch das Diplom atenleben is t.»Und sehr entschlossen, wie in plötzlicher Erkenntnis einer wichti-

gen M ission, fügte s ie h inzu:«Ich werde Ihnen diese Prachts tadt zeigen.» Freem an nah m das An-

gebot m it Freuden a n.

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Dann zog er seinen Füller aus der Westentasche, lächelte geheim-

nisvoll, legte ihn in beinah feierlicher Geste mitten auf den Tisch und

ergötzte sich an der erwartungsvollen Spannung, die er dadurch schuf.

«Wenn auch meine Kenntnis von Paris bis jetzt sehr dürftig ist», fing

er nun nach einer kleinen, wohldosierten Pause an, «ich wage zu be-

haupten, daß ich mit dem Volksgeist Ihres Landes dennoch längst auf

recht vertrautem Fuße stehe.»

Mrs. Jones sah ihren Gatten, dessen Züge, wie fast immer, wenn er

nicht sogleich begriff, undurchdringlich wurden, mit einer Mischung

von Belustigung und Neugier an.

«Es ist ein Waterman», fuhr Freeman fort. Er genoß es, die Erwar-

tung bis zum Höhepunkt zu steigern. «Wissen Sie, was man in den Un-

tergrundstationen der Pariser Metro an den Wänden lesen kann? In be-zug auf diesen Füller selbstverständlich. Ich will es Ihnen sagen: En

attendant la gloire, j 'ai déjà un W aterman.»

Als er sah, daß das noch nicht genügte, erklärte er:

«In diesem Werbeslogan, Mrs. Jones, steckt ein Schlüsselwort zum

wirklichen Verständnis dieses Volksgeistes von Frankreich. Ist nicht

die Gloire das nie erreichte Zentrum, um das sich alles, was jemals im

Franzosentum gelebt hat, immer drehte? Überstrahlt nicht Frankreichs

Gloire im Grunde alles andere, was sich ein wirklicher Franzose alshöchste Werte seines Landes denken kann?»

«C'est magnifique! Comme c'est magnifique! Sie haben völlig

recht!» rief Mrs. Jones in freudigem Entzücken aus. «Nicht wahr, Er-

nest?» wandte sie sich an den Gatten, der eine Braue leicht gehoben

hatte und Freemans Äußerungen einer Art von wohlwollender Vor-

prüfung zu unterziehen schien.

«Könnten Sie sich denken, daß man in den USA versuchen würde,in der Werbung für ein Schreibgerät an eine Vorstellung von Gloire zu

appellieren? Oder daß in Deutschland einer an den Ruhm zu appellie-

ren suchte, um Tintenfüller zu verkaufen? Man braucht den Spruch

nur in verschiedene Sprachen umzusetzen, um zu sehen, daß er nur

französisch, nur Franzosen gegenüber möglich ist und Resonanz er-

wecken kann. Was ist denn Gloire? Das Wort ist gar nicht übersetzbar.

Man könnte es vielleicht umschreiben: Es ist der Glanz, in dem

auch leichter Stolz mitschwingt, in der Welt etwas Bedeutendes zu

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sein. Auf diesen stolzen Glanz baut sich das Nationalgefühl in Frank-

reich auf.» Und während er den Füller wieder in die Tasche steckte,

fuhr er , fast m eh r illustriere nd als beleh rend fort: «M ein Onkel hat m ireinmal von den Schlachtenbildern, die im Schloßmuseum von Versail-

les zu seh en sind, berichtet. Vo n jede r Schlacht, die vo n Napo leon ge-wo nnen wurde, finden sich Ge m älde dort. Kein einziges vo n Wa terloo .We r die G loire sucht, geh t den glanzlose n Etappen se ines W eges — ausdem Wege.»

«Das ist Charakteristik, nicht Kritik», fügte er nach einer kleinen

Pause, mit einem sehr charmanten Lächeln zu Mrs. Jones gewandt,

hinzu.

«Ah, quel esprit, Ernest!» entfuhr es dieser in natürlichem und dochbeherrschtem Überschwange. Und zu Harold Freeman sagte sie, denganzen eigenen Ch arm e a ufbietend:

«Ich habe niem als e inen M enschen angetroffen, M onsieur Freem an,der m ein Land so s chlecht und dess en Ge ist so gründlich kennt wie Sie.»

M adam e Jones h ob rasch die Kaffeetasse h öchst graziös an ihre Lip-pen, trank den le tzten kleine n Schluck und blickte a uf die U h r.

«O m on Dieu, bereits so spät!»

Darauf em pfah l s ie s ich m it der Bem erkung, s ie werde im Coiffeur-salon e rwartet , und über l ieß die beiden M änner ihrem Schicksal .

«Darf ich verm uten», setzte Ha rold Freem an das Ge spräch m it seinemGe genüber fort, «daß Ihnen Frankreich ebens o ge fallen wird wie Ihre rGa ttin, M r. Jone s?»

«Ach, wissen Sie», gab Jones zur Antwort, «für einen Mann wie

m ich ist es im Grunde e inerlei, in we lch er Stadt er lebt. Ich w ar in Pe-

king, Moskau, Rom und Barcelona, um nur ein paar der Städte aufzu-zählen, in dene n ich bes chäftigt wa r. Zuletzt in Wa sh ington, wo ich vordreißig Jahren die Karriere startete. Und nun wird es halt Paris sein.

Ge wiß, wer liebt die Sch ätze nicht, die Paris zu bieten h at? Do ch ge benwir uns keiner Täuschung hin: Frankreich ist ganz museal geworden;

es sitzt am Völkerbaum auf einem Ast, der deutlich absteigt. Das Ro-

manentum ist in der Dekadenz: Das ist in England schon seit hundert

Jahren oder mehr die Formel für die Grande Nation. Unsere bisherige

und künftige Politik verläuft natürlich ganz im Sinne dieser Formel.»

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«Und diese Formel ist ein Hebel zur Verwirklichung der Politik desgroßen Brückenschlages in den Osten», ergänzte Freeman.

«Das seh en Sie ganz r ichtig. Frankreich ha t uns m eh r genützt als diemeisten anderen Nationen von Europa, ausgenommen Deutschland

selbstverständlich. Wer trug am meisten zur Verwirklichung der Eu-

ropäischen Union bei? M onnet, Schum an, Delors .»«Und der Monnet-Schuman-Plan wurde in den USA geboren und

fand die vo lle B illigung des Va tikans.»«So ist es», fuhr Jones fort. «Die Politik des Vatikans geht mit der

unsr igen wie im m er Ha nd in Hand.» Jones s chenkte s ich e in Gläsche nCognac ein und fuhr dann fort:

«Sehen Sie, schon Monnet, der ja lange bei uns in die Schule ging,

sah ganz klar: Was die Europäer brauchen, sind feste, unumstößlicheInstitutionen - zunächst wirtschaftlicher, dann politischer Natur -, die

Europa in den Schranken halten. Denn auf einzelne ist nie Verlaß.

Auch nicht, wenn sie in unsere m Sinne h andeln. Die Individuen tretenauf und ab. Nur was institutionalisiert ist, kann von Dauer sein. Das

war vielleicht die eigentliche Kernidee von Monnet. Und auch ein

Delors hatte diese Auffassung; schon sein Katholizismus legte sie ihmnahe .»

«Im Arbeitszim m er vo n Delors», warf Freem an e in, «hing übrigensein Bild von M onnet, und zwar als e inziges.»

«Na, sehen Sie, wie gut das harmoniert: Institutionen, Franzosen,

die Kirch e ...»«... und die Lo gen», fuh r Fre em an w ie beiläufig fort.«Meinen Sie den Grand Orient de France?» wollte Jones ganz un-

vermittelt wissen und faßte Freeman eindringlich ins Auge.

«Zum Beispiel auch den Grand Orient de France», bejahte Free m anin bewußter Unbestimmtheit.

«Nun seh en Sie, das m eiste, was im Grand O rient getr ieben wird, is theutzutage selbstverständlich Firlefanz; wie in den allermeisten ande-

ren Logen. Doch ist es nicht zu leugnen, daß diese Bruderschaft noch

im m er e ine Ro lle in der P olitik spielt . Im übrigen» - Jone s ' Züge nah m enplötzlich einen etwas mysteriösen Ausdruck an - «macht es ganz den

Anschein, daß sich der Grand Orient gegenwärtig, nun, sagen wir, re-

generiert, in einer ganz bestim m ten Weise.»

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«Könnte man darüber vielleicht Näheres erfahren?» wollte Freeman

wissen.

«Das könnte man gewiß. Jedoch nicht hier und jetzt. Morgen abend

trifft sich ein gewisser Club. Es dürfen Gäste kommen. Ich mache Sie

mit einem alten Freund bekannt. Ich darf Sie doch erwarten?»«M it Vergnügen, M r. Jones .»«Um acht Uhr in der Chart Room Bar.»

«Abgemacht — und grüßen Sie mir unterdessen Ihre Gattin.»

Freeman machte einen Rundgang auf dem Promenadendeck. Es war

inzwischen elf geworden. Die See war ruhig. Das leise Surren der Mo-

toren wirkte wiederum auf ihn fast angenehm-beruhigend. Nicht, daß

ihn das Gespräch mit Jones und dessen Gattin irgendwie beunruhigthätte. Und doch: Er hatte den bestimmten Eindruck, daß Jones nun im

Begriffe war, gewisse Dinge auszusprechen, die er gewöhnlich zu ver-

schweigen pflegte. Und ferner, daß es sich um Dinge handeln würde,

die für ihn, Freeman, von ziemlicher Bedeutung waren. Von solchen

Ahnungen begleitet, begab er sich in die Kabine, um die Briefe an Fiona

aus den Umschlägen zu ziehen, in denen sie auf ihre Reise warteten.

Denn er hatte mittlerweile den Entschluß gefaßt, die bis jetzt geschrie-benen doch bereits zu faxen. Wie könnte er Fiona zumuten, plötzlich

alle auf einmal zu lesen? Und wer weiß denn, was noch in den näch-

sten Tagen alles kommen würde?

Nach einem kleinen Mittagsimbiß in einer abgelegenen Bar des Schif-

fes faxte Freeman alle Briefe nach Chicago. Dann suchte er die Stille der

Privatkabine auf und setzte den Bericht — denn das waren seine Briefe

eigentlich — an Fiona fort:

M eine Liebe!

Heute morgen setzten sich ganz unerwartet Mr. Jones und seine Gattin — eine

überaus charmante Frau, geborene Pariserin — am F rühstückstisch zu mir. Als

M adam e Jones erfuhr, daß ich Pa ris kaum kenne, beschloß sie, mir die Stadt zuzeigen. D er F üller , den D u kurz vor meiner A breise geschickt hast und mitdem ich diese Zei len schreibe, hat mir in der U nterhaltung mit den beiden

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einen Extradienst geleistet. Er rief mir eine Wa termanreklame in Erinnerung,auf welcher das Wort gloire verwendet wird. Ich konnte M rs. Jones mit diesemWorte etwas für den wahren V olksgeist der Franzosen sehr Bezeichnendes er-läutern. Sie machte mir am Schluß ein K ompliment. Was ich konkret denVolksgeist nannte, war für sie zwar einfach «esprit» der Franzosen. Doch mansoll ja nicht erwarten, gleich in jeder Hinsicht ganz verstanden un d gehört zu

werden.Da nn un terhielt ich mich no ch eine Weile ganz allein mit M r. Jones. Er

zeigte mir erneut, wie w eit sein Ho rizont ist. Diesen Jo nes'schen Ho rizontdurchziehen jedoch Wolken, aus denen Stürme und Gewitter brechen werden.Aus jedem seiner Worte sprach kaltes Rechnen m it der Dekadenztendenz desheutigen F ranzosentums. Seine G attin, welche F rankreich wirklich liebt,

scheint keineswegs zu ahnen, w ie dieser M ann in W irklichkeit ihr Heimatlandeinschätzt. Welch ein sonderbares Paar! So w ie Amerika den dekadenten Ro-manismus für seine eigenen Zwecke nur benutzt, so scheint auch M r. Jones zuseiner eigenen F rau zu stehen: ihr Glanz und C harme läßt für die Außenweltden Schein entstehen, auch er sei ein Bewunderer und Schätzer Frankreichs.Vielleicht geh ich in meinem U rteil schon zu w eit? O n verra ...

Eine beiläufige Kleinigkeit passierte, als er auch vo n M onnet sprach, dem

M ann, der nach dem Zweiten Weltkrieg aus Amerika den Plan der sogenann-ten wirtschaftlichen Einigung Europas n ach P aris und B rüssel impo rtierte.Jean Monnet wollte alles starken Organisationen anvertrauen, er hatte keiner-lei Vertrauen in die Produktivkraft freier Individuen und in das, was wir «G e-meinde freier Geister» nennen. An diesem P unkte des Gesprächs goß sich Jo-nes ein Gläschen C ognac ein. Und nun paß auf: Weißt Du, woher M onnetstammte? Aus dem westfranzösischen Städtchen C ognac! Zu meinen, Insti-

tutionen (un d nicht Individuen) könnten jemals Träger wa hren F ortschrittssein — ist eben wirklich eine Schnapsidee ... Du verstehst mich recht: Natürlichbraucht es O rganisationen etc., auch in geistigen Bew egungen. Doch en t-scheiden d müssen Ind ividualitäten bleiben. W er Institutionen überschä tzt,zeigt, daß er kein Vertrauen in den Einzelmenschen hat. Das ist die Krankheitdieser Zeit: Mißtrauen in die Schöpfermacht des einzelnen. Und durch weni-ges wird dieses Mißtrauen so stark genährt wie durch die (vor allem von derKirche kultivierte) Suggestion, Individualismus sei gleich Egoismus. O h, wie

falsch es ist! Nur wer wahrhaft individuell wird, kann gemeinschaftsbildend

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wirken! D ie Kirche haßt und fürchtet diese M acht der freien Individualität wienichts sonst in der We lt. O der besser: Sie wil l nicht , daß d ie allgeme ineMenschheit auf das Individualitätsgeheimnis komme; sie kennt es selbst natür-

lich recht genau un d w ill, daß e s im engsten K reise bleibe, damit sie es für ihre

Zwecke nutzen kann. Auch im W esten kämpft man gegen diese M acht, wennauch aus andern G ründen. Deshalb geht der Süden mit dem Westen Hand inHand , wo immer es sich darum handelt, den wahren Individualismus — undohne ihn kann keine wahre, w irkliche Gemeinschaft blühen — zu bekämpfen. Ichhabe das G efühl, ich werde morgen abend über diesen Kampf noch einiges er-fahren. — Nun w ill ich aber schließen. Heute mittag suche ich das Schwimm -bad auf, abends widm e ich mich dann dem kon stellierten Lesestoff.

~Nach einem kurzen Aufenthalt im Swimmingpool auf Deck 1 begab

sich Harold Freeman in das Buch- und Zeitungs-Centre auf dem ersten

Zwischendeck. Er stand gerade mit französischen und englischen Jour-

nalen an der Kasse, als sein Blick per «Zufall» auf ein Taschenbuch in

einem Drehregal fiel und ein paar Augenblicke darauf haften blieb. Er

las: Mémoires d'Hadrien von Marguerite Yourcenar. Das Werk war ihm

dem Namen nach schon lang bekannt; er hatte, als er erstmals von ihmhörte, sogleich das deutliche Gefühl gehabt, er werde dieses viel-

gerühmte Buch eines Tages selber lesen müssen. Es wäre irgendwie

viel mehr als bloße Dichtung. Nun kaufte er es schnell entschlossen,

um zu prüfen, ob sein Vorgefühl begründet war. Dann suchte er erneut

die Ungestörtheit der Kabine auf.

Der Erzbischof der Seinestadt, stand im M onde diplomatique zu lesen,

hat dem Großmeister des Grand Orient seine offizielle Aufwartung ge-

macht. Dies war ein Novum innerhalb der öffentlichen gegenseitigenBeziehungen zwischen der Ecclesia von Frankreich und dem maureri-

schen Orden. Daß man hinter den Kulissen schon seit langer Zeit zu-

sammenspannte, war Freeman nur zu gut bekannt. Jetzt war es offen-

bar so weit, auch vor der Welt kein Hehl daraus zu machen. Das war

ein deutliches Signal. Welche drohende Gefahr hat die offene Zusam-

menarbeit dieser Herrschaften bewirkt? fragte Freeman sich im stillen,

während er den Wirtschaftsteil aufschlug. Er überflog den Leitartikel

über neueste Erfolge innerhalb der World Trade Organization, der

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Nachfolgeorganisation des GATT. Freeman war mit den juristischen

Strukturen dieser WTO genau vertraut. Ein Mitgliedsland, das unbe-

quem zu werden droht, kann von den USA in aller Form der Illoyalität

beschuldigt werden und muß dann selber den «Beweis der Unschuld»

(!) leisten, das heißt zu einer Art Spießrutenlaufen vor den Klägern

antreten, die von vorneherein das Recht auf ihrer Seite wissen: WTO-

Recht hat sich im Zweifelsfall dem Recht der USA zu fügen. Das ist

schon in den WTO-Statuten festgelegt. «Schwer verständlich, daß das

Parlament in Straßburg diesem Machwerk grünes Licht gegeben

hatte», dachte Freeman. «Die Europäer haben nichts gelernt! Die toll-

sten Phrasen halten sie für hehre Ideale oder wenigstens für un-

abwendbare Notwendigkeit. Es braucht doch nur ein Mächtiger des

Westens in Straßburg oder Brüssel aufzutreten und <Weltwirtschaft> inMikrophone zu posaunen, und Europas <Beste> sind berauscht von so

viel Edelmut und fühlen sich geschmeichelt, sich an großem Mensch-

heitswerk beteiligen zu dürfen; wenn die Lobbyisten nicht ganz ein-

fach ihre Stimmen kaufen. Was wissen diese Heuchler oder Ignoranten

von den Forderungen einer wahren Weltwirtschaft!»

Freeman kam in eine Art von heiliger Empörung über die fatale Al-

lianz der Schläfrigkeit mit der Verlogenheit, die auch hier Triumphe

feierte. Die WTO war in seinen Augen gar nichts anderes als die jüng-

ste Waffe des vom Westen aus geführten internationalen Wirtschafts-

kriegs. Es förderte in allererster Linie die Globalinteressen aller Mega-

Unternehmen, nahm Massenarbeitslosigkeit in Kauf und trug zur

Abschaffung des Mittelstandes auf der ganzen Erde bei. All das konnte

in den Augen Freemans nur zu einer internationalen Zweiklassenge-

sellschaft führen (immer weniger sehr Reiche, ein immer größeres

Heer von Unter- oder Unbemittelten), auch in den USA.

Nach ein paar Seiten Yourcenar war all das wie vergangen und verlas-

sen. Während Abendwinde einsetzten und das Meer den Luxusliner

zum ersten Mal recht nachhaltig ins Schwanken brachte, wurde es in

Harold Freemans Seele restlos still. Vom ersten Wort an war er wie ge-

bannt. «Mon cher Marc», so beginnt das Buch , «je suis descendu ce ma-

tin chez mon médecin Hermogène, qui vient de rentrer à la V illa après

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un assez long voyage en Asie.» So spricht der todgeweihte Hadrian

zum siebzeh njähr igen M arc Aurel , den e r nach Antoninus Pius zu sei-nem zweiten Nachfolger bestimmte. Hadrian war alt geworden, nicht

so se hr an Jahre n als an Reichtum an Erfahrung. Seine unhe ilbare W as-

sersucht hatte ihm das unentwegte Wanderleben, das er vierzig Jahreführte, auf das von ihm erbaute Tivoli beschränkt. Hier hielt er Rück-

schau auf sein Leben. Das Beste, Kostbarste von seinen Reisen durch

die a lte W elt ha tte e r nach T ivoli gebra cht. Standbilder und M os aiken,die in Nachbildungen alter Tempelstätten Griechenlands und auch

Ägyptens h ier die zweite H eim at fanden. In Tivoli erging sich Hadrianam Ende seines Lebens im Panorama seiner Bau gewordenen Erinne-

rung. Was andere Menschen erst nach ihrem Tod erleben, erfuhr er

noch im Leben: d ie Zei t war ihm zum Raum geworden.

Freeman mußte sich bemühen, seine eigenen Gedanken und Empfin-

dungen vo n der Lektüre fernzuhalten. So vieles drängte s ich ihm plötz-lich a n die O berfläche des B ew ußtse ins. Kein Wunder, kannte e r dochdiesen Kaiser vom letzten «Damals» selbst. Das wußte er schon seit

dem Zeitpunkt, als der Name Hadrians im Klassenzimmer von Van-

couver erstmals an sein Ohr gedrungen war. Doch dieses Wissenwurde nun wie nie zuvor konkret und ganz lebendig.

Yourcenar wirkte gleichsam als Empfänger und Verstärker einer

ihm vertrauten Stimme. Wie schrieb sie doch in den Notizen, die sie

während ihrer Arbeit an dem Buche machte? «Porträt einer Stimme.

Wenn ich mich dafür entschieden habe, diese M émoires d'Hadrien in

der ersten Person zu schreiben, so in der Absicht, ohne jeglichen Ver-

mittler auszukommen, mich selbst eingeschlossen. Hadrian konnte

viel bestimmter und subtiler von seinem Leben erzählen als ichselbst.»

Aus diesen Sätzen sprach für Freeman eine Grundgesinnung, wie

sie aller Kunst, ja allem wahren Schaffen nötig ist: totale Hingabe an

das O bjekt, in der sich gleichzeitig das wa hrh aft Eigene des M ensche noffenbare n kann, der sich h inzugeben we iß. So würde er vielleicht dieGrundgesinnung, um die es sich hier handelt, knapp erläutert haben.

Die Freude, ihr im Hadrian-Roman von Yourcenar so unerwartet zu

begegnen, zog ihn fort und fort, Kapitel um Kapitel, bis er dann um

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zwei Uh r früh beim letzten Absa tz ankam : «Kleine See le», las er , «un-stetige Schmeichelseele, Gefährtin meines Leibes, der dein Gast war,

du wirst in dies e B leichge filde nieders teigen, ha rt und nackt, und auchverzichten müssen auf die alten, liebgewordenen Belustigungen. Be-

trachten wir zusammen noch einmal die altvertrauten Küsten, die Ge-

genstände, die w ir zwe ifellos zum letzten M ale se h en . .. Wenn wir dieTodesschwelle überschreiten, so wollen wir doch wenigstens die Au-

gen offen halten.»«So w ollen wir doch wenigstens die Auge n o ffen h alten ...», tönte es

in Freem ans Seele nach beendeter Lektüre for t . Dann m achte e r wie je-den Abend eine Rückschau auf den Tag, doch diesmal wurde daraus,

gleichsam Hadrian zu Ehren, eine wahre Rückschaufeier. In zeitlich

umgekehrter Folge ließ er die Ereignisse des Tages nochmals an dem«inneren Beo bachter» vorüberzieh en.

Am nächsten Morgen ließ sich Harold Freeman das Frühstück in die

Suite bringen. Er wollte keinen Menschen sprechen und die Aus-wirkung der Hadrian-Lektüre ungestört von neuen Eindrücken be-

trachten.

Da s «Porträt einer Stim m e» h atte in der T at gewa ltig auf ih n einge-

wirkt! Es schien ihm, daß es dieser Dichterin gelungen war, nicht nurdie Persönlichkeit des Hadrian, sondern etwas von der Individualität,

die in dem Kaiser wirkte, zum Sprechen zu bewegen. Denn es war fürihn dies elbe feste und doch liebevolle Stim m e, die er a uch von se inemFreund her kannte, damals, in der ersten Hälfte dieses 20. Jahrhun-

derts. Und aus dem Porträt seiner Stimme wuchs allmählich auch das

wirkliche Ge sicht he rvor, das dies er Freund getragen h atte, m it wah rerWürde, wie ein großer Schauspieler im Welttheater, der einmal diese,

einmal jene «Maske» der Persönlichkeit vor das unsichtbare Antlitz sei-nes Wesens hob.

Freeman wußte plötzlich, daß er diesen Freund von damals wie-

dersehen werde; und zwar sehr bald.

Bew egt von we iten Pe rspektiven und stillen, unaussprech baren G e-fühlen, setzte e r den Briefbericht an Fiona fort:

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Meine Liebe!

Denk D ir, was ich gestern nacht entdeckte: Das B uch von Y ourcenar über un-sern Kaiser Hadrian! Du w eißt, wie wir uns damals in Vancouver wochenlang

mit diesem edlen M ann befaßten und welche zunächst unerklärlichen Erinne-rungen dies bei mir hervorrief. Wir ware n vierzehn Jahre alt, als sich die er-sten Fenster in das letzte Erdenleben öffneten, nachdem scho n früher unser«Damals» blitzartig beleuchtet worden war. Es war der Name «Hadrian», derdas erste Fenster dieser Art aufstieß. Nun stehe ich erneut vor diesem Fenster,und ich beginne, klar zu sehen. Was ich durch da s «Fenster» sehen kann,nimmt nun in einer D eutlichkeit G estalt und U mriß an w ie nie zuvor. Sostellten sich beim M editieren heute morgen Bilder ein, die ich vor sechzig Jah-

ren selbst in meine Seele aufnahm, als ich einst Tivoli besuchte. Das war aufeiner Urlaubsreise nach Italien, die Freunde mir ermöglicht hatten, die sichum den Zustand meiner leiblichen G esundheit Sorge machten. Ich wußte da-mals schon durch meinen großen F reund um diese seine frühere Verkörperungals Hadrian. Ich habe nun auch seine Z üge auf das deutlichste vor A ugen: diemarkante Kinnpartie, den kraftvollen und doch sehr liebevollen Blick unddann die feinen Hände, aus d enen, wenn er sprach, oft pflanzenhafte G estenwuchsen. D och vor allen D ingen höre ich die Stimme wieder, die oftmals anmein O hr gedrungen. Welche Stimme! U nd daß ich sie nun wieder in mirhören kann, verdanke ich dem Buch von Yourcenar. Sie wollte darin — und wieungewöhnlich ist dies doch! — «das Porträt einer Stimme» zeichnen. Wie ist esihr gelungen! Wahrscheinlich ha t die Dichterin einst unter Trajan oder Ha -drian gelebt! Wie übrigens auch G oethe, der einmal, fast wie nebenbei und wiezum Scherze, die Bemerkung ma chte, wohl schon zur Zeit von Hadrian gelebtzu haben ...

Am Schluß des Buches sagt der Kaiser: «Wenn w ir die Todesschwelle über-schreiten, so w ollen wir doch wenigstens die Au gen offen halten ...» A ls ichmich beim M editieren nochmals in den Satz versenkte, erlebte ich so etwas wiedie intensive Auferstehung jener wun derbaren F reundscha ft, welche ich zudiesem M enschen hatte — ja noch immer haben darf, vielleicht in eine noch sehrlange, lange Zukunft ... «Wenn w ir uns in diesem Leben w ieder finden», sosage ich von heute an im Innern zu dem alten Freun d, «dann w ollen wir dieAugen offen halten.» Und das w ird, Fiona, sehr, sehr bald geschehen, wie ich

fühle. — Ich mußte auch an Deinen Ausspruch denken: Was dem B lick ent-

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schwunden ist, kehrt singend aus dem Herzen wieder. Das gilt auch für das

Wiederfinden eines Menschen aus dem «Damals». Heute ist mir nun die

warme, schöne Stimme Hadrians zurückgekehrt.

Leb wohl!

Freeman hatte eben diesen letzten Brief an Fiona im Fax-Office nach

Chicago abgesandt und war schon im Begriffe wegzugehen, als ihm

die Office-Wache hinter einer Glasschutzscheibe mit der Hand bedeu-

tete, noch einen Augenblick zu warten. Kurz darauf wurde ihm ein

Fax-Brief zugeschoben. Er war von Fiona. Freeman stieg zur Sun-Deck-

Bar hinauf, setzte sich in einen Liegestuhl und las:

Mein lieber Harold!

Deine Briefe sind hier eingetroffen. Du kannst Dir denken, wie sie mich

bewegen. Sie folgen mir in Schlaf und Traum. Mehr will ich Dir auf

dem gewohnten Wege nach Paris berichten. Weiß ich doch nicht, durch

welche Hände meine Nachricht geht, bevor sie in den Deinen ist. Heute

abend muß ich singen, da die Norman ausgefallen ist. Die Königin der

Nacht. Stell Dir vor! um ersten Mal in meinem Leben sing ich diese

Rolle auf der Bühne! U vier Uhr wird noch Probe sein. Wenn alles gut

geht, werden auf den Fl eln des Gesanges wieder meine «Wesen»

kommen; ich werde einige zu Dir hinleiten, daß sie auch noch Deiner

Seele Flügel leihen. Vielleicht wirst Du sie heute abend ganz besonders

nötig haben. Auch Du wirst ja im Schattenreiche weilen. So sehen wir

uns heute beide mit dem «Bösen» konfrontiert; ich in meiner Kunst, Du

als Kämpfer um Erkenntnis. Berichte mir sofort!

Leb wohl und sei geküßt von Deiner Fiona.

Freeman freute sich unendlich über diese wunderbare Kongruenz am

Abendhorizont des Tages. Beide würden sie das Schattenreich der

Nacht betreten. «Machen wir uns also auf den Auftritt des Monostatos

gefaßt», dachte er entschlossen.

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Es war Punkt acht, als Harold Freeman, wie verabredet, die Chart

Room Bar betrat, die an diesem Abend nur für ausgewählte Gäste re-

serviert war.

«Pünktlich wie ein Schweizer Uhrwerk», scherzte Mr. Jones, der

gleich auf Freeman zukam und ihn an einen Tisch im Hintergrund des

mittelgroßen Raumes führte. Ein großgewachsener Herr um sechzig

und in grauem Anzug hatte sich bereits erhoben und streckte Freeman

seine Hand entgegen.

«Amhurst», stellte er sich vor, und ein dunkles Augenpaar schaute

unter dichten Brauen prüfend auf den Neuankömmling, der sich eben-

falls vorstellte. Dann nahmen die drei Herren Platz, und noch ehe die

Getränke kamen, war man mitten im Gespräch.

«Ich kenne Ihren Onkel schon seit meiner Zeit in London», begannAmhurst. «Er erzählte oft von seinem sehr begabten Neffen, der nach

seinem Yale-Abschluß noch an die Georgetown wolle.»

«Hat inzwischen stattgefunden», stellte Freeman trocken fest.

«Er setzt ja große Stücke auf Sie und verspricht sich viel von Ihrer

diplomatischen Karriere», fuhr Amhurst fort.

«Ja, Onkel Alfred scheint wirklich etwas ganz Besonderes in mir zu

ahnen. Man wird ja sehen, ob zu Recht.»

«Mr. Freeman reist nach einem Aufenthalte in der Seinestadt für

drei Monate durch ganz Europa», griff nun Jones in das Gespräch ein

und eröffnete damit das eigentliche Feld der Unterhaltung.

«Sie starten in Paris?» nahm Amhurst diesen Faden auf. «Well, ex-

cellent! Paris ist ja zur Zeit in ganz bestimmter Hinsicht das eigentliche

Zentrum unseres Wirkens auf dem Kontinent.» Und mit besonderer

Betonung präzisierte er:

«Die Arbeit unserer Brüder in der Rue Cadet macht gegenwärtigguten Fortschritt.» Auf Freemans aufmerksamen Blick fuhr Amhurst fort:

«Nicht nur, daß die maßgeblichen Köpfe innerhalb des Grand Ori-

ent natürlich nach wie vor die Grundrichtung der Politik der Grande

Nation bestimmen; es ist ihnen vor vielen Jahren auch gelungen, den

gefährlichsten von allen Gegnern weitgehend, nun, ich kann nicht

sagen, auszuschalten, sondern, na, sagen wir mal: umzupolen. Die

Methode war im Grunde einfach. Man suggerierte ihnen, daß ihr ganz

spezieller Okkultismus in unseren Augen mittlerweile durchaus wohl-

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wollend betrachtet werde, und ließ sie nach und nach zum Glauben

kommen, auf unserem Terrain ihre Sache durchsetzen zu können. Den

Kern der Ideale dieser Um gepolten — freie G eistigkeit für alle — l ehnenwir natürlich nach wie vor aufs allerradikalste ab. In diesem Punkte

sind wir uns mit unseren katholischen Genossen restlos einig. Doch

das h indert uns natürlich nicht daran, aus der H ülle diese s Ke rnes a llesabzuschöpfen, was unseren Zielen dienen ka nn. Und das ist viel! Dieseum gepolten Gegner a rbeiten se it diese r Zeit für uns! Ihr führe nder Ver-treter, ein aufgeblase ner, eitler Gro ßkoph ta» — die festen Züge und dieStimme Amhursts brachten ebenso viel Spott wie Überlegenheit zum

Ausdruck — «machte unter seinen Anhängern inzwischen derart gute

Stimmung für die Arbeit in der Rue Cadet, daß uns aus seinen Reihen

bereits seh r reichlich Spendengelder zugeflos se n sind!»Amhurst ließ sich rückwärts in den Ledersessel sinken und begann

in einer unbändigen We ise loszulache n.«Bestimmt kein Gläschen Whisky?» fragte Jones den jungen Gast,

nachdem er Amhursts Glas gefüllt hatte.

«Danke, nein, ich bleibe vorläufig bei m einem Aqua pura.»Jones brauchte mehrere Streichhölzer, um eine seiner Mexikani-

sch en in we itere n Betrieb zu se tzen.

«Und außerdem», setzte Amhurst seine Ausführungen nach einerWe ile for t, «auch unsere G enos sen von de r Societas» — er e rgr iff dasWo rt gleichsa m m it den Fingerspitzen — «habe n ganz erfreuliche Er-folge m it den Um gepolten zu verzeichnen. Vo r drei, vier Jah ren h ieltendie gezähmten Gegner just im Hauptsitz der Societas» — Amhurst

sprach das Wort erneut gespreizt aus — «erstmals ihre Generalver-

sam m lung ab. Das war in — ? Nun, wo war das denn gleich wieder? Na,ist ja s chließlich auch eg ...»

«In Chantilly, vierzig Kilometer außerhalb der Hauptstadt», unter-

brach ein schlanker , m itte lgroßer M ann, der dem Ges präch vo n einemNebentisch gefolgt war, sich unbemerkt erhoben und unserem Tisch

genähe rt hatte und der sich nun zu den drei Herren se tzte, oh ne um Er-laubnis anzufragen.

«Ach, Monsieur Noire! Sie hier! Wer hätte das gedacht!» rief Am-

hurst so erfreut wie überrascht aus. «Ich m uß Sie völlig überseh en h a-

ben. — Da rf ich vorstellen: M r. Jones , M r. Freem an.»

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«Es gehört zu unserer Arbeit, uns gelegentlich ganz unsichtbar zu

machen», sagte Noire, ein Vierziger mit feiner Adlernase und sehr

schm alen Lippen, auf denen e in recht vieldeutiges Läche ln spielte.«In Chantilly also», sagte Amhurst dann zu Noire gewendet. «Die

Reih e ist an Ihnen, No ire. Erzählen Sie!»«Es wa r ein große r T ag», begann der neue G as t der Runde, «als dieUmgepolten, wie Sie sie ganz treffend nannten, auf unser schönes

Schloß zufuhren. Sie wissen, unser Centre Culturel befindet sich im

Schloß Les Fo ntaines, das ein Roths child baute, der im übrigen ein eh-renwe rtes M itglied des G rand Orient gewe sen wa r. Als ihr G roßko phta— ha ha , wie gut gesagt , Am hurs t , wie gut! — a n diesem T ag in unsereM auern trat und vor se inem Fußvolk über die diverse n Ström ungen ok-

kulter Art einen ziemlich matten Vortrag hielt, wissen Sie was wir dahinter den sehr dünnen Wänden machten, die den Vortragsraum von

unseren Ze llen trennen? Zur gleiche n Zeit, versteh t sich. Nun, ich m ußvora usschicken, daß wir eine Ries enbibliothe k von rund 600 '00 0 Bän-den haben. Darin befinden sich natürlich auch die Schriften unserer

Gegner, und unter diese n auch die Übe rsetzungen von W erken und vonVortragszyklen des eigentlichen Gründers der Bewegung der mittler-

weile Um gepolten. Der schlim m ste Gegner, den die Kirche jem als hatte!Und wir ha tten viele Ge gner! Als diese r M ann in unerh örter Dreistigkeitdie Wege unserer spirituellen Technik öffentlich enthüllte, da wußten

wir, woran wir waren! Ganz öffentlich betonte er, daß nur die rosen-

kreuzerische und natürlich se ine eigene Bew egung zu Recht als <christ-liche > betrachtet würden, und er be zeichnete den W eg, den die So cietasverfolgt, als Weg de r M ach t, wom it er ja nicht völlig Unrech t hatte. Dieswar im Jahre 1911 gewe sen. Von diese r Zeit an wa r uns klar, wen wir in

ers ter Linie zu bekäm pfen h atten. Vierzeh n Jah re später ware n wir ihnlos . Und wir dürfen sa gen, daß wir an der Ra schh eit seines T ode s nichtganz unbeteiligt waren.» Noire warf Amhurst einen kurzen Blick zu.

«Nun m ußten wir uns dara uf konzentrieren, die V erbre itung seinesWe rkes zu verh indern o der we nigstens zu kontrollieren. In Frankreichfiel uns dies besonders leicht. Als nach dem Zweiten Weltkrieg seine

Anhänger begannen, die Äußerungen aus dem Jahre 1911 ins Franzö-

sische zu übertragen, erfuhren wir davon durch einen unserer Agen-

ten. Wir faßten ge istig jene ins Visier, die diese Ü bers etzungsarbe it lei-

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steten. Und was h aben wir erreicht? Unter anderem ein paar nette Klei-nigkeiten wie die folgenden: Unser Orden wird in der französischen

Version an keiner Stelle namentlich genannt, und vom Weg, den wir

besch reiten, wird nun ausdrücklich versiche rt, daß er sich vollkommen zu

Rech t als christlicher bezeichnet. <Auch der Ge istesweg, den diese r Orden

geh t>, he ißt es s eitdem wörtlich in der Ü bersetzung, <m uß zu Recht alschristlich er betrach tet werde n.> Es ist uns diesbe züglich wirklich eineGlanzleistung geglückt! Was unser schlimmster Gegner über unsgeäußert hatte, ins pure Gegenteil zu übersetzen!» Noires Augen nah-

m en e inen Ausdruck des T r ium phes an. «So können wir in Frankreichheute eine publizierte Äußerung des allergrößten Opponenten unserer

Bew egung anführe n, we nn wir den christliche n Cha rakter der So cietas

beweisen wollen. Von alldem haben seine umgepolten Anhänger bisheute nichts bemerkt.»Alle lauschten wie gebannt den Ausführungen Noires.

«Das war die lange Einleitung zum kurzen Höhepunkt», fuhr die-

se r fort. «Zurück also zu jenem denkwürdigen Augenblick in unsere mCentre. Wa s a lso taten wir , währe nd wir das O berha upt der Um gepol-ten schwafeln ließen? Wir meditierten diesen falschen Satz aus der

französischen Version: <Auch der Geistesweg dieses ganz bestimmten

Orde ns m uß zu Recht als christl icher be trachtet werde n.> Die W irkungdavon war, daß sich der Chef der Umgepolten am Ende seiner Aus-

führungen äußerst anerkennend über die Bedeutung unseres Ordens

äußerte. Und seither werden wir mit Wohlwollen aus seinen Kreisen

nur so überschüttet. Wir warten nun auf eine Gegeneinladung aus

ihre m Zentrum in der Schw eiz.»«Sobald das widerbo rstige A lpenland in der E U ist, dürfte wo hl m it

dieser Einladung zu rechnen sein», warf Amhurst ein.

«Das wird sehr bald der Fall sein», meinte Jones mit überzeugter

S t i m m e .«Es würde jedenfalls gew iß noch länger daue rn, we nn w ir nicht für

die Politik Europas sorgten», stellte Noire ganz nüchtern fest. «Nicht

umsonst beherbergt unser Centre Culturel auch das Robert-Schuman-

Institut.»«Und dieses pflegt den regsten Austausch mit der Georgetown

University», ergänzte Amhurst.

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«Nun, so wäre alles auf dem besten Wege», konstatierte Jones er-

neut. Aber s ein Ges icht verriet, daß e r nich t ganz siche r wa r, ob dieserWeg so völlig frei von Hindernissen wäre, wie es allerdings den An-

schein hatte.

«Nun, so wäre alles auf dem besten Wege», wiederholte Amhurstund sagte dann mit leicht gesenkter Stimme: «Wenn nicht ...» Er

m achte plötzlich e ine Pause .«Wenn nicht?» wollte Freem an wissen.«Wenn nicht die Jungen wären», sprach Amhurst seinen Satz nach

kurzem , intensivem Schwe igen ra sch zu Ende und tausch te einen viel-sagenden B lick m it No ire. «Doch das e rklären besse r Sie, Noire.»

Eine W eile h errsch te tiefes Sch weigen in der R unde. Es w ar nun je-

dermann bewußt, daß das Gespräch an einen Wendepunkt gekommenwar.

Freem an dachte intensiv an Fiona . Vielleicht sang sie in diese m Au-genblick gerade ihren So lopart. Denn jetzt bega nn, so fühlte e r, die Un-terha ltung in das Re ich der Na cht h ineinzugleiten . ..

«M an könnte ebenso gut sagen: We nn nicht die Alten wäre n», brachNoire mit sich verdüsterndem Gesichtsausdruck das Schweigen.

«Zwar ist es uns gelungen, der Restbewegung unseres Gegners nach

desse n To de eine Art von Drall zu geben, so daß sie von der ursprüng-liche n Bah n klar und deutlich abwich. Es ist im Grunde wie m it einemFußball, der in eine ganz bestimmte Richtung abgeschossen wird. Ir-

gendwo fängt ihn ein Spieler auf und gibt ihm einen richtungsändern-

den Impuls auf die weitere Flugbahn mit. Der hinterbliebenen Gesell-

schaft unseres Opponenten diesen neuen Drall zu geben war zumGlück nicht allzu schwer. Wir hatten nur dafür zu sorgen, daß in ihre

Kreise e in best im m ter G laube Eingang fand, der Glaube näm lich, daßder Gründer der Bewegung auch nach dem Tode unter ihnen weiter-

wirke. <Wenn er mit unserer Gesellschaft auch noch über seinen Tod

hinaus ve rbunden ist>, so fing m an bald zu wähnen an, <dann kann unsnichts a nfechten. Die G es ellschaft ist sein We rk, für dies es w ird er wei-ter so rgen, er wird es schützen, hege n, ja notfalls es er retten.> Alles a usdem Jenseits runter, selbstverständlich!» Noire ließ ein leises Spott-

gelächter hören. «So glaubte man bald überall mit wahrem Eifer! Es

war grandios, das Wachstum dieses Wahns zu sehen, mit dem wir

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diese Seelen in den Schlaf befördert hatten. Zwar gab es ein paar Un-

bequeme, die die Lehre unseres Feindes kompromißlos zu vertreten

wagten und die auch stets mit uns und unserer Arbeit rechneten. Doch

durch die tiefsten Schläfer in der Masse unserer Umgepolten wurden

sie bald angefeindet, überstimmt und schließlich aus dem Feld ge-

schlagen. Sie kämpften dann noch da und dort vereinzelt und zer-

streut. Doch um die Mitte des Jahrhunderts war dann auch der letzte

dieser Unverbesserlichen tot. Und wir hatten eine Weile wirklich Ruhe.

Das war eine schöne Zeit!»

Nach einer kurzen Pause, die er offenbar genoß, fuhr Noire gelassen

fort:

«Natürlich hatte die Bewegung unseres Feindes Neuerungen pro-

duziert, die nicht mehr wegzuschaffen waren; so auf dem Feld derPädagogik, Medizin und Landwirtschaft. Doch all das war im Grunde

wie ein schlecht bewachter Selbstbedienungsladen. Wir nahmen, was

wir brauchen konnten, und schoben das, was uns gefährlich schien, in

die unteren Regale. Wer bückt sich denn schon gern beim schnellen

Einkauf? In den achtziger Jahren wagten wir ein regelrechtes Experi-

ment, nachdem es uns gelungen war, den okkulten Ehrgeiz eines Est-

länders, der einst ein prominenter Schüler unseres Gegners war, für

uns zu nutzen: Wir führten durch den Estländer die Geistesgüter un-seres Opponenten in den Schoß der Kirche ein und studierten sorgfäl-

tig das Resultat: Innerhalb der Kirche wie im Kreis der Umgepolten

regte sich kein nennenswerter Widerstand. Natürlich mußte man von

Rom aus auch mal kräftig protestieren, damit die Sache umso besser

weiterlief.»

Noire machte wieder eine kleine Pause. Dann sagte er:

«Und eine wahre Krönung unserer Bemühungen sahen wir zuRecht in jener Generalversammlung in Les Fontaines, von der ich

schon gesprochen habe. Doch jetzt» — Noires Stimme senkte sich. Der

Umweg, den er noch einmal beschritten hatte, war absolut zu Ende; die

Mitteilung der negativen Seite der Bilanz war nun durch nichts mehr

aufzuschieben. «Jetzt — sind einige der besten Schüler dieses Gegners

wiederum verkörpert. Und zwar die Wachsten unter ihnen. Und,

meine Herren: Diese Menschen, die nun zwanzig, dreißig Jahre alt sein

dürften, sind absolut nicht umpolbar.»

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Jones fuhr vor Schreck zusammen und richtete sich ruckartig im

Ledersessel hoch.

Freeman ließ sich nichts anmerken, obgleich er diese Äußerung wie

einen grellen Blitz erlebte, der vor seinen Füßen in die Erde schlug und

mit seinem ungeheueren Licht in weite Ferne leuchtete.Amhurst sah sehr ernst und still in Richtung Tür.

«Natürlich stellten wir uns längst auf diese Perspektive ein», fuhr

Noire in düsterem Tone fort. «Ja, wir suchten schon jahrzehntelang der

Wirksamkeit von solchen Jungen-Alten oder Alten-Jungen Riegel vor-

zuschieben. Nur war dies ungleich schwieriger als damals, als es galt,

nur einen einzelnen von seinem Wirken auszuschalten, der uns vom

Throne Badens aus ins Handwerk hätte pfuschen können.» Noire warf

Amhurst einen sehr bedeutungsvollen Blick zu, den der letztere erwi-derte. «Damals brauchten wir uns bloß auf einen einzigen zu konzen-

trieren, um seinem Schicksal einen Drall zu geben. Es gelang, und als

es doch noch schiefzugehen drohte, ließen wir den Hauser eines Tages

kurzerhand im Hofgarten von Ansbach töten. Unsere Genossen von

der Großen Bruderschaft des Westens waren uns bei diesem Mord be-

hilflich, nicht wahr, Amhurst?» Ohne auf die Reaktion des Angespro-

chenen zu achten, fuhr Noire im gleichen Tone fort: «Diesmal war es

ungleich schwerer. Wir würden es mit Hunderten und Aberhunderten

zu tun bekommen. Was taten wir? Ein Teil der Strategie bestand darin,

vom Aufruhrjahre 1968 an der Jugend, die studierte, Ablenkungsim-

pulse einzuimpfen. Es war uns klar, daß ab der Mitte des Jahrhunderts

wieder in vermehrten Maße Seelen kommen würden, die spirituelle

Anlagen und Neigungen besitzen und die sich deshalb zu den Geistes-

illusionen unseres Opponenten hingezogen fühlen müssen. Was also

unternahmen wir? Wir schleusten das Ideengut des Leninismus in diewestliche Studentenjugend ein. Dazu das angestaute psychoanalyti-

sche Gedankengut. Gute Dienste leistete dabei Marcuse, in beiderlei

Beziehung. Er wirkte wie ein Mittel zur Narkose.» Noire verzog bei

diesem Wortspiel leicht die Lippen. «Und zugleich sorgten wir dafür,

daß das Abendland von New-Age-Okkultismen und von Drogen über-

flutet wurde. Leary war natürlich nicht vergeblich einstmals unser Col-

lege-Zögling. Das war die Dreifachmaßnahme, die wir für das Ende

des Jahrhunderts trafen. Ein Riesen-Würgegriff für Abermillionen See-

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len. Mit diesem Riesen-Würgegriff hofften wir auch jene zu erfassen,

auf die es uns in allererster Linie ankam. Die Erstlinge der <Jungen>, die

sich neuerdings verkörpert hatten.»

«Im Grunde», fügte Noire nach kurzem Schweigen in fast prahleri-

schem Ton hinzu, «vollbrachten wir damit die wichtigste Herodes-Tat

des 20. Jahrhunderts.»

«Offenbar mit mangelndem Erfolg», stellte Jones ernüchtert fest.

«Wir sind dabei, die Strategie den neuen Umständen entsprechend

abzuändern», erwiderte Noire rasch.

«Und wie sieht sie aus, die neue Strategie?» wollte Amhurst wissen.

«Nun», sagte Noire, «das sollten wir vielleicht ein ander Mal be-

sprechen.»

Man einigte sich rasch auf eine Fortsetzung der Unterhaltung undwollte sich am andern Tag zum Abendessen in der Queens Grill

Lounge einfinden. Dann löste sich die Herrenrunde auf.

Harold Freeman trat ans Fenster der Kabine, öffnete es weit und sog

die frische Meerluft ein. Plötzlich hatte er die heftige Empfindung, als

ob in seinem Innern Impressionen von ganz andern Fahrten über den

Atlantik an die Oberfläche des Bewußtseins drängten. Doch er unter-

drückte diese Bilder aus einem andern «Damals», noch ehe sie Kontur

gewinnen konnten, mit aller Energie. «Später», sprach er wie hinab in

seine Seelentiefen. «Jetzt gibt es Wichtigeres zu bedenken.» Das Meer

war leicht bewegt, der Himmel stark bewölkt. Umso kräftiger, so

schien es, leuchteten vereinzelt Sterne oder Sternengruppen durch die

Wolkenlücken.

Es war zehn Uhr nachts, als Freeman an Fiona schrieb:

M eine Liebe!

Vieles ist in den verflossenen zwei Stunden hier auf See geschehen. Jones

stellte mich gleich einem Mr. Amhurst vor. Intensiver Blick unter ziemlich

s tarken Brauen , um d ie Sechz ig . Wir waren so for t im G espräch . Er kennt O n-

kel Al fred. Am hurs t scheint der «Pate» Jones ' zu se in . Wä hrend Jones n ur an

der Macht hängt, hat Amhurst wirklich Sinn für das Okkulte. Er pflegt Be-

z iehungen zum G rand O rien t . Diese maurer i sche Bruderschaft is t um 1 730 in

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Paris begründet worden, und zw ar von England aus. In ganz Europa grün-deten die B riten dam als Logen. Sie setzten ihre P olitik vor allem und am lieb-

sten durch solche Au slandslogen durch. Zu Hause p flegten sie dagegen um-someh r das Image, ausschließlich dem allgemeinen M enschheitswohl zu

dienen.Un d nun paß auf, was weiter folgte. Am hurst kam auf unsern großen Leh-

rer. Er schilderte, wie der Grand O rient — und äh nlich dürfte es in andernC lubs gehalten werden — die Lehre unseres Lehrers nicht einfach blind verwirft;man w eiß sogar sehr vieles aus ihr ganz und gar zu schätzen. Nur lehnt manderen Kern, der doch im W eg besteht, auf dem der einzelne ein freier G eist wird,

aufs allerschärfste ab. Die heu tigen Vertreter des großen W eisheitsgutes unse-

res verehrten Lehrers, die im Grand O rient frisch-fröhlich ein- und auszugehen

scheinen, nannte er die «Um gepolten». Und weißt D u, wie er deren offiziellenPrä sidenten nannte? Einen kleinen, aufgeblasenen «Groß kophta». Das zeigtDir alles! Du m ußt nur w issen, daß «Kop hta» (jedenfalls für den vielverkann-ten Ca gliostro) ein ganz bestimm ter Rang in den ägyptischen M ysterien warund daß die ganze M aurerei der Neuzeit ja auf «M israim» (das heißt Ä gypten)zurückzuführen ist. Go ethe, der ja selbst ein M aurer w ar (in einer Zeit, da esnoch gute M aurerei gegeben hat), persiflierte in dem Stück Der Großkoph ta

(!) einen okkultistischen Scharlatan, der die allerdings bemerkenswerte Fähig-keit besitzt, auf der T astatur der Seelenw ünsche leichtgläubiger Leute Klang-kaskaden der vollendeten Erfüllung zu erzeugen ... Wenn nun der Präsidentder «Umgepolten» von einem M ann wie Am hurst sehr verächtlich G roßkophtagenannt w ird, dann zeigt das wirklich alles!! Näm lich, wo die M arionettentanzen und wer an ihren Fäden zieht. Von der F ührung der G esellschaft, dienoch offiziell im Name n unseres M eisters wirkt, ist also für die Einleitung derzweiten Runde der B ewegung nichts mehr zu erwarten. ja, schlimmer noch :

der M arionettenpräsident und seine Leute werden, fürchte ich, uns und allenUnsrigen nur Steine in den Weg zu legen zu suchen.

Nun, A mhurst brüstete sich noch mit erfreulichen Erfolgen, die man au fder Jesuitenseite mit den «Um gepolten» zu verzeichnen ha be. Als er einjüngstes Beispiel dafür geben w ollte und plötzlich stecken blieb, weil ihm einO rtsname entfallen wa r, erschien wie aus dem abso luten Nichts heraus einzweiter M onostatos und setzte sich an unseren Tisch. Der heißt zu allem

Ü berfluß noch Noire. Jesuit , um die V ierzig, schmale Lippen, A dlernase,Ko pfstimm e, leicht stechender B lick. Er sagte imm er «wir», was ihm g anz

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selbstverständlich schien und w as uns zeigen kann, wie sich solche M en-schen der G emeinschaft, der sie angehören, we it über das Persönliche hinaus

verbunden haben! S chon das a l lein entwickel t eine starke Kraft okkultenWirkens. Noire nahm A mhu rsts F aden au f der Stelle auf und erzählte dannvom groß en Tag, an dem die «Umgep olten» nach C hantil ly hinausfuhren,um im Jesuitenzentrum von Les Fon taines eine G eneralversammlung abzu-halten. Du siehst: der Jesuitismus h at es schon so herrlich we it gebracht, daßer bei den «Um gepolten», wie auch No ire sie nannte, nicht mehr ernst ge-nomm en wird! Weitere Einzelheiten über diese Tagung mündlich. — Do chdas alles war erst Vo rspiel für das F olgende: Noire begann zu schildern, wieman M aßnahm en zu treffen suchte, um unser W irken am Jahrhundertendezu verhindern. Wie man beispielsweise von dem Jahre 19 68* an, mit der Hilfe

ganz bestimmter Logen, die Studentenjugend abzulenken suchte — mit M ar-xismus, Psychoanalyse und mit Drogen. Er na nnte das gan z stolz eine wirk-liche Herodes-Tat (— und offenbarte damit, neben ihren skrupellosen Kamp f-methoden, zugleich die spirituelle Blindheit unserer Gegner). D och das h abedie «Gefah r» noch nicht beseitigt: Die Jungen -Alten oder Alten-Jungen , wieNoire sich ausdrückte, seien wieder inkarniert. U nd «die sind n iemals um-polbar», wie er wörtlich sagte. Ganz unm öglich, Dir die Abgrund stimmun gzu beschreiben, die nun p lötzlich eintrat, als Noire nach S childerung ver-

gangener «Erfolge» zu diesem Eingeständnis kam. Liebe Fiona, ich w eiß seitheute abend etwas N eues und sehr W ichtiges: daß F urcht es ist , die in denKreisen Noires und Am hursts umgeht. F rüher war es Haß un d Neid, heuteist zum Haß und N eid die F urcht dazugekomm en . .. Noire fügte schließlichnoch n ervös hinzu, daß man gegen die noch nicht beseitigte «G efahr» , diedie bloße Existenz der A lten-Jungen da rstelle, bereits ein scharfes M ittelhabe. M orgen abend, dem letzten Abend dieser Ü berfahrt, werde ich darüber

Näheres erfahren.Dra ußen ist es tiefe Nacht. Nur die S terne funkeln still und u nbeirrt wieimmer durch die weite Finsternis. Das Sch iff wird nun die H öhe Lissabonserreichen. Portugal! W ie seltsam ist die leise Wehmu t, die mir schon der bloß eName dieses Landes weckt. Es werden alte Reisen aus den letzten Leben sein,

* 1968 war das Jah r des weltweit unterdrückten Willens zur gesellschaftliche n Neu-gestaltung, 66 Jahre nach der e rsten öffentliche n Wirksam keit des gro ßen Leh rers ;

33 Jahre nach dem Untergang des von ihm gebildeten Vorstandes.

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die sich jetzt bemerkbar mach en w ollen. Doch n ein! Noch ist die rechte Zeitdafür noch nicht gekommen . Die Vergangenheit muß noch für eine Weile ru-hen. Die Gegenw art und Zukunft fordert mich nun ganz und gar, nach allem,was m ir heute klar geworden ist. Wenn das Ich es w ill , so müssen eben auch

Erinnerungen warten lernen!

De n fünften und den letzten T ag der Ü berfahrt verbrachte Ha rold Free-man mit der Vorbereitung seines Aufenthaltes in der Seinestadt. Er

studierte fleißig seinen grünen Michelin und markierte alle Stätten, die

er zu besuchen wünschte, und notierte Fragen, die er Mrs. Jones zu

stellen dachte. Auf Empfehlung Onkel Alfreds hatte er im Hotel S t.James et Albany ein Zim m er rese rvieren lassen. Es war zentral gelegen,

zum Opernhaus und zur berühmten Comédie Française war es nichtwe it ...

Kurz nach acht Uhr trat die kleine Herrenrunde in der Queens Grill

Lounge erneut zusammen. Freeman redete ganz heiter von den Mi-

chelin-Studien, die er stundenlang getrieben hatte.

«Wie wird das m eine Ga ttin freuen!» lachte Jo nes. «Ihre Opfer sindnur selten so gut vorbereitet!»

Auch Noire und Amhurst schienen guter Dinge. Es war, wie wenn

die gestrige Unterhaltung alles Eis gebrochen hätte. Wie wenn man

sich s cho n ewig kennen würde. Das Es sen tat das Ü brige. Und so wäredie noch offene Bemerkung des Vorabends fast vollständig vergessen

worden! Noire war mit dem Auseinanderdröseln feinster Fischgräten

beschäftigt, als A m hurst sch ließlich etwas neckisch sagte:«Nun, Noire, Sie schulden uns doch noch ein paar erhellende Er-

läuterungen Ihrer neuen Strategie!»«M uß das s ein?» fragte dieser m it leicht säuerliche m Lächeln.«Es muß!» riefen Amhurst, Jones und Freeman wie aus einem

M u n d e .Noire zerteilte säuberlich ein weiteres Stück Fisch und sagte, ohne

von der Arbeit aufzusehen: «Also gut, hört zu! Das heißt, denkt erst

mal selber nach! Doch schnell! Wir sollten dieses letzte Abendmahl

nicht allzulang mit Politik belasten ... Nun, wo bleibt der Scharfsinn,

m eine Freunde?»

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Jones und Amhurst kauten wortlos vor sich hin. Freeman schöpfte

sich Kartoffeln nach und goß noch etwas Sauce béarnaise über sein

Stück Fleisch.

«Nun, es ist zu einfach für die Herren», lachte Noire. «Was können

wir denn gegen die besagte wieder inkarnierte Pest bewirken? Ich will

es den erlauchten Herren sagen: Wir müssen bloß erreichen, daß man

im Kreis der Umgepolten von diesen Alten-Jungen spricht; und zwar

in solchem Sinne spricht, daß sie erneut in ihrem Kreise zu erwarten

wären . Und zwar konkret. Und zwar sehr bald. Ihr Großkophta

begann bereits vor Jahren mit bestimmten Namen; Namen solcher, die

einst Schüler unseres verhaßten Opponenten waren. Schon fressen sie

dem Kophta aus der Hand und wähnen sich in immer besserer

Gesellschaft. Doch er, er frißt aus unserer Hand — und weiß es nicht. —Kapiert?»

Die abrupte Schlußwendung kam so schnell wie überraschend, daß

Noires Tischgenossen einen Augenblick ganz sprachlos waren.

«So einfach?» brach Amhurst dann das Schweigen.

«So einfach!» sagte Noire sehr kurz und sehr bestimmt. Und es war

klar, daß er das Thema damit als erledigt ansah.

Wiederum trat eine Weile Schweigen ein.

Dann sagte Freeman mit charmantem Lächeln: «Monsieur Noire, daSie e ben — m it Verlaub — vo m <Fressen> sprachen, wünsche ich den Her-ren w eiterh in — bon a ppétit!»

Die Wendung, die er damit dem Verlauf der ganzen Unterhaltung

gab, wurde mit sehr heiterem Gelächter aufgenommen. Und bald plau-

derte man wie zuvor, vom Essen, von der Wetterlage, von der Qualität

der Weine.

Es war zehn Uhr abends, als die Herren fröhlich voneinander Ab-

schied nahmen.

Harold Freeman schrieb kurz darauf in seiner Suite:

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M eine Fiona,

nun ist mir alles klar. Die jüngste Strategie der G egner ist jetzt offenbar: M an

versucht im K reis der «Um gepolten» zu verbreiten, wir w ürden m itten unter

ihnen w andeln. Noire meinte vol ler Zuversicht , daß ihr Gro ßkoph ta, dernatürlich nur ein Instrumen t darstellt , in dieser Richtung scho n ganz guteArbei t le is te . M an d eutet schon geheimnisvol l auf Jüngl inge un d jungeM ädchen und bekommt von höchster Stelle ganz bestimmte Namen eingeflü-stert! W ir sind, noch eh e w ir uns recht gefunden haben, geistig schon «be -schlagnahmt» worden! M an han tiert mit unseren Namen a us dem letzten Le-ben; dahinter steckt, daß ma n eben dad urch vom realen D asein, das wirführen, abzulenken hofft. M it diesem W issen müssen w ir nun leben. Das kann

noch heiter werden!Die «Herodes-Tat» , von der Noire sprach, galt also hau ptsächlich den un s

verbündeten Platonikern, von denen w ir schon manchen kennen und vielenoch zu finden haben. Sie sind ja, w ie Du weißt, im allgemeinen zeitlich etwasvor uns in die irdische Verkörperung gegangen. Doch werden w ir sie findenmüssen. So will es ja der große, unverbrüchliche Vertrag: daß w ir am Ende des

Jahrhunderts Hand in Ha nd mit ihnen wirken werden.Weißt D u übr igens , wom it Noire uns und al le U nsr igen vergl ich? Er

nannte uns die «wieder inkarnierte Pest»!!!Stell D ir also vor, da sitze ich mit Jones un d Am hurst neben N oire am

Tisch der Q ueens G rill Lounge, gieße diese w underbare Sauce béarnaise überein Stück Fleisch und hö re Noire verächtlich von der «w ieder inkarniertenPest» erzählen! Ich saß a lso gewissermaßen selbst aussätzig gleich daneben!U nd plötzlich w urde m ir bewuß t, w ie gefährlich unsere Lage ist. G esternabend achtete ich sonderbarerweise kaum darauf. Doch jetzt! Da N oire den

jüngsten Pu nkt der gegnerischen S trategie enthüllte . D er kalte Wind desHasses und der G eistesfurcht, die diese M enschen wie ein wärmeloses Feuertreibt, wehte mir mit einem M al entgegen. Ich kam m ir vor wie D aniel in derLöwengrube. Doch keiner merkte etwas. Stell Dir vor, man würde a uch nurin Erwä gung ziehen . .. Nach einer W eile hatte ich das sichere G efühl, einePrüfung absolviert zu haben: Ich w eiß jetzt, wie ich m ich mit Siegfrieds Ta rn-

kappe um kleiden kann, w ann imm er es mir nötig scheint. Und es w ird öftersnötig werden! Im übrigen: D ie forcierte Geistesrohheit und die ganze Seelen-

arroga nz zu schildern, die aus solchen N oires spricht, übersteigt bei weitem

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meine M öglichkeit. Solche M enschen w ollen das Ge heimnis aller Dinge grei-fen, und das m it F ingern, welche von der M achtgier krumm und krum merwurden. D och das G eheimnis weiß sich solchen Fingern zu entziehen ...

Nun, Liebste, lebe wohl. M orgen abend schreib ich aus P aris!

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III.

Freunde in der Alten Welt

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Paris

Von Southampton reiste Harold Freeman in sechs Stunden über

London nach Paris. Als der «Eurostar» am frühen Nachmittag im

Gare du Nord anhielt, erlebte der Europafahrer einen ersten leichtenSchock. Der Bahnhof machte auf ihn einen derart pitoyablen Ein-

druck, daß es ihm für ein paar Augenblicke fast den Atem nahm.

Alles lärmte, eilte, trieb bunt durcheinander. Und es roch — nach

Décadence. «Das R om anentum is t in der Dekadenz», dachte Freem anstill bei sich, wie um sich mit der Formel selber zu beschwichtigen.

Dann stärkte er sich mit zwei duftenden Croissants, trank einen dop-

pelten Espresso, erstand ein halbes Dutzend Zeitungen und blickte

s ich nach e inem T axi um .Auf dem We g zum Hotel «St. Jam es e t Albany» in der Rue de Rivoli

l ieß Free m an se inen Blick bald links, bald rechts h inaus zum Wa gen indie Nähe oder Ferne schweifen. Weiß leuchtete die Sacré-Coeur im

Rückspiegel dem Neuanköm m ling eine W eile nach. Wäh rend m an dieRue Lafay ette hinunterfuhr, die bis zur Oper führte, fiel Freem ans Blickzur linken Seite auf ein Straßenschild, auf dem er «Rue Cadet» las.

«Hier also », dachte e r, «ist der Sitz des Grand O rient de France.»Als der Wagen zum Place Ve ndôm e m it der Siegessäule e inbog, bat

Freeman seinen Fahrer , anzuhalten. Der Mann begriff sogleich und er-klärte ungefragt und kurzerh and, Napo leon h abe dies e Säule zur Erin-nerung an de n Sieg von A usterlitz err ichtet, und ließ dara uf noch we i-tere geschichtliche Erläuterungen folgen.

«Ah , Sie ke nnen sich ja aus», dankte Fre em an freundlich und plau-derte selbst weiter . «Die Kaiser wußten do ch, wie m an s ich der Nach-welt unvergeßlich macht, nicht wahr! In Rom bewunderte Napoleon

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die Siegessäule vo n T rajan — und nahm sie dann zum Vorbild für seineSäule hier!» Der Fah rer scha ute nun zu seinem Gast h inüber .

«Sie sind gewiß Historiker, Monsieur. Jaja, quelle perspective de

gloire! Die Gro ßen fühlen scho n, was groß an a ndern Große n ist!»Freeman fühlte sich sehr angeregt und erzählte nun dem aufmerk-

samen Fahrer seinerseits von den siegreichen Feldzügen des Trajan

und von dessen Adoptivsohn, dem friedenstiftenden Hadrian.

Der W agen bo g ganz langsam in die Rue de Rivoli. Da tauchte ra schdie blanke Pyram ide vor dem Louvre auf , die Freem an scho n von Ab-bildungen kannte, um sogleich wieder zu verschwinden. Freeman bat

den Fahrer kurz entschlossen, ein Stück zurückzufahren, bis das Bau-

werk w iederum im Blickfeld stand. Vis-à-vis der R enaissa ncegebäude,

in deren M itte sie sich a us dem Bo den ho b, wirkte sie in seinen Augenziem lich feh l am Platz. Do ch der «Feh ler» schien gewo llt. Es wa r, wiewenn die Pyramide dem Betrachter sagen sollte: Glaub nicht, daß die

Im pulse aus Ägy pten im 20. Jah rhundert nicht m eh r wirksam seien. Siekönnen sich noch heute mit den Einflüssen aus allen späteren Kultur-

ep o ch en m es s en !«Zim m er Nr . 220, M onsieur Freem an», sagte im Hotel die Dam e an

der Réception, und Freeman amüsierte sich im Innern über die nasale

Qualität, mit der sein Name an sein Ohr drang.Als er kurz darauf im Zimmer den Hotelprospekt durchblätterte,

las er mit Erstaunen: Marguerite Yourcenar, die Autorin der von ihm

gerade erst gelesenen M émoires d'Hadrien, h atte sich, als sie an diesemWerk arbeitete, für Monate hier aufgehalten! Diese Tatsache war für

ihn weit wichtiger als die stolze Mitteilung, daß das «St. James» einst

der Pariser Lieblingsort von Lo uis XIV war.

In nachde nklich er Stim m ung begab sich Freem an früh zu Bett. Erstdie im itierte Tra janssäule am Place Vendôm e, dann der Aufentha lt derAutorin des für ihn so wich tig und bedeutungsvoll gewo rdenen Ro m a-nes im «St. Jam es». Und nun? Was würde nun der nächste Vo rfall se in?

In diese r Nacht hat te Free m an einen sonderbare n Tra um . Er war ineinem unbekannten Raum. Hinter ihm ein Mann, der ihn um vieles

überragte. Der Mann umfaßte plötzlich seinen Hals, von hinten, undsagte dann bestimmt:

«Jetzt kann ich Sie e rwürge n.»

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Er drückte zu, mit aller Kraft, den Vorsatz auszuführen. Doch wa-

ren seine Hände wie gelähmt. Da sagte Freeman zu dem Mann:

«Sehen Sie, es gibt auch Menschen, die okkult beschützt sind.»

Der Unbekannte schrumpfte, erst zu ungefähr normaler Größe, bis

er schließlich sehr viel kleiner war als Freeman. Nun erst konnte dieserdas Gesicht des Unholds sehen. Die Züge schienen ihm von Amhurst

und von Noire gleich viel geborgt zu haben; doch hatten sie noch etwas

völlig Unbekanntes.

Freeman dachte nach dem Aufwachen lange über dieses nächtliche

Erlebnis nach. Die Art, wie er aus einem höheren Bewußtsein — denn er

war am Morgen nicht wie aus einem Traume «aufgewacht», sondern

vielmehr in das tagwache Bewußtsein gleichsam «abgeschlafen» — von

okkultem Schutz gesprochen hatte, zeigte ihm noch klarer als der An-

griff selbst, daß gewisse Gegenmächte ihn bedrohten. Gegenmächte,

die nicht wollten, daß sich Schicksalsschleier lüfteten und den Ausblick

auf vergangene Erdenleben möglich machten. Für Freeman gab es

kaum ein besseres Mittel zur Erneuerung der zerfallenden Kultur der

Gegenwart als die Tatsache der Reinkarnation, die auch die Schicksals-

frage in ein neues Licht rückt. Nur mußte diese Tatsache, um ihre Heil-

wirkung zu offenbaren, auch noch im Bewußtsein aufgenommen wer-den. Und genau das suchten seiner Ansicht nach gewisse Logen (in

Zusammenarbeit mit der Kirche Roms) zu verhindern. Man suchte das

Bewußtsein möglichst vieler Zeitgenossen diesbezüglich in einer Art

Betäubung zu erhalten.

Als Harold Freeman am nächsten Morgen den Frühstücksraum betrat,

überraschte ihn das rege Leben, das hier bereits in vollem Gange war.

Es war ja erst halb acht, und doch war praktisch jeder Tisch besetzt.«Eine geschlossene Gesellschaft, Monsieur», erklärte prompt ein auf-

merksamer Kellner, der den neuen Frühstücksgast an einen Tisch ge-

leitete, an welchem schon ein Herr beim Frühstück saß. Der Unbe-

kannte mochte um die Vierzig sein.

Freeman grüßte höflich und fragte, ob der Platz noch frei sei. Sein

Gegenüber bejahte dies mit gleicher Höflichkeit. In seinem Blick lag

ebenso viel Freundlichkeit wie Festigkeit. Freeman fiel die weinroteKrawatte auf, die zum Hellgrau eines noblen Anzugs einen starken

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und doch passenden Kontrast ergab. Etwas ungewöhnlich Festliches

ging von diesem Gegenüber aus.

Die be iden Früh stücksgäste stellten sich ge gense itig vo r und glittenunversehens in ein angenehm-vertrauliches Gespräch. Freeman fiel

das h er r l iche, akzentfreie Französisch diese s Fre m den auf .«M onsieur Roi», bem erkte Freem an nach e iner We ile schm unzelnd,

«ich s tel le fes t , daß unsere beiden Zim m ernum m ern in einem sel tenenVe rh ältnis zueinander steh en.»

Er deutete bei diesen Worten auf den kleinen Schlüssel, der neben

seiner Tasse lag, und dann, sehr höflich und diskret, auf den von Roi.

Beide hatten ihre Schlüssel so plaziert, daß die Zimmernummer für

den Kellner leicht zu seh en war. Als Roi schwieg, sagte Freem an:

«Nun, ich bewohne Zim m er Num m er 220 — und Sie das Zim m er m itder Num m er 284.»

Ro i fuhr fort zu schwe igen.«Pythago ras», erklär te Free m an auswe iche nd und recht gehe im nis-

voll, «h ätte sich a n dies em kleinen Zufall siche rlich ge freut.»«Pythagoras — und unsere Zimm ernum m ern?» fragte Ro i m it wach-

sendem Interesse.

«Jawohl! Pythagoras entdeckte das Geheimnis unserer Zimmer-

nummern. Er fand den Schlüssel unserer Schlüsselnummern.» Das

Wo rtspiel Freem ans am üsier te Roi.«Und was hat Pythagoras entdeckt?» fuhr Freeman fort. «Er fand

he raus, daß der Inhalt von 220 284 ist — und um gekeh rt: daß 284 den In-ha lt 220 h at .»

«Ich bitte um Erklärung.»«Der sogenannte Inhalt einer Zahl ist die Summe aller ihrer Teiler,

inklusive 1, s ie s elber ausgenom m en. Nun, 284, a lso Ihre Num m er, is tteilbar durch ...» Freeman zog einen Bleistift aus der Rocktasche und

beschrieb damit die noch unberührte Papierserviette, «... 1, 2, 4, 71

und 142. Die Sum m e diese r T eiler ergibt: 220!»Ro i rech nete nun se iners eits den Inhalt von 220 a us und kam auf 284!«Das ist ja wunderbar!» rief Roi ergriffen und erstaunt.«Es gibt nicht viele solcher Zahlenpaare», erläuterte nun Freeman.

«220 und 284 sind unter 10 00 das einzige und erste dieser Art! Es soll

nur rund 200 solche Paare geben.» Freem an wurde bei der Sache warm ,

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und der Kellner mußte wiederholt anfragen, bis er an dem Tisch Gehör

fand, und Kaffee nachgoß.

«Pythagoras nannte Zahlen, die sich wie 220 und 284 verhalten, be-

freundete Zahlen», fuhr Freeman fort. «Ja, auf die Frage nach dem We-

sen aller Freundschaft habe er erläutert: Freunde verhielten sich wie220 und 284. Wahre Freunde tragen nämlich jeder noch den anderen

in sich selbst. Der eine hat den ganzen anderen zum Inhalt seiner

Seele.»

«So selten solche Zahlenpaare sind», nahm Roi den Faden auf, «so

selten dürften auch die wahren Freundespaare sein, die die Weltge-

schichte formen.» Rois Augen leuchteten in warmem, mildem Glanz.

Und nach einer Weile sagte er fast feierlich: «Alles Große in der

Menschheit ging aus Freundschaften hervor.»

«Gilgamesch», begann nun Freeman.

«Und Eabani», fuhr Roi fort.

«Alexander», sagte Freeman.

«Und Aristoteles», ergänzte Roi.

«Reginald von Piperno», sagte Freeman nach einem kurzen Zögern.

«Und Thomas von Aquino», setzte Roi hinzu, als wäre das der

ganzen Welt bekannt.Dann schwiegen beide eine Weile. Denn nachdem das dritte Freun-

despaar genannt war, war beiden klar geworden, daß jeder auch das

vierte und das jüngste kannte.

«Hier haben wir ein weiteres mathematisches Rätsel», brach Roi das

Schweigen, mit einem Lächeln, das fast schelmisch wirkte. «Wir haben

sechs genannt und haben doch nur zwei im Spiel.»

«So ist es», stimmte Freeman bei.

«Doch könnten wir noch einmal sechs aufzählen», fuhr Roi fort,«und blieben doch noch immer bei den zweien. Zwölf Persönlichkeiten

also, zwei Sprecher aus dem Weltenwort, die sie durchtönen — per-so-

nare. Je sechs <Masken>, doch die Stimme bleibt dieselbe.»

«Ja, die Stimme bleibt dieselbe», sagte Freeman halblaut, wie in

plötzlicher Ergriffenheit.

Roi bestrich ein aufgeschnittenes Croissant mit frischer Marmelade.

Dann blickte er dem Jüngeren ganz warm und offen in die Augen und

sagte: «London 1937. Die letzte unserer Begegnungen im letzten Er-

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denleib. Zwanzig Jahre früher hatte unsere Freundschaft angefangen.

Es w ar ...»«... im Juli 1917, in Be rlin», vo llende te de r Jünger e.«Berlin, im Juli 1917», wiederh olte Ro i in Um keh rung von O rt und

Zeit. Und seine Augen leuchteten erneut. «Dreigliederung des sozialenOrganism us — die rettende Sozialidee des gro ßen Lehre rs — sie führteuns zusammen.»

Und nach einer Pause fragte Roi den alten Freund: «Erneuern wir

den Freundschaftsbund in ihrem Zeichen?»

«Erneuern wir den Freundscha ftsbund in ihrem Zeiche n, M onsieurRoi!» bejahte Freem an.

«Jacques», bot Roi dem Jüngeren an.

«Haro ld», sagte dieser .«Befreundet wie d ie Zim m ernum m ern?»«Befreundet wie d ie Zim m ernum m ern!» s t r ah lte Harold Freem an.

Als sich die beiden Freunde kurz darauf verabschiedeten, meinte Roi

sehr einladend und liebenswürdig, während er den Zimmerschlüssel

in die T asche steckte:«Kennst Du schon, mein lieber Freund, die Statuen Gilgameschs

und Eabanis , die im Louvre s teh en?»Haro ld Freem an ha tte s ie noch nie gese he n und sagte freudig zu, s ie

anderntags mit Roi zusammen aufzusuchen. Dann zog er schnell ein

kleines Taschenbuch hervor und überreichte es dem überraschten

Freund mit sehr charmanter Geste.

«Ein Ro m an, den ich a uf m einer Überfah rt entdeckte. Er wurde hierin dies em Ha us bego nnen. Vielleicht m agst Du darinnen blättern?» Es

war der Ha drian-Rom an von Yourcenar. —

Nach dem Wiedersehe n m it dem al ten Freund m achte Freem an s ich zuFuß zum alten Stadtkern von Pa ris am linken Seineufer auf. Er ging inRichtung Panthéon die R ue St-Jacques hoch, den sanft ansteigenden

Genovevaberg hinauf. An der Kreuzung Rue St-Jacques/Rue So ufflotblieb er steh en. Links ist das Panthéon zu seh en. Rech ts s ieht m an aufden Bo ulevard St-M iche l und auf die Stadt hinunter . Freem an bo g nach

rechts ab und blieb nach ein paar Schr i tten vor dem Haus Rue Soufflot

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Nr. 14 stehen. Fast diskret und leicht zu übersehen erinnert eine Tafel

an ein denkwürdiges Stück Vergangenheit: An dieser Stelle war man

einst ins längst verschwundene Dominikanerkloster eingetreten. Hier

hatte Thomas von Aquin gelehrt; hier hatte, nach den langen Kerker-

jahren in Neapel, Campanella seine letzten Jahre zugebracht. TommasoCampanella, der in seinem Sonnenstaat in gewisser Weise die Idee der

Dreigegliedertheit des sozialen Organismus vorweggenommen hatte

und der den Rosenkreuzern nahe stand ... Freeman sann im Weiter-

schreiten ernst dem Schicksal dieses Mannes nach. Und erst der Lärm

des Boulevard St-Michel riß ihn aus dem Sinnen.

Planlos stöberte er kurz darauf in einer Buchhandlung in Sorbonne-

Nähe. Er kaufte schließlich eine Sammlung mit Essays von Stefan

Zweig, dessen Schicksal ihm schon «damals» sehr zu Herzen ging.Auch ein neueres französisches Werk über Otto Weininger erwarb er

sich. Stefan Zweig und Otto Weininger, in Freemans Augen zwei re-

präsentative Europäer, deren relatives Scheitern — sie begingen beide

Selbstmord — auf größerer Wahrhaftigkeit beruhte als viele der Erfolge

ihrer Zeitgenossen. Beide waren vor dem letzten Fin de siècle aus dem

Boden Wiens hervorgewachsen, zu einer Zeit, da Wien die kulturelle

Metropole des gesamten Abendlandes war.

In sein Hotelzimmer zurückgekehrt, setzte Harold Freeman sich an

den Louis-XVI-Schreibtisch und schrieb an die Geliebte:

Liebste Fiona!

Endlich kann ich D ir berichten. So vieles ist hier schon geschehen, daß es kaum

zu fassen und no ch schw erer aufzuschreiben is t. Denke D ir: Ich ha be heutemorgen unsern K aiser angetroffen! Und erkannt! Do ch nicht sogleich. Da s war

so gekomm en: Der F rühstückssaal des St. lames wa r randvoll okkupiert, als ich

hinunterkam. Ich wurde einem T ische zugewiesen, an dem bereits ein Herr saß,

der um die Vierzig schien. Von der F reundlichkeit, die von ihm ausging, machst

D u D ir wohl besser keine Vo rstellung; sie ist fast unvorstellbar, so wie alles

wah rhaf t Reine. Das w ar mein erster Eindruck dieses M enschen: unendl ichfreundlich u nd zugleich vo n un erschütterlicher F estigkeit. Neben unserem G e-

deck hatten w ir die Zimmerschlüssel hingelegt, dam it die K ellner unsere Zim-

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mernu mm ern auf einen B lick erfassen konnten. Zufällig bemerkte ich, daßmein Gegenüber die Nummer 2 84 hat te, während ich im 22 0 w ohne. LiebeFiona! Pythagoras nannte dieses Zahlenpaar (nebst verhältnismäßig wenig an-deren) befreundet. Addierst Du nämlich alle Teiler einer dieser Zahlen, dannbekomm st Du bei der ersten Zahl die zweite, und umgekehrt! D ies brachte al-les in den Fluß. Ich war um einen Ruck erwachter. Bald sprachen wir, wie an-dere vom W etter sprechen, von den großen F reundespaaren der Geschichte. Eswurd e immer feierlicher und zugleich vertrauter. Das G espräch nahm de n Ch a-rakter einer Art von W echselchor an. Ich sagte «Gilgamesch»; er sagte «Ea-bani». Ich sagte «Aristoteles»; er «Alexander». Ich: «Re ginald von P iperno»;er: «Thomas von Aquino». Dann hielten wir auf einmal inne. Jeder wuß te, wiedas F reundespaar zum letzten M al geheißen hatte. Dann sprach Ro i — so heißt

der neugefundene F reund — von den genannten und noch von anderen Persön-lichkeiten, in denen dieses Freundespa ar erschienen w ar. Die beiden Individu-alitäten dieses Paares nannte er schlicht «Sprecher aus dem Weltenwort», diedie wech selnden P ersönlichkeiten jeweils neu durchtönten. (Persön lichkeitkommt ja, wie Du w eißt, von «per-sonare», was eben ursprünglich Durch-Tö-

nen heißt, der Stimm e nämlich eines Schauspielers durch seine M aske.) Dannsagte er erneut ganz sch licht: «Doch die Stimm e bleibt dieselbe.»

Als er diesen Satz aussprach und ich ihn hörte, wußte ich mit einem M al

mit absoluter Sicherheit, daß ich w irklich ihn, von dem ich D ir gesprochenhatte, geist- und seelenha ftig vor mir hatte — «leibhaftig» wäre eben n icht das

rechte W ort, da ja der Leib ein anderer gew orden ist.Roi scheint meine Intuition sofort erfaßt zu haben. Denn, nac hdem er sich

in aller Ru he ein duftendes C roissant mit M armelade sorgfältig bestrichenhatte, begann er in der größten Selbstverständlichkeit von unseren B egeg-nungen im letzten Leben zu erzählen. Er sprach von unserer letzten (Som mer

193 7 in London) und von der ersten wichtigen Begegnung (Juli 1917 in Ber-l in). Er betonte, wie die D reigliederungsidee* unseres großen Lehrers denF reundschaftsbund, der zwischen u ns bestand, begründet und befestigt hatte.

* Die Idee besa gt ja: Ge istesleben, Wirtschaftsleben und Re chtsleben m üssen von-einander unabhängig werden. Im Geistesleben m uß die Freih eit, im Wirtschaftsle-ben Brüderlichkeit, im Rechtsleben von Mensch zu Mensch die Gleichheit waltenkönnen. Erst in einem solchen dre igegliederten sozialen Organism us können diedrei Rufe der Französischen Revolution verwirklicht werden. Sonst bleiben sie

auch w eiterhin verwirrende Schlagworte; verwirre nd, weil s ie ja bere chtigt s ind

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Im Zeichen dieser immer noch verkannten und mißachteten Idee beschlossenwir darauf, die Freundscha ft zu erneuern. Ein warmer Händedruck besiegeltedas unvorhergesehene und doch wie längst vorherbestimmte Zeremoniell deswundervollen Wiedersehens.

Und weißt Du, wo das alles stattfand? In dem Hotel, in welchem M argue-rite Yourcenar den Hadrian-Roman begonnen hatte oder vielmehr zu vollen-den sich entschloß! Beim Abschied nach dem Frühstück überreichte ich demFreund das Hadrian-Buch Yourcenars, das ich seit der Ü berfahrt stets in derTasche trug und das mich auf das Wiedersehen in so schöner Weise vorberei-tet hatte. Von ihrem «Porträt einer Stimme» bin ich zur realen Stimme hinge-leitet worden ...

Das a lles sage ich nur D ir, der großen Schweigen-Könnerin ...

Liebe F iona! Du wirst ermessen können, was d ieser Morgen in P aris fürmich bedeutet. Er ist der Anfang meines neuen Wirkens für die einzige Idee, dieder kranken M enschheit eventuell den Abgrund noch ersparen kann. Lebe wohl!

Es kann kein größeres Kunstwerk geben als die Begegnung zwischen M en-schen.

Doch d en Blick für diese Kunstwerke des Schicksals muß man sich natür-lich erst erwerben.

Harold

Kaum ha tte Haro ld Freem an seine Feder weggelegt, als jem and ihnam T elefon verlangte.

«Ach, M adam e Jones !» rief er. «Danke gut! Und Ihnen? — Ja doch ,seh r gerne! Vor der Notre-Dam e? Abgem acht.»

und dennoch keiner weiß, in welcher Lebenssphäre sie sachgemäß verwirklicht

werden können. Heute glaubt fast jeder, etwas Richtiges sei auf a llen Le bensfel-dern anzuwenden. Kapita ler I r r tum ! Im Geis tes leben m uß f re ie Konkurrenz derFähigkeiten h errsche n; im Rechtsleben ist ein konse rvatives E lem ent zu pflegen;im Wirtschaftsleben soll Opportunismus walten: eine Ware soll z.B. da erzeugtwerden, wo die Be dingungen dafür am besten sind.Heute geht alles durcheinander. In der Wirtschaft herrscht hemmungslose Kon-kurrenz und das roh e «Re cht des Stärkeren» (siehe W orld Tra de Orga nization). Im

Geistes leben h aben wir den schlim m sten Opportunism us (auch in der Be wegung,der wir uns verbunden wissen!).

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Vom Glockenturm der Kathedrale schlug es eben drei, als Freeman

vor dem Haupteingang der Notre-Dame Madame Jones entdeckte. Die

Diplomatengattin trug diesmal einen eleganten dunkelvioletten Man-

tel, und während Freeman ihr charmant die Hand zum Gruße küßte,

mußte er erneut den exquisiten Diamantenring bewundern, der ihm

entgegenleuchtete.

Man machte einen kurzen Rundgang durch die Kathedrale und

wollte schon zur Sainte-Chapelle, als Freeman Madame Jones beim

Es gibt natürlich auch noch eine innere Begründung der Notwendigkeit einer drei-

gegliederten Sozialgestaltung. Sie liegt im inneren Entwicklungsprozeß der ganzen

Menschheit. Die Menschheit schreitet heute über die Schwelle zur geistigen Welt.

Der Nebeneffekt dieses - zumeist erst unbewußt erfolgenden - realen Schwellen-übertritts ist, daß die Seelenkräfte von Denken, Fühlen und Wollen sich aus ihrem

früheren, naturgegebenen Zusammenhang emanzipieren. Sie fallen auseinander

und müssen nun vom freien Menschen-Ich in neuer Art verbunden werden. Der

«gemischte König» aus Goethes großem Märchen von der schönen Lilie und der

grünen Schlange ist in sich zusammengesunken, d. h., eben der natürliche Zusam-

menhalt von Denken, Fühlen und Wollen hat aufgehört zu wirken. Da dieser Prozeß

von den meisten Menschen noch verschlafen wird, kommt es zu den Seelenkrank-

heiten von heute. Das Fühlen verbindet sich nicht mehr mit den «Taten und Leiden»

des Denkens. Es ist den Menschen gleichgültig geworden, was sie denken. Das Den-ken ist kalt geworden und gefühllos, und das Gefühl gedankenlos. Und das Wollen

schließlich geht, gedanken- und gefühllos, ganz eigene und dunkle Wege. Betrachte

nur einmal die vielen, scheinbar unerklärlichen Gewalttaten in unserem heutigen

Amerika und in der ganzen Welt von diesem Standpunkt aus etc. - Diese Trennung

unserer Seelenkräfte ist jedoch notwendig, sonst könnten wir ja niemals freie Lenker

unseres Denkens, Fühlens, Wollens werden. Das aber ist das Ziel der Erdentwick-

lung. Und deshalb, weil das Innere des Menschen in die Drei zerfällt und von der

Vier (= Ich) zu lenken ist, muß die Sozialgestalt dreigliedrig werden. Der alte Ein-

heitsstaat, wo Geistesleben, Recht und Wirtschaft alle ineinander verknäuelt waren,

entspricht dem Zustand des «gemischten Königs». Dessen Zeit ist aber abgelaufen.

Will die Menschheit von der «gemischten Drei» zur differenzierten «Drei und Eins»

fortschreiten, so braucht sie auf sozialem Feld nicht Supereinheitsstaaten wie die ge-

genwärtige EU, sondern wirklich dreigegliederte soziale Organismen. Sonst muß

die innere Entwicklung des Menschen, die einfach eine Tatsache ist, in immer größe-

ren Widerspruch geraten mit der Sozialstruktur, in der er sich befindet. Das darf

nicht sein. So weit in Kürze die große Lehre unseres Lehrers.

Ich sehe mit Entsetzen, wie lang die Fußnote geworden ist. Der «Dr.» von «damals»

steckt mir wirklich noch recht kräftig in den Knochen.

Das ist natürlich alles grob vereinfacht! H.

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Gitter vor dem Hauptportal sanft beim Arm zurückhielt und, mit dem

Finger a uf ein rundes Steinrelief auf Augenhöh e de utend, sagte:«Seh en Sie die Jungfrau dort, m it der Le iter in der H and?»«Ich h abe s ie scho n oft bewundert und fragte m ich, wer s ie woh l sei.»

«M adam e», sagte Freem an m it einem feinen, freien Läche ln, «das istM adam e la Philos oph ie.» Und oh ne auf das Staunen der Begleiterin zuachten, fuhr er fort: «Doch haben Sie auch schon gezählt, wie viele

Sprosse n ihre Leiter h at?»«Nun, es sind — ne un.»«Und was kann das dem Betrachter sagen?» insistierte Freeman

freundlich.«Eh bien?» sagte Madame Jones und blickte Freeman voll Erwar-

tung an.«Es sind die Stufen hierarchisch-spiritueller Wesenheiten», sagte

dieser. «Von de n Engeln bis zu den Sera phim hinauf. Sie sind ja aus de rchristlich -abendländisch en Ü berlieferung w o hlbeka nnt.»

«Das hieße ja, die Philosophie könne zur Erkenntnis solcher hoher

We senh eiten führe n?»«Gewiß, und zwar im vollen Lichte der Vernunft, eine Stufe um die

andere, nicht nur in mystischem, vernunftlosem Erahnen. Natürlichkann das nur die wahre Philoso phie; nicht das, was h eute unter diese mNam en die Ge stalt, vor dere n Abbild wir hier steh en, verleum det, m ar-ter t und verspottet . Die wah re Ph iloso phie jedoch, s ie is t das T or zu derErkenntnis spiritueller We se nhe iten. Sie ist ja se lber eine s olche ! Bis insf rühe M ittelalter wußte das noch m ancher M ensch.»

«Ah!» sagte Madame Jones bewegt und überrascht, «das ruft mir

m einen Lieblingsschriftsteller aus m einer Studienzeit in lebha fte Erin-

nerung. Ich be legte ja für eine W eile», fügte sie be sch eiden no ch h inzu,«auch Ph iloso phie.»

Freeman wurde neugierig.

«Ich meine den Boethius und seine Tröstungen der Philosophie. Alseine he hre Frauengestalt ersch eint sie ihm . ..»

«... während er verzweifelt im Gefängnis sitzt», führte Freeman

ihren Sa tz zu Ende.«Sie kennen a lso dieses Werk?» fragte M adam e Jones .«We r könnte es nicht kennen, der diese D am e liebt? Der je die T rö-

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stungskraft erfahren hat, die den Gedanken innewohnt, aus denen sie

gewo ben ist?»«Ja, ja, nicht wahr», begann sich Madame Jones wahrhaftig zu be-

geistern, «Boethius beschre ibt, daß ihr Ge wand ganz aus de m Stoff ge-woben sei, den der Gedanke hat.»

«Und erinnern Sie sich auch, Madame», fragte Freeman, seinerseitsbefeuert, «wie dieser sonderbare <Stoff> des Näheren beschrieben

wird?» Nach kurzer Pause setzte er hinzu: «Boethius sagt klar und

deutlich, e s h andle s ich um einen <unzers törbare n Stoff>. Indisso lubilismateria nennt er ihn. Er zeigt uns damit, daß die Gedanken-Stofflich-

keit in Wa hrh eit ...»

«... ewiger Natur i s t» , nahm M adam e Jones den Faden auf.

«Ewiger Na tur», wiederho lte Free m an m it Bedacht .Es he rrschte eine We ile Stille. Dann sagte M adam e Jones:«M onsieur Freem an, wollen Sie vielleicht die Güte ha ben, m ir nun

noch zu erläutern, inwiefern wir durch den <unzerstörbaren Gedan-

ken-Stoff> einen Zugang zu den Sphären h ierarchische r W ese n ha bensollen?»

Freeman freute sich, daß sich die Diplomatengattin so beherzt in

m edias res begab. Er läche lte und sagte:«Es ist mir eine Ehre, Madame Jones, es zumindest zu versuchen.

Do ch wenn Sie nichts dagegen h aben, will ich de n Versuch erst wagen,wenn wir die Sa inte-Cha pelle be treten h aben. Ich h abe das G efühl, daßunser Thema nach dem Raum verlangt, den ich schon lang zu sehen

wünschte.»

Eine Viertelstunde später sa ß das Pa ar a uf einer Steinbank an der Ein-

gangswand der herrlichen Kapelle. Helles Winterlicht fiel durch diefarbigen Glasscheiben und durchfloß in mannigfaltigsten Nuancen

den hoh en, schm alen Raum , dessen Propor t ionen so vollkom m en s ind.Nur das Gelb und Blau schien in den Farbenfluten vorzuherrschen,

und im letzten Fenster vor dem rechten Choranfang das unvergleich-

lich feierliche Violett.«Madame», begann nun Freeman nach einer Weile stillen Schwei-

gens, «bedenken wir zuerst , was vorge ht, wenn w ir denken. — Nicht wah r,

wir untersch eiden Akt und Inha lt, das h eißt die T ätigkeit des Denkens ,

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sowie dessen Inhalt. Der Akt ist individuell, persönlich, in diesem Sinne

<subjektiv>. Da s <Ich denke> ist heutzutage jedermann bekannt.»

«Und deshalb wird auch oft der Denk-Inhalt als etwas Subjektives

aufgefaßt», führte Madame Jones die Feststellung von Freeman fort.

«Ganz richtig, doch wie Sie ohne Zweifel selber wissen, ist dasgänzlich unbegründet. Daß zwei und zwei gleich vier ist, hat mit dem

Denk-Subjekt, das diese Wahrheit denkt, nur das zu tun, daß sie sich im

denkenden Subjekte zeigt. Wird nicht gedacht, kommt diese Wahrheit

eben nicht zum Vorschein. Doch sie besteht natürlich auch in diesem

Falle fort, von allen Denkakten ganz unabhängig, ist sie doch, aus <un-

zerstörbarem Gedankenstoff> gewoben. Von einem Menschen, welcher

diesen schönen Ort verläßt» — Freeman deutete bei diesen Worten auf

einige Touristen, die im Chorraum standen —, «würde niemand sagen,er habe aufgehört zu sein, weil er nicht mehr hier erscheint.»

«Bezüglich der Gedanken-Inhalte glaubt das heute aber fast die

ganze Welt», betonte Madame Jones, «obwohl das nicht vernünftiger

gefolgert ist als in Ihrem Beispiel.»

«Das liegt nur an der falschen Auffassung der Rolle des Subjekts

beim Denken», fuhr Freeman fort. «Man meint, weil doch zum Denken

das Subjekt notwendig ist, könne das, was im Bewußtseinsraum als derGedanken-Inhalt zur Erscheinung kommt, auch nur subjektiver Ar-

tung sein. Das ist erneut so töricht fortgefolgert, wie wenn einer sagte:

Wenn es an der Haustür klingelt, und ich öffne selbst die Tür, worauf

dann ein Bekannter oder auch ein Unbekannter eintritt — dann sei ich

deshalb auch der Schöpfer dieses andern und es sei nur eine Illusion, zu

meinen, dieser andere habe objektive Existenz sowie Essenz, vom

türöffnenden Subjekt ganz unabhängig!»

«Monsieur Freeman, Sie sind ein fabelhafter Pädagoge!»Freemans Abwehr folgte auf der Stelle:

«Madame, der gute Pädagoge läßt sich durch die <Zöglinge> erzie-

hen. Diesen ist es also zu verdanken, wenn etwas aus ihm wird, nicht

wahr? Sollte ich je Zöglinge besessen haben? Doch Scherz beiseite: So-

sehr sich unser Unbekannter oder auch Bekannter recht dafür <bedan-

ken> würde, wenn ihm erst der Akt der Türöffnung zur objektiven Exi-

stenz verhülfe, so sehr läßt es auch den ewigen Gedanken-Stoff ganz

unberührt, ob wir Menschen ihm — durch unsere Denktüröffnungen —

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ermöglichen, den sakralen Schauplatz unseres Bewußtseins zu betre-

ten. Jawo hl: Sakral ist dies er Sch auplatz inso fern, als doch de r Ort, anwelchem Unzerstörbar-Ewiges erscheint, dadurch geheiligt wird,wenn Sie so wo llen.»

«So verstanden wäre reines Denken Gottesdienst», bemerkte Ma-

dam e Jones m it s ichtliche r Bewe gung.«Jawo hl! Nur dürfte e s noch lange dauern, bis die M ensch he it auch

den T em pel des Bewußtseins derart schätzt, wie sie die äußeren T em pelliebt. Do ch sch we ifen wir nicht ab: Wa s können wir bezüglich de r so ei-gentüm liche n Betätigung des <Ichs> im Akt des Denkens konstatiere n?»

«Es zeigt die s elbstlos e N atur der T ätigkeit des Ichs , inso fern es de n-kend tätig is t.» Nach kurzem Nachdenken setzte M adam e Jones h inzu:

«Das denkende Subjekt will ja gera de nicht sich selbst, so ndern dasErsch einen objektiven unzerstörbaren Ge dankenstoffs.»«Und dieser», sagte Freeman, «bleibt sich immer gleich, wie viele

Individuen ihn auch de nken m ögen. Den Ge danken <vier> gibt es nureinmal. Wenn vier ihn denken, kommt er in vier Subjekten zur Er-scheinung und bleibt dem Wesen nach natürlich doch der eine und

derselbe. Um im Bild zu sprechen: Mein Bekannter kann gewiß auch

noch in andern Häusern Einlaß finden, darum vervielfacht sich natür-

lich nicht sein Wesen. — Im Bilde der Frau Philosophie gesagt: ZweiMenschen, die denselben Inhalt denken, berühren an der gleichen

Stelle deren Kleid. Wer das begreift, begreift die objektive Grundlage

von menschlicher Gemeinschaft.»«Dam it ist viel gesagt», verse tzte M adam e Jones . «Denn nicht in dem ,

was bei den e inzelnen Subjekten differiert, kann wirkliche Ge m einscha ftl iegen, sondern nur in dem , was a lle tatsächlich ge m einsam ha ben kön-

nen, und das ist zunächs t ja w irklich nur der o bjektive unzerstörbare Ge -dankenstoff. Zwar m uß ihn jeder ganz <privat> berühr en, und doch ist erso <öffentlich> wie die ganze bunte We lt der Sinne.»

«M it dem Unterschied jedoch», fuhr Free m an fort , «daß der <Stoff>,aus de m die letztere gewo ben ist . ..»

«... nicht unzerstörbar ist, wie jeder weiß, wie ganz besonders jede

Frau weiß, die schon über dreißig ist», beendete die Diplomatengattin

den Gedankengang mit feiner Ironie. — Dann kam sie auf den Aus-

gangspunkt zurück und fragte:

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«Was haben wir damit jedoch für unsere Hauptfrage gewonnen?

Wie kann das Menschendenken zu den Wesenheiten auf der Himmels-

leiter führen?»

«Nun, sehen Sie, Madame», ging Freeman sofort auf die Frage ein,

«wir können uns nun eine recht genau Vorstellung von einem <Engel>

machen, um einmal auf der ersten Sprosse unserer Himmelsleiter an-

zufangen. Halten wir noch einmal fest: in der Tätigkeit des Denkens of-

fenbart sich unser Ich als wahrhaft Selbstlos-Tätiges. Seine Tätigkeit

besteht darin, sich innerlich mit etwas Fremdem zu erfüllen. Dieses

Fremde, andere ist der <Gedankenstoff>. Ihm sind wir selbstlos hinge-

geben, nachdem wir erst für sein Erscheinen sorgten. Er erscheint so,

wie er ist, und nicht, wie wir ihn vielleicht haben möchten. Ich kann so

lange wünschen, wie ich will: Aus <Zwei> wird niemals <Drei>. Soselbstlos, wie wir selbst im Denken leben, so selbstlos lebt und offen-

bart sich nun ein Engel, in allem, was er tut. Und was uns als Gedan-

kenstoff erfüllen kann, das ist bei ihm der Geist der ganz konkreten

hierarchischen Wesenheiten über ihm. Wir erfüllen unseren Bewußt-

seinsraum mit Gedankenstoff, der Engel mit realem Geist. Doch der

Substanz nach ist das gar kein Unterschied. Gedanke ist nur die erfro-

rene Form von Geist. Wie Wasser unter Umständen zu Eis gefriert, so

Geist zu dem <Gedanken>. Nur die Form verändert sich, der Stoff bleibt

ganz derselbe.» Freeman schwieg und fügte dann hinzu: «Diesem Un-

terschied verdanken wir die Freiheit, Madame Jones.»

«Sie meinen, dem Gedanken gegenüber sind wir frei, weil er so we-

nig in Bewegung bringt wie Eis, während Engel von dem Geistes-Was-

ser, das lebendig flutet, hin- und hergetragen werden.» Madame Jones

erwartete die Fortsetzung.

«So ist es ! W ir müssen selber wollen, daß ein Gedanken-Inhalt sichin einer Tat verwirklicht. Das tut er nicht von selbst, wie die übergroße

Zahl von Menschen-Vorsätzen beweisen, die nie verwirklicht worden

sind. Der Engel jedoch wird zu seiner Tat vom Geist, der in ihm wirkt,

bewegt. — Jeder Engel-Vorsatz setzt sich sofort um in seine Tat. — Der

Engel kennt daher die Freiheit nicht!»

«Ein ungewöhnlicher Gedanke!» rief Madame Jones erstaunt aus.

Ein paar japanische Touristen wandten sich nach unserem Gesprächs-

paar um. Und Madame Jones fuhr etwas leiser fort:

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«Dann steht der Engel also nicht in jeglicher Beziehung über uns!»Und Freem an gab m it ähnlich le iser Stim m e zu bedenken:«Doch diese W ah rhe it darf erst denken, wer sch on die andere ke nnt

und auch befolgt: Der Engel ist das große Vorbild, wenn es um die

Fähigkeit se lbstlo sen Ha ndelns geht. De nn erst im De nken können wir

uns heute selbstlos-objektiv betätigen. Wie es mit unserem Fühlenoder Wollen diesbezüglich steht, brauch ich Ihnen nicht zu sagen. Da

herrscht gewöhnlich doch weit weniger an sogenannter Liebe, als

viele Menschen glauben mögen. — Wer das einmal begriffen hat, der

kann auch, ohne hochmütig zu werden, das Gegenstück zu denken

wagen: Im Hinblick auf die Fähigkeit zur Freiheit ist das Vorbild für

den Engel, ja auch für fast alle andere n höhe ren We sen über ihm — der

M ensch! — So wie der M ensch die grenzenlose Liebefähigkeit des En-gels nur verehren kann und sie sich zum Vorbild nehmen sollte, so

schaut der Engel auf den Menschen und verehrt in ihm den ersten

freien Geist.»«Dann m üssen sich die Engel freuen, wenn M ensche n selbstlos den-

ken. Sie lerne n Freihe it kennen, wenn sie auf dies es T un von freien Ge i-stern blicken.»

«Damit haben Sie, Madame, auf eine kosmische Bedeutung dessen

hingewiesen, was wah res M ensche ndenken is t .»Madame Jones blickte schweigend zum kreuzrippenförmigen Ge-

wölbe ho ch, das weit oben den gesam ten Raum abschloß und s ich m itse inen ge lben Sternen auf dem blaue n Grund gleich zeitig ins U nendli-che zu öffnen schien.

«Oh », rief sie plötzlich ga nz erstaunt, «das Längsge wölbe ha t genauneun Te ile!» Haro ld Freem an nickte schwe igend. Dann erho b s ich un-ser Paar wie in einer stillen Übereinkunft und schritt ganz langsam

durch den Raum.

«M adam e Jones», sagte Haro ld Freem an schließlich, «ich ho ffe, Sieverzeihen mir, wenn wir erst begonnen haben, die unterste der Spros-

sen unserer neunstufigen Himmelsleiter zu berühren.»

«Ach, Sie wissen gar nicht, Monsieur Freeman, wie glücklich ich

mich schätze, das Wesen von Madame la Philosophie, dieser unserer

gemeinsamen Geliebten, nun, wie ich glaube, neu und sehr viel tiefer

zu verstehen als zuvor. Und ich schätze mich weit mehr als glücklich,

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zu erahnen, wohin es einmal führen kann, auch nur die erste Sprosse

ihrer Himmelsleiter zu betreten.»

Nach kurzem Schweigen sagte Madame Jones sehr lebhaft und be-

tont:

«Monsieur Freeman, Sie erstaunen mich! Wo haben Sie denn nur

das unglaubliche Wissen her? Sie gingen zweifellos bei großen Lehrern

in die Schule!»

«Madame», ging Freeman sogleich auf die Sache ein, «drei große

Lehrer hatte ich und habe ich noch immer: das Leben, das Studium und

den Menschen, der mir zeigte, wie man durch das Studium und vom

Leben lernt. Der letzte ist mein größter Lehrer. Doch er lehrt an keiner

Schule oder Universität. Für die meisten Menschen ist er ein ganz un-

scheinbarer Mensch.»Nach einer kurzen Pause fuhr Freeman, scheinbar unvermittelt auf

ein neues Thema überleitend, fort:

«Wissen Sie, wer vor 750 Jahren hier an dieser Stelle stand? — Tho-

mas von Aquino. Er verteidigte in diesem Raume einmal seine Lehre

gegen einen Kontrahenten. Der Aquinate trat für die Objektivität der

vom menschlichen Subjekt ganz unabhängigen Idee ein, in Fortset-

zung von Aristoteles und Plato; sein Gegner leugnete den <unzerstör-

baren Gedankenstoff>, wie es heute ja die meisten Menschen tun, vorab

die meisten sogenannten Philosophen. — Und wissen Sie, wie man den

Aquinaten nannte?»

«Doktor Angelicus», antwortete die Diplomatengattin unverzüg-

lich. «Das Prädikat will uns wohl sagen, daß er sich nicht nur auf dem

Gedankenstoff-Gewand der Philosophie auskannte, sondern offenbar

auch ihre Himmelsleiter auf- und niedersteigen konnte.»

«Wir haben also das Gespräch am rechten Ort geführt, nicht wahr!»bemerkte Freeman ganz befriedigt.

«Mehr als das, Monsieur. Auch sehr zur rechten Zeit. Mein Leben

braucht gerade jetzt Vertiefung solcher Art.» Und mit leicht besorgtem

Ton fügte Madame Jones hinzu: «Sie haben meinen Mann gesehen. Ich

fürchte, sein Bestreben geht mehr und mehr in Richtungen, in die ich

ihm nicht folgen kann und auch nicht will. Sein Verkehr mit Amhurst

und neuerdings auch mit dem schlauen Jesuiten will mir nicht gefallen.

Er läßt Sie übrigens von Herzen grüßen und wiederholt die Einladung

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zum Gala-Cocktail auf der Botschaft, am nächsten Samstagabend. Sie

können selbstverständlich in Begleitung kommen.»

«Ich komme gerne, wenn man mich noch nicht in Brüssel braucht.»

Als Madame Jones und Harold Freeman die Sainte-Chapelle ver-

ließen, schlug es eben fünf. Der Verkehr schien nach der relativen Stille

in der gotischen Kapelle lauter als zuvor.Auf dem Wege zu den großen schmiedeeisernen Toren an der Straße

lenkte Freeman nochmals auf das Hauptthema zurück und sagte, Ma-

dame Jones' anfängliche Entdeckung am Gewölbe der Kapelle gleich-

sam unterstreichend:

«Neun Gewölbeteile also, neun Gewölbeteile — das zeigt ja klar,

nicht wahr, wie diese ganze wunderbare Gotik ohne Wissen von den

Hierarchien gar nicht denkbar ist. Und der erste, der die Hierarchien-

lehre des frühen Mittelalters in die Bauformen der Gotik umzusetzen

anfing, war Abt Suger von Saint-Denis.»

«Auch Suger kennen Sie!» rief Madame Jones erneut verwundert.

«Wo ihn doch selbst in Frankreich nur Gelehrte kennen!» Dann blieb

sie plötzlich mitten auf dem Gehsteig stehen und fragte:

«Monsieur Freeman, sind Sie wirklich Diplomat?» Die elegante

Dame mit dem klaren, feingeschnittenen Gesicht und dem violetten

Mantel sah Freeman aus zwei schönen dunklen Augen, die zum hellenHaar sehr wirksam kontrastierten, von der Seite an und lächelte ver-

gnügt und leicht kokett.

«M adam e Jones, die De utschen sa gen <Botscha fter> stat t <Diplom at>.In <Botschafter> steckt <Bote>, und das ist jemand, der gewisse Bot-

schaften von einem Ort zum anderen trägt. Nun, ich bin ein Bote, der

sich vielleicht nicht nur auf dem Politikparkett bewegt.» Mit diesen

Worten nahm Freeman wiederum die Hand von Madame Jones und

küßte sie zum Abschied. Und wieder blitzte ihm der Diamant entge-gen.

Man sagte sich «au revoir» und meinte, was man sagte.

Harold Freeman setzte sich in ein Café am Boulevard St-Michel. Und

noch bevor er sein Glas Perrier vor sich hatte, schrieb er an Fiona:

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M eine Liebste!

Kom me eben von der Sainte-C hapel le und von der Notre-Da me und si tze,wäh rend ich dies schreibe, an einem C afétisch mit Blick auf die von einer war-

men A bendsonne san ft umspielte Kathedrale. M rs. Jones rief mich am V or-mittag im H otel an und w ollte ihr Versprechen, mir etwas vo n P aris zu zei-gen, gleich einlösen. Wir betrachteten zuerst die allegorische «Ph ilosophia»am H auptportal der Notre-Dame. Und u nversehens waren w ir im schönstenphilosophischen G espräch. M rs. Jones entpuppte s ich zu meiner großenFreude als unbefangen denkende P ersönlichkeit (obwohl sie früher eine W eileakadem ische Philosophie studierte!), und es war herzerfrischend, wie sie allem

folgte. Ausgehen d von den neun Sprossen d er Leiter dieser Reliefplast ik

sprach ich vom Verhältnis des philosophischen Denkens zur realen W elt derneun hierarchischen W esensstufen über uns. Da s alles war durch die Begeg-nung mit Jacques Roi in Gang gekom men. Ich meine damit Folgendes. Duweißt, Roi sprach sogleich von 191 7 und Berlin. Nun, im Sommer 19 17 suchteich dort meinen Lehrer auf, um meine D oktorarbeit mit ihm durchzusprechen .Sie sollte u. a. zeigen, daß im ganz gewöhn lichen M enschenden ken der Keimdes hierarchischen Weltendenkens ruht. (Erst danach w urde ich in das Sozial-

projekt des Lehrers eingeweiht.) D ies alles wurde m ir im Innern intensiv und

lebhaft gegenwärtig, als ich mit Mrs. Tones vor dieser Plastik stand.Dan n gingen wir zur Sainte-Chapelle und führten das Gespräch, das im-

mer meh r zu einer Untersuchung w urde, ich möchte sagen, Schritt für Schrittdem H öhepunkt entgegen. Und dieser Höhepunkt w ar folgender: Vom Engelkönnen w ir die unbedingte Hingabe erlernen, am M enschen lernt der EngelFreiheit kennen. (Das Längsschiff dieser herrlichen Kapelle wird übrigens voneinem neunteiligen Kreuzrippengew ölbe überdeckt, was M adam e Jones so-

gleich bemerkt hat!)Wir sprachen über eine Stunde lang von Engelwesen und endeten bei un-serem D octor Angelicus, der ja, wie D u weißt, in diesem selben Raum gestan-

den hatte, um seine Lehre gegen B onaventura zu v erteidigen.Von Engeln, die zurückgeblieben w aren, konnte ich natürlich nicht gleich

reden. Obwohl gerade hier in dieser Stadt viel Anlaß dazu wäre. Ich meine ins-

besondere die retardierten Engel aus Ägypten. Sie mach ten das M ysteriumvon G olgatha nicht mit und w ollen noch im 2 0. Jahrhundert (und woh l in

weite Zukünfte hinein) so wirken, als habe es kein G olgatha gegeben. Was

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glaubst Du nu n, wo diese retardierten Wesenh eiten in unserer G egenwa rt am

stärksten und am liebsten wirken? In allem Logentum, da s auf ägyptischenRiten oder Zerem onien fußt! Und solches Logentum ist gerade hier sehr starkvertreten. M an braucht nur an den «G rand O rient» zu denken, der es im-merhin vor über hundert Jahren fertigbrachte, die gute, irrende B lavatsky mit

okkulten M itteln in «G efangenschaft» zu setzen, das heißt ihr geistiges Be-streben auf sich selbst zurückzuw erfen. Das gescha h mit Hilfe solcher retar-

dierter Angeloi. Diese Wesen stehen ja auch jetzt im H intergrund des M ate-rialismus, und zwar au ch jener Form von M aterialismus, welche sich so oftauf spirituellem Felde zeigt.

(D ie fortgeschrittenen En gel aus Ä gypten fördern and rerseits die zeit-gemäße Ü berwindung dieses Materialismus.) Vom O belisken auf dem Place de

la Con corde, über M itterrands höchst öde Pyramide vor dem Louvre führt einschnurgerader Weg in das dekadent-ägyptische Logentum von Frankreich ...So brachte mir die lang ersehnte und doch unerwa rtete Begegn ung mit

dem große n F reund erst das «Sozialprojekt» des Lehrers an die Oberfläche des

Bew ußtseins und dann das ganze Feld der spirituellen Wesenheiten.Am Ende unseres Rund gangs fragte M rs. Jones nach meinen Lehrern,

denn m ein «Wissen» kam ihr ungeheuer vor. Ich nannte ihr das Studium,dann das Leben und schließlich unseren bekannten-unbekannten Lehrer. Da

sie hier nicht we iter fragte, ging auch ich nicht weiter.Liebste F iona, nun bitt ich Dich um eines: werde ja n icht eifersüchtig. Du

weißt ja, wie ich über solche «zufälligen» Treffen w ie das mit meinen beidenJones zu denken pflege.

U nd vor al lem weißt Du gan z genau, wie ich von un serer Beziehungdenke. Sie ist und bleibt das wahre S anktuarium für unser beider Ich. UnsereBegegnu ng war und ist das große W under meines Lebens, wie des Deinen.Auch für D ich, Fiona, gilt für mich De in wunderbares W ort: «Was dem B lick

entschwunden ist , kehrt singend aus dem H erzen wieder.» Nun lebe wohl!

Kuß H arold

P.S. M orgen geht es in den Louvre. Am Sa mstag ev. noch auf den Botschafts-Cocktail von Ernest Jones. Am So nntag dann mit Jacques nach Chartres. Ich

sollte eigentlich ja schon in Brüssel sein!

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I ns St. James et Albany zurückgekehrt, versenkte Freeman sich in ei-

nes seiner neugekauften Bücher, zur Entspannung, wie er dachte. Er

hatte sich für Weininger entschieden; das Buch von Stefan Zweig

würde er dann irgendwann und irgendwo im Zuge lesen. Bald hatte er

den Raum um sich herum und auch die Zeit vergessen. Doch Freemanlas nicht lange in dem neuen Buch, dessen Autor ein in Griechenland

geborener Franzose war, wie der Klappentext verriet. Otto Weininger!

Schon der Name dieses Menschen versetzte ihn in eine ganz bestimmte

intensive Stimmung. Weininger, der geistreiche Verfasser des berühm-

ten Werks Geschlecht und C harakter, welches am Jahrhundertanfang die

Geister schied in glühende Verehrer und in nicht minder glühende Ver-

ächter. Nennen wir nur zwei der ersteren: Karl Kraus und August

Strindberg. Strindberg schickte einen Kranz nach Wien, als Weiningerin jungen Jahren starb.

Freeman faßte den Entschluß, um der seltsamen Ergriffenheit, die

sich seiner zu bemächtigen begann, so rasch wie möglich Herr zu wer-

den, eine spirituelle Übung durchzuführen, die er stets zu machen

pflegte, wenn er ganz besonders tiefe Seelenruhe und höchste Konzen-

triertheit brauchte.

Eine Stunde später griff er wiederum zur Feder und schrieb an

Fiona:

Meine Liebe!

Du stellst Dir gar n icht vor, wie intensiv hier alles geht. Ich kaufte heute einmir unbekanntes Buch (in deutscher Ü bersetzung, das O riginal ist auf fran-zösisch) über Otto Weininger, der am Anfang des Jahrhunde rts sein sehr um-

strittenes Werk Geschlecht und Charakter in die W elt w arf , ehe er sichselbst das Leben nah m. Ich hatte jedoch ka um zu lesen ange fangen, als ichFolgendes erlebte.

Schon der bloße Name «Weinfinger» begann wie ein sehr kräftiger Magnet,Erinnerungen aus den Seelenuntergründen hochzuheben. Schon «dama ls»war m ir O tto Weininger und sein tragisch-merkw ürdiges Schicksal innerlichsehr nah gegangen. Ich war gerad e zwölf geworden, als mein Vater eines Tagesmit der Nachricht heimkam, Weininger, «dieses einsame G enie» (wie der Va-

ter sagte), habe sich an diesem M orgen eine Kugel in die Brust gejagt — mit

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dreiundzwanzig Jahren, im Sterbezimmer B eethovens! Ganz Wien betrauerteden rätselhaften Sohn. Wie ein Film entrollten sich vor meinem S eelenaugeBilder vom Jahrhundertanfang.

Und neue B ilder, anderer Art begannen sich hineinzumischen: Sie stam-men aus der G eistesforschung unseres Lehrers. Weininger in einem K erker an

der Küste von Neapel. C ampane lla hieß er damals. Für seinen Aufruhr gegenSpanien saß er gute zwanzig Jahre im Ge fängnis. Dort entrang er seinem Lei-den den grandiosen Sonnenstaat. Nach seiner endlichen B egnadigung durfteer noch ein paar Jahre in der F reiheit leben. Hier war das gew esen, in Paris,und erst vor ein paar Stunden hatte ich das Haus passiert, in dem Tom masoCa mpanella an einem M aienmorgen des Jahres 163 9 (wenn ich mich nichtirre) starb.

Un d weiter noch zurück führten mich die in das W eltgedächtnis eingra-vierten Forschun gsbilder unseres Lehrers; noch weiter rückwärts in der Zeitalso: frühes M ittelalter, Nordafrika, im Umkreis von M artianus Capella, demVerfasser des berühmten allegorischen Werkes über die Sieben Freien Künste,das im ganzen M ittelalter überall verbreitet war . Und schließlich: eine Frauzur Zeit der babylonischen Gefangenschaft der Juden. Und diese Frau vermagdem Schicksal ihres Volkes zu entgehen oder zu entkommen . Sie flieht mit ei-nem F reund in den Vorderen O rient. Eine Jüdin, die durch ihren Freund, der

noch M ysterienwissen hatte, nach und nach auch große, ausgedehnte spiritu-elle Schauungen erlebte. Alles, was die F rau in ihrer jüdischen Verkörperungerlebte, wirkte später auf dem Seelengrunde C ampanellas weiter — und führteihn durch sein von visionärem Schauen inspiriertes Handeln — in den Kerker.

Un d dann? D ann kam die große Negation: Als O tto Weininger holte diein Rede stehende Individualität die wie verlorenen Kerkerjahre (so erschienensie ihm in der Zeit nach seinem Cam panella-Tod) nach un d wan dte sich be-sonders scharf vor allen Dingen gegen zweierlei: das Judentum sowie die Frau .Im G runde wa ren sie ihm eins. Allen seinen Anschauungen, die er in demdicken Buch zum A usdruck brachte, lag die Abw endun g von seiner eigenenVerkörperung als Frau und A ngehörige des Judentums zugrunde!

Ist es nicht erschütternd, wie die Seelen-Selbst-Entwicklung gehen kann!Hier ist nun eine Seele, die sich (in der W eininger-Verkörperung) in den Un-tergründen des Bew ußtseins sagt: Alles Ü ble, Lebenshemmen de auf demGrunde m einer Seele geht zurück auf eine Zeit, in der ich sehr viel Spirituel-

les aufgenommen habe und als Frau im Judentum verkörpert war. Da er dies

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nicht klar in das Bew ußtsein heben konnte — dazu hätte er den Reinkarnati-onsgedanken haben müssen — , wurde diese sehr persönliche Verneinung einerfrüheren Verkörperung, statt Selbsterkenntnis-Gegenstand zu w erden, nachaußen abgelenkt. Statt daß er sich im Innern sagen lernte: Ich muß mit mei-

ner jüdisch-weiblichen Verkörperung fertig werden lernen, sagte er nachaußen, in die W elt hinaus: F ort mit dem Weib, fort mit dem Judentum! Dochkommt nicht noch in seinem Selbst-M ord (als dem Zerrbild jener nicht voll-zogenen Selbst-Erkenntnis) klar zum A usdruck, daß er letztlich doch sich sel-ber meinte, und nicht «das Weib», und nicht «das Juden tum».

Ü brigens erscheint mir seine Kerkerhaft im spanischen Neap el wie einSchicksalsausgleich dafür, daß er die G efangenschaft in Babylon, die damalsseinem (oder ihrem) Vo lke auferlegt war, einst umgangen hatte. (Unser großer

Lehrer hat darauf selbst nicht verwiesen. Doch wir sollen ja auch selber nochEntdeckungen zu machen haben; selbst dort, wo schon so Wichtigstes von ihmgefunden worden ist!)

Doch nun w ill ich weiterlesen. Fortsetzung folgt bald. H.

Haro ld Freem an se tzte de n Bericht an Fiona über s eine We ininger-Er-

lebnisse am andern M orgen fort. Nach seinen regulären Geistese xerzi-tien und noch vo r dem Frühstück schr ieb er:

Liebe!

Diese Nacht hat mir ganz herrliche Entdeckungen gebracht. Das ging mir me-ditierend h eute morgen auf. Weshalb stellten sich m ir gestern ganz bestimmteBilder aus der Geistesforschung unseres verehrten Lehrers derart eindringlich

vor meine Seele, kaum ha tte ich zu dem besagten B uch gegriffen? M it dieserFrage schlief ich gestern ein. Beim Erwachen fand ich mich von neuen B ildernwie um spült. Es waren B ilder von Persönlichkeiten, die mit We ininger zu-sammenhängen: darunter Hermann Swoboda (ein Psychologe und ein naherFreund von Weininger, er schrieb auch über die 7-Jahres-Rhythmen) und derDichter Heimito von Doderer. Dann zu meiner Ü berraschung Herzl, der den

Judenstaat verfaßte und der Weininger nicht selber kannte und sich, soweitich weiß, auch nirgendwo auf ihn bezieht. Ich erlebe diese Nachwirkung dergestrigen Lektüre wie einen A ufruf, mich auf meiner Reise durch Europa auch

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besonders mit dem Schicksal des so arg verirrten Judentums (das im 2 0. Jahr-

hundert nur d urch die V erirrung D eutschlands übertroffen w urde) zu befas-sen. Und W eininger soll mir dabei zum Ausgangspunkte w erden.

Ach, F iona! Du kannst D ir sicher denken, wie stark mich all das Neue wiederum

berührt — war ich doch d as letzte Mal, wie D u ja weißt, selbst aus dem WienerJudentum hervo rgegangen. Es ist im übrigen gut möglich, daß ich W einingerals Knabe a uf den Straßen W iens begegnet bin ... Wir gingen oft an Sonntagendurch die Schw arzspaniergasse zur Votivkirche. An der Schw arzspaniergassehatte Weininger im Jahre 1903 sein letztes Domizil. Wer weiß also?

Im übrigen, auch ein anderer Jude aus der alten Donaum onarchie hatte inParis vor etwas über hund ert Jahren ein ganz entscheidendes Erlebnis: der

schon erw ähnte Herzl . W ährend H erzl in Par is für e ine W iener Zei tungschrieb, wurde er von der Idee des Judenstaats (als Buch und als Plan für ei-nen ganz reellen Staat, der dann ja au ch verw irklicht wurde), w ie er selber ein-mal sagte, förmlich überwältigt.

Schon an der A rt, wie Herzl seelisch gleichsam überfallen wurde un d sichwoch enlang zu seinem eigenen Erstaunen wie ein geistig Trunkener benahm ,kann abgelesen werden, daß die Q uel le seiner Eingebung von selber f loß;wä hrend heute nur aus solchen Q uel len G utes komm t, die niema ls eher

fließen, als bis ein M ensch aus v ollster innerer B esonnenheit und G eistesfrei-heit daraus schöpft. Dies klingt zwar para dox, doch D u wirst verstehen, wasdas heißt. Und w ohin tatsächlich der von H erzl propagierte und von England

19 17 durch die «B alfour-Declaration» we ltpolitisch installierte Zionismusimmer w ieder führte und auc h in Zukunft führen m uß, das sprach sich erstvor ein paar Jahren n euerdings symbolisch aus, als der ermordete Ra bin aufdem H erzl-Berg d er geteilten Stadt Jerusalem bestattet wurde (un d er wa r

noch e iner von den wenigen mi t bes tem W i llen) . — O h, würde doch d ieM enschheit nicht nur umgebrachte Staatsmänner zu Grabe tragen, sondernauch die totgeborenen Ideen, die meistens deren H andeln lenkten ...

F ür heute muß ich schließen. M it Schrecken sehe ich, wie spät es schon ge-worden ist. Bitte hebe alles auf. Tausend K üsse und no ch einer obendrein. Ichmuß zum Louvre, wo Jacques vielleicht schon auf mich w artet.

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Mit warmem Lächeln sah Jacques Roi, der bei der Louvre-Pyramide

wartete, dem jungen Freund entgegen, der, leicht verspätet, eben ra-

schen Schrittes von der Rue de Rivoli herkommend im Louvre-Torbo-

gen erschien.

«Keine Eile, Harold», nahm Roi gleich jeglichem Entschuldigungs-versuch des Freundes von vornherein den Wind aus allen Segeln. «Ich

sann soeben über die Ägyptenachse nach, die von hier aus bis zum

fürchterlichen Kubus von La Défense reicht. Eine eindrückliche Huldi-

gung an die retardierten Engelsgeister von Ägypten, nicht wahr?»

«So ist es», sagte Harold Freeman wie in selbstverständlicher Be-

stätigung. Die Feststellung von Roi bedurfte keiner weiteren Erörte-

rung. Man wußte ohne weiteres, wovon die Rede war.

Roi und Freeman schritten schweigend durch den langen Gang, der in

den Babylonien- und Assyrien-Saal einmündet. Ihre Schritte hatten bald

denselben Rhythmus angenommen; ein Kompromißrhythmus der leicht

verschiedenen Schrittrhythmen der beiden Freunde — Roi war etwas

langbeinig und überragte Freeman ungefähr um halbe Kopfeshöhe.

«Damals gab es noch das rhythmische Gedächtnis», sagte Roi, im

Gleichmaß weiterschreitend und im Hinblick auf die baldige Besichti-gung der Statuen Gilgameschs und Eabanis. «Aus den Lauten oder

Klängen, rhythmisch wiederholt, wurde einst Erinnerung geboren. —

Doch das rhythmische Gedächtnis ging bereits allmählich in das reine

Zeitgedächtnis über, wie wir es noch heute kennen.»

«Und war seinerseits hervorgegangen aus dem noch älteren Lokal-

Gedächtnis», ergänzte Freeman, «das man in Atlantis hatte. Wollte

man sich damals an Vergangenes erinnern, so mußte man den Ort auf-

suchen, wo das Erlebte stattgefunden hatte. Dort hatte man ein Merk-zeichen — zum Beispiel einen Stein m it Einritzungen — h interlasse n. De rganzen Erde übergab man das Erlebte. Wer sich erinnern wollte, mußte

sich in solcher Art nach außen wenden.»

Und nach kurzem Sinnen sagte Freeman unvermittelt:

«Hat nicht noch Hadrian in Tivoli die ganze alte Welt in solcher Art

um sich herumgestellt? Waren die antiken Tempel und Gebäude Tivo-

lis nicht die Merkzeichen für ihn von längst vergangenem Erlebtem?»

Ein helles Lächeln strahlte über Rois Gesicht.

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«Du sagst es, lieber Freund! — Ja, Hadrian war wohl zur Zeit der ur-

alten Atlantis ein ganz besonders eifriger Lokal-Erinnerer gewesen!

Das lebte nach der Anregung, die er aus den griechischen und auch

ägyptischen Mysterien hatte, in seiner Seele wieder mächtig auf. Doch

auch das rhythmische Gedächtnis hatte Hadrian geliebt! In seinem

Wohnpalast, den rings herum ein Wassergürtel still umgab, ließ er sich

allabendlich Gedichte rezitieren und Gesänge intonieren. Und auf den

Rhythmus-Wogen schöner Verse oder Lieder wurde er zu manchem

Ufer der Vergangenheit getragen. O Wunder der Erinnerung!» Rois

Stimme wurde gleichermaßen ehrfurchtsvoll und feierlich. «Die

Menschheit ahnt ja nicht, daß die Erinnerungskraft auch heute erst am

Anfang weiterer bedeutender Entwicklung steht. Sie wird einmal dem

Menschen die vergangenen Ereignisse im vollen Licht der Wahrheitzeigen. Das wird jedoch vom wirklichen Begreifen ...»

«... des Mysteriums von Golgatha abhängen», führte Freeman Rois

Feststellung zu Ende. «Wie schon unser großer, ungehörter Lehrer

sagte.»

«Auf die Durchchristung des Empfindens und des Denkens wird

also die Durchchristung der Erinnerungskraft zu folgen haben. Und

dann wird sich die Erinnerung auch in die Kraft der Prophetie ver-

wandeln können», schloß Roi das Thema für den Augenblick.

Die beiden Freunde standen schweigend vor dem überlebensgroßen

Steinbild Gilgameschs.

Mächtig geht der Blick des Königs in die Ferne; schon dieser Blick,

so fühlte Freeman, kann erahnen lassen, weshalb von Gilgamesch ge-

sagt wird: Er war zwei Drittel Gott, ein Drittel Mensch. Aus Freemans

Seelentiefen stieg nun altes Wissen über König Gilgamesch, das er sich

schon letztes Mal erworben hatte, zur Oberfläche des Bewußtseins: Gil-

gamesch war von einem Erzengel durchsetzt, der ihn zu allen seinen

Taten lenkte. Nach der Eroberung von Uruk kam er mit den Ischtar-

Priestern dieser Stadt in einen heftigen Konflikt, weil er deren Kultwe-

sen verachtete. Da fand er Eabani, einen klugen, treuen Freund, der

ihm aus seiner Herrschernot heraushalf. Doch Eabani starb — und Gil-

gamesch fand sich in tiefster, trostloser Verlassenheit. Bild um Bild zog

das Schicksal Gilgameschs an Freemans Geist vorbei.

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«Nach dem Tode Eabanis fing Gilgamesch erst eigentlich zu leben

an», fuhr Roi, das Schweigen brechend, fort. «Der Tod des Freundes

weckte nun in seiner Seele die große, bange Frage der Unsterblichkeit.

Er wanderte und wanderte, von seiner Fragepein Erlösung suchend.

Im Burgenland stieß er auf eine wichtige Mysterienstätte. Er suchtehier die Einweihung. Gewißheit fand er über die Unsterblichkeit der

Seele. — Doch später, auf dem Rückweg in die Heimat ...»

«... wurde er von einem starken Zorn erfaßt», machte Freeman wei-

ter, «der Anlaß ist bedeutungslos. Er brachte sich dadurch um manche

Frucht der Einweihung.»

Freeman wurde plötzlich stumm. Dann wandte er sich seinem

Freunde zu, in sichtlicher Ergriffenheit.

«Jacques, denk dir, eines Tages schrieb mir unser Lehrer in einer Zeit

der inneren Erschütterung die Ratesworte: <Emotionen verdunkeln das

Geistige und entziehen dem Physischen Kräfte.> Das war vor mehr als

siebzig Jahren. Und heute strahlt mir diese Wahrheit aus dem Zorn des

Gilgamesch zurück!»

Roi lächelte und sagte:

«Vielleicht sprach unser Lehrer diese Worte nach dem Tode auch zu

Gilgamesch. Doch dieser hatte noch kein Geistgehör für Worte, die ihmEabani aus dem Jenseits sagen wollte.» Nun war es Roi, der auffällig

verstummte. Nach einer Weile fuhr er fort, mit sanfter, leicht gedämpf-

ter Stimme, da gerade eine Gruppe von Touristen plötzlich in den Saal

eindrang:

«Lieber Harold, auch ich entdeckte eben etwas Eigenartiges: Auch

Hadrian litt unter einem geistigen Gehörproblem. Auch er hat ja Ge-

wißheit in der Frage der Unsterblichkeit gesucht. Als Antinous im Nil

versank, geschah es, um durch diese Opfertat dem Freunde dann vondrüben aus von der Unsterblichkeit zu sprechen! Und Hadrian ver-

nahm von Zeit zu Zeit auch wirklich, wie Antinous in seiner Seele

sprach — doch hörte er allein das Sprechen seines Freundes! Und dieses

Sprechen wollte sich ihm nicht zu Worten formen, durch die er hätte

hören und verstehen können. Ach, ein Satz von dem für ihn dahinge-

gangenen Antinous, ein Satz nur, den er hätte zweifelsfrei verstehen

können — es hätte Hadrian ganz Tivoli dafür gegeben!» Nach einer kur-

zen Pause setzte Roi hinzu: «Doch wie wohl auch bei Gilgamesch und

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Ea bani ist das W ichtigste vielleicht, daß beide Freunde nach de m T o ddes e inen we iterh in den Einklang ihre s W irkens s uchten. Der Bew ußt-seinsgrad, in dem sie dieses taten, wird sich allerdings im Laufe der

Entwicklung steiger n können.»Free m an hörte sch we igend zu und betrachtete den Löwe n, den Gil-

gam esch m it seiner l inken Hand um griffen h ielt.«Die Statue zeigt uns Gilgamesch als Herrscher über alle Löwen-

kräfte, die ihm sein Herz entflam m en können», stellte Freem an fest. «Indies er H insicht idea lisiert der Künstler G ilgam es ch.»

«Vielleich t ließ er se in Scha ffen vo n der Zukunf t Gilgameschs anre-gen», gab Ro i dem Freunde zu bedenken. «Vielleicht schuf er e in Bildvon dem, was Gilgamesch inzwischen ist — ein Herrscher über alle

Kräfte des G em üts?»«Das könnte nur beurteilt werden, wenn wir vom Bilde Gilga-meschs zu seiner ganz realen Wirklichkeit und Gegenwart vorstoßen

könnten», m einte Free m an ernst .«Vielleicht wird Gilgam esch in seiner h eutigen Perso na um gekehr t

zu uns vorstoße n», griff Ro i die Form ulierung Free m ans a uf.«M ögen wir ihn dann erkennen!» m einte Freem an.«Nun, wir haben doch in derlei Dingen schon durch unser eigenes

Zusam m entreffen etwas Ü bung», scherzte Roi.

Unterdessen waren unsere Freunde durch den wachsenden Besucher-

strom vor das Standbild Eabanis hingeschoben worden.

Es ist kleiner als da s Bildnis G ilgam esch s. Zwei Do ppelhörner win-den sich um Eaba nis Stirn und treffen sich in deren M itte, von h ier aussenkrecht in die Höhe strebend.

«Hörner deuten auf Verbundenh eit m it dem Reich des G eistes», be-merkte Freeman. «Daß sie sich hier in der Stirnmitte berühren, heißt,

daß alles Spirituelle künftig durch das Denken zu ergreifen ist.»«Die M iss ion vo n Eaba ni über Aris toteles und den großen A quina-

ten bis zu unserem vereh rten Leh rer , das ganze Ka li Yuga durch», kom -m entier te Ro i.

«Werden wir auch Eabanis Wirklichkeit erleben können?» fragteF r e e m a n .

«So Eabani will», sagte Roi geheimnisvoll.

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Auf dem Weg zur griechischen Skulpturenhalle fragte Roi den jungen

Freund:

«Sag mir, lieber Harold, wie kamst du eigentlich so unvermittelt auf

Tivoli und Hadrian, als ich vorhin von der Erinnerung zu sprechen an-

fing?»«Das sage ich dir gerne, Jacques. Vor ein paar Jahren, als ich noch in

Yale studierte, kam ein neues Buch heraus, über Tivoli und seinen Kai-

ser. Mit großartigen Farbfotos. Ich bewunderte das Werk in einem

Schaufenster New Yorks. Ich betrat die Buchhandlung und ließ es aus

dem Fenster holen. Ich hätte es gekauft, hatte jedoch nicht genügend

Geld dabei. — Nach einer Weile war das Ganze wiederum vergessen.

Bis ich vor meiner Wegfahrt in New York das Buch, das übrigens in ei-

nem Yale-Verlag erschienen ist, wiederum im Schaufenster derselbenBuchhandlung erblickte. Ich ging erneut hinein und sagte zur Verkäu-

ferin, daß ich ein Buch erwerben wolle, das ich im Schaufenster gese-

hen hätte. <Der Hadrian, nicht wahr?> sagte sie ganz selbstverständlich.

Erstaunt bemerkte ich: <Sie erinnern sich? Das ist ja ziemlich unge-

wöhnlich bei den vielen Kunden, die Sie täglich haben! Es war doch

fast drei Jahre he r!><Wissen Sie, Erinnerung, das ist mein Kapital — das einzige, worüber

ich verfüge.>Und ich: <Ein gutes Ka pital, das der art Ihre Arbe it fördert.> —Als Du vorhin, während wir zum Gilgamesch-Saal schritten, von Er-

innerung zu sprechen anfingst, kam mir alles wieder in den Sinn. Du

siehst also, mein lieber Freund, wie objektiv die Fähigkeit der menschli-

chen Erinnerung mit Hadrian verbunden ist!» Harold Freeman warf dem

Freunde e inen Blick zu, in dem fast etwas Sche lm ische s zu l iegen s chien.

«Aristoteles wirkt weise, aber doch recht alt geworden», meinte Roi,

nachdem die Freunde eine Weile vor dem Porträtkopf gestanden

hatten.

«So wurde er, nachdem ihn Alexander einst verlassen hatte, um den

Orient zu erobern», sagte Freeman. «Vor vierundsiebzig Jahren schrieb

der große Meister seinem Freund, der nun als Frau verkörpert war,

eines schönen Tages: <Als Du damals von mir gingst, war viel von mir

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genommen. Die Jugend, die in Dir an meiner Seite stand, ward von mir

genommen. Ich war in keiner Inkarnation so alt wie damals. M it ihm is tmein Herz über den Pontus gegangen.> (Freeman hob den Satz besonders

stark hervor): <Das war meine Stimmung.> Jacques, ich merkte mir die

Worte, die ich vor drei Jahren fand, genau. Sie sind so, nun, wie soll ich

sagen, so menschenschicksalsmächtig.»Freeman deutete auf den Porträtkopf hin:

«Schau den leisen Schmerz, der durch die Weisheitszüge durch-scheint.»

Die Freunde wandelten still um den Kopf herum. Und der Blick-

richtung des Weisen folgend, traf ihr eigener Blick auf die Porträtbüste

von Alexander, die etwa fünfzehn Meter weiter weg stand.

«Aristoteles' und Alexanders Blicke müssen sich begegnen!» riefJacques Roi in freudiger Bewegtheit.

Freeman trat ganz nahe an den schönen Kopf des jugendlichen Welt-

eroberers und las die kleine Aufschrift auf dem Sockel.

«Sieh mal an, Jacques», sagte er vergnügt. «Weißt du, wo man diese

Büste fand?»

Auch Roi besah sich nun die Aufschrift aus der Nähe.

«In Tivoli», sagte er in einer Mischung von Gerührtheit und Ver-

wunderung. Er ließ den Blick den ganzen Saal hinunterschweifen undsagte, leise sinnend, noch einmal: «In Tivoli.»

Freeman ging an Aristoteles und an dem Kopf des Sokrates vorbei und

machte vor der nächsten Büste halt.

«Demosthenes», las er auf dem Sockel, «383-322.»

Mit ernster Miene hält der große Redner von Athen das Haupt ge-

senkt, als konzentriere er sich auf das Stückchen Erde, das vor seinen

Füßen liegt.

«Demosthenes und Aristoteles sind im selben Jahr verstorben, ein

Jahr nach Alexander», bemerkte Roi, zu Freeman tretend. Und er fuhr

fort: «Er war ein Kämpfer für die Freiheit von Athen. Er bekämpfte und

behinderte damit jedoch die Weltmission von Alexander und mittelbar

auch die von Aristoteles! Ein weltgeschichtliches Exempel, wie Men-

schen, oft mit Edelmut, gegen weltgeschichtliche Notwendigkeiten

kämpfen. Fanatisch werdender Patriotismus auf der einen, Kosmopo-

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litismus auf der andern Seite» — Roi machte eine langsam wägende

Bewe gung m it den beiden Unterarm en —, «und was h atte dam als welt-geschichtlich größeres Gewicht? Alexanders weltumspannende Im-

pulse ! Und desh alb m ußte A lexander siege n.» Ro i ließ den linken Un-

terarm hinuntersinken. «Es war der Zeitgeist selbst, der ihm die Segelseiner Taten blähte. Das Athen der Patrioten mußte Alexanders geisti-gem Athen geopfert werden. Als Demosthenes das schließlich einsah,

nahm er Gift.»«Doch Demosthenes kämpft weiter, Jacques. Auch heute ist er mit

dem großen Widerstand gegen den Kulturimpuls von Alexander und

von Aristoteles verbunden, wenn auch unter Umständen nur gegen

seinen Willen.»

Ro is Antlitz zeigte aufm erksa m e Spannung.«Im selben Yale, in dem ich Rech t s tudierte, gibt es einen so genann-

ten Senio r Club, nam ens Skull and Bo nes, von deutschen He geliane rnein Jahr nach Go ethes T od begründet . Harr im an und Bush wa ren M it-glieder des Clubs, um nur zwei der einflußreichen Architekten des

Am erican Century zu nennen. — Und was glaubst du, we r als Schutz-patron de r Bruders cha ft fungiert?»

«Demosthenes?»«Dem osthe nes! Sein T odesjahr 322 is t geradezu die Za hl des Clubs

geworden!»Ro i entfuhr e in leiser Ausruf große r Übe rras chung.«In diesem Club wird Hegels Dialektik für die große Politik

mißbraucht», sprach Freeman weiter. «Systematisch Gegensätze för-

dern, und sowo hl die T he se wie die Antithes e s tützen, das ist das G rund-rezept. Dann h at m an Aussicht auf die Herrscha ft über die Sy nthe se.»

«Doch was hat der große Hegel mit Demosthenes zu tun?» wollteRo i nun wissen.

Oh ne Zögern sag te Freem an:«Nach Plutarch lieferte De m os thenes in einem Streitfall beiden Streit-

parteien — selbstverständlich o hne de ren Wisse n — ihre A rgum ente; erverfaßte s ogar jeder der Parteien eine Rede ; und dam it prozessierten sie.Hier ha ben wir die erste nachwe isbare Anwe ndung von Hege ls Dialek-tik in der Po litik! — Im übrigen wird er höch stwah rsch einlich e ine ne tte

finanzielle Sy nthes is für se inen D oppe ldienst gee rntet habe n!»

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«So kam es also schon vor Hegel zu einem groben Mißbrauch He-

gels», meinte Roi sehr ernst.

«Nun, manches Große kommt zuerst in einer Zerrgestalt zur Welt.»

Roi schenkte der Bemerkung Freemans scheinbar kaum Beachtung.

«Moslems kontra die Kroaten; Moslems kontra Serben; und natür-

lich auch Kroaten kontra Serben», sagte er wie illustrierend. «Und dieSynthese dieser von sehr langer Hand hervorgerufenen Gegensätze:

das auf dem Militärstützpunkt» (Roi betonte dieses Wort) «von Dayton

ausgedachte, unmögliche Staatsgebilde Bosniens! Und das unter Aus-

schluß aller Staatsmänner Europas! — Man könnte allerdings genauso-

gut auch sagen: unter Ausschluß aller offiziellen Nichtse von Europa ...»

«Und die Franzosen?» fragte Freeman.

«Wurden damit abgespeist, daß der sogenannte Friedensvertrag inihrer Hauptstadt unterzeichnet wurde. — Ein Minimaltribut an ihre

Sucht nach <gloire> und Weltbedeutung.»

«Daß dieser sogenannte Friede zur gewünschten Fortsetzung des

Krieges diente», meinte Freeman, das kann heute jeder sehen. «Wenn

Clausewitz einst sagte: <Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Poli-

tik mit anderen Mitteln>, so handeln die amerikanischen Strategen

heute nach dem Grundsatz: Der Friede ist nur eine Fortsetzung des

Kriegs mit anderen Mitteln! Der Zynismus dieser Leute ist kaum zuüberbieten. — Ich lernte übrigens auf meiner Überfahrt zwei Herren

kennen, die in diesem Fahrwasser recht kräftig schwimmen.»

Auf Rois aufmerksamen Blick sagte Freeman:

«Ich könnte dir den einen dieser Herren in den nächsten Tagen prä-

sentieren. Er heißt Jones und kam als Nachfolger der Witwe Harrimans

als Botschafter hierher. Samstag gibt er auf der US-Botschaft einen klei-

neren Empfang. Wir sollten vielleicht hin.»

«Es könnte in der Tat ganz nützlich sein», sagte Roi ohne weiteren

Kommentar.

Dann wurde er sehr nachdenklich und begann nach einer Weile,

zunächst fast wie nur zu sich selber sprechend:

«Europa schläft. Und dieser Schlaf ist tief und gründlich, wie es

einst das Dichten und das Denken Deutschlands war. Sarajewo — ein

Realsymbol für die notwendige Behandlung der sozialen Frage nach

dem Urgesetz der Drei — und gleichzeitig die Weltenquittung für die

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Europäer, welche immer noch im alten Schlendrian fortwollen! Du er-

innerst dich» — Ro i wandte s ich nun direkt Haro ld Free m an zu — , «1878schlug Lord Salisbury in Berlin den Österreichern vor, Bosnien und die

Herzegowina zu okkupieren. Die Doppelmonarchie hätte das jedoch

nur dann verkraftet, wenn sie die Nationalitätenfrage hätte lösen kön-nen. Dazu hätte sie zur überterritorialen Gliederung nach der großen

Drei tendieren müssen. Als ich nach dem Tode unseres Lehrers durch

den Balkan reiste, suchte ich auch Sarajewo, Dubrovnik und Mostar

auf. In Sarajewo, Harold, sah ich erstmals türkische Moscheen. Ich be-

griff die Schwere der Probleme, die auf Österreich lagen. Der Thron-

folger Franz Ferdinand hätte für die Slawen eine Lösung oder wenig-

stens den Ansatz einer solchen finden können, gleichviel, ob die

Slawen dem Islam, dem orthodoxen oder dem katholischen Glaubenangehörten. Doch als er 1914 selbst nach Sarajewo kam, wurde er auf

Anstiftung von serbischen Fanatikern und Österreichgegnern umge-

bracht. Ich stand an jener Stelle, Harold, von welcher aus der Attentä-

ter seine Bombe auf den Wagen warf, in dem der Thronfolger und seine

Gattin saßen. In Belgrad wurde dieses Attentat bloß vorbereitet, die

Drähte zog man an der Themse. — Dann, 1917, gab es nochmals eine

welthistorische Gelegenheit. Doch sie wurde abermals verpaßt. Mein

Bruder, der dem letzten Kaiser ein Memorandum unseres verehrten

Lehrers hätte bringen sollen, wurde Opfer von verlogenen Intrigen, die

seine Kaltstellung als Kabinettschef Kaiser Karls zur Folge hatten. Und

heute sind fast alle Europäer von dem Wahn befallen, die ethnisch-re-

ligiösen Divergenzen durch Territorialabgrenzungen bewältigen zu

können. Doch was bei ihnen purer Wahn ist, ist bei den anderen» — Roi

deutete bei seinen letzten Worten auf die Büste von Demosthenes —

«Methode! Methode für die Weltbeherrschung!»Roi schwieg für ein paar Augenblicke, und fuhr dann fort:

«Auch beim zweiten Sarajewo des Jahrhunderts machte man ge-

schickt Gebrauch vom Nationalstolz Serbiens.»

Auf Freemans fragenden Gesichtsausdruck erklärte Roi: «Noch be-

vor das ehemalige Jugoslawien auseinanderfiel, stärkte der US-Mini-

ster Baker Milosevic, dem Marionettenpräsidenten Jugoslawiens, an-

gesichts von Unabhängigkeitsbestrebungen in gewissen Landesteilen

a priori dessen Rücken! Dann brauchte man nur noch dafür zu sorgen,

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daß die angeblich befürchteten Bestrebungen auch kamen. Und sie

kamen.»

Nach einer Weile fügte Roi hinzu:

«Diese aufschlußreiche Tatsache war in der Presse selbstverständ-

lich nicht zu finden; der alte Sohn von Kaiser Karl, der sich noch auf

seinem Sterbebett nach einem Herrscherthrone sehnte, plauderte, wie

ich erfuhr, die Sache irgendwo in einem Vortrag aus. Und übrigens:

Schon 1980, kurz nach Titos Tod, sagte hier in dieser Stadt ein ein-

flußreicher Bankier im Gespräch mit einem Regisseur aus Serbien, man

werde sich in seiner Heimat auf schwere Zeiten vorbereiten müssen. In

internationalen Bankerkreisen sei jetzt beschlossen worden, alle lang-

fristigen Jugoslawien-Investitionen weitgehend zu drosseln oder völ-

lig abzubauen. Schon 1980 brachte man sein Geld ins Trockene, Ha-rold!»

«Kennst du die Komplementärgeschichte dazu, Jacques? — Als die

US-Strategen vor vier Jahren in Ohio ihre Friedensschalmei bliesen, be-

schlossen sie, als Unterhändler einen gewissen Holbrooke auf den Bal-

kan zu entsenden. Nun, Herr Holbrooke kam aus dem Investmentban-

king, und nach abgeschlossener Mission fiel er im Investmentbanking

ein paar Stufen höher. Kein Zweifel also, daß sein eigentlicher Auftrag

war, für neue Investoren auf dem Balkan das Terrain abzustecken.Übrigens: Holbrooke ist ein ausgesprochener Bewunderer von Averell

Harriman. Er war als junger Dachs mit Harriman bei den Vietnam-Ver-

handlungen in Paris dabei. — Doch schieben wir nicht alles den Ameri-

kanern in die Schuhe. Die übereilte Anerkennung von Slowenien

durch die Deutschen war immerhin ein Mitauslöser dieses Balkankrie-

ges», meinte Freeman.

«Und ein geziemendes Retourgeschenk an die Amerikaner, für die

deutsche Einheit. Eine Hand wäscht die andere.»

«Der Deutsche Genscher», sagte Freeman, «scheint in der Tat sehr

wohl gewußt zu haben, warum er danach schleunigst von der Bühne

trat. Er zog es vor, als Mann der deutschen Wende in Erinnerung zu

bleiben und nicht als Kriegstreiber in Jugoslawien ... Das werden ihm

auch seine Freunde in Amerika geraten haben.»

Die beiden Freunde schwiegen lange. Dann sagte Roi, sehr hörbar

seufzend:

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«Die Europäer sind fast ganz vom Geist verlassen, Harold. Sie wer-

fen alles durcheinander: Volk, Staat, Rasse, Religion, Individuum. Vor

ein paar Jahren hat man in der Slowakei das Slowakische zur <Staats-

sprache> erhoben! Staatssprache!» Roi sprach das Wort mit tiefem

Schmerz aus. «Auf Kosten aller Ungarn, die im Lande leben!»«Früher unterdrückten die Magyaren umgekehrt die Slawen in der

Monarchie», bemerkte Freeman. «Heuten werden sie von Slawen un-

terdrückt.»

«Die Weltgerechtigkeit verfährt nach dem Prinzip von <Aug um

Auge, Zahn um Zahn>, solange einerseits der Wahn und andererseits

die Machtgelüste herrschen, statt Vernunft und Einsicht. Und Vernunft

und Einsicht sind für diese postmodernen» — Roi zog das Wort ganz

deutlich in die Länge — «Staatsmänner Europas überdies kaum mehr

als bestenfalls Kulturrelikte aus einer Welt von gestern.»

«Ja, die andern» — nun war es Freeman, welcher auf den alten Red-

ner de utete — , «sie rechnen mit dem Geist, wenn sie in den Logen Tote

oder Geister wirken lassen! Ein Mann wie Bush braucht nichts davon

zu wissen — die Sache wirkt auch ohnedies.»

«Wer in einen zeremoniellen Ring gesponnen ist und sich Ritualen

hingibt, ohne sie auch zu verstehen, braucht wirklich nichts davon zuwissen: Über den Solarplexus wirken doch bei jeder Rede, die er hält,

gewisse Kräfte mit, die von jener Seite kommen», führte Roi ganz sach-

lich aus.

«Der Schlüssel für die Wirksamkeit von Reden, die, für sich genom-

men, auch ganz trivial sein können», kommentierte Freeman. «Es gibt

bestimmte Photos, auf denen Mitglieder des Skull & Bones-Club um

einen Tisch plaziert sind, auf dem ein Totenkopf steht und vor ihm zwei

gekreuzte Knochen. Wahrscheinlich sind es Schädel früherer Club-mitglieder, Jacques! Die Herren sehen aus wie Bankiers und gewöhn-

l iche G es chäftsleute. In saube rem Sm oking — seh r gepflegt! — D er Ein-gang des Bones-Tempels in Yale ist übrigens nach ägyptischer Manier

gebaut.»

«Symptome einer sehr beachtlichen Triade», konstatierte Roi. «Das

Wirken von Verstorbenen, von retardierten Angeloi aus der ägypti-

schen Kulturperiode, von demagogischer Rhetorik.» Roi schwiegnachdenklich. «Dennoch sollten wir natürlich diesen Club nicht über-

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schätzen», fuhr er fort. «Er ist nur eine Spitze eines viel umfassenderenEisbergs von okkultem Wirken. Im Augenblick, wo eine solche Eis-

bergspitze sichtbar wird, das heißt in das Bewußtsein sogenannter

Auße nse iter tritt, beginnt sie, um im Bild zu bleiben, auf der Stelle a b-zuschmelzen. Der Wirkensschwerpunkt wird sogleich in einen neuen

Untergrund verlagert.»

«Und doch kann m an durch da s, was nun von diesem Yale-Club öf-fentlich bekannt geworden ist, für die Betrachtung der Vergangenheit

höchst Aufschlußreiches finden. Die Außenpolitik der USA zum Bei-

spiel war bis in die späten achtziger Jahre ohne diesen Club doch gar

nicht denkbar!»«Ganz gewiß, Harold. Doch diese okkultistische Triade wird auch

anderswo am Werke sein. Und auch Demosthenes werden wir in vie-len andern Strömungen und Bruderschaften finden», bemerkte Roi

und fügte in fast rätselhaftem Ton hinzu: «Auch innerhalb der Strö-

m ung, we lche unser Fre und und M eister schuf, wirkt er jetzt am Endedes Jah rhunderts m it. Do ch davo n reden wir vielleicht ein ander M al.»

Die Dämmerung war schon hereingebrochen, als die Freunde aus der

Louvre-Pyramide traten. Leichter Schnee fiel auf die Seinestadt. DerVerkehr war rege. Zahllose Motoren tönten angenehm gedämpft wie

durch e in unsichtbare s Rie se ntuch, das die ganze Stadt bedeckte, in dieAbendluft hinaus. Roi und Freeman spannten ihre Schirme auf und

machten sich zu Fuß und schweigend auf den Heimweg.

Paris, Samstag, den 17. Januar 199 8

20 Uhr 30Liebe F iona!

Ab h eute werde ich die Briefe ganz ordentlich datieren. Stell Dir vor, wenndiese Blätter einmal durcheinanderkämen! Da während der Saturnverkörpe-rung der Erde einst die Zeit anfing (das heißt zum ersten M ale in Erscheinungtrat; dem W esen nach ist sie ja, wie alles Ewige, ganz anfangslos), scheint esmir ganz passend, wenn ich mit genauen Z eitangaben am heutigen Saturn-

Tag a nsetze ...

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Ich wollte eigentlich den Abend in der O péra verbringen, wo es selbst beiguten Au fführungen auch im letzten Augen blick noch K arten geben soll. Essind ja nur ein paar M inuten vom Ho tel dahin. Die fabelhafte Gruberova, die

Du ja so liebst, singt die D onizettische Lucia. Aber: die letzten T age habe ich

genug gesehen und erlebt, und so bleibe ich im Zimmer des H otels. Der großePa scal hat einmal gesagt: «Alles Unglück dieser W elt komm t nur daher, daßder M ensch nicht fähig ist, mehr als ein paar A ugenblicke lang ganz ruhig inseinem Zimmer zu verweilen!» Diese Pascal-Wahrheit sei der Leitstern mei-nes A bends. Auch w ill ich Dir das W ichtigste berichten. Doch ich w arte nochden K affee und die belegten Brote (ohne R indfleisch!) ab, die ich an der Récep -tion bestellte. —

So, hier bin ich wieder.

Nachdem ich Dir im letzten Brief von meinen W eininger-Entdeckungengeschriebe n hatte, eilte ich zum Louvre. D ie Stunden, die ich dort mit Jacquesverbrachte, werden unvergeßlich bleiben. Schon deshalb wirklich unvergeß-lich, weil sie ganz im Zeichen der Erinnerun g verflossen — oder vielmehr ebennicht verflossen. Jacques ist ein wahrer Meister der Erinnerung. Das war wohlschon in seiner Hadrian-Verkörperung veranlagt worden .*

M it Jacques zusammen durch den Louvre zu spazieren weckt jedoch weit mehrals nur Erinnerungen, welche aus dem ganz persönlichen G edächtnis stam-men; es ist, wie wenn durch das Zusam mensein mit ihm die F ähigkeit erwa-chen w ürde, in dem allgemeinen Weltgedächtnis da und dort zu lesen. D iesmehr als Stimmun g eines Angeregtseins ganz besonderer Art. In dieser Stim-mung m achten wir nun einen Ga ng durch die dritte, vierte und unsere fünfte,heutige Kulturperiode. W ir standen vor den Ko lossalstandbildern G ilga-meschs und Ea banis, dann vor den B üsten Aristoteles' und Alexanders, und

schließlich unterhielten wir uns ü ber manch e Hintergründe d es so fürchterli-chen B alkankriegs, in den bald ganz Eu ropa u naufhaltsam sch lit tern w ird.Letzteres auch im Zusammenha nge mit Dem osthenes, dem Schutzpatron von

* Er lebt auch im Bewußtsein dessen, was a us dieser Fähigkeit, wenn sie vo m christ-lichen Impuls einmal durchdrungen ist, in Zukunft werden wird — die Kraft derProphet ie . In der Ü ber—Ze it der «Dauer» entspricht ja das Vergangene der Zu-kunft; wer, vom Go lgatha-Im puls durchdrungen, zum Anfang aller zeitliche n Ge-

sche hnisse zurückblickt, scha ut auch das Ende a ller D inge in der Ze it. Saturn ent-spricht Vulkan.

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Skull & Bones, der im gleichen Jahre starb wie Aristoteles und dessen Büsteneben der des P hilosophen steht.

Weiteres kann später folgen. Ich will hier nur das Stimmungs-F azit ziehen.Es ist schon etwa s Wun derbares, sich mit einem F reund w ie Jacques dieF reundschaft zwischen Gilgamesch und Eabani (natürlich auch in ihren spä-teren Verkörperungen) zu vergegenwärtigen. Nur tiefe Freundschaft bildet einOrgan für die Erkenntnis großen Freundschaftswirkens in der Weltgeschichte!

Wenn ich auf einen Nenner bringen soll, was ich m it Jacques erlebte, sokönnte ich auch sagen: diese Freundschaft zwischen uns erschafft ein Wahr-nehmun gsorgan für die Substanz der unerschütterlichen Treue, die w ahremFreundeswirken jenes F undament verleiht, das unzerstörbar ist. Ich glaube, soempfand auch Jacques. Du w irst vielleicht den Einwand machen, das ließe sich

auch von der Liebe sagen, welche zwischen M enschen wa ltet. Ich frage: Wasist der Unterschied von Liebe und von Freu ndschaft? Was sagt darüber unserEmerson? Auch er steht seit Jahrtausenden in einem F reundscha ftsschicksaldrinnen. U nd ha t er nicht geliebt?

So viel also zu unserem Besuch im Louvre.

Am F reitag abend war dann der Empfang in der amerikanischen Botschaft amPlace de la C oncorde. Hier herrscht das G egenteil vom guten G eist vom «Con-

cord» Emersons. Ich ging in Jacques' Begleitung hin, damit er Jones un d des-sen G attin kennenlerne. Letztere war leider krankheitshalber abwesend. Undda sich derart viele Leute mit Sektgläsern gefährlich aneinan derdrängten,wurden zwischen Jones und Jacques und mir kaum mehr a ls zwanzig Sätzeausgetauscht. Auch A mhurst suchten w ir vergeblich; er w ar vielleicht geradein der Rue C adet bei seinen F reunden vom G rand O rient ... Jacques meinte, essei dennoch gut, daß w ir erschienen seien. Wir verschwanden aber schon nach

einer halben Stunde w ieder. Jones und seine Gattin wollen Ende M ärz perSchiff für einen M onat in die USA zurück, und da das auch mit meiner Rück-fahrtszeit zusammenfällt, werden wir die Überfahrt vielleicht erneut zusam-men machen. — Da es noch gar nicht spät war, machten Jacques und ich nocheinen nächtlichen Spaziergang durch das Q uartier Latin. Unterwegs erzählteich von m einen Ü berfahrtsgesprächen mit Jones, Amhurst, Noire und mu ßtestaunen: vieles, was ich von dem Trio eben erst erfahren hatte, war ihm schonvertraut! Du m achst Dir keine Vorstellung davon, w ie erleichtert ich mich

fühle, nicht als einziger in jene bodenlosen Abgründe zu blicken, von denen

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ich Dir schrieb. Wir amüsierten uns gerade zu an der «G efahr», in der ich michbefunden hatte und der ich dank der T arnkappe entronnen war. Doch auf dem

G runde d ieser Heiterkeit lag natürlich tiefster Ernst. Au ch von der im Jah re192 3 von unserem Lehrer neubegründeten Gesellschaft sprachen w ir in dem

Zusa mm enha ng. Jacqu es erzählte mir, daß sich vor zwei, drei Jahren derholländische Vorstand in der Presse (!) von gewissen Teilen seiner Lehre (es be-

traf die Rassenfrage) o ffen distanzierte!!! In seinem letztmaligen Nam en*wird nun sein Werk stückweise preisgegeben!

Jacques erzählte dann aus seinem Leben. Seine M utter komm t aus Schott-land, der Vater ist Franzose (ägyptischer Abstammun g). Aufgewachsen w arer teils in England, teils in Frankreich, wo er na ch dem Abitur die Fabrik des

Vaters übernah m (landw irtschaftliche D üngem ittel auf biologisch-dynami-scher G rundlage!). Dieser starb in verhältnismäßig jungen Jahren bei einemVerkehrsunfall.

Jacques leitet heute außerdem ein großes landwirtschaftliches Versuchsgutan der französischen A tlantikküste, in der Bretagne, unw eit Carnac. Er sagte:

«Wenn wir die Dreigliederung verwirklichen wollen, so muß a m A nfang desdritten Jahrtausend s in erster Linie dafür gesorgt werden , daß w eltweit ein-wan dfreie, von G enma nipulationen un berührte Nahrungsm ittel hergestellt

we rden könne n. Das heißt auch: Saatguterzeugun g, die von spirituell-me-ditativen Praktiken begleitet ist. M an kann d en M enschen nichts vom G eisterzählen, wenn sie infolge der katastrophalen Q ualität der G rundnahrungs-mittel nur no ch fähig sind, materialistisch zu denken.» Au ch die Willens-schwäche der heutigen M enschen rühre zum großen T eil von den miserablenNahrun gsmitteln her, an deren Au fbau nicht die rechten Elementarwesen be-teiligt seien. «Dreigliederung von u nten», nannte er d iese Aufgabe.

* Daß wir den gegenwärtigen Nam en unseres M eisters in den Briefen nirgends nen-nen können, ist Dir ja klar. Do ch auch den ja ganz offenbaren Na m en, den er letz-tes M al getragen hat, m ochte ich bishe r nicht ausspreche n, da er m ir so heilig is tund m it ihm so vieles no ch verbunden is t, was in unsere Ge genwart hineinreicht.Recht so , wenn ich seh e , daß m an angefangen hat , in se inem Nam en T ei le se inerLehre zu verleugnen! Auch Jacques sche int 's so zu gehen, selbst im Gespräch m itm ir. Übrigens: auch unsere Gegner nannten diesen Nam en bish er nie! Wir aus he i-l iger Sch eu, s ie aus Haß und Furcht. Wir werde n jedoch, we nn der Ze itpunkt daist, den letztmaligen Namen unseres Lehrers in der Öffentlichkeit nicht ver-

schwe igen! (Den h eutigen auf a lle Fälle!) Doch erst, wenn a lle V orber eitungen fürunser neues Wirken abgeschlossen s ind.

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Jacques will nächstes Jahr d ie Welt bereisen, um für dieses Ziel ein internatio-nales Netzwerk von B etrieben aufzubauen und mit schon existierenden zu ko-

ordinieren.Ausgangspunkt: Kanada. Dort hat er einen Vetter in einflußreicher Posi-

tion. Er war noch niemals in Amerika, doch schon im letzten Erdenleben wäreer um ein Haar na ch Ka nada ausgew andert, als landwirtschaftlicher Bericht-erstatter. Unser Lehrer riet ihm damals ab; und , stell Dir vor, er hä tte ja dieganze G eisteswissenschaft am An fang des Jahrhunderts vollständig verpassenmüssen . Jetzt, wo der Lehrer in der Neuen W elt wirkt, ist das natürlich anders... Ich bat ihn, uns in C hicago zu besuchen, was er freudig annahm.

Au ch nach A sien will er (besond ers auf die Philippinen, die fast völligkatholisiert sind), wo sich nach ihm die F M und die SJ (Jacques' Abkürzung für

F reimaurertum und So cietas Jesu = Jesuiten) der biologisch-dynamischenWirtschaftsweise, wie sie unser Lehrer einführte, schon weitgehend bemächtigthätten. In Paris weilt er zur Zeit im Zusammenhang mit einem internationalenErnährungskongreß, auf dem er nächste Woche einen Vortrag halten soll.

Wir standen vor dem hell erleuchteten «Panthéon». Den Besucher, der vonder Ru e Soufflot herkom mt, grüßt vom K upp elfries die Au fschrift: «Au xGrands H ommes — La Patrie Reconnaissante.» Jacques bemerkte: «Nirgendsist die Neigung zur Verherrlichung der menschlichen P ersönlichkeit so aus-geprägt wie hier in Frankreich. Im Hadrianschen Pantheon verehrte man nochGötter. So änd ern sich die Zeiten.»

So, das w är's im Augenblick. M orgen soll ich endlich C hartres sehen! UndJacques fährt mit!

Kuß Harold

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Chartres

Als um 8 Uhr früh der Zug randvoll zum Gare de Montparnasse hin-

ausfuhr, befanden sich die beiden Freunde bereits in angeregter Unter-

haltung. Es war ein klarer, schöner Wintermorgen. Nachts war etwasSchnee gefallen, so daß der «Rapide», statt wie gewöhnlich hart zu rat-

tern, über sanften Samt zu gleiten schien. Ähnlich sanft und leise spra-

chen Roi und Freeman im vollbesetzten Abteil miteinander.

«Es war mein Vater, Harold, der mich damals in den ersten Vortrag

unseres Lehrers mitnahm. Das war in Wien im Jahre 1908 gewesen. Und

zwei, drei Jahre später sagte unser Freund und Meister mir einmal, mein

Vater habe geistige Impulse aus der Chartresschule mitgebracht, und

zwar aus dem 11. Jahrhundert. So etwas vergißt man nicht. Als ich nach

dem Tod des Lehrers zwei, drei Male hinfuhr, hatte ich das deutliche Ge-

fühl, wie mich mein Vater, welcher damals längst gestorben war, un-

sichtbar und doch ganz anwesend begleitete. Heute fahre ich in diesem

Leben erstmals wieder zu der wunderbaren Stätte hin. Und jetzt stellt

sich die eigenartige Empfindung wiederum von neuem ein, Harold.»

«Es geht mir ähnlich, Jacques, obwohl ich Chartres, wenigstens im

20. Jahrhundert, an diesem Tag zum ersten Male sehen werde. Gesternabend las ich vor dem Einschlafen in einem Band von Stefan Zweig, zu

dem ich immer eine große Liebe hegte, ähnlich wie zu Otto Weininger.

Beide aus dem Wiener Judentum. Beide machten ihrem Leben vorzei-

tig ein Ende.»

«Auch Zweig?»

«Jawohl, auch Zweig», bestätigte der Jüngere. «Er verzweifelte am

geistigen Bankrott Europas und fühlte sich im südamerikanischen Exil

wie ein Fisch auf heißem Sand. Sein Buch enthielt auch einen kurzen

Essay über Chartres, das Zweig einmal besuchte. Und seit heute früh

begleitet mich die sicherere Empfindung — die Zweig-Seele will eben-

falls nach Chartres mit.»

«Noch manche Seele dürfte uns auf dieser Fahrt begleiten», sagte

Roi, ganz nachdenklich geworden.

Plötzlich blitzten seine Augen schalkhaft auf, als er fortfuhr:

«Was meinst du, Harold, wie viele unsichtbare Reisende in diesemZug mitfahren?»

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«Du meinst, wie viele blinde Passagiere?» setzte Freeman seiner-

sei ts zum Scherzen an.«Blinde Pass agiere, Har old? Nun, ich w ürde ganz im Ge genteil be-

ha upten: Blinde Pass agiere s ind doch vielm eh r alle, welche diese Wa g-gons füllen, ohne jene physisch unsichtbaren Mitreisenden zu sehen!

Also h öchstwah rsche inlich fast der ganze Zug!» Ro is Augen fingen anzu leuchten.

«Sollen w ir versuche n, dies dem Schaffner zu erklären, Jacques, ichmeine, daß der Zug voll blinder Passagiere ist? Und daß er ja im

Grunde alle Reisenden im Zuge ko ntrol lieren m üsse!»Die beiden Freunde am üsierten sich bei dies er Vo rstellung.«Dort kom m t er scho n den Gang entlang.»

«Falls er ein blinder Passagier in meinem Sinne ist, wird er selbst-verständlich keinen Sinn für unsere okkulte Arithmetik haben! Doch

we r weiß denn, Har old? Ja, wer w eiß?»«Bo njo ur, contrôle des billets , s 'i l vous plaît», tönte e s im nächsten

Augenblick bestimmt und doch ganz liebenswürdig in das volle Ab-

teil, in dem auch unsere Freunde saßen.

Als der Scha ffner kurz darauf scho n im Begriff war, das Abteil wie-der zu verlassen, wandte er sich nochmals um und schaute Roi und

Freeman kurz und ungewöhnlich freundlich an und sagte lächelnd:

«Zum Glück hat m an noch e inige Ko llegen auf dem Zug. We nn un-sereiner alle Reisenden in diesem Zug zu kontrollieren hätte, das gäbe

eine Ari thm etik oh ne Ende! — Eh bien, M ess ieurs , je vous souha ite untrès a gréable s éjour à Ch artres!»

M it diesen W or ten schloß der M ann die Abteiltür, entfernte sich undrief erne ut: «Bonjour, co ntrôle des billets, s 'il vous plaît.»

Während die übrigen Abteilgäste glaubten, der Schaffner sei an die-sem Tag besonders froh, noch mehrere Kollegen auf dem Zug zu ha-

ben, oder die Bemerkung einfach überhörten, saßen Roi und Freeman

schweigend da und sahen in die wunderbare Schneelandschaft hinaus.Nach e iner Weile sagte Freem an:

«Als jem and einst den M eis ter f ragte , woran m an einen Eingeweih-ten wie etwa Christian Rosenkreutz erkennen könne, wenn er heut-

zutage irgendwo erscheinen würde, da sagte er, man solle beispiels-

weise auf den Portier achten, an dem in einem Großstadt-Grandhotel

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die ganze Welt vorbeigeht. — Nun, warum nicht auch ein Schaffner,

Jacques?»«Warum nicht auch e in Scha ffner , Harold», sagte Ro i wie geistesa b-

wesend und doch wach.

«Übrigens», nah m nach einer We ile Freem an das Gespräch von vorh erwieder auf, «Zweig hat unsern Lehrer einmal in Berlin erlebt. Er war

von se iner Ausstrah lung zutiefst beeindruckt. Doch se inen Ge istes we -gen mochte er nur aus der Ferne folgen. Während unser Meister dann

im Som m er 1924 in der Schwe iz über die Platoniker von Ch ar tres vo r-trug, fuhr Zweig an einem schönen Julitag desselben Jahres an diesen

wunderbare n Ort. Und zwar, wie wir, an einem Sonntag.»

«Nun, so w ollen wir die unsich tbare n Re isenden, die uns begleiten,beim Aussteigen in Ch artres nicht sogleich vergesse n . .. Es dürfte ganzim Sinne unseres Schaffners sein.»

«Wohl ganz in seinem Sinne», nickte Freeman nachdenklich.

«<Geist-Erinnern> nannte unser Lehrer eine solche Anstrengung.»«Geist-Bes innen», korr igierte R oi m it leisem Lächeln. «Auf Gegen-

wärtiges besinnt m an sich.»

Die Freunde schritten auf das dreigeteilte Westportal der Kathedrale

zu. Sie betrachteten die Jungfrau m it dem Kind im T ym panon des Se i-tenportals rechts, bewunderten die allegorischen Figuren der Sieben

Freien Künste und deren menschliche Vertreter; in der linken Archi-

volte unten Aristoteles, den Schöpfer a ller D ialektik, wie m an e inst dieDisziplin der Lo gik nannte. Sie standen vor dem Seitenportal l inks m itder Darstellung von Christi Himmelfahrt, umgeben von zehn Tier-

kreiszeiche n. Schließlich m achten unsere Freunde vor dem M ittelpor-tal ha lt, desse n Ty m panon den Christus in der «Glorie» ode r der «M an-dorla» zeigt, inmitten der vier Tiere, die wir aus der Offenbarung des

Joha nnes kennen.«Drei Fragen, Harold», brach Roi zuerst das Schweigen, «stellte mir

das portail royal, als ich den O rt das letzte M al besuchte. Erstens: warumist hier an diese r Stätte m ittelalterliche n Platonism us' keine Plato-Dar-stellung zu finden, am ganzen Ba u nicht, auch auf keinem Fenster; da-gegen zweim al Aristoteles, einm al hier» — Roi deutete auf den schönen

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Philoso phenkopf m it den leicht sem itische n Zügen —, «ein zweites M alam Nordportal? Zweitens: Wa rum sind im Sei tenportal links nur zehnT ierkreiszeiche n darges tellt und die beiden fehlenden — näm lich Fischund Zwillinge — ins M arienpo rtal eingefügt? Und drittens: Wa s ist dertiefere Sinn der auch an andern Orten dargestellten Glorie oder Man-

dorla um den Christus in dem Tympanon der Mitte? Ich glaube, Ha-

rold, zwei Fragen habe n sich se ithe r in m einer Seele scho n zu lösen an-gefa ngen. Vielleicht löst du die dritte —?»

«Klar gefragt, ist ha lb gea ntwo rtet», m einte Free m an h eiter . «Dochmachen wir erst einen Rundgang um die Kathedrale!»

«Ganz in meinem Sinne, Jacques! Schon die alten Peripatetiker

dachten nirgends lieber als im Gehen!»

Die beiden Freunde bogen um den Südturm , von desse n Ecknische derEngel mit der Sonnenuhr herabzugrüßen scheint. Als sie am Südportalvorbeigesch ritten waren, m ach te Ro i den Freund auf ein Gede nkschildaufmerksam, das an der Mauer eines Hauses vis-à-vis zu sehen ist.

Beim Näher treten lase n s ie :«A la m ém oire de Jean de Salisbury, né vers 1115 — m ort en 1180,

secrétaire de T ho m as Be cket (t 1170), puis évêque de Ch artres.»

«Schön, daß man dieser Menschen jetzt gedenkt!» rief Roi erfreut.«Bei m einem letzten Hierse in war no ch keine T afel da!» Und nach e inemkurzen Schwe igen e rklärte e r in sichtliche r Be wegthe it seinem F reund:

«We lch dram atische Verflechtung denkwürdiger Schicksale verbirgt sichhinter diese r Aufschrift, Harold! Tho m as Becket wurde kurz nach We ih-nachten des Jahres 1170, wie Du weißt, im Dom von Canterbury a uf An-stiftung von König Heinrich durch königstre ue R itter in fürch terliche r

Art erschlagen. John of Salisbury war mit einer Handvoll anderer einZeuge dieses Mordes. Jahrzehntelang hatte er den Freund begleitet,

seine Sache gegenüber dem das M aß verliere nden Heinrich unterstützt,mit dem Papst in Sens verhandelt, mit Ludwig, dem Franzosenkönig,

Verh andlungen geführt. Er teilte die E xiljah re m it Becket sow ie desse nwenigen Getreuen. Er bereitete die Rückkehr seines Erzbischofs nach

Canterbury vor. Doch dann verließ ihn in der Schreckensstunde doch

der M ut. Er ha tte wiederh olt versucht , den Freund zu warnen vor dem

schlim m en Ende, das e r kom m en sah . Als die Ritte r dann gewaltsam in

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den Chorraum drangen, versteckte er sich am Altar. Harold, stell dir

diese Szene vor: Draußen bricht die Dämmerung herein. Die aufge-

brach ten Eindringlinge, Forde rungen stellend, die na türlich unanneh m -bar w are n. Der Fre und und Sekretär, der zur V erm ittlung drängt; dann

ein wenig zimperlicher Wortwechsel, darauf der körperliche Angriff.Becket weh rt sich no ch, und einem der Ve rteidiger wird fast der ganzeArm durchschlage n. Salisbury flüchtet zum Altar. Dann spre ngt ein Rit-ter m it dem Schwert die Schädelkrone Beckets weg.»

Ganz ruhig und doch im Innern stark bewegt, wie in einem un-

sichtbaren Buche blätternd, fuhr R o i nach kurzer Pause fort:«Wenige Minuten später verschließt dann Salisbury das Blut des

M ärtyre rs in einem kostbaren Ge fäß. Er schre ibt bald eine Vita des Er-

mordeten, die zu rascher Heiligsprechung führt. Ein paar Jahre späterzieh t er a uf Ge he iß von König Ludwig in das Bischo fsha us hier e in, m itder ko stbaren Re liquie.» Ro i wandte s ich dem Freunde zu und sagte inneutralem Tone, wie man ihn von guten Fremdenführern kennt:

«Salisbury kannte Chartres übrigens schon längst. Er hatte schon in

seiner Jugend in der Chartresschule jahrelang studiert, nachdem er

Schüler Abaelards gewesen war.»«Wollen wir nachher sein Grab besuchen, Jacques?» rief Freeman,

von der inneren Bewegtheit Rois, im Augenblick, wo diese vollkom-

m en zurücktrat, nun se lbst ergriffen.«Von Gräbern hat man diese Kathedrale immer frei gehalten, Ha-

rold! Diese Stätte diente nur der physischen und geistigen Geburt. DieVirgo Par i tura , welche wir am We stpor tal geseh en h aben, bezieh t s ichja nicht nur auf das Erdenjesuskind, sondern ebensosehr auf das Gei-

steskind, das die Menschenseele immer neu aus sich heraus gebären

kann.»«Das erklärt vielleicht», bemerkte Freeman, «weshalb die Jungfrau

mit dem Kinde von den Sieben Freien Künsten umgeben worden ist.

Natürlich: Diese Künste sind ein Weg zur Seelenweisheit, aus der die

Geistesschau geboren wird, zur göttlichen Sophia mit dem Geistes-

kinde.»«Es ist das Bild der Isis m it dem Ho rusknaben», ergänzte R oi. «Die

Gestalter des Portales wollten also sagen: Wer heute aus der Men-

sche nsee le die G eistess chau gebären will , m uß den Weg der freien Kün-

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ste gehe n. Die We ge von Ägy pten sind he ute nicht m eh r gangbar. Doches bleibt dass elbe Ziel. — Do ch s chwe ifen wir nicht a b, Ha ro ld: Salisburyliegt in der kleinen Klosterkirche von Notre-Dame de Josaphat am

Stadtausgang begraben.»

«Josaphat?» sagte Freeman ganz erstaunt. «So hieß das heilige Tal

ganz nahe bei Jerusalem, das wir aus der Barlaam- und Josaphat-legende kennen. Das T al, das a uch die T em pelritter o ft besuchten. Eineandere Ve rs ion des Nam ens lautet Bodhisat tva.»

«Was in der christlichen Esoterik nichts anderes heißt als Heiliger

Geist», bem erkte Roi.«Ein würdiger Name für den Ruheort von Salisbury!» meinte

F r e e m a n .

Und nach einer Pause sagte Roi:«Heiliger Geist: Ist es nicht sehr merkwürdig, wie sich Schicksale

und Namen oft geheimnisvoll verschlingen: Becket wird durch seinenOpfertod e in Heiliger — Salisbury erlebt durch die Ers chütterung e in in-tensives G eist-Erwa chen?»

Die beiden Freunde wa ndten sich erne ut dem Südportal der Kirchezu und beschlossen, statt den Rundgang fortzusetzen, nun das Innere

des Domes zu betreten.

«John of Salisbury war ja, wie du weißt, Harold, einer der Platoni-ker zu Chartres, neben dem großen Bernhardus von Chartres, neben

Bernardus Silvestris, Peter von Compostela, Alanus ab Insulis, viel-

leicht dem wichtigsten von allen.» Roi hielt Freeman, der ihm folgte,

die Portaltür auf.

«Und doch », fuhr Roi in ruhigem T one fort, «ist sein Metalogicon in er-ster Linie ein verteidigender Kommentar der logischen Schriften des

große n Aristoteles ! Sein Polycraticus enthält jedoch neben vielem ande-rem auch e ine großart ige Leh re der verschiedenen Phas en von Schlaf undT raum . Wie wirken Nichtverkörperte über Schlaf und Traum in das Le-ben von Ve rkörperten h inein? Solch e Fra gen lebten stark in se iner See le.»

Roi und Freeman standen voll Bewunderung vor der Südrose des

Innenraumes.

«Es gibt einen wunderbare n Ausspruch, Haro ld, der w ie m it golde-nen Lettern über der gesamten Chartresschule leuchtet. Er ist mir im-

mer wie der Schlüssel zum Verständnis dieser Schule vorgekommen.

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Er stammt von Bernardus von Chartres, dem großen Lehrer der Gram-

matik. Salisbury hat ihn im Metalogicon der Nachwelt überliefert. Er

lautet: <Es sagte Bernardus von Chartres, wir seien wie Zwerge, die auf

den Schultern von Riesen sitzen, damit wir mehr als diese und Ent-

fernteres sehen können, doch nicht etwa wegen der Schärfe des eige-nen Sehvermögens oder des mächtigen Wuchses unserer eigenen Kör-

per, sondern weil wir durch die Größe der Riesen hochgehoben und

getragen werden.> Dieser Ausspruch bringt die ganze Grundgesin-

nung, die ganze Stimmung wunderbar zum Ausdruck, mit der man

hier in Chartres lebte, nicht nur lehrte, Harold. Ein Gefühl der großen

Einheit alles Menschenschaffens durchwob das ganze Seelenleben;

Dankbarkeit und Schätzung gegenüber dem bereits Geleisteten. Kein

Ehrgeiz der Persönlichkeit — der am liebsten alles nur sich selbst ver-danken möchte — konnte hier in Chartres blühen!»

In diesem Augenblick nahm Freeman seinen Freund beim Arm und

deutete auf die fünf Fenster unterhalb der Rose. Das mittlere zeigt die

Jungfrau mit dem Kind. Links und rechts die Darstellung von jeweils

zwei Propheten aus der Zeit des Alten Bundes; und auf ihren Schultern

die vier Evangelisten. Lukas ruht auf Jeremias' Schultern, Matthäus auf

Isajas, Johannes auf Ezechiel und Markus ruht auf Daniel.

«Jawohl, Harold, das ist die Umsetzung in Licht und Farbe — <Auf

den Schultern von Riesen>! Was Bernhard sagte, leuchtet hundert Jahre

später in den Innenraum der Kirche. Gilt nicht auch hier: Das Was be-

denke, mehr bedenke wie! Wer Bernhards Spruch und diese Fenster

hier versteht, weiß nicht schon, was , doch weiß er, w ie man in der Char-

tresschule lehrte oder lernte!»

Die Freunde traten langsam in den Chorumgang. Vorbei an der ganzunvergleichlichen Belle Verrière, die zu Recht so heißt, ist sie doch ge-

wiß die schönste von den über 160 Mariendarstellungen dieser Kathe-

drale. Da zog Roi im Weiterschreiten rasch ein Büchlein aus der Tasche

und streckte es dem Freunde hin. Dieser las:

«Auf den Schultern von Riesen, von Robert K. Merton.»

«Ein ganzes Buch über den Bernhardschen Spruch?» fragte Freeman.

«Ein ganzes Buch!» bestätigte der Ältere. «Der Autor ist amerikani-

scher Professor für Soziologie und Wissenschaftsgeschichte. Er hat den

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Ursprung und die weitere Geschichte des berühmten Spruches unter-

sucht und stieß dabei natürlich auch auf Salisbury. Genau vor drei-

unddreißig Jahren wurde Mertons Arbeit erstmals publiziert. — Nun

hieß bemerkenswerterweise auch der Beichtvater von Becket Robert

M erton, Haro ld!»

«Wirklich?»«Jawo hl, genau der gleiche Nam e! Und m eh r noch: dieser M erton I

— o w ill ich ihn m al nennen — w ar beim T od vo n Becket ebenfalls imCho r der Kathe drale Englands. Und im Gege nsatz zu Salisbury h ielt erbis zum Ende durch. Unse r M erton II schre ibt in einer Fußnote, hier . ..»— oi blieb s tehe n, schlug die Se ite a uf und h ielt das Buch leicht schräg,so daß aus dem gerade ge genüberliegenden Fenster ein m ildes, blaues

Licht das Kleingedruckte les bar m ach te —, «hier schre ibt er: <Nicht alleaus Beckets Umgebung ergriffen voller Angst die Flucht. Ich freue

mich, berichten zu können, daß William FitzStephen und Robert, Ka-

nonikus von Merton, mutig die Stellung hielten.> So schreibt Robert

M erton II über Ro ber t M erton I.»Inzwischen war das Paar in den eigentlichen Chorumgang gelangt.

Es hatte vor dem Fenster halt gemacht, das auf fünfundzwanzig Ein-

zelscheiben in aufsteigender Reihenfolge die Becket-Vita zeigt; vom

Exil bis zu dem Höhepunkt des Opfertodes.«Zweifellos von Joh n o f Salisbury für seinen toten Freund bestellt»,

bemerkte Roi.«Es wa r doch eine gute Sa che, daß sich der Sekretär in Sicherh eit ge-

bracht h at, Jacques! M erton s ieht allein den irdischen G es ichtspunkt.»«Gewiß! Was vordergründig angesehen vielleicht als Schwäche wir-

ken kann, war do ch No twendigkeit. Auch diese s Freundespaa r m uß ander Brücke bauen, die Lebende und T ote zueinanderführt.» Ro i schauteFreem an m it seh r ernsten Augen an. «Einer m ußte bleiben, a ls der an-dere zu gehen hatte. An solchen Brücken wird von beiden Ufern aus

gebaut!»

Eine halbe Stunde später standen Roi und Freeman in der Krypta vor

dem Fresko des heiligen Jakobus. Es ist der «spanische» Jakobus, wie

die vielen M uscheln zeigen, welche sein Gew and bedecken.

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«Nachdem man sich hier unten von der schwarzen Jungfrau im Ge-

bet gesammelt hatte, brach man auf nach Santiago, um das Grab des

heiligen Jakobus zu besuchen», sagte Roi.

«Santiago de Compostela!» sagte Freeman, wie in weite Ferne sin-

nend. «Hoher Geistesort im Mittelalter, dann Kampfesstätte Roms!»

Die Freunde schwiegen eine Weile. Dann sagte Freeman:

«Es ist ganz eigenartig, Jacques, es steigen Bilder in mir auf von mei-

ner Fahrt nach Compostela, die ich das letzte Mal mit Freunden unter-

nahm. Es war ein paar Jahre nach dem Tod des Lehrers. Wir kamen mit-

ten in der Nacht in Compostela an. Es war Gründonnerstag. Vom

Himmel schien ein voller Mond hell auf die großen Quadersteine, mit

denen Santiagos Altstadt überall gepflastert ist. Alleine suchte ich die

Kathedrale auf und stand sehr lange vor den herrlichen Skulpturen andem P6rtico de la Gloria. Der prächtige Jakobuskopf am Mittelpfeiler

dieses herrlichen Portals fiel mir gleich ins Auge. Am andern Tag be-

suchte ich das Innere des Doms. Ich sah im Geiste eine Ritterweihe. Je

zwei Ritter traten miteinander zum Altar und nahmen eine Hostie in

Empfang, die der Priester ihnen in zwei Hälften teilte. Unter diesen Rit-

tern war auch einer, der durch sonderbare Umstände bei der Eroberung

Granadas esoterische, von den Arabern aufbewahrte Schriften von Ari-

stoteles vorfand. Das Kloster Santiagos machte darauf Anspruch; doch

der Ritter gab sie dann dem großen Alchemisten Valentinus und zog sich

deswegen die Feindschaft seines Ordens zu. Dieser Ritter, Jacques, ...»

«... warst du, mein Freund», führte Roi den Satz zu Ende. «Erin-

nerst du dich, Harold? Ich wußte ja von deiner Santiagoreise und

schickte dir dann eines Tages die Aufzeichnung von einem Traum, der

mich sehr stark berührte und der mir nun erneut vor Augen steht.»

«Er handelte von einem guten ... und von einem schlimmen ... Kar-dinal, nicht wahr?» begann sich Freeman anzustrengen. «Und der üble

war ...»

«... von Santiago, Harold. Damals wußten wir den Traum nicht

ganz zu deuten. Heute kann ich mehr verstehen.»

Freeman war ganz Ohr, als Roi erklärte:

«Der, den unsere Opponenten zu Recht als Großkophta bezeichnen,

wirbt in seinen Kreisen suggestiv für neue Pilgerreisen nach Santiago.

Doch Santiago ist ein Außenposten Roms. Von Compostela aus ver-

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suchte Ro m , vor a llem durch de n Papst aus Po len, Europa s Zukunft zubestim m en. Noch l ieber wäre Chartres der Eccles ia zu diese m Zweck ge-wesen. Doch reicht der Arm des Vatikans zum Glück nicht recht an

dies e Stätte, obw o h l sie nähe r liegt als Co m pos tela. Nun, der Ka rdinalvon Santiago ist unserm Großkophta vergleichbar, Harold. Er ist ein

wah rer W olf im Schafspelz. Der Pelz besteh t aus T eilstücken der Lehreunseres M eis te r s , darunter walten M achtgelüs te R om s. Lupus Rom ae!»

«Dein Traum war a lso e ine Prophe tie?»«So ist es H aro ld!»«Und der gute Ka rdinal?»«Wir werden ihm begegnen — we nn es a n der Zeit is t .»Nach langem Schweigen fuhr Roi for t:«Weil ich diese Dinge bereits damals kommen fühlte, bin ich mit

den großen Seelen mitgegangen, die aus der Gesellschaft unseres ver-

eh r ten Leh rers bald nach seinem T ode a usgeschlosse n wurden. Ich t ra tam gleiche n Ta ge selber aus , an dem die große, dir bekannte T em pler-see le nach ihrem Ausschluß starb. — A ch, diese Ausschlüsse der Unbe-quem en, Haro ld! Alles M aja! In Wirklichke it wurden dam als jene, diedie anderen aus ihrer irdischen Gesellschaft stießen, aus dem wahren

Geistesstrom des Lehrers fortgespült! Hier waltete ein Grundgesetz,

das sich auch im Großen zeigt. In der Zeit Lemuriens mußte aus demMutterkörper Erde einst der Mond geworfen werden. Die Erde hätte

sich verhärtet und nicht in rechter Weise fortentwickeln können. Erd-

und Mondentwicklung mußten eine Weile separat verlaufen, bis sie

sich einmal erneut vereinen werden. In der Krisis nach dem Tode un-

sere s M eis ters wa ltete dasse lbe Grundgesetz.»«Die Ausgeschlossenen wären mit dem Mond vergleichbar?» fragte

F r e e m a n .«Das wäre eben bloßer Majastandpunkt! In Wirklichkeit schlossen

sich die Ausschließenden ihrerseits vom spirituellen Strome aus. —

Natürlich glaubten diese M ondbewoh ner — kosm ologisch a usgedrückt— , s i e hätten s elbsttätig <die E rde> ausge stoße n!»

«Die große M ondenillusion also!» rief der Jüngere.«Von diesen Illusionen unbelastet konnte ich mich daher ganz der

Vorbereitung des jetzigen Jahrhundertendes widmen. So blieb ich in

der Erdenströmung unseres Meisters; in der dekadent gewordenen

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Gesellschaft drinnenbleiben hätte nur geheißen, diese Erden-Geistes-

strömung als Mondenschlacke zu umkreisen. — Doch heute» — Rois

Stimme wurde wiederum tief ernst — «ist man in den Kophtakreisen

mit aller Kraft bestrebt, die Suggestion der neuen Monden-Erden-Ehe

zu verbreiten. Mit allen Mitteln, Harold. Verstehst du, was ich sagenwill? Wir sollten aber dieses traurige Kapitel vielleicht an einem an-

dern Ort erörtern.»

Eine neue Gruppe von Besuchern drängte sich zum Jakob-Fresko.

Rasch wechselten die Freunde einen Blick und setzten ihren Rundgang

durch die Oberkirche fort.

«Sag einmal, mein lieber Jacques», sagte Harold Freeman in plötzlicher

Erheiterung, als die Freunde wiederum im Chorraum standen, «washast du denn mit Santiago eigentlich zu tun? Immerhin heißt Jacques —

Jakobus! Und Jakobus ist der Schutzpatron von Santiago und ganz

Spanien! Und aller Pilger!»

«Mein Name hat viel mehr als mit Santiago mit etwas anderem zu

tun, Harold. In meinem letzten Erdenleben führte mich, wie du ja

weißt, mein Vater in die Strömung unseres Meisters. Und wie du

gleichfalls weißt, trug er sehr tiefe Chartreswahrheiten in sich. Er starb

an einem 25. des Monats Juli.»

Freeman war zunächst verblüfft. Dann ging ein Strahlen über sein

Gesicht.«Der Namenstag des älteren Jakobus, Jacques.»

«Aus Dankbarkeit und Liebe zu dem Chartresvater, Harold, inspi-

rierte ich der Frau, die diesmal meine Mutter werden sollte, meinen

neuen Namen. Wer also diesen Namen ausspricht, spricht immer auch

den Vater aus. Und war er nicht ein Geistes-Pilger, Harold? In meinemNamen lebt er in mir fort.» Roi sprach schlicht, wie wenn es das Natür-

lichste der Welt wäre, auf solche Art zu seinem Vornamen zu kommen.

«Und was Santiago anbetrifft, so fordert mich mein Name höchstens

dazu auf, die falschen Santiago-Intentionen zu entlarven, die am Ende

des Jahrhunderts im Namen unseres Meisters so viel Verwirrung stif-

ten wollen.»

Roi war erneut sehr ernst geworden. Die Freunde standen vor der

Westrosette, bestaunten die ganz unvergleichlich intensiven Farben

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der drei Glasfenster darunter , besprachen das ve r lore ne Ge he im nis ih-rer Herstellung.

«Nur im ers ten Bau des M eis te r s sah ich jem als solche Farbenleuch-tekraft wie hier a uf diese r Dars tellung des Jess ebaum es», sagte Ro i.

«Auch die Fenster in dem abgebrannten Bau verdankten ihre

Leuchtkraft e inem M eis ter aus Par is , der sein Gehe im nis m it ins Grabn a h m . »

«Wahres Seelen-Geistesleuchten in solche Sichtbarkeit zu bringen

war vielleicht die schönste Gabe Frankreichs an die Menschheit», stellteRo i im Aufblick zu den zum Glück erh altenen Ch artresfenstern fest .

Dann verließen die Betrachter den Innenraum der Kathedrale und

wandten sich zum Schluß des Rundgangs noch einmal dem Portail

royal zu.

«Zwei deplazierte Tierkreiszeichen», begann nach einer Weile Free-

m an, «Zwillinge und Fisch! — Im Portal der Jungfrau.» Haro ld Free m anschwieg.

«Die zwei Jesusknabe n!» sa gte e r darauf, ein jede s W o rt betone nd.«Also auch in Char tres kannte m an das von der Kirche s t reng gehüteteGeheimnis!»

«So streng geh ütet, Harold, daß die besten K unsthistoriker bis h eutediese s Rätsel m eis tens übergeh en o der höchs t abstrus erklären.»

«Und das Sternzeiche n der Fische ?» wollte Freem an we iter wisse n.«Fasse ich a ls Hinweis darauf auf, daß m an das G eh eim nis der zwei

Jesusknaben e rst im wah ren Fischzeitalter , das he ißt in unserer fünftennacha tlantische n Epoche allgem ein begre ifen könne.»

«Und unser Aristoteles?» fuhr Harold Freeman fort, indem er

auf den Philosophen deutete, der links der beiden Fische, über eine

Schreibtafel gebe ugt, zu seh en ist.«Zeigt, wie die Platoniker von Ch artres den Philoso phen eh rten. — Es

ist ja ganz verkehrt, zu meinen, man habe hier in Chartres vor allem

Schauungen und mystische Erlebnisse gehabt. Hier lehrten einige der

besten Aristoteles-Versteher der Epoche! Wie gesagt: Unser John of

Salisbury zum Beispiel widm ete der Verteidigung der Kunst der Lo giksein ganzes Metalogicon, was so viel wie <Vo n der Logik> heißt. Er war

von allen Chartreslehrern wohl der aristotelischste. Und stell dir vor,

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Haro ld: Als Salisbury zwischen 1176 und 1180 h ier als Bischo f wirkte,war diese Westfassade ja bereits vollendet. Jeden Tag durchschritt er

das Portal der Jungfrau hier. Doch sein Blick stieg über Aristoteles zur

Jungfrau mit dem Kinde hoch. <Ohne scharfes Denken keine wahre

M ys tik>, so ra unte A ristoteles, von s einer T afel unauffällig aufseh end,Salisbury täglich ne u ins Oh r.»«Und diese r fühlte diese s M ah nwort gleichzeitig von o ben wie von

unten zu sich dringen», setzte Fre em an fort . Und als er m erkte, wie de rFreund ganz Frage wurde, erklärte e r: «Er fühlte s ich zugleich vo n o benange sch aut und auf den Schultern se ines Lieblingsriese n sitzend ...»

«Auf den Schultern se ines Lieblingsriese n sitzend», wiede rh olte Ro im it einem feinen Lächeln. Dann sa gte e r in freundlicher B estim m theit:

«Nun, m ein lieber Freund, erkläre m ir das dritte Rätsel!»Roi und Freeman schauten jetzt zum Menschensohn in der Man-

dor la im T ym panon des m ittle r en Por ta les ho ch .«Ein noch tieferes Geheimnis scheint man hier zu offenbaren»,

m einte Freem an zögernd.«Die M ando rla findet m an nich t nur in Cha rtres», ko nstatierte Ro i.«Gewiß, doch auch an andern Bauten wird man sie wohl kaum zu

deuten wissen! <We ltene i> ist übrigens viel treffender ge sa gt.» Free m anschw ieg sehr lange. Dann sagte e r: «Wa s könnte aus dem We ltenei desHerrn entspringen, Jacques? Aus der Welteizelle Christi?»

Freem an schwieg erneut, während s ich die Züge R ois erh el lten.«Der unverwesliche Phantom-Leib der aus Christus Neugebore-

nen», sagte Roi wie zu sich selbst, «der wahre unzerstörbare und un-

sichtbare Menschenleib .. .»«... der nur sichtbar wird, insoferne er von mineralischer Substanz

durchs etzt ist», führte Freem an diese Äußerung von R oi zu Ende. «Einschwieriges Kapitel aus der Geistesforschung unseres Lehrers. — Unddoch auch das bereits im Mittelalter wohlbekannt!» Die Freunde

schwiegen e ine We ile. Die Be sichtigung der Kathe drale war, so fühltenbeide, abgeschlossen.

Auf dem Weg zum Bahnh of sagte Ro i in hei te re r Verfassung:«Du erlaubst doch, Harold, daß ich dich nach unserer Rückkehr

nach Par is zum Abendesse n einlade?» Roi schaute seinem Freund m it

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einem warm en Blick gerade in die Augen, und lächelnd fügte er hinzu:«Wir wo llen uns noch öfter in die Augen se he n können, nicht wah r, Ha-rold? — D ann m üssen wir uns aber auch vo n Zeit zu Zeit m it etwas m i-neralischer Substanz durchsetzen!»

Am Horizont ging über den verschneiten Beauce-Feldern die Sonne

unter, als Ro i und Freem an in ein lee res Abteil traten.«Jacques», begann der Jüngere nach einer Weile, «am Vormittage

f ragte ich noch nach dem Grab vo n Salisbury. Jetzt f rage ich nach sei-ner und nach s einesgleiche n Gege nwart: We r von den Platonikern vonChartres ist heute wieder inkarniert?»

«Keine leich te Frage, Haro ld», sagte Ro i, von der D irekth eit se inesFreundes kaum weniger e r f reut a ls über rascht . «Doch gibt es ganz be-stimmte Anhaltspunkte, um die Frage zu entscheiden.»

Freem an hörte he llwach zu.«Ich meditiere oftmals unsere großen Chartresfreunde, Harold.

Alanus ab Insulis, Bernardus vo n Cha rtres, Joh n of Salisbury, aber a uchmit Chartres mittelbar verbundene Geister wie Peter von Compostela

oder Brunetto Latini, den Freund und Lehrer Dantes. Und dann ...

Nun, ich w ill ein Bild gebra uche n, das w ir aus de r C hymischen H ochzeitkennen.»

«Die Chymische Hochzeit des Ch ris t ian Ro senkreutz», sagte Freem anwie im Sinnen, den Blick ins Abe ndrot verse nkt, das den ga nzen Ho ri-zont erfüllte.

«Du erinnerst dich vielleicht, Harold, wie dem Schloßbesucher ei-

nes Tages insgeheim ein Erdglobus gezeigt wird, auf dem die Länder,

Städte, Meere dieser Welt zu sehen sind. Nun sind manche Orte auf

dem Globus von einem Leuchter ing um geben. Der Be sucher f ragt denkundigen Begleiter, was dies zu bedeuten habe, und erfährt, daß ein

so lche r Lichtr ing im m er e inen O rt anzeigt, wo ein wahre r , großer G eistverkörper t sei . — Nun s ieh st du, Harold, bei m anchen Ch ar tres leh rerntaucht mir meditierend immer dieser Erdenglobus auf. Das deute ich

als Zeichen, daß diese Individualitäten neuerdings verkörpert sind. So

ging es m ir m it Bernardus von Char tres , so m it unserem John o f Salis-

bury, so auch mit Brunetto Latini.»

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In diesem Augenblick erschien der Schaffner in der Abteiltür. Es

war derselbe Mann, den Roi und Freeman von der Hinfahrt kannten.

Wiederum begegneten sie einem Blick, der ganz aus Güte zu bestehen

schien. Als der Mann nach freundlichster Verabschiedung die Tür des

Abteils langsam zuschob, blitzte einen Augenblick im Gegenlicht desletzten Sonnenstrahls ein wunderbarer Ring an seiner Hand auf. Dann

waren Roi und Freeman wiederum allein.

«Hast du diesen Ring gesehen, Harold?» sagte Roi, ohne im gering-

sten eine Antwort zu erwarten.

Nach der Ankunft ihres Zuges im Gare de Montparnasse suchten

Roi und Freeman ein Lokal auf, das Roi bereits von früheren Besuchen

kannte.

Während unsere Freunde plaudernd auf das mehrgängige Menüwarteten, drehte Freeman einen runden Bierdeckel gemächlich zwi-

schen seinen Fingerspitzen hin und her. Auf einmal sah und las er auf

dem blauen G rund in gelber Schr i ft: «Europa — das Bier des wah ren Eu-ropäers», darunter eine Flasche mit dem EU-Symbol darauf, und um

beides rund herum nochmals die zwölf bekannten Fünfsterne.

«Sieh mal, Jacques, jetzt gibt es schon Europa-Bier! Die zwölf Sterne

der EU als Bier-Idee!»«Nun, für viele wohl tatsächlich nichts als eine Bieridee, für wenige,

doch wissen die ganz gut, warum — ein Mariensymbol.»

«Ein Mariensymbol?»

«Genau, Harold! Schon 1955 wurden diese Sterne in Paris zum Eu-

roparat-Symbol erhoben. Bald darauf wurden sie Symbol der alten

EWG, dann der Europäischen Union, und heute gelten sie ja allgemein

als Emblem von <ganz> Europa, trotz der Norweger und Schweizer, die

ja dem EU-Europa noch gar nicht angehören.»«Was ist denn daran marianisch?» Freeman wollte rasch ans Ziel.

«Die Sache wurde so gelegt, daß gewisse Zufälle gerade den B. De-

zember zum Beschlußtag machten.»

«Das ist ja doch der Tag der Unbefleckten Empfängnis Mariae!»

«Eben! Und auch der Tag, an dem der seelenkranke Pius IX., der am

B. Dezember 1855 das Mariendogma schuf, das Konzil eröffnete, das

die Unfehlbarkeit der päpstlichen Ex-cathedra-Verlautbarungen fest-

setzte — und zwar am B. Dezember 1869. Du siehst, mein Freund, der

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B. Dezem ber is t kirchengesch ichtlich e in sehr gewichtiger M arientag.Sowo hl in Straßburg wie in Rom hieß m an nachhe r diese n sogenanntenZufall seh r willkom m en. Außerdem gab der Europara t für die Apsis inder Ka thedra le Straßburgs ganz o ffiziell ein Glas fenster in Auftrag, dasdie Jungfrau aus der Offenbarung des Jo ha nnes darstellt , von der So nne

bekleidet, den M ond unter den Füßen, m it dem Kranz der 12 Sterne umdas H aupt — ist dies nicht eine recht beach tliche Verko ppelung des ka-tholischen Marienmotivs mit der heutigen Europapolitik?»

Roi widm ete s ich s tum m dem Hors d 'oeuvre , und da auch Freem anschwieg, fuhr e r nach e iner W eile fort:

«Ja, Harold, unsere Gegner sind nicht inaktiv geblieben. Dabei be-

dienen sie sich sogar auch immer öfter unserer Sache. Nur wollen sie

sie selbstverständlich ihren Zwecken dienstbar machen. Die Auffas-sung der Reinkarnation oder die biologisch-dynamische Wirtschafts-

weise sind beispielswe ise längst in SJ- und in FM -Kreisen we it verbre i-tet, wie du weißt. Wenn Versuche mit der biologisch-dynamischen

Anbauweise auf den Philippinen ausgerechnet von den Jesuiten von

Manila und durch eine UNO-Kommission ausgezeichnet werden, so

zeigt das, wo wir uns befinden. Der Papst aus Polen ist andererseits

von wiederholten Erdenleben überzeugt, Harold. — Nur ist er gleich-

falls überzeugt davon, daß die Menschheit diese Wahrheit aus demSchoß der Kirche zu empfangen habe, und die Kirche findet, daß die

Gegenwart dazu noch unreif sei . Sieben Jahre vor der W ende 1989 ha tdieser Papst im übrigen von Santiago aus Europa dazu aufgefordert,

sich e rneut auf se ine christliche n W urzeln zu besinnen.»«Vom selben Santiago aus, das der Großkophta zum Stammhaus

des grandiosen Chartres machen möchte», sagte Freeman nachdenk-

lich.«Vom selben Santiago aus, nach welchem der Europarat die alten

Pilgerwege sorgfältig erneuern ließ, Harold! Auch Rom spricht übri-

gens vo n der N otwe ndigkeit, die künftige Ge stalt Europas zu imaginie-ren.» Ro i betonte jede der fünf Silben. «M an verw endet einen ganz prä-zisen Terminus des Meisters, entleert ihn erst des eigentlichen Sinns

und füllt ihn dann mit Suggestionen an. Erneuerung des durch Karl

den Großen eingerichteten Heiligen Römischen Reiches heißt eine die-

ser Suggestionen. Rom und Washington wollen unsere ganze Sache,

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deren sie sich teilweise bedienen, dadurch aus dem Felde schlagen, daß

sie einfach ihre Zielsetzungen durchdrücken, mit aller Energie. Bis in

welche Einzelheiten dies bereits geglückt ist, kann uns dieser Bier-

deckel beweisen.» Roi hielt kurz inne, um dann fortzufahren: «Doch

das ist nur eine Seite dieser Sache. Auch für die, die ohne Glauben aus-zukommen meinen, ist gesorgt: Die profane Interpretation des EU-

Symboles lautet nach ganz öffentlichen Quellen: <Einheit Europas un-

ter westlichem Himmel>. Verstehst du, Harold, insofern wir nichts für

den Marienkult der Kirche übrig haben, speisen wir ganz einfach un-

ter westlichem Himmel, ob wir in New York, London, München oder

Budapest zu Tische sitzen! Kurz: Rom will ganz Europa weiterhin den

alten Geist aufprägen; Washington erzeugt, da dieser Geist ganz un-

fruchtbar geworden ist, dazu das Wirtschaftsmanna! Die Ergänzung istperfekt: zwei Filialen, eine Firma. Welche Filiale einer wählt, ist für die

Firmenleitung völlig einerlei.»

Roi fügte mit ironischem Lächeln hinzu:

«Die wichtigste transnationale Fusion des 20. Jahrhunderts!»

«Und unser Großkophta betreibt mit Einzelelementen unserer Gei-

steslehre so eine Art von dritter Filiale?»

«So könnte man das nennen! Doch da er ganz im Sold der eigentli-

chen Firmenleitung steht, besteht die Hauptaufgabe, die er hat, nur in

der effizienten Ablenkung von unserer Sache. Das tut er dadurch, daß er

sie zum Schein vertritt, doch fortdauernd subtil verfälscht. Der große

Blender — könnte man ihn nennen. Mit seiner Hilfe hofft die Großfirma,

das, was im Sinne unserer Sache eigentlich geschehen soll, durch etwas

zu ersetzen, was dieser Sache täuschend ähnlich sieht, im bösesten Sinne

ähnlich sieht, Harold!» Roi entgrätete mit offensichtlichem Behagen sei-

nen Fisch. Die beiden Freunde aßen eine Zeitlang schweigend. Dannsagte Roi: «Vor zwei Jahren, zur Zeit der Revision des Maastrichtplans,

tagte er mit seinen Anhängern anscheinend ganz zufällig just in diesem

spirituell bedeutungslosen Maastricht. Es war die Probe der EU-Gefü-

gigkeit für seine Leute. Um von dieser seiner Absicht abzulenken, redete

er zu Beginn der Tagung stundenlang von der Notwendigkeit, überall

auf dem Planeten Feste Michaels zu feiern! Alles nur Umnebelung der

eigentlichen Intentionen! Zur gleichen Zeit begann er mit dem Umbau

seines Schweizer Zentrums. Im renovierten Bau wirst du dilettanten-

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ha fte Nach bildungen a l ler vierzeh n Säulen a us dem ers ten Ba u antref-fen, der durch B rands tiftung vernichtet wurde , Haro ld!»

«Nachbildungen der ersten Säulen, Jacques?» wiederho lte Fre em an,fast ungläubig und sichtlich von der Mitteilung bewegt.

«Auch dies e in Elem ent der suggestiven Po litik, die dem <Blender>

vorges chrieben ist: M an scha fft eine plastische Asso ziation zum erstenBau und dessen Schöpfer, redet gleichzeitig von den Verkörperungen

aller ersten Schüler vom Anfang des Jahrhunderts am jetzigen Jahr-

hundertende — a lso auch vo n unsere n Verkörperungen, Harold — undmacht die Leute glauben, wir seien mitten unter ihnen, und wir wür-

den uns gerade dank der Ähnlichkeit der Bauformen allmählich unse-

rer Verbundenheit mit der Geistesströmung unseres Lehrers wieder

neu bewußt! Ein wah res Ho h nlach en natürlich a uf die w irkliche n Ver-hältnisse , wie wir beide wissen! Do ch w enn die Suggestionen stark ge-nug sind, wird das Hohngelächter der Dämonen nur von wenigengehört.»

«M an sugger ier t a lso ganz einfach unsere Präsenz, um um so e ffek-tiver von uns a bzulenke n!»

«Genau das w ird getan, m ein Freund!»«Und die Platoniker von Chartres, Jacques? Wie lenkt man denn

von ihnen ab?»«Zum Beispiel dadurch, daß m an jenen M ensch en, in deren See len-

knoch en no ch viel m ittelalterlich e Ka tho lizität rum ort — und sie bildenheute wohl das Gros der Großkophta-Getreuen —, weis zu machen

sucht, sie seien a lte Sa ntiago pilger und San tiagopilger seien sozusagen Ur-platoniker. Schon h eute bildet s ich da s Gro s der He rde ein, s ich auf demWeideplatz des Platonismus zu befinden. Kein Wunder deshalb, daß indieser Herde heute weder Raum noch Nachfrage nach wirklichen Pla-tonikern vorhanden ist! Ein paar Leithammel sind restlos davon über-

zeugt, auf dem richtigen «Camino», wie sie den Erkenntnisweg des

M eisters h eute allgem ein zu nennen pflegen, zu pilgern und zu gras en!Das genügt ja schließlich. Die andern — nun sie pilgern, beten, gras enoder — blöken eben nach!»

«Erstaunlich einfach , und doch diabo lisch, be wundernsw ürdig dia-bolisch so gar , m öchte ich fast sagen», m einte Freem an, nun beim Nach-

tisch angekommen, der in einem Mousse au chocolat bestand, das er

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sich ganz offensichtlich schmecken ließ. «Und doch im Grunde gar

nichts anderes, als was zum Beispiel auch von Skull & Bones und an-

deren Clubs getrieben wird. These, Antithese schaffen, um die Syn-

these zu ernten.»

«Genau, Harold. Erst gilt es also», erläuterte nun Roi, «den uner-schütterlichen Glauben zu erzeugen: Aristoteliker und Platoniker sind

zur Kulmination der Geistesströmung unseres Lehrers am Jahrhun-

dertende in der Großkophta-Gesellschaft brüderlich vereint. Das ist die

These. Die Antithese: Alles tun, um diese Geister von der Großkophta-

Gesellschaft fernzuhalten. — Und die Synthese, Harold?»

«Enormes Täuschungskapital und Ablenkung von allen wahren

Fortsetzern der Bewegung unseres verehrten Lehrers! — Jacques, das

also ist der Dienst, den der Diffusator seinen Auftraggebern leistet. Die

schrecklichste Befürchtung unserer Gegner, daß am Ende des Jahrhun-

derts aus der von unserem Lehrer einst begründeten Gesellschaft die

wahren Fortsetzer und Geistesbrüder seines Wirkens kommen könn-

ten, wurde längst durch ihren Mietling — er diffusiert ja schon seit zwei

Jahrzehnten — gründlich aus der Welt geschafft. Nun ja, die Sache ist

gekonnt! Und zeigt, daß unsere Sache von den Gegnern wirklich ernst-

genommen wird!»«So sind die Geisteskämpfe unserer Zeit, Harold. Heute wird mit

Geistesmitteln Krieg geführt, indem man mit der Täuschbarkeit der al-

lermeisten Menschen rechnet.»

Roi hielt inne, um die Meringues mit Crème chantilly zu kosten, die

man nun servierte.

«Besser Chantilly auf Meringues als in der Sache unseres Meisters,

nicht wahr!» scherzte Roi in Anspielung auf das Gespräch, dessen

Zeuge Freeman auf der Überfahrt gewesen war.Nachdem Roi den Nachtisch stumm gegessen hatte, fuhr er fort:

«Auf all das sind wir ja schon lange vorbereitet, Harold. Diese Per-

spektiven wurden uns ... wie du dich gewiß erinnern wirst ...»«... im großen Himmlischen Konzil eröffnet», sagte Freeman

prompt, «das auf den Tod des Meisters folgte. — Doch da ich erst zwölf

Jahre nach dir, lieber Freund, in diesen Himmelskreis getreten war und

also vor der jetzigen Verkörperung nur bei verhältnismäßig wenigenKonzilssitzungen mit dabei sein konnte, bist du, wie ich deutlich sehe,

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seh r viel bess er unterrichtet als ich se lbst.» Freem an läche lte ve rgnügt,und die entwaffnende Be sche idenh eit des Jüngeren erfreute Ro i im In-nersten.

«Nun», nahm dieser unbeirrt den Faden wieder auf, «das war ge-

wissermaßen eine höhere Oktave zu jenem anderen Konzil, das zu

Beginn des 13. Jahrhunderts stattgefunden hatte und auf dem be-schlossen worden war, daß wir im Verein mit den Platonikern an der

Wende des Jahrtausends erneut zusammenwirken sollen, hier und

jetzt auf Erden, Harold. Das war eine Abmachung, ja ein Vertrag, der

unverbrüchlich ist. Auf dem zweiten Himmlischen Konzil wurden

wir nun auch in jene gegnerischen Intentionen eingeweiht, die die

Verwirklichung des großen Ziels des ersteren Konzils zu sabotieren

trachten! Und wa s intendieren s ie, die Ge gner? Sie stiften überall Ver-wirrung, in der Hoffnung, erstens, daß wir, die treuen Schüler unse-

res verehrten Meisters, uns in der jetzigen Verkörperung nicht mehr

an die jüngst vergangene erinnern werden und einander nicht erken-

nen mögen.»

«Diese Ho ffnung ist an uns zumindest radikal gescheitert, Jacques!»Die Freunde schauten sich mit warmem Lächeln an und freuten sich

von Herzen über diesen ungesuchten Sieg.

«Und zweitens hofft man, daß wir auch die Chartresfreunde über-seh en we rden. Wieweit sich diese selbst gefunden, kann ich sch wer e r-m esse n. Doch wir werden s ie no ch diese s Jahr zu t reffen haben. Wennwir beide schauen, wird es leichter gehen. Zwei Augenpaare sehenm eh r. — Siehst du, Haro ld, das ist unsere Hoffnung, und diese Hoffnunggründet tiefer . Die a ndern rech nen m it der E itelkeit und Täusch barkeitder Menschen. Wir rechnen mit der Wahrheit. Und nur die Wahrheit

rechnet wahr! Und insofern wir in der Wahrheit streben, machen wirden Gegnern schon durch unser bloßes Streben einen dicken Strich

durch ihre Rechnung. Wir müssen nur den Willen haben, die nur per-

sönliche n Intere sse n im m er wieder aufzugeben, oh ne alle Vo rbeh alte.»Ro i wa r bei den letzten Wo rten, die e r von der Wa hrh eit sprach , er-

neut sehr ernst geworden. Nach kurzem Schweigen winkte er, von

neuem aufgeräum t und he iter , der freundliche n Bedienung. «M adem oi-selle, l'addition, s'il vous plaît», und auf Haro ld Freem ans gest ischen

Protest sagte er bestimmt und mit der gütevollen Freundlichkeit, die

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F re e m a n s ch o n a m e r s te n M o r g e n w a h r g e no m m e n h a t te : «A bg e m a c h tist abgemacht, Harold», und mit heiterem und doch geheimnisvollem

Lächeln se tzte er hinzu: «Wie o ben, so a uch unten. Unverbrüchlich.»

Paris, 18. Januar 199 8M eine liebste F iona!

Wo soll ich nur beginnen? C hartres! Endlich habe ich den wunde rbaren Baugesehen, den Rodin einmal die Akropolis von Frankreich nannte. Und das miteinem unvergleichlichen Begleiter. Jacques kennt jeden Stein und jedes F en-ster und bis ins einzelne hinein das Leben der P ersönlichkeiten, die hier vorsechs- bis siebenhund ert Jahren wirkten. So stark und mäch tig wirkten sie, daß

Rom , ganz ande rs als in dem galizischen Sa ntiago, bis heute hier nicht vielverderben konnte.

Schon auf der Hinfahrt wa r es wie ein milder Zau ber in der Seele. Ich fühlte

mich wie innerlich durchwärmt vo n m anchem Nicht-Verkörperten, der m ichstill begleiten wollte. Ba ld erkannte ich den B ruder au s der W iener Zeit, derim F elde Suizid beging, um mit seiner K omp anie nicht in russische G efan-genschaft zu fallen; dann die Seele Stefan Zweigs, von d em ich tags zuvor ei-

nen enthusiastischen Essay über C hartres las. (Wie ist mein Schicksal mit demJudentum verbunden! Un d auch mit dem «Judastod»; jeder Suizid ist ja ein«Verrat» am wah ren Selbst des M enschen.) A uch Jacques erlebte Ä hnliches.Vor allem seinen Va ter aus dem letzten Leben, der selber wichtige Impulse ausder C hartresschule in sich trug und der ihn au ch zu unserm Lehrer führte.

Den Rundgang, den w ir machten, beschreibe ich D ir lieber mündlich, odernoch viel lieber, wenn wir einmal selbst nach C hartres fahren!

Ich beschränke mich daher auf Wichtiges, was d ieser Rundgang in mir w eckte.Am Westportal siehst Du einen auferstandenen C hristus, in der M andorlaoder in der «G lorie»; die Franzosen sagen in der «majesté». Jacques, der C har-

tres schon vom letzten M ale kennt, ahnte, daß mit der auch andern orts er-scheinenden M andorla- oder Eiform um den A uferstandenen doch mehr undTieferes verbunden sei, als es zunächst den A nschein hat. Nun, um es kurz zumachen und mit der Bitte, meine Anschauun gen selbst zu prüfen: Schlage Dirden K arlsruhe-Zyklus auf (1911 , «Von Jesus zu Ch ristus»), und schaue D irdie Ausführungen an, die unser Lehrer darin über das «Phantom» — den ur-

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sprünglichen unsterblichen M enschenleib — gegeben hat. Dieser schon aufdem Saturn vorhan dene, an sich ganz unsichtbare M enschenleib (sichtbarwird er nur, insoferne ihn die m ineralische Substanz du rchsetzt) ist ein reinerF ormleib ohne mineralische Substanz. D ieser Formleib ist dann durch d enEingriff Luzifers w ährend der lemurischen Epoche dekadent gew orden; er hat

sich zu stark mit der mineralischen Substanz verbunden und verlor dadurchdie U nzerstörbarkeit, die ihm früher e ignete.

D ie Auferstehungstat bringt nun der M enschheit u.a. gerade auch d ieM öglichkeit, den u rsprünglichen Z ustand des P hantomleibs allmählich wie-der zu erlangen! D er Auferstehungsleib des C hristus ist der Prototyp, die G ei-

stes-U r-Eizelle der erneuerten Phantom leiber der M enschen. So w ie vonAda m der korrupte Leib abstamm t, so kann von C hristus als dem «neuen

Ada m», wie ihn Pa ulus nennt, der unverwesliche Phan tomleib abstammen ;ich sage kann, denn keiner w ird dazu gezwunge n sein, der nicht in voller F rei-heit die Auferstehungstat des C hristus zu erkennen sucht.

Dieses Neuw erden des korrumpierten Leibes hat Paulus ja im A uge, wenner sagt, der M ensch solle den «alten Adam a blegen» und den «neuen A damanziehen». Gerade , daß er von Ablegen und A nziehen spricht, zeigt, daß ereine Hülle meint am M enschen, und da nur der physische Leib von A dam ab-stamm t, ist eben der gemeint.

We nn D u nun bedenkst, daß dieser physische Leib ja auch der Spiegel un-seres Bew ußtseins ist , dann w ird Dir klar, wie wichtig diese Sache ist. Dennwenn einmal, durch die Verbindung mit dem C hristus, der wahre M enschen-formleib, der an sich ja todlos ist und unsich tbar, ganz «angezoge n» ist, dannspiegelt dieser Leib auch erst die wah re W irklichkeit des Ichs, das u nzerstörbarist. Kein M ensch w ird an der Ew igkeit des Ichs noch zweifeln können! Sie w irdErfahrungstatsache, und das heißt Tatsache des men schlichen B ewuß tseins

sein. Und erst von dieser zu erringenden Erfahrung aus wird auch der G angdurch w iederholte Erdenleben im rechten Licht erscheinen können. M an könntesogar sagen: Nur wer den ne uen Adam anzieht, kommt zur wahren Einsicht in

die Ewigkeit des Ich wie in dessen wiederh olte Erdenleben ... Näh eres danndiesbezüglich mü ndlich. — Es w ar für mich ein wichtigstes Erlebnis, hier inCha rtres zu erfahren, was hinter der M andorla-Form in Wahrheit steht! SolcheDinge w ußte man in C hartres! D ie künstlerische A usgestaltung ist übrigensganz einzigartig, wie Du aus der beigelegten Postkarte erahnen kannst.

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Nun ging die Sach e aber weiter, ich meine, sie hängt mit etwas an derem zu-sammen. Das G anze hatte nämlich auch ein Vo rspiel, von dessen Tragweiteund T iefe ich D ir keine, auch nur ann ähernd befriedigende Vorstellung ver-mitteln kann. Ich schreibe also nur d as A ller-, Aller-Äu ßerlichste, wen n ich

Dir nun sage: Auf der Hinfahrt hatten wir ein ganz bedeutendes Erlebnis imZusammenhang mit C hristian Ro senkreutz. Den ke Dir, Fiona, so unglaublichdas klingt, er begegnete uns in dem Zu g — als Schaffner! Vielleicht kann ichDir später Einzelheiten sagen. Du kannst Dir aber denken, in welcher innerenVerfassung wir kurz darauf den Dom betraten. Ich erwähne dieses Allerwich-tigste hier nur, weil Christian Rosenkreutz gerade zum Phantomleib eine ganzbesondere Beziehung hat. Du erinnerst Dich, wie unser Lehrer schildert, daßRosen kreutz im 13 . Jahrhun dert an einem sehr verborgenen O rt in größter

Abgeschiedenheit durch zwölf Lehrer großgezogen wurde. Diese Lehrer warenselbst sehr hohe Eingeweihte. Sie verkörperten zusammen die gesamte M en-schenweisheit seit den Zeiten der Atlantis bis in die Gegenw art hinein! Bevornun C hr. Rosenkreutz die F rüchte seiner Einw eihungs-Erziehung zeigenkonnte, wurde er schw er krank und siechte wochenlang dah in. Er verweigertedie Nahrung. Sein Leib wurde nach der Darstellung des Lehrers dabei fast völ-lig durchscheinend. (Das ist in meinen Augen wörtlich aufzufassen und zeigt,

daß der Phantomleib stärker wurde als der mineralische.) Über diese einzigar-tige Begebenheit sprach der Lehrer nur zwei Wochen vor den Äuß erungen, dieer dann in K arlsruhe über den P hantomleib machte, in denen er im ü brigengleich im ersten V ortrag auch die Rosenkreuzereinweihung bespricht!

Du wirst jetzt sicher fragen: Welches ist nun aber der Zusammenh angzwischen Ch ristian Rosenkreutz und dem Prototyp des menschlichen P han-tomleibes, wie er bei der Auferstehung C hristi aus dem G rabe stieg? Nun, be-denke: C hristian Rosenkreutz war ja (nach Hiram) Lazarus gewesen, der erste

von dem C hristus selber eingeweihte M ensch, der später dann das tiefsteEvangelium sowie die «O ffenbarung» schrieb.

Wa s unser Lehrer über den fast durchsichtig gewordene n Rosen kreutz-Leib sagte, deutet eben darauf hin, daß dieser Christus-Eingeweihte damalsden P hantomleib einverleibt bekam oder seinen neuen Ada m anzog, zumin-dest sehr, sehr weitgehend. Das war die Kehrseite der damaligen «Krankheit»(13 . Jh.). Auch sie war eben keine «Krankheit zum Tode», sondern zu neuem,höherem Leben. Christian Rosenkreutz darf also wohl nach C hristus selbst alserster, fortgeschrittenster Erwerber des unverw eslichen Leibes angesehen wer-

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den, mit allen Folgen für sein ohnehin schon ungeheuer hoch entwickeltes Be-wußtsein.*

Es ist natürlich heute eine arge Zum utung für die allermeisten M enschen,wenn sie begreifen sollen, daß sie ausgerechnet ihren physisch-mineralischen

Leib, den sie so gu t zu kennen glauben, in Wirklichkeit nur von seinem kor-

rump ierten Tei l her kennen und m einen, der von mineralischer Substanzdurchsetzte und da her sinnlich wa hrnehmbare M enschenleib sei der wahre,ganze Leib. Doch die M enschen mögen sich nur einmal fragen: Soll just dasWesen sglied, an dem die höchsten H ierarchien am längsten scha fften, allein indem bestehen, was jedes M al beim Tod zerfällt?! Soll das, was jedes M al beim

Tod zerfällt, der wahre T empel Go ttes sein, wie man doch den Leib von jehernannte? U nd nicht vielmehr ein bloßes Schattenbild von diesem T empel? D ie

Au ferstehungstat wird also auch zu einer wah ren Leib-Erkenn tnis führenkönnen und die M aja-Auf fassung des Leibes nach und nach verdrängen.Den ke nur, was dies für eine wahre M edizin der Zukunft heißen wird! —

Siehst Du, F iona, so hat mich diese Zugsbegegnun g, die zum Heiligstengehört, was ich in diesem Leben je erfahren durfte, vielleicht ein w enig inspi-riert, in C hartres in das Wesen dieses wunderbaren A uferstehungsleibes C hri-sti etwas t iefer einzudringen. Das a lles ist natürlich nur ein Stamm eln undein Anfang . —

Nun aber w iederum nach C hartres! Wir bewunderten im «portail royal» diein ihrer anonymen Schlichtheit einzigartigen Skulpturen (in den Gew änden ),dann den A ristoteles im rechten Seitenportal, also rechts neben dem C hristusin der M ando rla, wo die Sieben F reien Kün ste allegorisiert sind. Er vertritt dieDialektik. D ann gingen wir zum Südportal . Auch hier ganz eindrücklicheDarstellungen und F iguren. Wir bemerkten in der Nähe eine T afel, sprachenlange über Thom as B ecket, den Kanzler Heinrichs II. (Plantagenet), und John

of Salisbury, Beckets F reund u nd Sekretär, deren Leben ja seh r eng mit diesemO rt verbunden ist, beim einen ganz direkt, beim anderen m ehr indirekt. Salis-bury wirkte nach den tragischen Ereignissen von C anterbury — er war ein

* Das m uß auch der Grund sein, wesha lb sein Ätherleib seit seinem dam aligen T odevollständig intakt gebliebe n ist und seither als m ächtiger Inspirationsquell wirkt.Dieser vollkom m enste m enschliche Ätherleib wirkte auf Lessing, auf Blavatsky,auf Goe the, auf unsere n großen Leh rer, und er kann auf einen jeden M ensche n in-

spirierend wirken, der ernsthaft Geisteswissenschaft verstehen will.

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Zeuge der Ermordun g Beckets — hier in Cha rtres. Er ist ein Schlüssel zumVerständnis dieses herrlichen Jahrhu nderts (12.); ähnlich w ie der große Bern-

hard (von C lairvaux), der in Vézeley am O stersonntag 11 46 mit Flammen-wo rten zum zweiten Kreuzzug aufrief; ähnlich w ie der unglückselige Abae-

lard, der in gewissem Sinne ja ein Vorverkünde r der Scholastik war. Salisburywar in jungen Jahren noch ein Schüler Abaelards gewesen, in Paris. Er ist einM ittler und V ermittler zwischen C hartres, der schon keimenden Sc holastik(Abaelard), der M önchsbewegung Bern hards, der englischen und der franzö-sischen Krone seiner Ze it sowie diversen Päpsten (z.B. Alexander III., der da-mals in Sens residierte). Er war also ein echter «C oordinator» zwischen allendiesen M enschen, ein Diplom at im besten Sinn, obwoh l er selbstverständlichnoch viel mehr und Tieferes gewesen w ar. (John of Salisbury und seinen sozi-

alpolitischen Ideen begegnete ich übrigens zum ersten M al in einem W erk vonCaroll Quigley — es heißt The Evolution of Consciousness. Q uigley hatjahrzehntelang an der Ge orgetown U niversity doziert!)

Nach einem R undgang durch die O berkirche suchten wir die alte, großar-tige Krypta auf. Jacques machte m ich im Anblick eines schönen F reskos, dasden älteren Jakobus darstellt, auf den Zusam menh ang von C hartres mit demspanischen Santiago aufmerksam. Das weckte wichtige Erinnerungen in uns

beiden, über die wir lange sprachen. Auch machte er mir klar, daß der, den erden «D iffusator» und den «B lender» nennt, auch von d en z.T. erneut verkör-perten Platonikern von C hartres (neben Salisbury wäre da vor allem Alanusab Insulis, Bernardus Silvestris oder Bernardus vo n C hartres zu nenn en so-wie natürlich deren große, geographisch ausgedehnte Schülerschaft) abzulen-

ken sucht, indem er suggeriert, daß C hartres (neben C luny) eine A rt «Filiale»

von Santiago war!Dan n machten wir noch einen Gan g zum Nordportal, an dem w ir Herrli-

ches entdeckten: Hier gibt es in den A rchivolten eine w underbare D arstellungder vita activa und der vita contemp lativa. Die eine wird durch Allegorien vonverschiedener Hand werksarbeit dargestellt, die andere durch eine weibliche F i-

gur, die in einem B uche liest. D och so einfach ist das bei der zweiten nicht.Denn es werden hier in aufsteigender Folge sechs (!) Stufen im Verhältnis, das

sie zu dem B uche hat, gezeigt: 1. Sie sammelt sich, noch ehe sie das B uch auf-mach t; 2. sie schlägt es auf; 3 . sie liest; 4. sie meditiert; 5. sie lehrt; 6. sie erhebtsich «in ekstatischer Schau» (laut Reiseführer). Wenn Du die sechste Figur se-

hen w illst, mußt Du w irklich deinen B lick fast senkrecht in die Höhe richten,

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denn sie ist nur wenig unterhalb des Scheitels beider Archivolten! — Nicht weitvon diesen Archivolten ist übrigens ein zweiter, schöner Aristoteles zu seh en.

Ist das nicht ganz wunderbar! Stell Dir vor, die M enschen würden sich voreiner ernsthaften Lektüre immer erst mal sammeln, dann das G elesene nach-her meditieren, und erst danach zum U nterrichten anderer schreiten etc. Undwenn D u noch dazu nimmst, daß das Bu ch, in dem man auf gewohn te Weiseliest, im M ittelalter vielfach nur Symbol war für das groß e «Buch der N atur»,dann wo llte man hier eben eine künstlerische An regung zum Lesen auch indiesem Buch e geben. Und deshalb ist auch A ristoteles nicht weit von dieserDa rstellung entfernt. De nn die «B uchstaben» für dieses Buch sind seineStammbegriffe (die zehn sogenannten Kategorien), welche Du in jedem Wör-terbuch der P hilosophie verzeichnet findest, allerdings kaum je in ihrer w irk-

lichen Substanz verstanden. («Substanz» ist übrigens selbst eine solche Ka te-gorie.)

Zum Schluß betrachteten wir noch einmal das ganz wundervolle «portailroyal».

Nun habe ich m it Absicht übergangen, was m ir im Inneren der Kathedralevielleicht den tiefsten Eindru ck machte — sinnlich-sittlich, meine ich. DieGlasfenster! Ich beschränke mich auf die kurze Sch ilderung eines ganz beson-deren M otivs und füge dann noch eine allgemeinere Betrachtung an.

Unter der Südrose siehst Du vier Fenster mit vier Propheten des A ltenBund es. Sie tragen auf den S chultern jeder einen der Evangelisten. Die ganzeKerngesinnu ng, wie man einst in Cha rtres lernte sowie lehrte, kommt hierzum Ausdruck. M an fühlte sich im Hinblick auf die Leistungen der A lten see-lisch-geistig auf den Sch ultern wahrer Riesen sitzend, und w enn m an selbstein wenig weiter sehen konnte, als es jene Riesen taten, dann schrieb man dasnicht eigenem G enie und Könn en zu, sondern lediglich dem Umstand, daß

man du rch die «Alten» hoch empo rgehoben wurde. So drückte es Bernhardvon C hartres — nach Salisbury der vollendetste der herrlichen Platoniker vonC hartres — einmal gleichnisartig aus. Und hier aus diesen F enstern leuchtetDir sein G leichnis in sinnlich-sittlicher G estalt entgegen! D ankbarkeit undtief verwurzeltes Empfinden für die Einheit alles M enschenstrebens lebte inden Herzen aller wah ren Ch artreslehrer sowie Cha rtresschüler! Ü brigens:G ehört nicht auch die Ha nd des A ristoteles auf «unserm» schönen R em-brandt, der im M etropolitan M useum hän gt, hierher? Aus ähnlicher Gesin-

nung läßt er sie doch auf dem weisen Haup t Homers beruhen!

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Ich muß te plötzlich an den A usspruch denken, den unser guter Lehrer ein-mal tat: Ehrgeiz, Eitelkeit und U nw ahrha ftigkeit seien die drei größten See-lenfeinde, die der M ensch besitzt — wenn sie nicht, was oft vorkommt, vielmehrgerade ihn besitzen ... Sie seien im norma len Leben bereits schlimm; in einer

geistigen Bewegung würden sie jedoch geradezu verheerend wirken! Nun, dashaben w ir ja schon das letzte M al bestätigt finden mü ssen; und w enn w ir jetztein kleines Stückchen w eiter sind als dama ls, dann vielleicht darin, daß un sdie tiefe Wahrheit dieses Wortes noch ein wenig mehr zur Fähigkeit gewordenist. Wer sich von einem dieser Seelenfeinde oder gar vom ganzen Trio auch nurleise angerührt empfindet, der könnte den B eginn der K ur hier unter diesenChartresfenstern machen ... Im andern Falle wirken diese Fenster immerhingewissermaßen prophylaktisch. Und w er möchte denn schon da für garantie-

ren, daß er nie mehr eine Anw andlung von einem dieser Seelenfeinde habenwerde ...

Und jetzt zum zweiten Punkt. Lange standen w ir auch vor der «Belle Ver-rière», einer w irklich ausdrucksstarken D arstellung der Jun gfrau (in derganzen Kathedrale gibt es über 160 Darstellungen der M aria!), noch längervor dem Jessebaum unterhalb der Westrose. Ganz un beschreiblich, wa s diekleinste Änderung der äußern Lichtverhältnisse bewirkt! Farben und Kontu-

ren, die jetzt noch trüb und unklar scheinen, treten kurz darauf aufs deutlich-ste hervor! Ich erlebte das auf einmal als ein Gleichnis: Daß wir hinschauen,ist unser eigenes «Verd ienst»; die Deu tlichkeit und Klarheit des Geschau tenhängt keineswegs von unserer A nstrengung zu sehen ab. So ist es auch bei al-lem menschlichen Erkennen, ganz besonders w enn es sich auf G eistiges be-zieht. Der subjektiven Leuchtkraft unseres Erkenntnis-Blickes muß ein objek-tives Weltenlicht entgegenkommen. O der vielmehr, es «muß » gerade nicht,sondern flutet eben frei, so daß es sich nicht zwingen läß t. So verschlingt sich

bei der Wa hrheitsfindung S ubjektives mit dem objektiven Fa ktor (wobeinatürlich auch das «S ubjektive» selbst ein «objektives» Weltenelement dar-stellt). Liebste Fiona, an diesen Fenstern in dem wunderbaren Wechselspieldes Lichts (zum Glück war es ein recht bewölkter Tag), ist mir also aufgegan-gen, was in aller menschlichen Erkenntnis das Element der G nade ist. Daswußte ich schon früher, doch hier und heute habe ich's erlebt.

Ich habe D ir nun doch m ehr Einzelheiten dargestellt, als ursprünglich ge-wollt. Doch glaube mir: A ll das ist dennoch nur ein Bruch teil vom Erlebten!

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Nun sch ließe ich, da ich do ch ziemlich müde bin, obgleich ganz seelenfrischund geisteswach. — Jacques und ich dinierten noch zusammen, und J. enthüllte

manche A bgründe der Zeitgeschichte vor mir, in die hineinzuschauen ich D irjetzt ersparen muß. Ein W ort nur noch: Er berührte auch die drei großen Zu -kunftsfähigkeiten, die sich heute schon im W esten, in der M itte und im O stenzu entwickeln angefangen haben und von denen w ir ja früher oft gesprochenhaben — mechanischer, hygienischer und eugenetischer O kkultismus, so wur-den sie, wie Du ja weißt, von unser em Lehrer stichworthaft bezeichnet. Au cheine Erörterung dieser Sache m uß auf später aufgeschoben werden.

Es ist ganz eigenartig, F iona. Auf d er Ü berfahrt zu Schiff stellte ich m ich aufdie «Unsrigen» vom Anfang des Jahrhunderts ein. Jetzt, nachdem ich Jacques

getroffen und mit ihm im w underbaren C hartres war, jetzt weiß ich ganz ge-wiß: A uch man che Seele der mit uns verbündeten Platoniker werde ich aufmeiner Reise du rch Europ a bald zu treffen haben. A uch au f sie erstreckt sichmeine A ufgabe der spirituellen Koord ination.

Ich weiß nun auch, weshalb ich jetzt im Januar nach C hartres fuhr. Im Ja-nuar sieht man w eit zurück und au ch sehr weit voraus. Un d so fühle ich michnun in meinem Lebens-Januar.

Tausend Küsse H aroldP.S. M orgen mache ich noch einen allerletzten Gang mit Jacques, am Abendsitze ich in Smetana s Verkaufter Braut. Am Dienstag (M ars-Tag) soll 'sdann m it martialischem Elan nach Brüssel gehen, wo m ich sicher Nachrich-ten von O nkel Alfred längst erwarten. — Es wü rde mich im übrigen nichtwu ndern , wenn dieser Brief der längste meiner ganzen Reise ist und bleibenwird und auch der mittlere von allen meinen B riefen, rein numerisch, meine

ich. Geistig jedenfalls betrachte ich ihn als den M ittelpunktsbericht von allenmeinen Briefen. Halte ihn dann nur zusammen mit dem ersten und dem letz-ten ...

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Nochmals Paris

Nach Absolvierung seiner abendlichen Geistesexerzitien begab sich

Harold Freeman verhältnismäßig früh zu Bett. Als er vor Sonnenauf-

gang rasch erwachte, stand ihm mit größter Deutlichkeit ein Schriftbildvor dem Seelenauge. Freeman las, in Schriftzeichen, die ihm sogleich

vertraut erschienen, in großer Klarheit vor sich ab: «Ich habe stark den

Eindruck, daß während der nächsten ein, zwei Jahre der Versuch unter-

nommen werde sollte, eine Internationale Assoziation zur Förderung

der Geisteswissenschaft ins Leben zu rufen.» Harold Freeman wußte,

diese Zeilen, an die sich weitere anschlossen, waren «damals» an ihn

selbst gerichtet worden, und sie stammten von dem andern großen

Freund des letzten Lebens, der ihn in England aufgenommen hatte, als

er Nazideutschland eines Tages fluchtartig verlassen mußte.

Freeman meditierte über das Erlebnis. Dazu pflegte er zuerst den

Zustand eines völlig leeren Wachbewußtseins herzustellen. Alle Ge-

genstände, äußere wie innere, mußten gleichsam losgelassen werden,

und einzig das Bewußtsein, das an ihnen eben noch gehaftet hatte, war

mit festem Griff zurückzuhalten. Bis schließlich das Bewußtsein selbst

das einzige und alles andere verdrängende Objekt des eigenen Be-wußtseins wurde.

Nach einer Weile (und nach Absolvierung auch noch anderer Be-

wußtseinsübungen) stiegen alte Umstände und auch Begebenheiten

mit großer Klarheit über die auf solche Art gereinigte Bewußtseins-

schwelle. Freeman wußte, dieses Traumbild war zugleich auch eine

Vorverkündigung von einem wichtigen Geschehen.

Es war Schlag drei Uhr nachmittags, als Harold Freeman und Jacques

Roi an der Notre-Dame vorbei in Richtung Pont-Neuf schlenderten.

Die Freunde waren in sehr heiterer Verfassung; auch voller Dankbar-

keit für alles, was sich in der kurzen Zeit, seitdem sie sich begegnet

waren, an Unbeschreiblichem ereignet hatte. Sie waren gleichzeitig in

Abschiedsstimmung und freuten sich schon auf ein Wiedersehen.

War es Freeman oder Roi, der vorgeschlagen hatte, der kleinen Seine-

insel unterhalb des Pont-Neuf noch einen kurzen Blick zu gönnen?

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Die Fre unde st iege n neben de m Re iters tandbild von He nri IV die Stu-fen zu der «île des juifs» hinab, wie die Insel früher hieß. Freeman

wußte, daß man hier im Jahre 1314 Jacques de Molay, Großmeister

des Templerordens, öffentlich dem Flammentod preisgab. Er wußte

aus dem Michel in , daß von dem wichtigen Ereignis irgendwo auch

eine Tafel zeugen würde. Auf der letzten Stufe angekommen, drehten

Roi und Freeman sich in stiller Übereinkunft zur Brückenwand

zurück, aus der sie eben abgestiegen waren. Sie lasen: Dem GedächtnisJacques de Molays, Großmeister des Tempelritterordens, und seinem

F reunde G uy de Normandie , die an dieser Ste lle am 18 . M ärz 131 4 denFlammentod erlitten.

«Und doch: Wir haben kurz zuvor noch dafür sorgen können, daß

Ro bert Bruce bei Bano ckburn die Engländer besiegte», sagte unverm it-telt eine Roi und Freeman unbekannte und doch zugleich vertraute

Stimme hinter ihnen. «Und damit legten wir den guten Grund für das

gesam te Logenwese n Scho tt lands.»Beide Freunde wandten sich erneut und langsam um und blickten

in das strahlende und trotz des jugendlichen Alters fein durchfurchte

Antlitz eines mittelgroßen Mannes.«Das später sehr bald dekadent geworden ist», nahm Freeman auf

der Stelle o hne al le U m stände den Faden auf.«De kadent und m ittlerw eile schädlich, bis h inein in h öchste K reise

derer , die s ich h eute auf den großen M eis ter des Jah rhunder ts nam ent-lich be rufen», fuhr der a ndere fort .

«Der große M eis ter des Jahrhunder ts? Unser großer Le hrer?» f ragteRo i in offenbarer A bsicht die drei letzten W orte stark betonend.

«Unser gro ßer Leh rer», sagte nun der dritte, die dre i Wörter ebenso

betonend, und betrachtete die beiden Freunde mit größter Freundlich-keit und einem leisen Augenzwinkern. Und leicht Freeman zuge-wandt, setzte er hinzu:

«Die Internationale Assoziation muß jetzt rasch verwirklicht wer-

den.»An den ungewohnten Anfang dieser Unterhaltung schloß sich wie

von selbst ein höchst vertrauliches Gespräch zu dritt. «Nick», wie sichder dritte in dem Bunde nannte, kam soeben aus dem hohen Norden,

und in knapp zwei Stunden ging sein Flug nach Houston, wo ein in-

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ternationa ler Energiekongreß in Vorbe reitung war. Und für diese Ko n-ferenz müsse er versuchen, eine ganz bestimmte Anregung zu geben.

Da daher keine Zeit mehr bliebe und doch noch vieles zu besprechen

sei, schlug «Nick» den beiden Freunden vor, sich na ch ein paar W och en

noch einm al zu treffen. M an e inigte s ich rasch auf Prag und auf den 27.Februar und nahm dann warm und herzlich voneinander Abschied.

Und da auch Roi zur ersten Sitzung der Ernährungskonferenz erwar-

tet wurde, gingen die drei Männer kurz darauf ein jeder seines Weges

— äußerlich wie die be gegnungslosen Einzelgänger G iacom ettis , dochinnerlich bewußt und tief und neu verbunden.

Ha ro ld Free m an keh rte ins Ho tel zurück und traf die letzten Re isevo r-bereitungen. Dann zog er das Libretto der Verkauften Braut aus einerseiner Taschen und begann zu lesen. Eine Stunde später schrieb er an

Fiona:

Hotel St. lames et Albany19. Januar 199 8,17 Uhr 30

M eine Liebste!

Dies ist der allerletzte Brief, den ich aus der Se inestadt an Dich sc hreibe.De r letzte Tag des Aufenthaltes hier erwies sich in so vieler Hinsicht auch

als erster Tag! Ich will mich gleich erklären.

Es fing bereits am M orgen an. Ich wachte einmal mehr mit einem «Traum-

bild» auf, das m ir in ganz realen Lettern einen Satz vor A ugen führte, den mireinst ein and erer großer F reund geschrieben hatte. Er sprach von der Notwen-digkeit, «eine Internationale Assoziation für Geisteswissenschaft» zu gründen,

und forderte mich gleich zur Ausarbeitung eines provisorischen Konzeptes auf.Ein paar Stunden später stand ich dann m it Jacques am F uß des P ont-Neuf

auf der Seineinsel und betrachtete die an der B rückenwa nd mon tierte Tafel zum

Gedächtnis der Verbrennung Jacques de M olays, des letzten G roßmeisters desTemp lerordens, und eines seiner Freunde. In diesem A ugenblicke sagte hinterunserem Rücken sanft und freundlich eine Stimme, die uns gleich bekannt vor-kam: «Und doch: w ir haben kurz zuvor noch dafür sorgen können, daß RobertBruce bei Banockburn die Engländer besiegte.» W ir drehten uns gebannt ganzlangsam u m un d blickten in da s freundlichste bekannte-unbekann te Antlitz,

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das Du D ir nur denken kannst. Dann m achte dieser «Frem de» — er dürfte umdie Vierzig sein, mit feinsten F urchen um den M und w ie um die wachen, lie-ben Augen — eine Andeutung auf den «großen M eister des Jahrhunderts». Jac-

ques fragte geistesgegenw ärtig und ganz schlicht: «Unser großer Lehrer?»,und der «Neue» wiederholte mit der gleichen Schlichtheit: «Unser großer Leh-rer.» Da war für uns schon vieles klar. Und als der «Fremde» d ann, zu mir ge-neigt, noch sagte: «Die Internationa le Assoziation muß jetzt sehr rasch ver-wirklicht werden», da wa r der allerletzte Zweifel weg: F iona, denke D ir, wirhaben heute unsere große Tem plerseele neu getroffen! Auch er ein M ann also.Nun, das kommt daher, daß unsere Verkörperungen vom Anfang und vomEnde des Jahrh underts gleichsam nur zwei Akte eines Stückes sind, in welchemwir im wesentlichen doch dieselbe Rolle fortzuspielen haben ... Jetzt, wo ich die-

ses schreibe, steigt mir Bild um Bild empo r, zuerst das letzte Bild von einer ein-zigartigen B estattungsfeier. Es war in London 1 935 , am Tag der Himmelfahrt.Der Zerem onienraum im K rematorium w ar viel zu klein für alle Trau ergästesowie die überreichen B lumensträuße, die aus allen Erdteilen gespende t wur-den. Alle Schichten der G esellschaft waren hier vertreten, vom einfachen M e-chaniker bis hinauf zum distinguierten D iplomaten. Schau D ir das G emischder M enge beim Begräbnis eines Men schen an, und Du w irst erkennen, ob ernur in engen o der auch in weiten Kreisen oder n ur mit «seinesgleichen» im

Verkehr stand. «Nick», so heißt der neue alte Freund , war «everyone's man»,doch n icht, weil er nach allen Seiten jema ls Bücklinge getätigt hätte, nein, weiler in jedem M enschen stets das H öchste anzusprechen w ußte. Sein R ückgratblieb bei jeder Neigung zugleich königlich gerade, wenn ich mich des parado-xen Bilds bedienen darf; und so erweckte er im andern auch die Kö nigswürde

seines wahre n Selbst. Und d as dankte ihm ein jeder mit der Gegenliebe.So war es ja auc h mir ergangen!

F iona, wie er «wir» gesagt hat! G leich im ersten Satz, der über seine Lip-pen kam.Du erinnerst Dich, wie auf der Q ueen Elizabeth auch «Noire» das kleine

Solidaritätswort mehrm als aussprach. Doch w ie anders klang es nun aus die-sem zarten und doch festen M unde! N oires «wir» lebt einzig von der U nter-drückung jedes Ichs; in Nicks «wir» hat das wa hre Ich dagegen seinen vollenPlatz! Noire verneint das Ich; Nick kann es erhöhen. D as ist der ganze U nter-schied. An diesem U nterschied muß jede heutige G emeinschaft ihren M aßstab

finden.

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Nick meinte ja nicht sich persönlich, als er sagte «wir haben kurz zuvornoch da für sorgen können usw ....» Er ist ja nicht die Reinkarnation von Jac-

ques de M olay oder seines F reundes. Schon da mals wirkte er vor allem im Ver-borgenen, in einem esoterischen G eheimkreis innerhalb des T emplerordens.

Sein «wir» drückt einfach die ihm selbstverständliche, im w ahren Ich erlebteunpersönliche Verbundenheit mit den großen Zielen eines O rdens aus, dem ereinstmals angehörte un d d essen wichtigste Errungenschaften schon im letz-ten Leben fruchtbar und befeuernd u nd gemeinschaftsbildend weiterwirkten!

Do ch wie wun derbar und ganz natürlich ist nun dieses «wir» auf uns dreiFreu nde übertragen worden! Wir redeten von «unserem» Lehrer, von den ho-hen Z ielen, die «wir» jetzt verfolgen wollen. Nick betonte, daß w ir unverzüg-lich an die Bildung oder besser «Sammlung» der G emeinschaft der Dir ja be-

kannten «48» gehen sol len. Du er innerst Dich, w ie unser Lehrer in derLetzten Ansprach e betonte, daß sein W erk die Finsternis vom Ende des Jahr-hund er ts e inz ig dann d urchdr ingen werde, wenn s ich 48 w ahre SchülerM ichaels zusammenfänden. Nick macht Jacques und mir bewuß t, daß diesesnun d er nächste Schritt sein muß. Ein jeder von uns d reien wird wenigstensdrei andere zu finden haben. D as ergibt dann zwölf. Un d jeder dieser zwölf(wir selbst mit eingeschlossen) muß w iederum drei andere a uffinden. Ich sel-

ber bin ja schon auf gutem Wege, habe ich doch a ußer Jacqu es und Nick längstschon einen weiteren der zwölf gefunden! Un d das bist Du, Fiona!

Ü brigens: auch Nick empfing die neuen M antren unseres großen Lehrers.(Ach, ahn ten die, die mit den alten «Klassenmantren» seit Jahrzehnten Esote-rik spielen und sich dabei die R änge streitig machen, w o und wie der Stromder neuen O ffenbarung heute weitergeht! Do ch dieses sage ich nur Dir, keinM ensch, der nicht zum innern K reis gehört, darf von dieser Sache w issen!)M it tiefstem Ern st betonte Nick, daß die große heilige Sache un seres Lehrers

sich nun «in der Ge ißelung» befinde, daß bald die «Kreuzigung» erfolgenwerde u nd da nn die «A uferstehung». Und wörtlich setzte er hinzu: «Und fürdiese Auferstehung am Jahrhundertende w ollen w ir den neuen Leib bereiten.»

U nd der hängt mit meinem m orgendlichen Traumbild eng zusammen. Es sindnun zwei mal d reiunddreißig Jahre her, seitdem mir Nick in jenem Brief dieKon zeption der «Internationalen A ssoziation» aufgetragen hatte. Unser W ie-derfinden 6 6 Jahre später steht somit auf das deutlichste im Zeichen der E r-neuerung der G eistesströmung unseres Lehrers! Da mals war es noch zu frühzum Ha ndeln. Heute aber geht der Same jenes Briefs in unserm Willen auf!

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Jetzt kann a lles dies verw irklicht werd en, denn jetzt ist der erschiene n (aus d erSchar der 4 8), der die Kun st der selbstlosen G estaltung von sozialen O rga-nismen nicht nur kennt, sondern auch beherrscht.* —

Und n och etwas: 19 98 ist ja ein besonderes Jahr für uns; das Jahr des neuer-wach ten Sorat-Wirkens. Der so genannte große Sonnend ämon (nach A grippa

von N ettesheim mit dem Z eichen \ versehen), das «Tier» der O ffenbarungdes Johannes-Lazarus, versucht in diesem Jahr in ganz besonderem M aß zumdritten M al nach G olgatha in die Weltgeschichte einzugreifen. Und zw ar ge-schieht d ies nach d em R hythmus seiner Zah l , d ie ja 66 6 heiß t . Die dreiAttacken sind: 1. der Impuls von G ondischapur im Jahre 666 n. Chr., 2. dieVernichtung des Templerordens (1332 endgültig), 3. die epidemische Verfin-

sterung der menschlichen Bewußtseine der Gegenwart. Unser Lehrer sprachvon «Tiermenschen», de n Soratdienern, die gegen alles Spirituelle w üten wer-den. Es sind die Wegbereiter des großen allgemeinen «Denkverbots», das nochvor dem Jahr 23 00 vom W esten aus die ganze Erdenmenschheit wie mit einemunsichtbaren Netz umschließen soll. Und sehen wir sie nicht am Werk, im ehe-maligen Jugoslawien, in R ußland, C hina, in den US A, w ohin wir bl icken!Da ß wir unsere T emplerseele, die mit dem zw eiten Sorat-Angriff doch so tiefverbunden ist, genau im Jahr des dritten Angriffs (1998 ) w ieder treffen — auch

dies ist von Bedeutung. Die große Aufgabe der «48 » Treuen w ird darin beste-hen, dafür zu sorgen, daß die M enschheit in den kommenden Jahrhundertenauf allen großen D aseinsfeldern We ge hat und nicht nur Abgründe nach allenSeiten!** U nd diese Wege w erden jetzt gebaut (geplant sind sie schon lange).

* Nick reist jetzt nach Houston, um dort für einen Energiekongreß (der auf seineigenes Wirken am Jahrhundertanfang zurückgeht!) eine Anregung zu geben,

übe r die er sich nicht näher äußern wo llte. Du sieh st, auch e r bleibt m it dem letz-

ten Wirkensfeld auch we iterh in verbunden.** Wie ich von Jacques erfuhr, hat die Großkophta-Gesellschaft ihren Schäfchen

auch für 1998 ein bestim m tes Jahresthem a vorgese tzt . Es lautet: «das Geh eim nisdes Abgrunds». Wa hrh aftig, denn 1998 wird die den Nam en unseres Le hre rs in(m eis tens) unbewußter Blasphem ie im M unde führende Ge sel lschaf t mit a llemPom p und Glanz, um den s ie s ich gerade dieses Jahr so s ehr bem üht , im So rat-Abgrund endgültig verschwinden. Doch glaube mir, Fiona, es wird dies nur vonsehr, sehr wenigen bemerkt. Die Masse wird sich blenden lassen. Sie wird den

Pomp und Glanz verehren. Und wer den Pomp und Glanz verehrt, verehrt die

M acht und nicht die W ah rhe it — Anbetung des «T ieres»!

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D u wirst also ermessen, Fiona , wieviel Anfan g, wieviel Zukun ft in dem Ab-schied von P aris nun liegt! Schon bald kom mt es zum W iedersehen: Am letzt-maligen offiziellen Geburtstag unseres M eisters (27 . Februar; der w ahre G .T.wa r ja der 25.) treffen wir uns in (dem mir noch un bekannten) Pra g, das ja

(immer noch) geheimer A usgangsort der slawischen K ulturepoche ist.

x -

22 U hr 45

Ich komme eben aus der Oper Die ve rkaufte Braut. Sie war zum G lück rand-voll. Denn die Aufführung war grandios. Die Slawin G ruberova in der Rolleder M arenka. M an sang auf tschechisch. Ich weiß, daß dieses Werk von vielen

Kritikern und auch von M usikern nicht sonderlich geschätzt wird. Welch einIrrtum! Seit ich es zum ersten M ale in Ch icago hörte, ist es mir ein leichter,bunter (und doch in keiner Weise oberflächlicher) Verkünder westslawischerStimmu ng und G estimmtheit. Das m ag, ich gebe es ganz gerne zu, auch daranliegen, daß D u damals die Rolle der M arenka sangst. Und heute hat sich die-ser Eindruc k nicht allein bestätigt, sondern noch v ertieft. Wo gibt es solchenSchw ung und solche F rische des G efühls? Gem ischt mit solcher Heiterkeit

und sehnsuchtsvoller Wehm ut? Als ich in der Pause nach d em ersten Akt imProgramm heft den bewegten Lebenslauf von Smetana studierte, machte ichauf einmal eine mich nicht wenig überraschende Entdeckung. Smetana hattesechs Kinder, alles Töchter, drei von ihnen starben schon im frühsten K indes-alter. Er komponierte also fortwährend in einer allem Slawischen so angepaß-

ten Lebensaura, die vom Element des Weiblichen beherrscht war. Und dieser«weibliche Geist», wie Jacques wohl sagen w ürde, wirkte außerdem hier glei-

chermaßen aus dem Diesseits wie dem Jenseits mit. Und n un d ie eigentliche

«Entdeckung»: Die no ch un verbrauchten Ätherleiber der früh verstorbenendrei Töchter erklären mindestens zum T eil das ungeheuer F rische und B ele-bende gerade auch in dieser Op er. Sag mir, ob Du dieses Aperçu für brauchbarhältst. — Un d dann: W o gibt es etwas Schlichteres und in seiner Schlichtheittiefer Greifendes als das Liebes- oder Abschieds-Duett von Janik und Marenkain dem ersten A kt? Es ist Sehnsucht drin und W eite und eben das, was ich diegroße Sc hlichtheit oder Einfachheit der wah ren Liebe nenne. Du verstehstmich: Ich meine selbstverständ lich nicht, daß es etwa «einfach» sei, wah reLiebe zu entwickeln; sondern v ielmehr u mgekehrt: Wo wahre Liebe blüht, da

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webt sie einen Z auber großer Schlichtheit über alle Dinge. In solcher Liebe (die

natürlich sehend ist) zeigt sich auch ein G rundge setz der ganzen W eltent-wicklung: die Entwicklung schreitet nämlich stets vom Einfachen über dasKo mplexe zu der groß en Sch lichtheit als dem «Resultat» der «Einfachheit»und des «K omplexen» fort. Hier in diesem D uett von Smetana ist davon etwaszu ahnen. Und in dieser Ahnun g fühle ich auch etwas von d em großen, wei-ten Puls der slawischen M ission. M it dieser Slawenluft in meiner Seele ver-laß ich nun P aris, die Hüterin der vierten nachatlantischen Ku lturepoche.

Tausend Küsse!

Harold

P.S.: M eine Adresse ab morgen ist: Hôtel du Grand Sablon, Place du GrandSablon, B-1000 Bruxelles

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Brüssel

Vom Gare du Nord aus ließ sich Harold Freeman im «Grand Sablon»

von Brüssel noch ein Zimmer reservieren. Dann kaufte er sich ein paar

aus- und inländische Zeitungen und suchte seinen Sitzplatz auf. Erfuhr 1. Klasse, um sich möglichst ungestört auf den nächsten Ort der

Reise einzustellen. War er irgendwo alleine unterwegs, so pflegte er

bald nach der Abfahrt aufs Geratewohl bei einem seiner Lieblings-

schriftsteller irgendeine Seite aufzuschlagen. Den Satz, der ihm zuerst

ins Auge fiel, machte er darauf zum Ausgangspunkt für eine innere Be-

trachtung. So tat er es auch dieses Mal. Da ein Band Emerson im Kof-

fer obenauf lag, würde es ein Emerson-Satz sein. Er schlug auf und las:

«<Was ist Geschichte>, sagte Napoleon, <wenn nicht eine Fable conve-nue?» Als Freeman diesen Satz von Emerson gelesen hatte, stieg ein

unbestimmtes Vorgefühl von etwas Künftigem in seiner Seele hoch.

Dann versenkte er sich in die Aussage des Kaisers der Franzosen und

fand es sehr bemerkenswert, daß dieses Wort von einem Menschen

stammt, der selbst in höchstem Maß Geschichte machte.

Nach einer Weile zog er einen Stadtplan Brüssels aus dem Koffer

und vertiefte sich sehr konzentriert in das Bild der Hauptstadt von Bra-bant, die er nicht zum ersten Male sehen würde.

~

An der Réception des «Grand Sablon» warteten zwei Briefe auf den

Neuankömmling; ein Brief von Onkel Alfred und einer von Fiona.

Kaum hatte er sich in dem neuen Zimmer umgesehen, öffnete er seine

Post. Fiona schrieb:

Chicago, 16. Januar 1998

Mein liebster Harold!

Da es mir sehr ungewiß erscheint, ob Dich dieser Brief noch in Paris er-

reicht, schicke ich ihn an die Brüsseler Adresse, die Du vor der Abfahrt

hinterließest. — Tief bewegt von Deinen Aufzeichnungen — die ich in

dem Dir bekannten Kästchen aufbewahre —, ergreife ich die Feder. Erst

jetzt ist mir dies möglich, bis gestern nacht war pausenlos Betrieb. Wie

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tröstlich, daß ich weiß, daß Du mein Wesen «hören» kannst, auch wenn

ich keine Zeile schreibe. Wie hätte ich es anders ausgehalten, Dir so

lange Wochen (für mein Gefühl schon Monate!) nicht zu schreiben.

Jetzt aber bin ich ein paar Tage frei, und so will ich Dir nun alles sagen,

was Du eventuell beim «Hören» nicht genügend deutlich vor Dir hast;

auch handelt es sich teils um «Äußeres», das sich dem «innern Wort»

vielleicht entzieht.

Zum Unterschied von Liebe und von Freundschaft fand ich bei un-

serm Emerson zwei goldene Beobachtungen. Im Zusammenhang mit

Freundschaft schreibt er: «Sei lieber eine Nessel in der Seite deines

Freundes als sein Echo.» Ist der Satz nicht schön, und bezeichnet er

nicht ganz genau, was auch wir beide uns vom ersten Augenblick an

waren? Ist es nicht ein Segen, daß wir oft verschiedener Meinung wa-ren (und noch sind)? Hätten wir auf andere Art zu tieferem Zusam-

menstimmen kommen können?

Vo n der Liebe sch reibt er — in der gro ßen Schlichtheit , welche ich a nihm so s chätze — Sätze wie den folgenden: «Alle M ensch en l ieben einenLiebenden.» Ist uns nicht auch dieses doppelt widerfahren? Dieser

Essay Emersons ist übrigens sehr kurz, vielleicht der kürzeste von allen

Essays überhaupt. Wie weise und bescheiden! In dieser «Sache» müs-

sen eines Tages Frauen weitermachen. Doch daß sie genau da, woEmerson den Schlußpunkt setzte, weitermachen können, das allein

zeigt seine Größe ...

Denk nicht, das sei aus Hochmut oder aus Geringschätzung von

Emerson gesprochen. Soll es unter seinen vielen Leserfreunden nicht

auch kleine «Nesseln» geben dürfen? Er hat mich ja aufs neue ganz und

gar in seinen Zauberbann genommen. Ich lese nämlich, seit Du weg-

fuhrst, stückchenweise in einer ganz vorzüglichen Biographie, diekürzlich erst erschienen ist. Der Biograph fühlt etwas von den wieder-

holten Erdenleben. An einer Stelle ruft er voll Begeisterung: «Ovid in

Concord!» Das ist doch nicht sehr weit gefehlt; war Tacitus ja doch ein

Orts- und fast ein Zeitgenosse von Ovid!

Dann erinnert mich das Buch erneut an jene Geistfamilie, von der

wir of tm als sprachen: Em erson — G rim m — Joseph Joachim (der Geiger)— Be ttina von Arnim — G ladstone — T ennyso n — Hallam (der junge, früh-

verstorbene Dichterfreund von Tennyson). Emerson las Go ethes Brief-

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wech sel mit einem K inde, den Bettina 1835 publizierte, in einem Zug und

hielt es für ein fabelhaftes Buch. Wie können wir aus diesen mensch-

lichen Verhältnissen ersehen, wie sich «Wahlverwandtschaft» bildet!

Was für Brückenbauer zwischen Kontinenten wurden diese Menschen!

Noch ein anderes Zitat von Emerson möchte ich Dir (aus Geschichte)

weitergeben: «Wenn ein Gedanke Platos mein eigener Gedanke wird;

wenn eine Wahrheit, welche Pindars Seele einst befeuerte, meine ei-

gene befeuert — dann gibt es keine Zeit mehr.» Ist Emerson nicht auch

ein großer Brückenbauer zwischen ganzen Zeitaltern? Wie schön

spricht er hier aus, daß freie Geister trotz aller Raumes- oder Zeiten-

schranken durch dieselbe Geistigkeit verbunden sind, wenn sie die all-

eine Geistigkeit nur recht verstehen wollen. — Immer besser kann ichnun begreifen, weshalb der große Lehrer einmal sagte, er hätte seine

Wissenschaft vom Geist nicht nur in Anknüpfung an Goethe, sondern

auch in Anknüpfung an Emerson entwickeln können!

Eben klingelte das Telefon. Ich muß sofort zu einer Probe. Ent-führung aus dem Sera il. So viel also für heute. Du weißt, wie schwer mir

alles Schreiben fällt. Sieh also über meinen Stil hinweg! Empfang statt

dessen lieber diesen Kuß von DeinerFiona-Konstanze.

~

Freeman legte diesen Brief ganz sorgsam auf den alten Sekretär und

wandte sich dem Brief von Onkel Alfred zu. Er las:

N.Y., 15. 1. 1998

Mein lieber Harold!

Ich hoffe sehr, Du hast Paris genossen. Ich wollte Deine Ferientage

nicht mit lästigen Erinnerungen an die Pflichten eines jungen Diplo-

maten stören. Jetzt jedoch, wo Du in Brüssel angekommen bist, kann

und muß ich diese Rücksicht fallen lassen. Kurz: Wir warten voller

Spannung auf Deinen offiziösen Kurzbericht (mind. 4 Seiten!) aus der

Hauptstadt der EU. Verlasse Brüssel nicht, ohne ihn zu schicken. Be-

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so nders, wa s die W ährungsunion und die A rbeitslose nfrage a nbetrifft ,wollen wir hier auf dem laufenden gehalten werden.

Herzlich grüßt Dich

Onkel Alfred.

Harold Freeman schloß das Fenster und beantwortete sogleich den

Brief Fiona s:

Bruxelles, den 20. 1. 1998

Beste Fiona!

Hab liebsten D ank dafür, daß Du m ich hier an der Réception gleich selbst emp-fingst: Dein B rief war der Willkommensgruß für mich. Und diese Zeilen sindnur ein ganz kurzer G egengruß. — Wie seltsam, daß u ns beide wieder Emerson

begleitet! Er ist doch wie ein Aa ronfels. Rüh r irgendwo mit Deinem Zauberstabdaran, und Ströme voller Weisheit fließen! Im Zu g hierher schlug ich aufs Ge-ratewohl — Du kennst ja meine diesbezügliche Gewohnheit — eine Stelle auf und

stieß a uf ein Napoleon-Zitat: «Was ist Geschichte, wenn nicht eine Fable con-venue?» Ich habe seither das G efühl, in Brüssel w erde ich es irgendwie auch mit

Napoleon zu tun bekommen. Napoleon und die EU? N un, wir werden sehen.Wie ich gerade im Kalender sehe, den D u mir zu W eihnachten geschenkt

hast, ist heute just der Todestag Bettinas (1859 )! Nehmen wir es als ein Zei-chen der B estätigung, wie w ichtig alles ist, was D u in D einem Brief von ihrund v on der G eistfamilie schreibst.

O nkel Alfred sandte ein p aar Z eilen, in seiner klaren, feinen S chrift. Erwartet ungeduldig auf B ericht.

Da s traurigste Erlebnis dieses Tages hatte ich am M orgen. Am G are duNord sah ich einmal mehr das ganze Elend und die M enschennot. Alles her-untergekommen: D ie Seelen (oftmals ich-los), die Gesichter, die ganze äußereErscheinung! D ie Arbeitslosigkeit und die ungehem mte P olit ik des Völker-türeöffnens treiben alle Gro ßstädte Europ as in ein, zwei Jahren in den vö lligenRuin. Ich bin gespannt, ob man in Brüssel diesbezüglich wirklich Neu es an-zubieten hat.

Und noch etwas sehr Eigenartiges: Ku rz vor meiner Zugsabfahrt fiel mir

mit Schrecken ein, daß ich die Reservierung meines Z immers hier noch nicht

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bestätigt hatte. Ich rief also das «Sablon» an. Ich w ählte erst die Landes-, danndie Stadtvorwahl von B rüssel - und nun wirst Du staunen. Die Vorw ahl Bel-giens u. von Brüssel (letztes M al noch anders!) aus dem Ausland ist 32 (Bel-gien) plus 2 (Brüssel). Das gibt unsere Boneszahl 32 2! Ich dachte hinterher an

Harriman und seine Rolle in der Au ßenpolitik der USA . Er war ja immerhinder Hauptabwickler des sogenannten M arshallplanes*, der im Kern ein Planzur Wirtschaftsunterwerfung von Europa war. Harriman - übrigens im sel-ben Jahr geboren w ie ich selbst im letzten Leben - untersützte auch den M on-netplan, und dieser stand am Ausgangspunkt der heutigen EU! Es führen alsosonderbare Fäden von diesem Bonesman zu der Brüsseler EU-Zentrale. Undwenn da s 32 2 vo n Brüssel reiner Zufall ist (das heißt von keiner Bruderschaftgeman agt wurd e; absoluter Zufall existiert ja nicht), vermag er einen doch

sehr nach denklich zu stimmen ...Dies alles ist nur aphoristisch hingeworfen, sollst Du doch sogleich den er-

sten Belgien-Gruß und -Kuß bekommen!

Dein Harold

Harold Freem an suchte schon am andern M orgen das neue Parlam ents-gebäude auf, um ganz inkognito an e iner Sitzung teilzuneh m en. Es ginggera de um den ne uen, nun wirklich endgültigen Ze itpunkt für die Ein-führung der Einhe itswähr ung innerha lb der Europäischen U nion. Nachlangem Hin und Her e rgriff ein Norwe ger das W or t und sa gte: «M eineseh r vereh rten Da m en und Herren! Nur wer vert räum t, was wirklichjetzt ges chieh t, kann dies e W ähr ungsunion ge genwärtig überh aupt füretwas Wichtiges era chten. Und was gesch ieht denn jetzt in Wirklichkeit?Die Vor bere itung einer W eltwährung, die vo n New Yo rk und von T okio

* Ganz ähnlich h atte Ho lbrooke vo r vier Jahre n die Abwicklung des Da ytonplaneszu besorgen. Holbrooke war nicht zufällig ein ausgesprochener Verehrer Harri-

m ans. Harr im an - Ahrim an, so gab ich m anchem Freund schon «dam als» zu be-denken, weil die Ziele solcher Menschen - sie mögen dieses wissen oder nicht -

den Sor atzielen diene n.Em erso n und Harrim an - kannst Du Dir zwei größere Gegensätze denken? Em er-son - der Geistesriese, der Goethe- und Europaschätzer; Harriman, der Menschder M acht, für den die ganze W elt ein «football» der US-Intere sse n ist, auch we nner noch so viele M atisses und Picassos sam m elt . ..

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nach dem großen Crash über Nacht verordnet werden wird. Den ent-

scheidenden Finanzstrategen — bitte sehr, ich sage, den entscheidenden

— ist es völlig einerlei, ob kurz zuvor no ch e ine e inhe itliche Euro währ ungkom m t — o der eben n ic h t kom m t. Dem heh ren C ouncil an Fore ign R el a -tions, der auch in diesem Hause ständige Beraterfunktion wahrnimmt,

war und ist die Europäische Union nur Vorstufe zu der von ihm gestif-teten Atlantischen und Transpazifischen Union. Meine Damen und Her-

ren, vergeuden wir hier also nicht die Zeit mit Fragen zweitrangiger Re-

levanz! Ich danke für das Ohr des Hauses.»

Es herrschte für Sekunden ein absolutes Schweigen in dem Riesen-

saal. Das kam nur selten vor. Da rief ein Abgeordneter aus Belgien laut:

«Die Stimme eines Nichtmitgliedes hat in Brüssel das Gewicht von

Luft!»Und unter Beifall und Gelächter gingen rund 500 Abgeordnete zur

Tagesordnung über.

Freeman hatte für den ersten Tag genug gesehen und gehört. Er er-

kundigte sich noch nach dem Namen des bemerkenswerten Redners

aus dem Norden und verließ das Parlamentsgebäude. Er schlenderte

in Richtung Stadtzentrum. In der Rue aux Laines blieb er lange vor

dem Hause mit der Nummer 54 stehen. Dann suchte er das einstigeSchloß Bellevue auf, das heute ein Museum ist. Und schließlich fuhr er

mit der Straßenbahn zum Palais Laeken.

Am späten Nachmittag zog er sich in sein Hotel zurück. Zum ersten

Mal auf seiner Reise holte er sein Powerbook aus seinem Koffer und

setzte einen Kurzbericht für Onkel Alfred auf.

Am nächsten Morgen saß er wiederum im Parlament. Nun ging es um

die Arbeitslosenfrage. Der zuständige Kommissar trug dem Hause sei-

nen Lösungsvorschlag vor: Großzügige, neue Aufwendungen für die

Arbeitslosen von Europa; aus einem EU-Sonderfonds zu leisten, zu

welchem jedes Unternehmen mit bestimmter Mehrwertsquote beizu-

tragen habe. Auf die Zwischenfrage: «Wollen Sie nicht Arbeitsplätze

schaffen?» meinte der Befragte: «Nun, nicht wahr, wo weltweite

Globalisierung herrscht, da kommt es notgedrungen auch zu Arbeits-

platzersparnis. Sich gegen diesen Trend zu stellen heißt einfach gegen

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einen Strom zu schwimmen, welcher heute reißend ist. Daher wird die

Arbeitslosenfrage nur noch indirekt zu lösen sein.»

Da diese Äußerung zu keiner weiteren Debatte führte, hatte Free-

man auch an diesem Tag genug gehört.

Erst tags darauf meldete sich Harold Freeman telefonisch bei der

US-Botschaft. Da er aber keinen offiziellen Brüssel-Auftrag hatte, blieb

er auch von offizieller Sitzungspflicht verschont. Man wolle ihm dage-

gen selbstverständlich einen Sonderstatus als Beobachter verschaffen,

so daß er auch an Kommissionssitzungen assistieren könne.

Erholend war die Aufführung von Mozarts Entführung aus dem

Serail in der alten Oper. Sie gab Freeman die Gelegenheit, sich innerlich

noch stärker mit «Chicago» zu verbinden.

Am Ende dieser Brüsselwoche traf ein neuer Brief im «Sablon» ein.

Freeman saß im Frühstücksraum, als man ihn ihm reichte. Er öffnete

und las:

21. 1. 98

Harold! Bester!

Was für Briefe sind hier eingetroffen! Neidisch wäre ich auf Eure Char-

tresfahrt, wenn nicht der Neid das mindeste von meinen Lastern wäre!

Hab Dank für Deinen Chartresbrief, den ich las und wiederlas und der

zum Schönsten zählt, was Du mir je geschrieben hast. Ich finde derzeit

keine Worte, auszudrücken, wie es mich berührt, was Du von Eurer

«zufälligen» Zugsbegegnung schreibst oder was Du Unaussprechli-

ches mit Jacques erlebst, und dann zuletzt mit «Nick>. Ich kann und

möchte über diese «heiligen» Begegnungen kein Wort fixieren. Umso

stärker lebe ich dem Augenblick entgegen, wo wir diese «Heiligtümer»in der rechten Art besprechen können. —

Eine kleine kritische Bemerkung wirst Du mir gestatten: Was Du

von der «Mandorla» geschrieben hast, erscheint mir etwas problema-

tisch. Ich meine, kunsthistorisch schwer zu halten. Man wird sagen:

Eine Mandel ist doch nicht ein Ei! Würde das veröffentlicht, es gäbe

starken Gegenwind! Im höchsten Maß bedeutsam aber scheint mir,

was Du zum «Phantomleib» sagst, vor allem im Zusammenhang mit

Chr. R. Ich nahm mir gleich den ganzen Vortragszyklus vor und frage

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Dich: Ist das, was bei den Theosophen «Atma» hieß, was unser Lehrer

«Geistesmensch» genannt hat, etwas anderes als der wahre, unzerstör-

bare Phantomleib?

Erschütternd wirkte es erneut auf mich, in welchen welthistori-

schen Kontrast der Lehrer doch die Jesuiteneinweihung und die Ro-

senkreuzerschulung stellte. Kein Wunder, daß gerade dieser Zyklusdie allerschärfste Gegnerschaft hervorrief! —

Drei Fragen hab ich noch: Was ist mit den drei «Okkultismen» ei-

gentlich gemeint, vor allem mit dem «mechanischen»? Wer war Robert

Bruce? Gibt es nicht auch gute FM-Strömungen? (Emerson hielt vor

dem Masonic Temple Bostons ganze Vortragsreihen! Und Goethe, Mo-

zart, Haydn etc.?). — Übrigens, was Du von Smetana geschrieben hast,

ist wirklich «zauberhaft». Du weißt, wie ich den Ausdruck meine.Schon wieder klingelt es mich fort. Die Verschnaufpause ist aus.

Und Du weißt, wie sehr ich Ruhe haben muß zu allem Schreiben, schon

rein äußerlich. Aber lesen kann und will ich jede weitere Zeile, die aus

unsrer alten Heimat kommt!

Von Herzen

Deine Fiona.

Harold Freeman schrieb gleich nach dem Frühstück unverzüglich nach

Chicago:

M eine Liebe,

ich will gleich zu der «kritischen B emerkun g» komm en, die D u in dem letztenBriefe m achst . M it der «M andorla» hast D u in gew isser Hinsicht selbstver-

ständlich recht. Doch ich frage D ich: Würde es denn schaden, wenn die künf-

tigen Betrachter solcher Darstellungen von dem A uferstandenen auch an dasmit IHM verbundene M yster ium des Aufers tehungsle ibes denken würden?

Sei jedoch beru higt , veröffentl ichen w erde ich natürlich nichts dergleichen.

Seit die Zeitschrift Spirit of the Age meinen letzten Aufsatz als zu kühn

zurückw ies, wüß te ich ja ohnehin nicht , w o ich jetzt veröf fent l ichen so l lte.Deine F rage von der Identität des Phantom leibs mit dem «G eistesmenschen»ist sehr wichtig. Ich werde aber eine ganze W eile nachd enken darüber.

Es freut mich, daß Du den besagten Vo rtragszyklus l ies t. Heute wird m ir

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klar: Dieser Zyklus ist der Einw eihung des Lazaru s vergleichbar. Von letzte-rer ist der Beschluß der Hohepriester ausgegangen, Jesus (und auch Lazarus!)zu töten; von diesem Zyklus an begann die scharfe Ge gnerschaft gegen unsernLehrer. Von d a an w ollte man sein Wirken untergraben. Der Bran d zwölf Jahre

später w urde auf de r Linie dieser A bsicht inszeniert, ebenso die ein Jahr dar-auf erfolgende Vergiftung, wenn au ch F M -Kreise beide M ale mitgeholfen ha-ben. A propos: Belgien ist seit über 150 Jahren der «O rt» Europas, wo SJ undFM ungefähr in gleichem Maße unauffällig, aber außerordentlich geschickt die

Fäden ziehen.Da s bringt mich auf die letzte Deiner F ragen. Sicher gab und gibt es (wenn

auch heute sel ten) auch ein gutes M aurertum. An dessen einem Ausgangs-punkte* steht ja wieder Lazarus-Johannes (der V erfasser des gleichnam igen

Evangeliums) — Chr. R. — St-Germain. Zur Zeit von König Salomo w ar die In-dividualität, um die es sich hier handelt (denn in allen den genannten m ensch-lichen Persönlichkeiten wirkte ja dieselbe Wesenh eit), als Hiram inkarniert. Er

war d er Architekt des Tem pels Salomos (mit den beiden Säulen «Jakin» und«Boas») und A usgangspunkt der sogenannten Tempellegende — und diesespielt in aller M aurerei eine essentielle Ro lle. Sofern die letztere auch spätermit dem W irken «H irams» in Verbindung blieb, kannst D u sie als «gut» be-zeichnen; andern falls fängt überall das Problematische zu wirken an. Bis in dieG oethezeit, ja in die Zeit von Emerson hinein existierte etwas v on der w ahrenStrömun g. Daneben (u nd sehr oft mit ersterer verquickt) gibt es seit dem 1 4.Jahrhundert auch die dekadente FM -Strömung. Sie ist immer daran zu erken-nen, daß sie nicht mehr M enschheitszielen (und das allein ist christlich), son-dern Son derzielen ganz bestimmter G ruppen o der Individuen dient . M anmuß bei diesen Dingen eben stets aufs einzelne eingehen.

Daß die FM -Strömung, wie sie etwa durch den B ones-C lub oder durch

den G rand O rient de F rance fl ießt , von der zweiten Sorte ist, kann aus denSpezialinteressen, die in diesen Brud erschaften blühen, sonnenklar ersehenwerden . Unser Lehrer suchte vor dem E rsten Weltkrieg an die H iram-Strö-mung anzuknüpfen, mußte aber angesichts der nat ionalen Em otionen (dienicht zuletzt im G rand O rient gefördert wurden) die Sach e sehr bald fallenlassen. Er dürfte aber schon im komm enden Jahrh undert diesen wichtigen

* Den andern Ausgangspunkt der FM schilderte ich früher; er liegt in Misraim-

Ägypten.

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Versuch der Anknüpfung (G esetz der Kontinuität im G eistigen!) aufs neueunternehmen!

Ich sagte, schon im 14 . Jahrhundert bildete sich eine dekadente F M -Linie.Dam it sind wir bei der ersten F rage. Robert Bruce w ar ein schottischer F rei-heitskämpfer. Er kämpfte gegen England, und sein Heer w ar zahlenmäß igweitaus unterlegen. Da stießen im entscheidenden M oment — Johanni 131 4 —plötzlich sieben Tempelritter auf dem Schlachtfeld von Banockburn (bei Edin-burgh) zu ihm. Da s war vier Jahre nach der A ufhebung des Tem plerordensdurch den P apst. Das ist genau der Punkt, an dem der Templerorden (in sehrveräuße rlichter Form natürlich) in die werdende FM von Schottland über-geht. Diese bildet bald die sogenannten hohen G rade aus (im U nterschied zuden Johannesgraden Lehrling, Geselle, M eister). Solche Hochgrade dienen in

der Regel der D üpierung aller M indergraduierten; sie sind fast überall vonM acht- und Eitelkeitsimpulsen ganz d urchsetzt. Bruce war selbst kein M au-rer. Doch floß der Rest des Templertums durch ihn in das, was dann die schot-tische FM geworden ist. «Nick» hoffte damals, daß in Schottland nicht alleindie Tem plerrituale oder -zeremonien (die aus de r dritten nach atlantischenEpoche stamm ten) weiterleben würden, sondern , und sogar in allererster Li-nie, auch der esoterisch-christliche Gehalt. Das ist eben nicht geschehen. Baldwurde d ieser christliche Geha lt (nach den Worten unseres Lehrers) aus den

Temp lerformen au sgepreßt wie aus einem Stück Zitrone, um von einem w e-nig christlichen FM -Hochgradsaft ersetzt zu werden. (Das geschieht ja heuteauch mit manchen «F ormen» aus der Lehre unseres M eisters, für die man sichauch in der dekadenten FM-Linie zum Teil sehr interessiert.) Diese Hochgrad-FM ist ein noch viel radikalerer Bekämp fer des wahren Ind ividualismus alsdie Kirche.

Das sind natürlich wiederum nur A ndeutungen; Du siehst, die Dinge sindkomplex.

Auch Deine dritte Frage rührt an Welten. Ich fasse mich so kurz als möglich.Wäh rend man im O sten unserer Erde künftig eine Fäh igkeit entwickeln wird(= eugenetischer O kkultismus), aus geistiger Erkenntnis K onzeptionen ganzbewußt zu wählen (in C ampanellas Sonnenstaat sind solche D inge bereitsangedeu tet), und in der M itte eine Fäh igkeit des psychisch-prophylaktischenBeha ndelns aller nichtkarmischen K rankheiten entstehen wird (= h ygieni-

scher O kkultismus), bildet sich im Westen heute schon die F ähigkeit des «me-

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chanischen O kkultismus» aus. M an wird das G esetz des Zusammen klingens(ätherischer) Schwingungen für M aschinen nutzen können. Eine Folge, diesehr wichtig ist: neun Zehntel aller äußern M enschenarbeit wird dadurchüberflüssig we rden. U nd m an stellt sich in gewissen, in diese Zukunfts-

fähigkeiten eingeweihten K reisen, die im W esten liegen, bereits heute darau fein, die dann unbefriedigten und revoltierenden M enschenmassen mit denM itteln des mech. O kkultismus zu beherrschen! In dieser Perspektive mußschon heu te das Problem der Arbeitslosigkeit gesehen werden. Nur Dreiglie-derung wird hier helfen können. Denn w enn die M enschen mit der dann er-langten relativen F reiheit von physischer Arbeitsleistung im R ahmen einesfreien Geisteslebens auch etwas anzufangen lernen, dann ist die Einsparungvon physisch-materieller Arbeit ja ganz gew iß kein Unglück. Dazu m uß je-

doch auch noch kom men, daß jeder M ensch ein Recht auf Einkommen besitztund im F alle rel. oder abso luter Arbeitslosigkeit nicht von Staatsalmosen le-ben muß. D as Recht auf Einkommen muß von aller Arbeit vollkommen ge-trennt behandelt werden. Heute ist die Arbeit käuflich, also eine Ware. Abernur P rodukte unse rer Arbeit dürfen künftig in den Wirtschaftskreislauffließen. D ie Arbeit selbst, das heißt der M ensch, der A rbeit leistet (egal obphysisch ode r geistig), ist völlig unbezahlbar. Es mu ß also nicht nur ein

(heute überall so jämmerlich erfülltes) Rech t auf Arbeit geben, sondern auchein Recht auf Einkommen . Arbeit und Einkom men dü rfen nicht verquicktbleiben, zum Nu tzen weniger, das heißt zum U nheil vieler. Solche R echtsfra-gen lassen sich jedoch erst lösen, wenn die W irtschaft wirklich W eltwirt-schaft zu werden anfängt. Dazu gehört, daß in entsprechenden AssoziationenHänd ler, Produzenten sowie Konsumen ten sitzen und über Preis, Bedarf undWährungsfragen miteinander reden und Beschlüsse fassen. Was heute «Glo-balisierung» heißt, verschleiert nur den T atbestand, daß wenige die Wirt-

schaftsherrscher über viele sind. Vor dieser falschen Globalisierung (statt derauf Assoziationen aufgebauten wa hren W eltwirtschaft) macht man auch inBrüssel einen Bückling nach dem anderen. Ich konnte das aufs traurigste ineiner Parlame ntssitzung erleben!

Ich mache nun hier Schluß. Du wirst jedoch ermessen können, welchePerspe ktiven nötig sind, wenn der mecha nische O kkultismus (der unau f-haltsam kommen w ird und der an sich nichts G utes und nichts Schlechtesist) nicht bloß zum Nutzen we niger verwen det werden so ll. Schon unserguter Cho msky — der nur leider viel zu viel dem «Staat» aufbürden möchte

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— ahnt von diesen Dingen, die ja heute erst am A nfang stehen, so mancher-le i. Sein Ausdruck vo n den «prosperous few and the restless many» zeigtdas deu tlich.

Du siehst, wie diese D inge ineinandergreifen. —

Gestern abend war ich im — Serail! Im nächsten B riefe mehr davon. Jetzt geheich zum dritten M al ins Parlam ent.

Sei tausendmal geküßtvon Deinem Harold

In der dritten morgendlichen Parlamentssitzung, die um zehn begann,

stand zunächst der internationale Terrorismus zur Debatte. Dann wur-

de eine Vo rlage zur unbes chränkten Ge nforsch ung und -m anipulationan Tieren und an Pflanzensaatgut ohne Gegenstimme von den Abge-

ordneten ve rabschiedet. Schließlich debattier te m an, wie es schien zumx-ten Male, über die längst eingereichten Anträge zur Aufnahme der

Schweiz, No rwegens, Ungarns und Kro atiens. Freem an saß a uf seinemGastsitz, hörte, sah und mußte schweigen.

Die Sitzung zog sich bis um zwei Uh r m ittags hin.

Harold Freeman nahm den Lunch im Restaurant des Parlamentesein. Statt des höflich angebotenen Desserts, auf das er höflichen Ver-

zicht kundtat, schrieb er an Fiona:

Bruxel les , Donnerstag, den 29. Januar 199 8

Liebste,

ich komme eben aus der dritten P arlamentssitzung, die G ott sei Da nk auchmeine letzte ist. Die allgemeine Blindheit der hier A usschlaggebenden w irdwo hl kaum jema nd für möglich halten, der diese Blindheit nicht mit eignenAu gen sieht. Natürlich ist das Parlam ent an sich ganz unbed eutend. SeineKom petenz erstreckt sich ja allein auf D inge, denen kaum Bedeutung beige-messen w ird. In allen Sach fragen von W ichtigkeit sind die Parlam entsbe-schlüsse nur von p ropositioneller Relevanz, können also auf den höh eren Eta-gen, auf denen jene Wü rfel fallen, die nicht aus Pa pier maché sind, einfach

übergangen w erden. M an läßt die Leute reden, weil man selbstverständlich

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weiß: neben der Tend enz zur Aristokratisierung aller M achtverhältnisse (=immer weniger bekommen immer mehr M acht über immer mehr) muß heutemit dem heftigen Verlangen na ch allgemeiner Dem okratisierung (= imm ermehr wo llen M itsprache bei immer mehr) ebenso gerechnet werden. Die M asse

soll ruhig mitberaten dürfen. M an muß nur dafür sorgen, daß sie eben nur m itPapier-maché-Würfeln spielt. Wen meine ich mit «man»? Nun, jene, welchehinter den entscheidenden Organen der EU — Kommission und «Rat»* — dieeigentlichen F äden ziehen. Ich habe auf der Ü berfahrt ja zwei, drei «G entle-men» getroffen, die über da s, was hier in Brü ssel «laufen» soll, sehr dezidierteAnsichten besitzen. Nennen wir sie kurz den neuen «32 2-C lub», der sich etwa

gleichmäß ig aus F M - und aus SI-Kreisen rekrutieren dürfte. So wenig also insG ewicht fällt , was hier im Pa rlament geschieht, so wirksam könnte sich das

ändern, wenn nur e in paar der «M assenmenschen» wüßten, von welchenKräften sie wie Bauern auf dem S chachbrett hin und her geschoben w erden.

Ein einziger erhob die Stimme, der die Verlogenh eit der gegenwärtigenEU -M anöver (die im wesentlichen nach w ie vor ein Teil der Auß enpolitik vonWa shington und Rom darstellen) zu durchschauen scheint. Er sprach von derAtlantischen und Transpazi fischen Union, in welche die EU (nebst NAT Oübrigens) hineinbefördert werd en soll. Er erntete natürlich einzig Ho hn und

Spott, außerdem ist er als Nichtmitglied nur «G ast».Während dieser Mann — ein Norweger, der Nantjoff heißt — noch sprach

(und er spra ch kurz), stiegen langsam B ilder aus dem letzten Leben in mirhoch. Ich sah m ich in der Albert Hall in London sitzen, wäh rend einer RedeC hurchills. Er sagte klar und deutlich, daß die Vereinigung Europa s nur derunum gängliche nächste Schri t t zur Etablierung einer (selbstverständlichanglo-amerikanisch geführten) «au toritativen W eltregierung» sei. So spracher sich «zu Hause» aus. In der berühmten «Zürcher R ede», die er ungefähr ein

halbes Jahr zuvor gehalten hatte (August 194 6?), setzte er ganz andere A k-zente: Die Europäer sollten glauben, daß er als «Retter» vor dem N aziterror(den er u nd R oosevelt in Wirklichkeit so lange tolerierten, bis die Russen weit

* «Rat» ist ein gutes Beispiel für die täuschende Ve rpackungstechnik für die M ass e:das W ort läßt ja an freilassendes Raten und Ber aten denken und verh üllt dabei dens tram m en M acht- sow ie Befeh lscha rakter! Das Ratsgebäude vis-à-vis der «Kom -m ission» trägt auf einem Schild die Aufschrift «consilium » (= lat. Ra t). An solche n

Details s ieh st Du deutlich, wie die röm ische Epo che h eute weiterwirkt. Gespen-ster der Vergangenheit!

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genug im W esten standen und sich die langgeplante Zw eiteilung Europas aus

der P osi t ion der Siegermäch te wie un beabsichtigt ergab) sich nun völligselbstlos für Europas Ziele engagiere.* Nun, d ie Europäer glauben es n ochheute!

Solang die Europäer die doch offenbare Dop pelzüngigkeit einer solchen Po -

l it ik nicht klar durchschauen , komm en sie au s ihrem Satelli tendasein nichtheraus. Auch in meiner ganz privaten U nterhaltung, die ich etwas früherschon mit C hurchill hatte, wurde mir ganz klar, wie sehr er ein B ewund ererdes M achtgedankens ist . Da s heißt natürlich des G edankens, daß En glandund die USA zu herrschen haben. Churchill war im übrigen schon früh in eine

Loge eingetreten. Un d er w ar von w iederholten Erdenleben überzeugt! D ashat mir einmal C lare Sheridan, eine seiner C ousinen, die ich recht gut kannte,

höchst persönlich mitgeteilt.Im G egensatz zu einem M ann wie Bismarck, der sich nach dem Tod von al-ler Erdenp olitik loslöste, ist C hurchills Geist noch h eute in den Logen, die Eu-

ropas endgült ige Einbindung in «West- und Südinteressen» (FM ISJ) oderkurz in «32 2-Interessen» mit allen M itteln durchzusetzen suchen, auß eror-dentlich aktiv. Das erlebte ich im Laufe einer R ede, die ein Ko mmissionsm it-glied gerade zur Euro pafrage hielt. Hinter jedem seiner Worte w ar der G eistvon C hurchill wirksam! Ich meine das w ortwörtlich. Seit einer W eile ist auch

Harriman, einst C hurchills Schwiegersohn, m it ihm in diesem Sinne w irksam.Ich meine: seit H.s Tod vo r rund zw ölf Jahren. -

Du siehst, es gibt nicht nur die G eistfamilien von Em erson und Grimm &C o. , sondern eben auch noch G eistesf irmen à la Harriman und C hurchi ll .Do ch welcher Abgrund trennt sie voneinander! Während M itglieder der er-steren stets darauf zu warten ha ben, daß m an ihnen in ganz wa hrer spirituel-ler Tätigkeit rein innerlich entgegengeh t, suchen A ngehö rige der zweiten

«Firma » rücksichtslos auf a lles einzuwirken, w as ihren Interessen dient. Wer

* Es sollte nie vergessen werden, wie Churchill zu Europa stand. Er sagte selbst

schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg. «Wir sind mit Europa, aber nicht inEuropa .» Er wollte nicht '<drin» sein, um Europa «von außen» be sser lenken zukönnen; dieselbe Euro-Freundlichkeit ist natürlich auch im Pentagon vertreten. -Ch urchill wurde 1945 von einem unvorsichtigen Schüler unseres Le hre rs lang undbreit über alle möglichen Details der Dreigliederungsbewegung informiert.Churchill schwieg und m erkte s ich die D inge. - Kannst Du dieses Kleingekritzel

lesen?

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schon im Leben M acht der Wahrheit und der wahren F reiheit vorzog, wie soll

der im P ost-mortem-Wirken plötzlich Ehrfurcht vor der Freiheit haben?In dieser Hinsicht müß ten sich die Staatsmänner E uropa s dreierlei tief in

die Seelen schreiben.

1.Solange in Europa nicht damit gerechnet wird, daß fortwährend auch so-genannte Tote in die Erdenan gelegenheiten einzuwirken suchen un d es (nurmeist unbemerkt) auch w irklich tun, sinkt Europ a weiter in den Abgrun d.

2. Solange kein G efühl (zum mindesten, Bew ußtsein w äre besser) dafürentwickelt wird, w elcher Riesenunterschied besteht zwischen einer B ismarck-Seele, die post mortem aller Po litik den Rücken kehrt, und solchen H arriman-

und C hurchill-Seelen, die durch alle 32 2-Kanä le wirken - so lange geht es mitEuropa abwärts.

3. W enn ferner kein Gefühl (zumindest!) dafür entsteht, we lch weitrerRiesenunterschied besteht zwischen dem gewaltsamen P ost-mortem-Wirkenvon H arriman- und C hurchill-Seelen, die alle Erdenfreiheit doch mit grobenGeistesfüßen treten müssen, und dem «Wirken» beispielsweise einer Moltke-Seele*, die erst wirken darf, wo man sie geistig sucht und findet - so lange gehtes weiter in den Abgrund.

Verzeih, Fiona, daß ich so emphatisch werde. D och so erlebe ich in diesem

Auge nblick. - Jetzt möchte ich jedoch hier w eg aus diesem Riesenbau m it sei-nen Zw ergideen. Ich will an einem andern O rte andere Erinnerungen neu be-leben. Fortsetzung folgt gleich. H.

~

Harold Freeman ging nun schnellen Schrittes durch die Parterrehalle

des Gebäudes auf den Ausgang zu. Er warf noch einen kurzen Blick

auf die gro ße zweisei tige D igitaluhr , die Kom m ende wie Ge he nde be-

grüßt. 3 Uhr 22, so las e r ab und r ichtete die Arm banduhr, die zwei M i-nuten vorging.

«O, M onsieur Freem an, quel hasa rd!» sagte plötzlich eine Free m anirgendwie bekannte, wenn auch nicht ganz angenehme hohe Männer-

stim m e. Er blickte a uf und sah in das Ge sicht von M onsieur No ire, der

* Die Moltke-Seele ist ja jetzt schon wieder «unten»; doch vorher wirkte sie von

«oben» in besagtem Sinne — wie ganz wenige mit weltgeschichtlichen Ereignissenso tief ve rbundene Individualitäten.

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ihn soeben angesprochen hatte, dann in die unter dichten Brauen fast

versteckten Augen Amhursts.

«Ja, ja, Sie werden staunen, uns hier anzutreffen», sagte Noire ganz

leutselig und munter. «Doch wir haben eine kleinere Publicity-Mission

hier, nicht wahr, Amhurst?» Auf dessen stummes Nicken und Free-

mans freundliches Erwarten fuhr Noire fort: «Nächstes Jahr wird es ja

ein Jubiläumsfest zum 50jährigen Bestehen des Europarates geben. Wir

werden jetzt an einer offiziösen Sitzung, zu der nebst Kommissions-

mitgliedern auch ausgewählte Parlamentsmitglieder eingeladen wur-

den, den Vorschlag machen, zu diesem Großanlaß ein Jubiläumswerk

herauszugeben. Es soll den Titel tragen: «Robert Schuman ...»

«... Winston Churchill», fuhr Amhurst wie im gleichen Atemzuge

fort, und wie aus einem Munde folgte dann der Untertitel: «Was dieVereinigten Staaten von Europa diesen Gründungsvätern zu verdan-

ken haben.»

«Und was erhofft man sich von diesem Unternehmen, wenn ich fra-

gen darf?» sagte Freeman freundlich und so unbekümmert wie nur

möglich.

«Nun», sagte Amhurst, den rechten Mundwinkel leicht zynisch-

schief verziehend, «Sie wissen doch, wie es zur Zeit um die EU steht.

Kein Dampf mehr drin! Neuer Kriegsbrand auf dem Balkan, Massen-migrationen aus dem ganzen Osten, Unzufriedenheit der Arbeitslosen,

täglich neue Terrorakte — das alles lähmte die EU. Und dann vor allem

diese ewig-zähen Hin-und-her-Verhandlungen mit den Antragstellern

Norwegen und Schweiz, mit Ungarn und Kroatien und weiß Gott mit

welchem unbedeutenden Natiönchen noch! Nun, infolge aller dieser

Dinge ist der EU schlicht der Treibstoff ausgegangen. Und da können

große Namen mit Prestige den Karren wiederum in Fahrt zu bringen

helfen. Sie wissen doch, wie solche Dinge funktionieren, my dear

young colleague! Ganz abgesehen davon, daß Sir Winston selbstver-

ständlich gute Vorarbeit geleistet hat. Er hat Europa seinen ...»

«... Leib bereitet», setzte Noire flink fort. «Und wir liefern ihm die

Seele nach, wie sie unser Schuman konzipierte.»

Noire lächelte befriedigt. Amhurst schien die Unterbrechung und

auch Umleitung von Noire nicht größere Beachtung wert als ein paar

Tropfen Regen, wenn der Himmel heiter ist.

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«Sie wissen ja», sagte er betont zu Freeman, «erst wenn diese gott-

verdammte EU endlich mal komplett ist, wird ihr am Jahrhundertende

unser neuer Marshallplan auf den Tisch gelegt.»

Und nach einer kleinen Pause vielsagend und hintergründig:

«Und danach wird sie sehr bald förmlich lechzen. — Sie entschuldi-gen uns bitte. Wir werden schon erwartet. Bye, bye, Freeman.»

«Au revoir, j'espère!»

Die drei Männer nahmen ganz leicht nickend voneinander Ab-

schied. Dann trat Freeman durch die große Glasdrehtür ins Freie.

~

Harold Freeman stieg an der Station Leopoldswijk in ein Taxi und ließ

sich, vorbei am Palais Royal, zum Place Royale fahren. Hier bat er sei-nen schwarzen Fahrer anzuhalten. Der Fahrgast wollte einen ruhigen

Blick auf das verhältnismäßig kleine «Schloß Bellevue» an der einen

Ecke dieses Platzes werfen, das heute ein kulturhistorisches Museum

ist. Dann wünschte er die Fortsetzung der Fahrt in Richtung des Ju-

stizpalastes.

Der in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts vollendete Riesen-

bau — die Bauzeit ha tte m eh r als 25 Jah re betragen — ist im ne ubarockenStil errichtet und dank der pompösen Dimensionen und dank der

leicht erhöhten exponierten Lage weithin sichtbar. Man wollte hier

ganz offenbar den größten Palais de Justice auf der ganzen Welt er-

bauen. Vom «Schloß Bellevue» fuhr der Wagen die breite Rue de la

Régence hoch, frontal auf die riesige Fassade des mit einer Kuppel

abgeschlossenen Justizgebäudes zu. Freeman bat den Fahrer, an der

Hauptfassade vorbei entlang der linken Seite des Palais langsam die

Rue aux Laînes hinabzufahren. Vor einem großen Haus mit der Num-mer 54 bat er wiederum zu halten. Schweigend richtete er seinen Blick

durch die Wagenscheibe auf die Eckfenster des zweiten Stockes. Dann

ließ er sich direkten Weges zum «Atomium» am Nordende des «Parc

de Laeken» fahren. Das aus neun Riesenkugeln zusammengesetzte

Stahl- und Aluminiumgebilde soll ein Kristallmolekül darstellen. Doch

das, so schien es, interessierte unseren Besucher wenig.

Freeman fuhr mit einem Lift zur höchsten Kugel, betrat das Pan-

oramarestaurant und fand noch einen freien Fensterplatz. Er bestellte

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einen T hé Verveine und ließ de n Blick zum Palais Lae ken schweifen, indem das Königspaa r zu residiere n pflegt.

T ro tz der Entfernung von rund drei Kilom etern wa ren die breitenEingangss tufen des Palais Laeken deutlich sichtbar.

Bald war Harold Freeman einmal mehr in seinen Briefbericht vertieft.

Bruxelles, Donnerstag, den 29.1.98,16 Uhr 1 0Fiona,

hier sitze ich im Panoramarestaurant des «Atomiums», das D u auf der M arkesiehst. M ein Blick geht über den Park Laeken zu den Stufen des gleichge-

nannten Palais — ein schönes Landschloß einst, das sich Napoleon kurz vor sei-ner Ka iserkrönung kaufte, um es prunkvoll auszubauen. Diese Stufen kameinst König Leopold (III.) herab, um mich erstma ls zu empfangen. W ie einF ilm entrollt sich nun, w as ich m it ihm erlebte. Ein begabter Pianist undSchüler unseres Lehrers vermittelte den wichtigen Kontakt. Rummell hieß er,und er wohnte direkt hinter dem monströsen Justizpalast, der zum Gigantis-mus B rüssels vielleicht den ersten An stoß gab. Zweimal stand ich vor demHaus der R ue aux Laines mit der Nummer 5 4. Da s löste alles aus. Rum mell

war mit meinem großen Jugendfreund aus Wien befreundet und hatte Leopoldschon auf die Lehre unseres M eisters aufmerksam gemacht. —

Dann schritt ich mit dem König durch den Park, sprach über Weltentwick-lung, Christentum, Weltwirtschaft, sprach über Reinkarnation mit ihm. Es warihm kurz zuvor der liebste M ensch bei einem A utounfall jäh entrissen worden,die beliebte Astrid, seine Frau. Sabotage, angesägte Achsen, sagte er mir selbst.Der A nschlag hatte selbstverständlich ihm gegolten. Tagelang ging Leopold d ieGä nge dieses Palais auf und ab, sich laut den Schmerz aus seiner Seele schrei-end. Warum?! — So wurde seine Seele für die «Sache» gleichsam durchgepflügt.

Ich traf ihn wieder, schrieb manche Red e, die er hielt, und konnte ihn dazubewegen, ein Institut zu gründen, das der w ahren W eltwirtschaft — nicht derheutigen WTO -Globalisierer-Karikatur davon — die Wege ebnen sollte. AlleDaten sollten hier zunächst einmal gesammelt werden: von Ernten, Rohstoff-vorräten, Preisen, von An gebot und Nachfrage. Wir arbeiteten für eine sach-gemäße Wirtschaftsweise, frei von aller P olitik. Der A ufhebung der Z ollgren-

zen Europas arbeiteten wir vor, lange vor der M onnetschen M ontanunion. Die

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Gründung einer europäischen Wirtschaftseinheit war in diesen ersten Stundenunser Werk. (Ich sage da s ganz ohne E itelkeit, weil es ein Faktum ist und w eildie anderen, meist ohne es zu w issen, von diesen Keimen zehrten.) D och w irwollten weiter und d ie ganze Welt umspannen. Es gelang mir auch, den jun-

gen Bernha rd, Prinz der Niederlande, zu gewinnen, um die Sache auch vonHolland aus zu stützen. Das war eine große Zeit, Fiona, als ich während zweierJahre immer wieder im Schloß B ellevue, wo mir Leopold ein Büro zur Verfü-gung stellte, ein- und ausgegangen bin. Die R ückblicksfeier, die ich jetzt hierhalte, wie freut sie mich u nd schm erzt mich doch zugleich. Zwar legten wir,nach dem , was schon mit Nick in England im Rahm en seines internationalenEnergieforums begründet worden war, auch auf dem Festland Keime für dieWeltwirtschaft des 21 . Jahrhunderts. Doch was ist bisher daraus geworden!

De r Krieg war ja dan n ausgebroch en, das Institut in Brüssel mußte die be-scheidenen P forten schließen. Die D inge, die wir still ins Rollen brachten, roll-ten fort, doch rollten sie in die verkehrte Richtung. Ein Beispiel: Auch wir woll-ten die «Deregu lierung» aller Wirtschaftsangelegenheiten, das h eißt derenvöllige Herauslösung aus der Hand d es Staates. Doch heute herrscht anstelledieses Staats eine kleine, internationale C lique der neuen «Regulierer» (näm-lich ihrer eigenen Interessen)! Nur der Aufbau solcher Assoziationsgebilde,von denen ich im letzten B riefe schrieb, könnte diesen Ü bergang von derfalschen M acht des Staates in die selbstsüchtige Hand von wenigen verhin-dern. Diese wenigen stehen beispielsweise hinter aller «Fusionitis», die heuteüberall grassiert, zuungunsten der vielen. M it andern W orten: heute trägt dieDeregulierung einfach zur Verwirklichung einer weltweiten Zweiklassenge-sellschaft bei (immer reicher— immer ärmer). — Leopold dankte nach dem Kriege

ab, und Bernhard gründete die «Bilderberger» — ein solcher Klub von «weni-gen» — mit einflußreichen Top figuren aus Politik und Wirtschaft. (Der Name

dieses Klubs stammt vom Hotel in Holland, in dem ma n sich zum ersten M aletraf.) Bei den Versammlungen d er Bilderberger ist die Presse immer ausge-schlossen. So kann man ungestört die eigenen Interessen kultivieren. Rockefel-ler, Kissinger und solche Leute sind regelmäßig mit von der Partie.*

* Der Beton für den renovierten Schweizer Bau, der einstmals unserer Sache diente, istübrigens vo n einem Bilderberger -M ann und internationa len Zem entkönig gestiftetwor den. Das wissen aber nur die wenigsten. Eben desh alb wirkt so etwas s eh r fatalund zeigt, wie we it der Ausverkauf der Sache unseres M eisters scho n gedieh en ist .

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Ein Wort no ch zur Serail-Aufführung. Sie war recht hübsch. Ganz zauberhaft im

dritten Akt das M andolinen-Lied Pedrillos: «Im M ohrenland gefangen w ar ...»Ich bin immer n eu ergriffen von der Schlichtheit und Roma ntik dieses Lie-

des und m ehr noch von der Position, die es kompo sitionell im ganzen W erkeinnimmt:

Vorher der Entführungsplan und die Ü bertölpelung von O smin, sogleichdanach da s Scheitern der Entführung, die Entdeckung der Entführer, Tumultund Lärm u sw. We lche lyrisch-idyllische Ruhe vor dem Sturm! W ie liebe ichKo ntraste dieser Art! Sie kommen selbstverständlich auch im Leben vor; nurweiß m an sie da in der Regel nicht so leicht zu schätzen ... Größte S anftmutund B esinnlichkeit, wie wen n das Leben nichts als M ondensch ein auf leichtbewe gten Wassern, nichts als rosa M ädchen wa ngen, nichts als süßes Her-

zenssehnen von Verliebten wäre. Und dann: A ktion, der Kam pf der Welt, Tra-gik und Versöhn ung, wen n es gut geht ... Ach , Fiona , im Augenblick, als die-ses Lied erklang, schloß ich meine A ugen. Ich wurde gan z Pedrillo und sangund spielte nur für meine eigene Konstanze. Doch dan n passierte etwa s Son-derbares. Zwischen die Konstanze im F enster ihres Kerkers und Dein liebesBild schob sich langsam eine andere G estalt, mit hehren und doch abgehärm -ten Zügen. — «Europa» sah ich, F iona, die hier in Brüssel im Gefängnis all der

falschen Vorstellungen sch mac htet , die man sich von ihrem künftigen Ge-

wan de mach t! In ihrem Sch machten hofft auch sie auf Rettung durch den tap-feren Befreier ...

Da nn fühlte ich erneut, welche M acht M usik doch auf die Herzen habenkönnte, wären diese Herzen nur nicht hart wie Do llarstücke. — Hier schließeich.

Am S amstag geht es in die nächste Aufführung: Es wird A ubers hier be-kannte O per Die Stum m e von Po r tici gespielt. Nachdem, was ich im G randSablon erfuhr, soll die O per in der belgischen Geschichte eine Schlüsselrollespielen. Ich bin gespannt.

Am andern M orgen woh nte Freem an einer Sitzung von EU-Botschaf-tern und -Bera tern aus de r ganzen W elt bei. Sonde rgast der Sitzung, dieim großen Kommissionsgebäude stattfand, war das Parlamentsmit-

glied Karl Habsburg, Enkel des gleichnamigen letzten österreichischen

Monarchen.

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Der schmächtig wirkende verhältnismäßig junge Mann erhob sich

förm lich und verbe ugte s ich nach links und rechts.«Sehr verehrte Damen und Herren», begann das letzte Echo eu-

ropäischen Monarchentums, «zwei Säulen sind es, die wie selbstver-

ständlich aus den Fundamenten des Europahauses ragen und die dasKuppeldach zu tragen h aben, m it dem die Euro päische Union a m Endedes Jahrhunderts vollendet werden muß: die unversiegte Geisteskraft

des christlich-abendländischen Gedankens und die Erdenkraft der

USA. Gara ntiert die Kirche als Ve rkörperung der Ge isteskraft, von derich rede, allen spirituellen Fortschritt unserer so arg bedrängten

Menschheit, so ist Amerika Garant des Zivilisationsfortschrittes, den

die Welt so dringend braucht. In diesem Sinne müssen Washington

und Rom noch näher zueinander wachsen als bisher. Ich sage: Wash-ington und Ro m , denn <tertium non datur>.»

Der Redner machte eine Pause und fuhr dann fort:

«Ein Drittes gibt es nämlich nicht! Sie werden vielleicht fragen: wel-che R olle soll dann Brüssel spielen? Sehr verehrte Damen und Herren,

Brüssels ideale Rolle ist es eben, die Botschaften aus Rom und Was-

hington so gut wie m öglich m iteinander zu verschm elzen! Zwei Nam ennenne ich, die stellvertretend für die be iden G eistess äulen vo n Euro pastehe n: Robe rt Schum an, vor des sen Seligsprechung wir ja stehe n — siewird m it einer ganz beso nderen Europafeier in Santiago de Co m postelaverbunden sein —, und Winston Ch urchill, den große n Freund von Ro o-sevelt. Ein Jubiläum swerk zum 50jährigen Bes tehen de s E uroparates is tzur Zeit in Planung. Es so ll eine Ho m m age a uf die beiden größten Ar-chitekten des Europahauses sein, auf die beiden edelsten Vertreter dergenannten Grundsäulen Europa s. Denn, seh r vereh rte Anwese nde: nur

wenn Brüssel es verstehen wird, beiden Säulen gleichermaßen seinenDienst zu leisten, wird es auch im 21. Jah rh undert ein Euro pa gebe n. Eswird also die Aufgabe von Brüsse l sein — Sie ges tatten, daß ich m ich desBilds bediene — , das Euro pasch iff m it fester Ha nd zwische n beiden Säu-len in das M ee r des Friedens und der Freiheit zu geleiten!»

Es folgte ein nicht e ndenwollender Applaus. De r Re dner se tzte sichnach mehreren Verbeugungen, und Freeman sah aus einiger Distanz,

daß ihm von links und rech ts zwei Herre n gestisch A nerkennung zoll-ten — Noire und Am hurst .

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Der Präsident der Kommission machte darauf eine Art Ad-hoc-Vor-

schlag: Habsburg gleich auf Lebenszeit zum Präsidenten des Europäi-

schen Rats zu wählen. Alle Kommissionsmitglieder stimmten diesem

Vorschlag bei und beschlossen, ihn zur Billigung sofort dem Parlament

zu unterbreiten.

Dann ging der Präsident zum nächsten Haupttraktandum über -«Die Zeitknappheit der laufenden EU-Projekte». Harold Freeman war

gespannt, als er den hageren Mann mit seinen kantigen Gebärden auf-

merksam ins Auge faßte:

«Verehrte Anwesende», begann der Präsident, «ich fasse mich

gemäß dem gegenwärtigen Traktandum kurz. Auf sämtlichen Projekt-

ebenen - Währungsunion, Osterweiterung der EU, Arbeitslosigkeit,

Terrorbekämpfung, gentechnologische Entwicklungen etc. etc. - man-gelt es an Zeit. Das heißt, es muß in ein, zwei Jahren das geschehen,

wofür in anderen Zeitaltern vielleicht Jahrzehnte zur Verfügung stan-

den. Verehrte Anwesende! Zum Wesen aller Zeit gehört es, daß sie im-

mer schneller fließt. Wir bewegen uns, verehrte Anwesende, einer Art

von Zeitstrudel entgegen. Und dieser Strudel wird sich immer schnel-

ler drehen. Oder um es anders auszudrücken: Zeit ist längst nicht mehr

nur Geld, sie ist der eigentliche Sauerstoff der Politik geworden. Doch

dieser Sauerstoff wird immer knapper! Handeln wir deshalb auf allenEbenen rasch und kurz entschlossen. Ich fange gleich beim nächsten an

und schlage vor, daß Karl Habsburg ausnahmsweise in einem extra-

parlamentarischen Verfahren hier und jetzt gewählt wird.»

Alle Kommissionsmitglieder stimmten diesem Vorschlag ohne Ge-

genstimme zu. Sogleich wurde ein Sonderbeauftragter ernannt, der

dem Parlament die Gründe für die Ausnahmeregelung zu überbringen

hatte, und zwar am selben Nachmittag. Freeman suchte also noch ein-

mal das Parlamentsgebäude auf. Er wollte sehen, wie die Sache aufge-

nommen würde. Nach einer halben Stunde war es dem geschickten

Kommissionsbeauftragten gelungen, dem ganzen Haus den Glauben

beizubringen, der Vorschlag zu der Wahl von Habsburg sei ursprüng-

lich vom Parlament gekommen. Die Sache war erledigt.

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Als Harold Freeman kurz darauf den Riesenbau zum vierten Mal

verließ, war er müde und erschöpft. Zum ersten Male achtete er ganz

bewußt auf die Atmosphäre dieser Stadt; sie kam ihm unvergleichlich

übel vor und schlug ihm förm lich auf den Atem .

Nachdenklich und sinnend schritt er ohne ein bestimmtes Ziel da-hin und bog ganz unverm erkt in eine kleine Seitenstraße e in. Dann rißer s ich von s einem Sinnen los , r ichtete den Blick von neuem wach nachaußen und fand s ich — kaum einen Kilom eter weit vom Par lam ent ent-fernt — vor e inem so nderbare n Bau, der in Jugendstilbuchstaben die a lt-gewo rdene A ufschrift trug: «M usée W iertz». Das Free m an völlig unbe-kannte Wiertz-Museum hatte freitags länger offen als an andern

Wochentagen. Harold Freeman atmete erleichtert auf, öffnete das

kleine schmiedeeiserne Tor — und fand sich kurze Zeit danach imHauptsaal des Museums. Dies war, erklärte man ihm an der Billett-

kasse , einst das Atelier vo n Antoine W iertz gewes en, das ihm die Stadtin später Anerkennung nach eigenen Plänen baute.

Der Besucher wechselte noch ein paar Worte mit dem Kassier, der

zugleich als Wächter zu fungieren schien. Dann machte er den ersten

Rundgang, den Saalwänden entlang, von Bild zu Bild, mit wachsen-

dem Ers taunen. Die m eis ten Bilder ha ben Großform at , m anche re iche nfas t bis an die De cke des zirka fünfzeh n M eter ho he n Raum s.Freeman ging ein zweites Mal von Bild zu Bild, verweilte da und

dort nun länger. Lange stand er vor der Darstellung des Kampfs der

Grieche n und T rojaner um den Leichna m Patroklos ' ; er betrachtete den«Triomphe de Christ»; dann die «Curieuse», das heißt ein halbver-

decktes Mädchen, das durch einen Türspalt fragend zum Betrachter

blickt. Eingehe nd besah er s ich «Le suicide» und das G em älde m it dem

T itel «Une se conde après la m ort». Letztere s zeigt einen M ann, der, ein-gehüllt in einen langen Mantel, in die Sphären der Planeten schwebt

und nochmals einen ernsten Blick zurück zur Erde wirft; ein Buch ist

seiner linken Hand entglitten, auf dem, nur mühevoll entzifferbar, in

schwacher Schrift zu lesen steht: «Grandeurs humaines». Das nächste

Bild fes se lte sch on durch den T itel: «La puissa nce hum aine n'a pas delimites»; auch hier freischwebende Gestalten in einer Sphäre von Pla-

neten — die «unbegrenzte Menschenkraft» schien Wiertz von kosmi-

scher Natur zu sein.

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Aufs stärkste zog den staunenden Besucher ein Gemälde an, auf

dem die Innenfläche einer Riese nha nd zu se h en ist. Sie trägt die R es teeiner Trikolore, halb zerstörtes Kriegsgerät und Zivilisationsrelikte.

Der Riese selbst, zu dem die Hand gehört, schaut auf diese Dinge wie

auf kleine Spielzeuge h era b. Aus den W olken, die da s G anze wie um -hüllen, blicken noch zwei andere Ges ichter junger Riese n m it Verw un-derung auf diese Szenerie von kleinen Gegenständen auf der Riesen-

hand. Es scheint, als ob der Riese im Begriffe stünde, den Seinen zu

erzählen, was es alles einmal gab und wie das, was damals «groß» er-

schien, in der Zwischenzeit verschwindend klein geworden ist ...

Wiertz gab dem Bild den aufschlußreichen Titel: «Les choses du pré-

sent devant les h om m es du futur». Dieses Bild besah sich Free m an wie-

derholt aus mehreren Entfernungen, um das Ganze dadurch besser zue r fas sen .Dann stand er eine Weile vor dem «Lion de Waterloo». Das Bild

zeigt einen Riesenlöwen, der zwar noch mächtig brüllt, jedoch bereits

verwundet scheint und der wohl bald die ganze Ebene mit seinem to-

ten Leib bedecken wird — e in visionärer Aus druck von Na poleo n undseiner letzten Schlacht. Gleich daneben nun der «wirkliche» Napoleon,in Uniform, das Haupt von seinem quergestellten Hut bedeckt, so wie

m an ihn von Bildern nach dem Leben kennt, obwoh l von Wiertz in eineandere, «Post-mortem-Szenerie» versetzt. «Une scène en enfer» taufteWiertz das Bild. Es ze igt Na poleo n inm itten vieler Feue rflam m en, dieer a llerdings nich t im geringsten zu beach ten scheint. Vo r ihm Frauen,ihm mit schmerzverzerrtem Antlitz Vorwurf über Vorwurf machend,

ihm alles Elend vor die Seele h altend, das er über s ie und ihre Kinder ,ihre Ehemänner und Verwandten brachte. Doch Napoleon blickt trotz

der Feuerflammen kalt und ungerührt durch dieses Heer von Frauen.

Auch sie nur Masse für ihn; einst hatte er die Masse der Soldaten um

sich; jetzt die Masse dieser Klägerinnen. Läßt Napoleon sich denn

durch M ass en rühre n? — so sche int sein Blick zu sagen. Eine Klägerinstreckt dem Kaiser eine Urkunde entgegen und will ihn offenbar erin-

nern — a n al les , was e r e inst versproche n ha tte . Do ch Na poleon zucktkeine W im per . ..

«Napoleon hat viel vergessen müssen, nicht wahr, Monsieur ...?»

sagte plötzlich e ine unbekannte Stim m e neben Free m an.

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«Freem an, Harold Freem an», s tellte s ich der Ü berraschte schnell ge-faßt und höflich vor, so fort den No rwege r erke nnend, der ihn in der er-sten Parlamentssitzung beeindruckt hatte.

«We lch e Fre ude, Sie zu treffen, M r. Nantjoff! - Jaw oh l, ich m erkte

mir den Namen gut, nachdem ich in der Parlamentssitzung aus IhremM und das ers te W ort vernahm , das a us Vernunft gesprochen wa r - le i-der blieb e s auch das letzte W ort von dieser Art!»

Ein warmer Blick aus einem geistreichen, markanten und doch zu-

gleich auch se elenvollen Antlitz schien Freem an wie zum zweiten M alezu begrüßen. «Seltsam, Mr. Nantjoff, ich hielt mich für den einzigen

Besucher des M useum s! So le icht kann m an s ich täuschen!»«Nun, ich s aß ga nz st ill auf e iner Bank do rt hinten in der Ecke und

wollte Sie nicht stören. Sie schienen so vertieft!»«Sie kennen W iertz bere its?»«Ich s uche diesen Ort bei jedem Brüsse l-Aufentha lt von neuem auf.

- Doch bleiben wir, wenn Sie gestatten, einen Augenblick beim Em pe-reur h ier.» Na ntjo ff zeigte a uf das W iertz-Gem älde. - «Wa s m einen Sie,ha t er nicht viel vergessen, Monsieur Freeman? Zumindest in den Au-

gen unseres M alers?»«In der Tat: Napoleon scheint nur die Gegenwart zu kennen! Er

kann es daher nicht begreifen, wie man ihn nach seinem Tod zur Re-

che nscha ft zu zieh en s ucht für Dinge, die gewesen sind ...»«Doch nicht erst nach de m T od vergaß N apoleo n! - Sein wichtigstes

Vergessen trat schon sehr viel früher ein.» Harold Freeman war ganz

Oh r. «Nun, im Tod verga ß er - jedenfalls zunächs t - se in ganzes Lebe n;im Leben aber h at te er bere i ts vergesse n, was e r s ich sch on vor de m L e -ben vorgenom m en ha tte . ..»

«Und was w äre das gewese n?» f ragte Freem an m it gespanntem In-teresse.

«Längst vor der letzten irdische n Ve rkörperung hatte s ich Na poleo nzum Ziel ges etzt, Euro pa m it rein friedliche n M etho den zu vere inen.»

«Das hätte in Europa viel verändert», stellte Free m an fest.«Das hätte in Europa viel verändert», wiederholte Nantjoff, jedes

Wo rt betonend. «Zum Beispiel diese s: Er hätte dadurch e inem andere nden We g geebnet.»

«Und dieser andere wa r - Kaspar Hauser?» sagte Freem an zögernd.

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«Jawo hl, dem arm en Hause r hätte e r den Weg bereitet! Kind Euro-pas w urde Ha use r ja auch o ft gena nnt, nicht oh ne tiefen G rund. Imübrigen: ist es nich t se h r eigena rtig? Der e ine inkarniert sich der ar trest los , daß er vollkom m en vergißt, was vorh er wa r . Der andere wirdm it dunkler Geistesm ach t daran geh indert , sich über ha upt genügend

zu verkörpern — er hätte s eine Aufgabe ga nz siche r nicht vergess en!Beim einen ein Zuviel, beim andern e in Zuwenig!»

Nantjoff fuhr nach e iner kurzen Paus e fort:«Wenn Napoleo n die W ege Ha users vor bereitet hätte — dann wäre

aber auch no ch etwas andere s m it vorbere itet worden. Näm lich das ,was die ch ao tische Idee n-Dreiheit der Französischen Re volution in die

rech ten Bah nen leiten m uß ...»«Dreigliederung des s ozialen O rganism us!» sagte Free m an.«Sehr, seh r richtig, M onsieur Freem an!» Nantjoff sah nun Freem an

eindringlich und freundlich a n und sagte: «Nun, ich ne hm e a n, Sie wis-se n, wo wir beide uns das letzte M al begegnet sind — Sie wisse n, wasich m eine.»

«Nicht jedermann vergißt so radikal wie unser Empereur», gabFreem an, auf das W iertz-Gem älde deutend, in ernstem Scherz zur Ant-

wort .«Da nn werden Sie a uch wiss en», fuhr Na ntjoff läche lnd fort, «daß

wir uns gege nwärtig nicht zum ersten M ale über den verirrten T rägereiner künftigen Europamission unterhalten?»

«Auch dies wird m ir dank Ihnen jetzt bewußt», sa gte Haro ld Free -m an ernst .

«Und sage n Sie m ir nun» — Na ntjoff deutete nun se iners eits auf dasGem älde — , «erinnern sich denn we nigstens die heutigen Europaarchi-tekten an jene Ziele, die er so radikal vergaß? Die friedliche Ve reini-gung Europas auf Grundlage der Geisterkenntnis? Die Überwindungdes Prinzips de s Einhe itsstaa ts durch dreigegliederte so ziale Organis-men?»

«Davon kann leider keine R ede s ein!» versetzte Free m an m it Be-stim m theit. «Statt den Einheitsstaa t durch da s N eue zu erse tzen, wirder ins Gigantische getrieben. In Brüsse l käm pft m an für den Superein-

heitsstaat EU!»

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«Es ist dies nur ein letztes Löwenbrüllen, wie es Wiertz auf diesem

andern Bild so herrlich darstellt, Monsieur Freeman.»

«Sie wollen sagen ...»

«Ich will sage n: We r Europa m achtm äßig zu einen sucht — ganz egal ,

ob diese Macht mehr Wirtschaft oder Kirche heißt —, der geht den Wegnach W ater loo !»

«Das ließe sich schon aus dem Schicksalsgang Napoleons ablesen!»

rief Freeman, vom Gedanken selber überrascht.

«Ich sehe, wir verstehen uns!»

«Europa steuert einem zweiten Waterloo entgegen», bemerkte Free-

man wie für sich.

«Und Waterloo liegt ja bekanntlich nicht sehr weit von Brüssel,

nicht wahr, Monsieur Freeman?» ergänzte Nantjoff seelenruhig. Dannfuhr er fort: «Und nach diesem zweiten Waterloo ...»

«... wird wohl ein zweiter <Wiener Kongreß> die Neuordnung der

Angelegenheiten von Europa regeln wollen. Und den Europäern wird

man dabei höchstens Papier-maché-Würfel in die Hände geben», kon-

statierte Freeman.

«Nun, mein sehr verehrter, lieber Freeman», sagte Nantjoff, in fast

feierlichem Tone das Gespräch zum Abschluß führend, «um so lches

Wollen zu durchkreuzen, können wir, ja müssen wir die Arbeit, die wir

letztes Mal mit manchen anderen begonnen haben, erneut fortsetzen!

Die Karte von Europa» — Nantjoff sprach mit Nachdruck und Betonung

— «darf nicht länger nur von jenen ausgestaltet werden, die nur

Knechte sind der Westmenschen und Roms; sie haben von Europas

Wesen keine Ahnung, und noch weniger verstehen sie vom wahrendeutschen Wesen in Europas Mitte. Doch von diesem deutschen Wesen

ist auch bei den Deutschen gegenwärtig kein Bewußtsein mehr vor-handen. Deutschland hat aus 1914 nichts gelernt!» Nantjoff hatte die-

sen letzten Satz wiederum betont gesprochen. «Doch nun muß ich Ab-

schied nehmen. In einer halben Stunde fährt mein Zug. Wir bleiben

aber in Verbindung, nicht wahr!» Nach kurzem Schweigen setzte Nant-

joff leise und bestimmt hinzu: «Auch wir müssen zusammenwirken,

damit der große Lehrer am Ende des Jahrhunderts weitere Mysterien

offenbaren darf.» Die beiden Männer tauschten einen langen, intensi-

ven Blick. Dann nahm Nantjoff beide Hände Freemans und drückte sie

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sehr herzlich. Er überreichte ihm sein Kärtchen und steckte das von

Freeman ein. «Sie werden doch entschuldigen, daß ich Sie vorhin so

frei und formlos anzusprechen wagte?»

«Was wäre m ir entgangen, hätten Sie es nicht getan!»«Ne in, nein, wa s wäre uns entgangen», sa gte Na ntjoff, scho n im Ge -

hen. Dann wandte er sich nochmals um und sagte mit sehr großemErnst: «Oh , glauben Sie m ir, M onsieur Freem an, unser jetziges Zusam -m entreffen wird noch vielen M enschen Früchte t ragen.»

~

Nach der unerwarteten Begegnung warf Haro ld Freem an nochm alseinen letzten Blick auf die G em älde. Er trat no ch e inm al vor die Ha nd

des Riese n. Dann verließ auch e r das M usée Wiertz und kehrte auf demschne llsten We ge ins Ho tel zurück.Er kam gerade recht zum Abendessen. Kaum ha tte e r den Nachtisch

aufgegessen, drängte es ihn in sein Zimmer, wohin er sich den Kaffee

kom m en ließ. Bald schrieb er und erstattete Be richt.

Bruxelles, Freitag, den 30 . Januar 199 8M eine Liebe!

Heute w ohnte ich der d urch N oire und A mhurst inszenierten «Inthronisa-tion» des E nkels Kaiser Karls I. bei, im K omm issionsgebäude. Er ist nun Prä -sident des Europäischen R ats geworden, und zwar auf Lebenszeit. Ich erspareDir die pa thetischen u nd ho ffnungslos naiven T rivialitäten, die von seinenschmalen Lippen flossen. Er ist ja nur ein kleines Werkzeug und soll das dochrecht weit verbreitete Bed ürfnis nach mona rchieverwandtem F ührungsstil in-nerhalb der ausgew eiteten EU zum Schein befriedigen. Seine Rede war nichts

als eine Abfolge von Bücklingen nach links und rechts. Da s darfst Du wört-lich auffassen. Links von ihm saß No ire, rechts Am hurst, unsere Vertreter —der SJ- und der (dekadenten!) FM -Strömung.*

* Hinter diesem Trio erkannte ich (und ließ es mir bestätigen) noch einen viertenHerrn — den Gro ßkophta aus unserer lieben Schweiz! Er m achte, wenigstens soo ftich m einen Blick in seine Richtung lenkte, ein übera us «bede utendes», gewichti-ges Gesicht & hiel t woh l seine phy sische Präsenz in dieser Kom m ission für etwas

ebenfalls zutiefst Bedeutendes. Für Noire und Amhurst ist er selbstverständlich

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D ann sprach der Präsident der Kom mission zum Them a «Die realeZeitknappheit der laufenden EU -Projekte». F iona, das wa r wirkl ich auf-schlußre ich! Er verglich die Zeit mit einem W asserw irbel, der sich immerschneller dreht und auf dessen Zentrum wir uns zubew egen sollen. Da s ganze

Heer von A ngstdämonen , die hinter einer solchen Vorstellung verborgen wir-ken, wurde m ir ersichtlich. Durch Zeitdruck soll die M enschheit aus der Ruheinnerer Besinnung fortgerissen werden!

Du weißt, was das bedeu tet. Und w eiter: dieser Präsident der Komm issionist übrigens der erste M ensch, an dem ich ganz bew ußt erleben konnte, was es

heißt, kein Ich zu haben. Ein Ichloser sitzt also hier in Brüssel ziemlich oben-auf. Daher ist er auch ein derart gutes Instrument für die D ämon en A hri-man s, die so vehem ent die Zeit beschleunigen. Doch d iese Zeitbeschleuni-

gung, die — natürlich nur im subjektiven Zei t-Erleben! — durchaus heuteobjektiv geschieht, ist nur die halbe Wa hrheit. Es werd en näm lich wiederumganz andere Zei ten kommen, in denen al ler F luß der Zei t s ich ebenso ver-langsamt, wie er sich zur Zeit beschleunigt! Zum P hänom en der Z eit gehörtnicht etwa nur B eschleunigung , sondern Elastizität , das heißt B eschleuni-gung und ebenso Verlangsamung, je nachd em, welche Art von Zeitgeisterngerade führend sind resp. sich die Zeiten-Füh rung streitig machen.

Noch etw as anderes un d Wichtiges wird mir jetzt klar, Fion a. Hinter die-ser heutigen Beschleunigung des Zeiterlebens steht noch etwa s ganz Be sonde-

res: Unsere okkulten Ge gner wissen ganz genau, daß «ihre» Zeit begrenzt ist,sie suchen daher allen heutigen Erscheinungen — auf der politischen, wirt-schaftl ichen und kulturellen Ebene — den Stemp el ihrer Intentionen aufzu-drücken. Sie wissen recht genau, daß ganz and ere M enschenströme sie für

nichts als eine austausch bare G alionsfigur am Schiff, das nach wie vor nach ih ren

Winden segelt. — Welchen Eindruck diese r M ensch — ein Glatzkopf m it T onsur-haarrest, dunkler Blick und Teint — auf die Entfernung von rund vierzig Meternauf m ich m achte? Er könnte o hne we iteres ein Pate aus Palerm o sein — jedenfallss trahlt er ein sel tenes Gem isch vo n Eh rgeiz, Eitelkeit und Dünkel aus, wenn m anhinter das «Bedeutende» zu kommen weiß. Jacques nannte ihn den Diffusator,

dann den Blender . Er wird woh l beides se in und noch so m anches m ehr . SolcheLeute treiben mit dem letzten, was von der Bewegung unseres Meisters übrig

blieb, hemmungslosen Ausverkauf, nachdem sie erst ihr Ego parasitenartig an Tei-len seiner Lehre aufgeplustert hatten. All dies scheint mir übrigens im großen

Dram a der Entwicklung unseres Bew ußtseins durchaus vorgese he n: zur Prüfungbestimmter Anfangsgrade unseres Unterscheidungsvermögens.

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eine Weile von der Weltgeschehensbühne sehr real verdrängen werden, wen nderen Ze it gekommen ist. Und deren Ze it hat ja schon angefangen, liebsteFiona! Denn zu diesen anderen M enschenströmen zählen ja auch wir, die 48 ,wie ich uns verkürzt bezeichnen möchte. Unsere Gegner spüren — und dasmacht sie sehr nervös — , daß das G eisteswetter bereits umgeschlagen hat; sohetzen sie aufs Feld hinaus, um rasch so viel G etreide w ie nur möglich in ihreScheun en einzufahren. So sucht man uns zuvorzukomme n! Nichts fürchtendiese Gegner m ehr als den notwendigen G ewitterregen wirklicher Erneue-rung, in dessen Zeichen w ir zu wirken angefangen haben. So sind sie schonvom Zeitenwirbel voll ergriffen un d gepa ckt. Wir aber h andeln a us der E in-sicht, und die ruht ja im Feld der D auer, und w er die Dauer kennt, der hatauch Zeit (nicht umgekehrt sie ihn) und kennt auch das G eheimnis des Kairos

— des rechten Augenblicks zum Handeln. —Der Präsident verglich die Z eitbeschleunigung am Schluß au ch noch mit

einem Sauerstoffmanko. Und als ich nach der anschließenden Habsburg-Sit-zung, die im Pa rlamentsgebäude stattfand (nun habe ich es viermal darin aus-gehalten!), wieder auf die Straße trat, richtete ich meine A ufmerksamkeit erst-mals vollbewuß t auf die Seelenatmosphä re dieser Stadt. F iona, es ist dieschlimmste Atmosphäre aller Städte, die ich (diesmal) je betreten habe! Angst,Gehetztsein, Raffgier, Lüge, Rohhe it — das alles jagt hier durcheinander, ein

wah rhaft höllisches Gemisch. M an mu ß recht viel Verstand besitzen, um eshier seelisch-geistig auszuhalten; sonst wird man auch noch um den Restver-stand gebracht, den m an noch besitzen mag ...

Doch d ann, Fiona, hat sich etwas sehr, sehr Wunderbares zugetragen. Ichstieß auf das M useum des mir völlig unbekannten M alers Antoine Wiertz(180 6-186 5). In allernächster Nachbarschaft zum Parlamentsgebäude. Eshatte noch geöffnet, ich trat ein und hatte sogleich die Empfindung, ein völlig

anderes und wirklicheres Brüssel zu betreten.Antoine W iertz! Hier in Stichworten das N ötigste aus seinem Leben (demrecht kümmerlichen Katalog entnommen): W iertz (geb. 1806) stammt aus Di-nant, wo auch der große M aler Joachim von Patinir herkam. Prägender Auf-enthalt in Rom. Kein Erfolg mit dem in Rom gemalten «Tod des P atroklos» auf

dem Pariser Salon 183 9.Nach dem Tod der M utter 18 45 Niederlassung in Brüssel, bis zum Tod am

18 . Juni 186 5. — Dies das äußere G erüst. Wiertz blieb immer Junggeselle,

stellte seine äußere und innere U nabhängigkeit über alles. Er maß sich an den

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G roßen: R ubens, Raffael, M ichelangelo; war der A nsicht, über sie hinaus-zumüssen und zu -können. Er verachtete den aufkommenden N aturalismus inder Ku nst, verkündete ein regelrechtes Ku nstprogramm der «Ima gination».Sein Verhältnis zum F ranzosentum ist besonders aufschlußreich. M it neun

Jahren erlebte er die Niederlage von N apoleon in W aterloo. F ür seine Abfuhrim Pariser Salon räch te er sich geistreich: zum nächsten Salon sch ickte er zweiBilder ein, beide «Wiertz» gezeichnet; das eine war jedoch ein echter Rubens,den er sich von einem F reund geliehen hatte. Die Jury schickte beide «Wiertz»sogleich zurück. Dann pu blizierte Wiertz die Finte und h atte seinen Spaß ander Blam age und zugleich (und das wa r wichtiger für ihn) einen weiteren Be-

weis, wie stark es Namen sind, die zählen, und wie wen ig es, sogar bei Sach-verständigen, im G runde um die Sache geht.—

Zu Napo leon scheint er ein fast persönliches Verhä ltnis zu besitzen. EinG emälde zeigt den K aiser in der H ölle, umringt von Frauen , die ihm all dasElend vorzuha lten scheinen, das er über sie und a ll die Ihrigen gebracht hat.Napo leon bleibt kalt und un gerührt, obwoh l er mitten in den Höllenflammensteht. Sein Herz erscheint ganz un erweichba r. Als ich dieses Bild beschau te,Fiona, sprach mich plötzlich Nantjoff an — der Norweger, der im P arlament ge-

redet hatte. Das G espräch, das sich dann in der Fo lge «vor Napoleon» ent-

wickelte, war so unvermittelt wie bedeutsam. Nantjoff sprach von der M issionNapoleon s, die dieser selbst vergessen hatte; er kennt die wah ren Ziele von Eu-ropa, und au ch das D eutschtum scheint er tief zu kennen. Am Ende forderteer mich zu künftiger Zusamm enarbeit auf, «dam it der große Lehrer am En dedes Jahrhund erts weitere M ysterien offenbaren da rf», wie er w örtlich sagte.Au ch er ist einer von de n 48 , und als er mich auf einmal fragte, ob ich mich er-innere, woher w ir uns schon kennen, da erinnerte ich mich genau u nd deut-lich, doch das W ann und W o blieb ungesprochen zwischen uns. Und so will

ich auch zu Dir in diesem F alle nichts Ko nkreteres verlauten lassen. Deine un-glaubliche Dechiffrierkunst wird ja ohnedies aus purer Wahrheitsliebe baldauch h ier dahinterkommen ... Nur so viel will ich jetzt noch sagen: D aß w iruns gerade «vor N apoleon» getroffen haben, ist höchst bezeichnend für dieAufgabe, die wir (Nantjoff und ich) noch werden lösen müssen; haben wir unsdoch scho n letztes M al in kleinem Kreis ganz intensiv mit dem P ost-mortem-Schicksal von Napo leon befaßt, wie N. mir in Erinnerung gerufen ha t.

Jetzt weiß ich, Fiona, w o das Vo rgefühl herrührte, das ich schon im Zugnach B rüssel hatte, sowie ich Emersons B emerkung zu Napoleon a ufschlug!

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Es w ar das leise Wetterleuchten dieser wichtigen Begegnung! U nd ich emp -f inde stark, w ie sie erneut gewisse G eistbestrebungen in mir erwe ckt: ichnenne sie die «Brückenbauer-Tätigkeit», die Lebende und «Tote» immer m ehr

verbinden muß. Von diesen Dingen w erde ich Dir später mehr erzählen.Ich möchte D ir zum Schluß nun no ch ein Bild von W iertz beschreiben, das

mir (künstlerisch und sp irituell) den allertiefsten Eindru ck mach te. Es heißt«Les choses du présent devan t les hommes de l'avenir» und zeigt in seiner M itteeine große Han d, auf der K anonenreste, zerbrochenes Radw erk, eine Trikoloreund noc h manches an dere zu sehen ist (wen n auch nicht so klar erkennbar). Die

Hand gehört zu einem Riesen, der d en B lick auf diese «Kleinigkeiten» richtetund der drei anderen Gesichtern, die aus einem Farbenw olkengrund herunter-schauen, ebendiese K leinigkeiten zu erklären scheint. Eine So nne, Sterne u nd

Planeten deuten an, daß hier die «große» Gegenwart einmal kosmisch von derZukunft her betrachtet werden soll. Von diesem Bild, ja vielmehr von der küh-nen Intention, das G egenwärtige vom Standpunkte der Zukunft aus zu sehen,geht ein ungeheurer Eindruck auf die Seele aus, F iona! Es hat etwas immensund woh ltuend Befreiendes! Gew öhnlich messen wir ja alle Gegenw art an der

Vergangenheit: Wiertz mißt sie aber an der Zu kunft! Und zwa r an einer Zu-kunft, in welcher auch der M ensch längst selber über alles, was er heute ist, weit,

weit hinausgew achsen sein w ird. Für W iertz ist alles in Entwicklung; auch un-

sere Betrachtungsart der Gegenwart mu ß sich entwickeln. Nur w er sie aus derPerspektive der Vergangenheit und zugleich auch der Zukunft schaut, betrach-

tet sie in ihren wa hren P roportionen! D as ist natürlich leicht gesagt.

Wie grandios-symbolisch ist es doch im Grunde: in nächster Nachbarschaftzum Riesenp arlament das Wiertz-M useum ! Würde W iertz sein Atelier jetztneuerdings betreten, so würde er die K leinigkeiten auf der Hand vielleicht er-

gänzen wo llen durch gewisse «Riesigkeiten» aus dem 20 . Jahrhun dert; denRest wü rde er gänzlich unveränd ert lassen. Er hat vielleicht gerade desh albmanch e G egenstände auf der Han d recht undeutlich gemalt , damit sie jedeZeit von selbst ergänzen könn e ...

So viel für heute. Am S onntag schreibe ich zum letzten M al aus B rüssel.

Kuß H arold.

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Am andern Morgen lag ein Brief auf Harold Freemans Frühstückstisch.

Während Freeman sich die frischen Brötchen mit dem obligaten weich-

gekochten Frühstücksei sehr schmecken ließ, las er:

Chicago, 26.1.98

Liebster Harold!

Dies ist nur ein kurzer Hinweis, bloß für a lle Fälle. Ich las, daß unse r Le h-rer am Anfang des Jahrhunderts selbst in Bruxelles weilte, auf der

Rückreise von London nach Berlin. In Berlin sprach er darauf, und wie-

derholt, mit größtem Enthusiasmus von dem Maler Wiertz, dessen Bilder

einen stärksten E indruck auf ihn m ach ten. Und we ißt Du, wer es war, derihn auf Wiertz hinlenkte? Natürlich unser Grimm, der einen wunderba-

ren Aufsatz über Wiertz verfaßte. Hast Du schon von Wiertz gehört?!

Übrigens, jetzt fällt mir ein: im Opernhaus von Brüssel hat einst

Adelina Patti vor über hundert Jahren als Norma debütiert. (Auch der,

der damals Jacques Rois Vater war, saß im Auditorium dabei!). Patti

sang bereits als Achtjährige die berühmte «Casta Diva»-Arie! Und ihre

Mutter soll sie nach einer Norma-Aufführung geboren haben (in der

sie selbst die Norma sang). Ich schreibe dies, weil gegenwärtig CarmenJames hier diese sehr, sehr schwere Rolle erstmals singt. Die James ist

Erbin von Juwelen, die einst Adelina Patti trug, und vor Jahren kaufte

sie in Wales das Schloß, auf dem die Patti lebte. Seit Jahrzehnten habe

sie, so James in einem Interview, wie durch eine innere Stimme die Anre-

gung erlebt, die Norma selbst einmal zu singen — nach Patti selbst und

Callas, der wohl unerreichten Norma-Interpretin, natürlich keine

leichte Sache. Doch die James hat es gewagt (ich finde nur, sie hätte die-

sen Schritt viel früher machen sollen ...) — Ist es nicht ganz unglaublich,wie heute solche zarten Brücken zwischen Lebenden und Toten fast

zum Greifen deutlich in den Seelen vieler Menschen sichtbar werden.

Denn es ist ja klar, woher die Stimme kam, die Carmen James jahr-

zehntelang sehr hartnäckig und liebevoll zur Norma lenken wollte ...

Ich lege Dir eine Kopie des Interviews mit James bei.

Zur Gestalt der Norma würde ich Dir gern ein ander Mal noch mehr

berichten. —Wirst Du auch imstande sein, auf Deiner projektierten Fahrt nach

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Basel kurz in Colmar haltzumachen und den heiligen Odilienberg zu

sehen? Ich denke oft an unsere beiden Moltkes, die so sehr mit diesem

Berg verbunden sind ...

Tausend Küsse

Deine Fiona.

Freeman machte nach dem Frühstück einen Rundgang durch die Stadt.

Er suchte die berühmte «grande place» auf, wo einst Egmont, vergeb-

lich auf Begnadigung aus Spanien hoffend, hingerichtet wurde. Dann

kaufte er sich einen Kurzabriß der belgischen Geschichte, setzte sich in

ein Café und bereitete sich auf die Oper Aubers vor, die er am Abend

im Théâtre Royal sehen sollte.

«Hier also hatte schon der Vater Jacques' gesessen, als Adelina Patti

mit der Norma debütierte», sann Harold Freeman, während sich der

Vorhang hob und seinem Sinnen eine neue Richtung gab.

Am andern Morgen fuhr er mit dem Bus nach Waterloo hinaus. Er

wollte noch zum Schluß des Aufenthalts in der Hauptstadt der EU das

Schlachtfeld sehen, das Napoleon zum Abtritt von der Bühne großer

Politik gezwungen hatte.

Nach dem Waterloo-Ausflug schrieb er einen kurzen Brief an Onkel

Alfred, einen längeren an Jacques Roi, bereitete die Abreise am andern

Morgen vor und vollendete dann seinen letzten Brüsseler Bericht an

Fiona:

Bruselles , Sonntag, den 1.2. 1998 , 20 Uh r 10

Nein, ich hab mich n icht verschrieben, F iona! Ich schreibe dies aus B ruselles,

und D u w irs t gle ich sehen, wa s es dam it auf s ich hat.Phan tastisch, Fiona, daß Du mich ins Wiertz-M useum schicken w olltest , in

dem ich jedoch bereits war, w ie Du au s dem ersten Teil des Briefs erfahren wirst!

Un d nicht nur einfach einmal w ar, denn geistig we ilte ich auch in der vorletz-

ten und letzten Nacht noc h viel bei Wiertz und seinen Bildern. Ich sehe jetzt mit

Freude, daß ich nicht ganz ohne G rund von ihm so s tark beeindruckt bin , wodoch au ch schon unser Lehrer von diesem M aler derart fasziniert wa r ...

Heute mo rgen suchte ich im übrigen das Schlachtfeld auf, dem W iertz mit

seinem «Lion de W aterloo» ein so eindrucksvolles D enkmal setzte.

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Schön un d wichtig, was D u mir von Pa tti/James und «Norm a» schriebst.Und daß ich durch D ich auch noch rechtzeitig erfuhr, daß schon der Vater Jac-ques' hier in der O per saß u nd P attis Norma-D ebüt hörte, versetzte mich ineine festlich-ernste Stimmung. In dieser Stimmung such te ich dann gestern

abend meinen S itzplatz in der O per auf.Nun kurz zu dieser Oper, die Geschichte machte. Die erste Aufführung inBrüssel (18 30 ) hatte einen ungeheueren Effekt. Das war so gekommen. NachWa terloo kam ja bekanntlich die Schlußrunde des W iener Kongresses, aufdem die G roßmächte die Neuordnung Europas inszenierten. Die «niederlän-dische F rage» glaubten sie dadurch zu lösen, daß s ie die seit dem Abfall derNiederlande* von Spanien vollzogene Trennung der nördlichen und südli-chen Landesteile wieder aufhoben und Belgien und Holland un ter oranischer

Herrschaft zu einem «Königreich der Niederlande» zusammenschweißten.Hinter diesem Plan stand England, das auf dem F estland dadurch eine starkeGegenma cht zu Fran kreich schaffen wollte (Gleichgewicht-der-Kräfte-Poli-tik!). Das paßte keinem wa hren Belgier in den Kram. Die oranische Kron ewar für Belgien Ausdruck einer Fremdherrschaft. Nun, Aubers O per — mu-sikalisch überaus reizend, stellenweise sehr ergreifend — stellt den Aufstandneapolitanischer Fischer gegen die spanische Herrschaft dar. Als im dritten

Akt der R uf der F ischer «Zu den Waffen!» erscholl, entlud sich die gestauteAggression der Zuschauer. Das Volk stürzte aus der O per und stürmte denJustizpalast und verkündete selbst kurzerhand die Unabhängigkeit des Lan-des! Wen ige Wochen später wu rde das Königreich Belgien proklamiert! OF iona, wo ha t die Op er seither wieder jemals so gewirkt?! Bräu chte unsereZeit nicht wieder solche O pern, die das Herz der Zuschauer zu solchen Frei-heitstaten zu begeistern wü ßten? Nur mü ßte man in diesen neuen O pern ru-fen «Zu den G eisteswaffen!» Den n aller Kamp f ist letztlich Geisteskamp f.

Doc h bei diesen Worten würde ja das G ros der Zeitgenossen höchst wahr-scheinlich sogleich gähnen oder — lachen. Wird doch heute der Begriff des Gei-steskampfes nicht einmal in der Bew egung unseres M eisters wirklich ernstgenommen ...

* Das heißt der Nordprovinzen des unter Spanien stehenden Landes; die Südpro-vinzen, zu denen das brabantische Brüssel zählte, blieben Spanien treu, wie es

he ute t reu zu W ash ington und Ro m hält .. .

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In der Pa use hörte ich beiläufig, wie man recht gelangweilt über Auber sprach ,um sich dann der neuesten Entwicklung an der Euro-Börse zuzuwenden. Dasist das Gros der heutigen Besucher hier. Bloß neue O pern täten es alleine alsonicht ...

Nach der A ufführung suchte ich ein Eßlokal auf, das mir mein H otelier emp-fohlen hatte. Ich setzte mich an einen Tisch, an dem ein junger M ensch saß,der bei mir auf Kün stlerisches schließen ließ. Un d richtig: Er ist M aler, und erkennt W iertz!

Und nicht nur Wiertz. Denn er begann nun, während ich m ich meiner ex-quisiten Supp e hingab, eindringlich davon zu reden, d aß W iertz doch nur ver-stünde, wer auch w üßte, daß er eigentlich ein Tor zu einem v öllig anderen

Brüssel sei.«Haben Sie das B ild vor Augen», sagte er beschwörerisch, «das in einem

Türspalt eine Sch öne zeigt, die einladend zu dem Betrachter blickt?»Ich bejahte und erfuhr darauf, daß Wiertz mit diesem Bild auf jenes andere

Brüssel deute, von dem er h ier den Eingang zeige. Un d ich erfuhr, daß einestarke Tradition vorhanden ist, die um das «andere» Brüssel kreist. Besondersist sie mit dem Ju st izpalast verknüpft (den ma n nach der A ufführun g vonAu bers O per stürmte!), von dem ich schon gesp rochen habe. Sein genialer

Architekt habe in dem Labyrinth der unteriridischen G änge irgendwo aucheine gut getarnte Tür hineingebaut, und w er sie finde, stehe an der P forte zudem andern Brüssel — das habe Wiertz gewuß t — , und dieses Brüssel sei eineArt von Parallelstadt, die wirklich existiert. Dieses parallele Bruxelles, Fiona,heißt nun «Bruselles». Der M aler nannte zahlreiche Persönlichkeiten — dar-unter einen nam haften H istoriker — , die bis heute von der Existenz von Bru-selles völlig überzeugt sind und die noch im mer die gehe ime Tür zu finden ho f-

fen.Ich hörte mir die Sache mit wach sendem Interesse an. Zeigt sie doch, daßein Gefühl dafür vorhand en ist , daß das B rüssel, wie es heute lebt und w irkt,nicht die wahre M etropole von Europa ist. Da ß das irgendwie geahnt wird,wenn auch karikiert und materiell gedacht, als Trau mbild einer anderen, ge-heimen un terirdischen Stadt, ist doch imm erhin bemerkensw ert. — Als ichdann na ch einer Stunde das Lokal verließ, sagte mir der M aler noch zum A b-schied: «Qui aime Wiertz, M onsieur, aimera Bruselles.»

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Daß Du n och von unseren M oltkes schriebst und vom O dilienberg, trifft haar-genau das Z entrum meines gegenwärtigen Sinnens und Betrachtens! M ir istjetzt nämlich klar geworden: W er Europas Aufgabe vergißt, geht von Brüsselunfehlbar nach Waterloo; wer die wirklichen Gedanken von Europa sucht, derfindet «Bruselles» und w ird zu dem — O dilienberg geführt. Denn er ist es, derhinter diesem «Bruselles» steht. Ich werde also den O dilienberg aufsuchen,F iona. Das heißt von Napoleon zu unsern beiden M oltkes pilgern ... A prop osNapoleon w ill ich Deiner Ra tekunst doch ein wenig auf die Beine helfen. Un-ser Lehrer konnte ja N.s Seele nirgends finden; «w ir» (dazu gehört auch Nant-joff!!) setzten dann die Suche n ach dem T ode unseres Lehrers mit dessen Gei-steshil fe fort. Wir fanden dan n die Seele von Na poleon un ter anderem inAaron w ieder, der der Bruder war von M oses! So durchdrangen wir ein Stück

weit wirklich alle fable convenue, von der Napo leon ja selbst gesprochen h atteund d ie gerade ihn so ungeh euer stark verhüllte, auch vor sich selbst. (Au chsich selbst war er am Ende seines Lebens kaum viel mehr als eine solche fableconv.) Aaron und auch M oses werden m ir auf meiner weiteren Reise ganz ge-wiß erneut entgegentreten — so sagt mir mein G efühl ... Nun aber erst hineinin unsere M oltke- und O diliensphare! —

Vom (zirka) 10. F ebruar an bin ich an der folgenden Adresse zu erreichen:Hotel Drei Könige, Blumenrain 8, 4 051 Basel, Schweiz.

Dein Harold.

P.S. Ganz merkw ürdig berührt mich die Entdeckung, daß derselbe Tag beiWiertz, Napoleon und auch beim jungen M oltke eine Rolle spielt: der 18. Juni.

Er ist der Todestag von Wiertz (1865 ) und M oltke (1916) und auch der Tagvon W aterloo (181 5)! D as Tod esjahr von W iertz steht dabei zeitlich ziemlich

in der M itte der drei Jahre ...D ie Beziehung zu Nap oleon ist bei Wiertz ganz greifbar; doch auch der

M oltke-Sphäre scheint er irgendwie verwandt zu sein; denk nur an sein aus-geprägtes Interesse für das alte Troja, das wir aus dem Moltke-Umkreis so gut

kennen (Um i). Und schließlich gilt ja An toine W iertz sogar als Kenner des ge-heimen «Bruselles» ...

G edenken wir also am kommen den 18 . Juni dieser auffälligen Konfigura-tion, die mit dem Schicksal von Europa derart eng verflochten scheint.

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Strassburg, Colmar, Odilienberg

B eim Zwischenh alt in Straßburg m achte Ha rold Free m an einen Kurz-besuch im «M aison d'Europe», dem Sitz des 1949 begründeten Europa-rats. Im August desselben Jahres war in Straßburg die Beratende Ver-

sammlung feierlich eröffnet worden, durch Robert Schuman und imBeisein Winston Churchills. Das Europahaus war außerdem für lange

Jahre auch der Sitzungsort des Parlamentes der EU. Das «Parlament

von Straßburg» tagte jedenfalls bei den Plenarsitzungen, mittlerweile

längst im Riesenbau von Brüsse l vis-à-vis vom Wiertz-M useum . Die el-sässische M ünsters tadt hat te in den letzten Jah ren zwar m it Feuereiferselbst ein größeres, vom Europahaus ganz unabhängiges Parlaments-

gebäude hingestellt, doch in Brüssel wirkten offenbar die stärkerenMagnete: Das Parlament der Europäischen Union, das bisher teils in

Straßburg, teils in Luxemburg und teils in Brüssel tagte, wurde, nicht

zuletzt aus Rationalisierungsgründen, mehr und mehr an die Brabant-

Hauptstadt gebunden. Straßburg legte umso größeren Wert auf die

hier ansässige Kommission für Menschenrechte und einzelne Organe

der EU, doch vor allem auf den nach wie vor im Maison d'Europe

tagenden Europarat. Dieser Straßburg noch verbliebenen Bedeutung

wurde nun im Hinblick auf das Jubiläum zum 50jährigen Besteh en desEuroparates umso mehr gedacht, wie allerlei Plakate, Bücher, Video-

kasse tten und Broschüren dem Besuche r zeigten.In der Buchhandlung des Maison d'Europe war auch zu erfahren,

daß die Europafahne mit dem Kreis der zwölf gelben Fünfsterne auf

blauem Grund — längst vor Brüssel — a ls Europaratsem blem ers tm alshier vor dem Europahaus in Straßburg in der sehr bewegten Atmo-

sphäre des werdenden Europa flattern durfte ... Das war am 13. De-

zem ber 1955 gewesen, nachdem m an s ich fünf Tage vorh er in Par is aufdiese s «m arianische» Sym bol geeinigt hat te .

Bald darauf s tand Freem an in der großen Kathedrale , die schon G oetheso sehr liebte. Er wollte das Europafenster sehen, auf das ihn Jacques

Roi hingewiesen hatte. Es handelt sich um eine vom Europarat gestif-

tete G laskom position von M ax Ingrand, «die Vision aus dem 12. Kapi-

tel der A pokalypse darstellend», das h eißt das W eib, m it der So nne be-

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kleidet, den M ond unter den Füßen, die Kro ne der zwölf Sterne um dasHaupt, einen Sohn gebärend. Ingrands Darstellung ist ziemlich stili-

siert, ohne Mond und mit besonderem Akzent auf dem Kranz der

zwölf Fünfsterne h och obe n im Zenit des Fensters .

Dann begab sich Harold Freeman wiederum zum Bahnhof undnahm den nächsten Zug nach Colmar, wo er übernachten wollte. Er

s t ieg im Hotel St-M artin ab, das ihm Jacques e m pfoh len hatte .

Als das Musée d'Unterlinden am andern Morgen Schlag neun Uhr

seine Pfor ten öffnete , war Ha rold Freem an noch der e inzige Besucher .Er wo llte sich den weltbekannten «Isenhe im er A ltar» a nseh en und sichendlich einen Wunsch erfüllen, der im letzten Leben unerfüllt geblie-

ben war .Der zwe iteilige M ittelteil der e rsten Bildtafel nahm sein aufm erksa -

m es Sinnen lange Zeit in Anspruch. In der M itte der Ge kreuzigte, des-se n Leidenslast den Querba lken des Kre uzes a uf beiden Seiten auffäl-lig hinunterbiegt; zur Rechten (vom Betrachter aus gesehen) derTäufer, mit sehr ausdrucksvoller Fingergeste auf den Gekreuzigten

hindeutend; ein kleines kreuztragendes Lamm zu seinen Füßen, aus

dessen Brust das Blut in ein Gefäß fließt, das Haupt zum Kreuz ge-

wendet; neben ihm in roten Lettern, auf lateinisch: «Er muß wachsen,

ich aber m uß abnehm en.»Links vom Kreuz Johannes, «der Jünger, den der Herr liebhatte»,

Maria Magdalena, dessen Schwester, und Maria, Jesu Mutter; in drei-

fach abgestufter Schmerzgebärde.Wird diese r ers te (aus zwe i Bildflügeln bes tehe nde) M ittelteil geöff-

net, so fällt der Blick auf die Verkündigung, die Geburt (auf den zwei

Mitteltafeln) und auf die Auferstehung. Freeman konzentrierte sichnach einer We ile auf die beiden M itteltafeln: M aria m it dem Neugebo -renen im Arm in einer Art von Garten sitzend, rechts von ihr sind ein

paar Rosen, hinter ihr ein Weg, an eine Mauerpforte führend, die aus

einem eingefügten Kre uz besteh t; dah inter ein Gebirge, stark be wegteWolken; hoch oben in der Sonnensphäre der Vatergott, wie hinunter-

sprechend in das i rdische Ges cheh en.Auch das Auferstehungsbild besah sich Freeman lange. Vor allem

schienen ihn die wachhabenden Soldaten in den Bann zu ziehen, die

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vom Auferstehungsvorgang wie betäubt und wie benommen zwi-

schen Erdenschwere und der ungeheuren Himmelsleichte, die den

Auferstandenen als Kraftsphäre umgibt, taumelnd schweben oder

schwebend taumeln.

Zuletzt vertiefte Freeman sich in Grünewalds «Versuchung des An-

tonius». Von allen Seiten zerren Tiergestalten mit phantastisch-schreck-

lichen Gesichtern an Antonius, der, wie auf einem Täfelchen geschrie-

ben steht (wohl in der finstersten Versuchungsstunde), laut zum

Himmel ruft: «Ubi eras, bone Jesu, ubi eras? Quare non affuisti ut sa-

neras vulnera m ea?» — «Wo wars t du, guter Jesus , wo wars t du? Warumwarst du nicht zugegen, um meine Wunden mir zu heilen?» Der

Schauplatz dieses düsteren Geschehens: wildes Wald- und Berg-

gelände; im obersten Bildviertel öffnet sich jedoch der Blick auf Schnee-gipfel, auf Wolken und erneut auf eine gelbe Sonnensphäre, aus der der

Vatergott (?) herunterblickt.

Auf dem Weg zum Hotel St-Martin stieß Freeman zufällig auf das Ge-

burts- und Wohnhaus von Frédéric Bartholdi (1834-1904), dem Schöp-

fer der berühmten Freiheitsstatue in der Hafeneinfahrt von New York.

Es beherbergt heute ein Museum, das den Werdegang des Künstlers

wie auch den Prozeß der langwierigen Entstehung des berühmtestenvon seinen Werken zeigt. Freeman sah sich alles mit Interesse an,

kaufte eine Vita von Bartholdi und suchte dann das Hotel auf.

Nach dem Mittagsimbiß zog er sich auf sein Hotelzimmer zurück

und schrieb an Fiona:

Colmar, 4. Februar 19 98, Hotel St-M artin

F iona! Beste!

D urch das F enster meines Zimmers sehe ich auf bunte Altstadtdäche r, schöne

Riegelbaufassaden , die Turm spitze der Do minikanerkirche; ein Stück des alten

Marktplatzes mit einem kunstvoll ausgeführten Ziehbrunnen aus dem 14.

Jahrh und ert. Es ist recht kühl, doch trocken -kühl, kein Lüftchen regt sich, und

die Sonne sch eint ganz schrankenlos und freundlich auf das elsässische Bijou

nieder.

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Ü ber Straßburg bin ich gestern abend hier in diesem zauberhaften Städtcheneingetroffen. In Straßburg un terbrach ich meine Reise. Ich fuhr per Ta xi in das

«Qua rtier d'Europe». Stand vor dem M aison d'Europe (dem Sitz des Europa-rats), das mit seiner leicht nach hinten hoch gezogenen F lachfassade mit ver-

hältnismäßig kleinen F enstern wie der F rontteil eines Riesenschlachtschiffsoder eines Eisbrechers aussieht. Vor diesem Hause hißte man am 1 3. Dezem-ber 1955 erstmals die EU-Fahne — just am Todestag der hl. O dilie, der Schutz-patronin unseres lieben Elsaß! Am B. Dezember hatte das Ministerkomitee dieAdoption der zwölf Sterne in Paris beschlossen — «zufällig» am kath. Festtag

der U nbefleckten Emp fängnis M ariä. Du siehst auf Schri t t und Tri t t, wiedurch derlei «Koinzidenzen» von katholischer Seite aus darum gekämpft wird,M aria und — wie ich jetzt erfahre — auch die große Geistgestalt O dilies in das

Netz der klerikalen Politik zu spannen.Da s Europahaus wird streng bewacht, wie ein Flughafengebäude. Dank

meines Diplomatenpasses konnte ich jedoch zum G lück die Schranke mühelospassieren und, da keine Sitzung war, im G ebäude frei herumspazieren. DerPlenarsaal ist mit einer zwölfgliedrigen H olzgewölbedecke arch itektonischnicht unoriginell. Doch fällt durch eine küm merliche O berfensterreihe viel zu

we nig Tageslicht herein. Für mich ein Bild der geistigen Verdunkelung, in der

die M enschheitsangelegenheiten heute überall verhandelt werden. Ich blät-terte in B üchern und B roschüren, verl ieß den Bau und ging dann noch amM enschenrechtspalais vorbei, dessen A rchitekt früher Raffinerien und F abri-ken für die Herstellung von K onservendosen ge baut zu haben scheint. Von daaus geht der B lick auf einen Seitenarm der Ill, die hier zum kleinen See w ird.Schräg gegenüber dann das neue Parlamentsgebäude der EU . Fiona, es ist pu-rer Wahn sinn! In Brüssel, wo ja die Plenartagungen des Parlamentes der EUstattfinden — früher hielt man sie im M aison d'Europe Straßburgs ab — , steht

der Riesenparlamentsbau (vom M usée Wiertz daneben geistig turmhoch über-ragt ...), von dem ich Dir geschrieben habe. Er w ürde voll und ganz genügen.Doch Straßburg baute ebenfalls (wenn auch leicht verspätet) — denn die ganze

hiesige Region verdiente gar nicht schlecht am Troß der W anderredne r, die mitihrem Heer von Sekretärinnen und Sekretären, D olmetschern und sonstigenHilfskräften regelmäßig von Brüssel über Luxemburg nach S traßburg kamen.D ieses «Zugeld» will man hier in Straßburg nicht verlieren, also baute manauch hier ein neues Parlam entsgebäude! Dann schuf man neue A ufgaben fürneue G remien oder Komm issionen. Erst wird auf Druck der Bau- und G ast-

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gewerbelobby der Region gebaut, dann schafft man n eue Vorw ände zu Sit-zungen im neu erstellten Wund erbau. All das dient natürlich auch der S tär-kung der zwei in e inem früheren B er icht an D ich bereits erwä hnten ge-gensätzlichen Tend enzen, einerseits zur D emokratisierung (jeder Stadt eineuropä isches Parlam ent ...), anderers eits zur Aristokratisierung aller M acht(die dafür sorgt, daß in den Pa rlamenten nur mit Pap pw ürfeln gespielt wird).Ach, es ist so traurig, daß so wenig M enschen solchen Dingen klar und ruhigins Auge schauen!

Das schö nste, was ich hier in diesem auf die Dauer au ssichtslosen A real er-

blickte, waren ein paar Schw äne, still und edel zwischen diesen Hochbu rgenvon M acht, Berechnun g und von Illusion hingleitend. Wenn d ie heutige EUeinmal ihren Waterloo-C harakter in Krieg und C haos unbarmherzig auch den

Blindesten enthüllen muß , dann we rden solche Schw äne, still und edel wie andiesem Tage, weiter über solche Wasser ziehen ...

Anschließend fuhr ich noch zum Wunderbau von S teinbach, der großen Ka-thedrale, die dem jungen G oethe, wie Du w eißt, zum künstlerischen Inbegriffder G ot ik wurde. Schon als ich s ie zum ersten M ale sah (wohl um 19 26 ) ,mach te sie auf mich gleich einen tiefen, feierlichen Eindruc k. Ich wollte jedochkeine Stimm ungen von früher sich entwickeln lassen und steuerte geradewegs

auf das «Eu ropafenster» in der Ap sis zu. Dieses F enster ist mit ausdrückli-chem H inweis auf das 12. Ka pitel der Apokalypse vom Europarat in Auftraggegeben und gest i ftet wo rden, wie ich im Europa haus erfuhr. Ü ber einerkünstlerisch recht mittelmä ßigen M ado nna schw ebt die Kron e der zwölfSterne, einst Europarats-Symbol, heute allgemein als das Symbol von «ganz»

Europa angesehen.Ich versuchte mir an O rt und Stelle zu vergegenwärtigen, was der große

Lehrer über die G estalt der Jungfrau aus der «O ffenbarung» selbst zur O ffen-barung brachte; zuletzt vor jungen P riestern. Un d es ist sehr vieles und auchsehr Gew ichtiges!

Die Jungfrau ist ja «mit der Sonn e bekleidet»* und geht mit einem So hneschwanger. Dies ist das Bild für ein Realgeschehen, das wir in urferner Ver-gangenhe it einst selber miterlebten: So ha ben wir in der A tlantis unsere Ich-

* Dieses «Sonnenkleid» besteht dem Wesen nach aus den Geistern der Form, den

Elohim der m osaischen Genes is .

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G eburt erlebt! Im A ufblicken zur Son ne, die bis in späte Zeiten der A tlantisstets in eine Riesenwassernebelaura eingetaucht war, erlebten wir, daß uns ausihr heraus das eigene Ich geboren wurde. («Tao» klang es weithin durch Na-tur und Licht und durch die Seele — der eigentliche Lautklang unserer Ichge-

burt.) Und in noch früherer Zeit erlebten wir die Sonne erst als Weib, das einstgebären wird.

Die Erinnerung an d iese Zeit lebte stark in C hartres fort, wo m an ja d ie«virgo paritura» so sehr ehrte. Als die Sonne erst als die Gebärerin (= pari-tura) empfunden wurde, h aben w ir sie meh r als Weib erlebt; später, als derSohn (= das Ich-Bin in uns; ich könnte ebensogut sagen, der Christus in uns:ICH = Jesus Ch ristus) geboren war, allmählich männlich. Daß d ie deutscheSprache heute noch — im Gegensatz zu sämtlichen romanischen — die Sonne

sagt (aber le soleil, il sole etc.) zeigt, daß das Deutschtum eine ganz besondereBeziehung zum G eburtsvorgang des Ich besitzt! Deutscher werden heißt seinIch in innerer F ichtescher Tathandlung stets von neuem zu gebären. Ein Ich-Gebärer ist der wahre D eutsche. Dazu regt ihn schon der deutsche Sprachgeistan, wenn er die und nicht der Sonne bildet; während durch die G eister ande-rer Sprachen nicht so sehr auf diese Tat der Ichgeburt geblickt wird, sondernauf das Resultat des kosmischen Geburtsvorganges, den Sohn, das schon ge-

borene Ich.Bedenke: dieses Bild der O ffenbarung, das ganz real dem Vorgang unsererIch-Geburt (sowohl makrokosmisch: aus der Son ne; als auch mikrokosmisch:aus dem eigenen Bew ußtsein) entspricht, wird ganz offiziell mit dem EU -Symbol verknüpft. Das heißt: eine europäische B ewegung zur V ereinigungvon M enschen unter Au sschaltung des Ich-Impulses (und das ist die gegen-wärtige EU!) arbeitet im Zeichen der realen Ich-Werdung! Die Kirche, die denwahren Individualismus immer unterbindet, läßt das Ich-G eburts-Symbol par

excellence in die Politik Europas fließen! In höchst offizieller Form wurde es insolcher Weise mit den Sternen des EU-Symbols verkoppelt. Wir sehen einma lmehr auch hier: Nicht nur in Washington und Y ale wird mit der Dialektik He-gels Politik gemacht, auch Rom bedient sich gleicher Mittel. Was liegt dennvor? M an strebt Non-A an (= eine Vereinigung von M enschen unter Aus-schaltung von deren Ichen, und damit auch von deren an das Ich gebundenerDenk- und Freiheitskraft!), appelliert dabei jedoch beständig an ebendieses«A» (= Ich). Die Kirche rechnet also mit der Ich-Geburt, um den Ich-Impulsumso w irksamer zu unterbinden! D a das We ib im Sonnen kleid, das hinter un-

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seren bekannten Sternen von Europa steht, bei allen M enschen an d ie inner-ste und kostbarste Errungenschaft (die Ich-Geburt) der Erd entwicklungrührt, wird die Entichungs-Absicht weniger bemerkt, denn sie tritt ja im G e-wande eines mächtigen Realsymbols der Ich-Entwicklung auf!

Ich sage nicht, Fiona, daß diese Dinge alle immer vollbewußt und aus Er-kenntnis solcher tieferer Zusammenhänge in die Welt geschmuggelt werden;sie können durchau s geistig inspiriert sein. Die Frage ist dann eben: vo n w el-cher Seite inspiriert? D as Ich-Geburts-Symbol für Zw ecke einer Anti-Ich-Be-wegung zu verw enden, die allen wahren Individualismus unterdrücken will,ist, jedenfalls in meinen Augen, eine Eingebung von strikt soratischem Cha-rakter ... Die Bezüge dieses hochbedeutsamen R ealsymboles aus der «O ffenba-rung» des Johan nes, z.B. zum Z eitgeist M ichael, zu den Drachenkräften des

Astralischen (= M ond unter ihren Fü ßen) w ill ich hier nicht weiter unter-suchen. Einma l mehr ist aber klar zu sehen, daß vieles davon abhä ngt, vonwelcher Seite aus man ein bedeutendes Realsymbol in den menschlichen Kul-turprozeß hineinschleust.

So viel also zu meinem Straßburg-Aufenthalt. —

Nun sah ich auch den G rünewald-Altar, Fiona! Er ist ganz unbeschreiblich.

Ich halte hier nur ein paar Dinge fest, die mich noch lang bewegen w erden.Auf der K reuzigungsdarstellung steht gleichzeitig Johannes de r Täufer

und Johannes der Evangelist (neben der M utter Jesu und M aria M agdalena),obwohl der erstere schon längst enthauptet war, als das Blut vom Kreuze floß.Zu F üßen des Tä ufers ein Lamm mit einem Kreuz; aus der Brust des Lammesfließt Blut in einen Kelch (= Gralskelch).

Du erinnerst Dich, daß in der «Letzten Ansprache » der M eister gerade

von der inneren Verbindung dieser zwei Johannesse gesprochen hatte. Ü berdiese innere Verbindung oder auch Verbundenheit ging mir nun im A nblickdieses Bildes manches auf.

Der Enthauptete wirkte nach dem Tod a ls eine Art von G ruppenseele fürdie Jünger Jesu. Besonders neigte er sich aus dem Unsichtbaren in die Seele je-nes Jüngers, «den der Herr lieb hatte» — Lazarus-Johannes, der später auf derInsel Patmos und in Ephesos seine «Offenbarung» und das Johannesevange-lium verfaßte. Nun ist der erste Teil des letzteren ausdrücklich dem Zeugnis

des Täufers zugeschrieben. Gleich nach dem P rolog heißt es (im Wortlaut mei-

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ner Hotelbibel): «Das ist das Zeugnis des Johann es, als die Juden aus Jerusa -lem Priester und Leviten zu ihm sandten m it der F rage: Wer bist du?» (1,1 9).

Sie wollten wissen, m it welcher «Legitimation» der T äufer taufe etc.K om positionell in der M itte dieses Evangelium s steht die Lazarus-Er-

weckun g, und am Schluß w ird deutlich, daß seit der Einweihung de s Lazarus,aus dem der «Lieblingsjünger» Jesu wurde, letzterer nun selbst als Augen -zeuge schreibt. Am S chluß des Ev angeliums heißt es klar und deutlich: «Die-ses ist der Jünger, der all dies bezeugt» (21 , 24 ). Und e s ist klar: Jetzt sprichtder Johan nes, der erst seit seiner Lazarus-Einw eihung diesen Eingeweihten-namen trägt. So wirken in dem tiefsten aller Evangelien die beiden Johannessezusamm en: In seinen ersten Teil fließt spirituell das T äufer-Zeu gnis ein; derzweite Teil ruht ganz auf Lazarus-Johannes selbst. Das ganze Ev angelium ist

das P rodukt einer irdisch-spirituellen K ooperation der zw ei Johannesse. KeinWund er also, daß wir auch hei beiden eine tiefe Konkordanz der Lammsymbo-lik finden. Als der T äufer «an dem zweiten Tage» Jesus zu sich komm en sieht,da ruft er: «Siehe, Gottes Lamm, das der Welt Sünde auf sich nimmt» (1,29 ).Dieses Bild vom Lamm e findest Du nur im Johann esevangelium; in allen an-dern Schilderungen dieser Jordanszene fehlt es wirklich, wie ich mich soeben

vergewissere!

Natürlich kennt schon das gesamte A l te Testament das O pferlamm desKultus und die Lamm symbolik, doch nur die zwei Johannesse (und nur beim

Evangelienschreiber dieses Namens) mach en aus dem Lam m das eigentlicheC hristus-Gleichnis. C hristus = das m ystische Lamm , und dieses mystischeLamm tritt uns nun auch w ieder in der «O ffenbarung» neu entgegen. Du er-innerst Dich an das B uch mit sieben Siegeln. Keiner auf der Erde und im H im-mel verma g es zu entsiegeln, und der in dieses G eistgeschehen voll mit einbe-zogene Schreiber muß «sehr w einen, weil keiner sich als wü rdig erwies, das

Bu ch aufzuschlagen und darin zu lesen» (5, 4 ). (Diese Stelle erinnert michübrigens an man che Sä tze in der spä ter von ihm inspirierten «C hymischenHochzeit»!) Doch w eiter: «Da sprach einer der Ältesten zu mir: <W eine nicht.>

Siehe, der Löwe aus dem Stamm e Juda hat den Sieg errungen, die Wurzel Da-vids. Er kann das B uch un d seine Siegel auflösen.» Un d dan n: «Un d ichschaute: Da stand inmitten des Thrones und d er vier Tiere und in der M itteder Ältesten ein Lamm (= der Löwe aus dem Stamme Juda), als wäre es bereitsgeopfert. Es hatte sieben Hörner und sieben A ugen (= die sieben Elohim) ...Und d as Lamm trat herzu und nahm da s Buch» usw.

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Also, diese tiefe Lamm symbolik verbindet die Johanne sse in sehr bemer-kenswerter Weise. Auch die große Fo rderung der Sinneswandlung («Änderteuren Sinn!») treffen wir bei beiden Johan nessen (beim zweiten in der «O f-fenbarung») an.

Do ch sie sind auch noch du rch Fo lgendes ganz objektiv verbunden: dereine ist der erste dam als lebende Vorausverkünder C hristi, der andere der er-ste je von C hristus selbst auf Erden Eingew eihte.

Es ergibt sich ferner etwas Auffallendes, wenn Du beider Erdenlebenreihenauch nur grob vergleichst. Pineas (ein Enkel Aaron s und also Groß neffe vonM oses), Elias, Johannes der Täufer, Raffael, Novalis — Hiram, Lazarus-Johan-

nes, unbekan nte Ink. im 13 . Jh., C hristian R osenkreu tz im 1 4. Jh., St-Ger-main. Einmal verhältnismäßig reife, alte M ensche n, die zu jungen werd en

(Novalis); das andere M al erst rel. junge M enschen (H iram), die später einsehr hohes Alter haben (C hristian Rosenkreutz). Die Inkarnationsreihen derzwei Johannesse verha lten sich von dieser Altersperspektive aus gesehen ge-wissermaßen um gekehr t symm etrisch — wobei die Symm etrieachse das3jährige C hristusleben ist; oder um genau zu sein: die Auferweckung lEinwei-hung des Lazarus. Denn d iese Auferwecku ng ist ja zugleich eine Einweihungdes Täufers, der sich in Lazarus-Johannes inkorporierte und ihn mit seinemG eisteswesen nach oben hin im vollen Sinn des Worts «ergänzte».

Daher nennt der M eister in der letzten A nsprache in der InkarnationsreiheElias, Raffael, Novalis plötzlich statt des Täufers Lazarus Johannes.

Der Lehrer mu ßte diese Ansprache, w ie Du we ißt, vorzeitig abbrechen.D och im zw eiten, nicht gehaltenen Teil hätte er wohl diesen ande ren, «okkul-ten» Aspekt der Lazarus-Erweckung dargestellt; inwiefern sie nämlich gleich-zeitig die Post-mortem-Einw eihung der Täufer-Seele war. Und er hätte wohlauch in der R eihe der Verkörpe rungen H iram ... Christian Ro senkreutz an

Stelle des Lazarus-Johannes den T äufer hingesetzt. — Ja, diese Dinge sind ge-heimnisvoll und tief.

G rünewald malte dieses Werk zwischen 15 12 und 15 16, das heißt rel . amSchluß der Lebenszeit des M alers Elias-Raffael (15 20 )*. Do ch auch zumspäteren Wirken des anderen Johannes führt eine Spur vom G rünewald-Altar.

* Es wäre re izvoll nachzuseh en, ob und welche T äufer-Bilder Ra ffael in diese m Zeit-

iaum m al te !

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Neben der ganz einzigartig-lieblichen M aria mit dem Kind e sind drei Rosensichtbar; hinter ihr ein P fad, der zu einer H olztür führt, und diese Holztür istganz deutlich um ein Kreuz herum gezimm ert worden. Der M aler hat also dasRosen-Kreuz-M otiv in seine D arstellung hineingeheimnißt! Vermutlich w ar

auch er dem C hristian Rosenkreutz begegnet, der ja doch in jedem der Jahr-hunderte einmal verkörpert ist.C harakteristisch für die Art, wie Grünew ald der Zeit nach Auseinander-

liegendes zusammen bindet, wen n es seinem W esen nach zusammen paßt, istauch das F olgende: Das altgewordene, da und dort zerrissene Lendentuch desG ekreuzigten dient auf dem M arienbild als Windeltuch des Neugeborenen!

Vieles, vieles, Fion a, gäbe es noch über dieses inspirierte Werk zu sagen.Zum Beispiel über die Altartafel, die die Au ferstehung zeigt. Dazu nur dies:

Kein anderes mir bekann tes Bild stellt die Levitationskraft des Ätherischen(gegenüber der K raft des Physisch-Gravitierenden) so großa rtig und sach-gemäß un d nacherlebbar dar. Oder «D ie Versuchung des Antonius», das zuernsten Einzelstudien des Däm onenvo lkes einlädt usw . usw . und den B e-trachter von den auch in ihm selbst versteckten Wesen gleicher Art durchausbefreien könnte. F ür solche Therap ie war der Altar auch ursprün glich gedacht.D as ganze W erk stand einst in einer Niederlassung des Hosp italordens derAn toniter in Issenheim (sic), die u.a. Aussatzkranke pflegten. Un d der A us-satz war (wie viele andere K rankheiten) im M ittelalter Ausdruck eines vonDä monen korrumpierten Seelenlebens.

Schließlich: Auf der G eburtstafel ist im C hor der En gel ein Gesicht zu se-hen, welches deutlich Buddha-Züge trägt. Wurde dem M aler etwas vom G e-heimnis des lukanischen Jesusknaben inspiriert, in dem der Geistleib Buddhaswirkte?

F ür heute w ollte ich vor a llem schreiben, was sich mir ergab, als ich den herr-lichen Altar von G rünewa ld als Hymnus auf die zwei Iohannesse betrachtete.

Ihr geist iges Zusamm enwirken ist doch für uns 48 von riesiger Bedeu-tung!

Zwei, drei W orte noch zum Schöpfer «unserer» F reiheitsstatue in New Yo rk.Er heißt F rédéric Auguste Bartholdi und w urde hier geboren. Ich stieß auf seinG eburtshaus u nd sah die Ausstellung, die heute dort gezeigt wird. Bartholdiwa r auch in Ägypten und w ollte seine Statue ursprünglich zur Eröffnung des

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Suezkanals dort aufstellen. Er wurde schon verhältnismäßig jung in den

Grand Orient aufgenommen. Interessant! Ich steckte einige Broschüren ein

und w erde manchem bei Gelegenhei t noch nachzugehen suchen. —

Jetzt muß ich schl ießen, da die R écept ion m ir eben meldete , daß mein M iet-

wa gen nu n vor der T üre s tehe. Es i s t je tz t v ier U hr na chm ittags. Ich w i ll noch

heute zum O dil ienberg. Die F ahrt dauert zum G lück nur e twa s über e ine halbeStunde. Ich werd e bald berichten.

Tausend Küsse H arold

Freeman fuhr im einsetzenden Abendverkehr zur Stadt hinaus. Er

steuerte einen eleganten dunkelgrauen Peugeot 306 auf der E 25 in

Richtung Straßburg. Kurz nach Sélestat bog er auf die N 422 nach Ober-nai ab; schließlich wählte er die Straße, die von St-Pierre über Andlau,

dann durch Barr zum Odilienberg hinaufführt.

In Andlau machte unser Reisender kurz halt. Er besichtigte die ro-

manischen Figuren am Fries der Andlauer Abteikirche. Dann suchte er

die Krypta auf, in der man laut dem Führer früher eine Lazarusreliquie

aufbewahrte. Die dem Geschlecht der heiligen Odilie entstammende

Richardis, die Gemahlin Karls des Dicken und Gründerin des Klosters

und der Kirche, soll sie auf einer Palästinareise zum Geschenk bekom-men haben.

In Barr warf Freeman im Vorbeifahren einen raschen Blick auf das

schöne Renaissancerathaus, hielt am Stadtausgang kurz an und be-

trachtete ein rund hundert Jahre altes Haus.

Eine Viertelstunde später parkte er vor dem heutigen Odilienkloster

und -hospiz; 763 Meter über Meer. Durch den Torbogen des Hauptge-

bäudes trat er in den langgestreckten Innenhof, in dessen Längsachse

eine Reihe großer alter Linden steht. Eine runde schwarze Holzstele er-

innert an den Polenpapst: Johannes Paul II. weilte im Oktober 1988

nach einem Aufenthalt in Straßburg hier auf dem Odilienberg, wo er

die Schutzheilige des Elsaß dazu aufrief, «über das elsässische Volk zu

wachen».

Zur rechten Seite öffnet sich der Innenhof nach Südosten hin auf

einen Bergrücken hinaus, über dessen Bäume noch ein dünnes Schnee-

kleid ausgebreitet lag. Freeman sog die frische Höhenluft mehrmals

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kräftig in sich ein und suchte dann im Inneren der Hauptgebäude die

Kreuzkapelle auf. In dem von einem Kreuzrippengewölbe abgeschlos-

senen, fast quadratischen Innenraum steht das vielleicht schönste Zeug-

nis aus dem Mittelalter — die schwere Mittelsäule, auf halber Höhe ka-

pitellartig von einem Flechtwerkornament und Eckköpfen umgeben.

Vier gekreuzte Doppelhände, wie aus dem Kapellenboden wachsend,

halten mit vereinter Kraft den Basiswulst der Säule auf dem Boden fest.

Gleich daneben steht ein Sarkophag aus Stein, in dem einst Eticho,

der Vater von Odilie, gelegen haben soll. Durch eine niedere Tür ge-

langte Freeman in die Odilienkapelle. Sie ist laut dem Führer Johannes

dem Täufer geweiht. Hinter einer Gitteröffnung ist der Sarkophag der

heiligen Odilie sichtbar.

Freeman ging dann auf dem schmalen Steinweg um das Klosterzur Terrasse mit dem Panoramablick. Die Ebene des Rheines: tief, tief

unten. Sie dehnt sich im Nordosten und im Osten bis nach Straßburg

und nach Offenburg. War dort nicht noch die Turmspitze des Straß-

burger Münsters im letzten Sonnenlicht ganz schwach zu sehen? Nach

Westen hin steht im Kontrast zur scheinbar unbegrenzten Ebene Berg-

zug hinter Bergzug, nun bereits im Schatten liegend. Freeman ruhte

unter einer alten Linde am äußersten Terrassenrand, als die Sonne

während eines ausgedehnten Farbenspiels hinter einem Bergrücken

versank.

Als er wenig später an der Réception erfuhr, daß noch ein Einzel-

zimmer mit Fernblick zu sehr mäßigem Tarif zu haben sei, entschied er

kurzerhand, die Nacht hier oben zu verbringen. Er hatte Glück: auch

ein kleines Abendbrot wurde unserem distinguierten «pélerin», wofür

man ihn zu halten schien, gerade noch serviert. Auf dem Weg zum Eß-

saal passierte er die leider stark beschädigte Reliefstele, die Eticho undseine Tochter zeigt, im Augenblick, als sie von ihrem Vater die Schen-

kungsurkunde für das von ihr hier angelegte Kloster überreicht be-

kommt. Freeman sank vor dieser Stele, die er schon vom letzten Leben

kannte, in ein tiefes Sinnen.

Die Bedienung mußte ihn zum dritten Mal ansprechen, bis er be-

griff, daß das Essen schon bereitstand.

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Nach dem Abendesse n begab sich Freem an auf sein Pilgerzim m er. Ergenoß die Aussicht aus dem mittelgroßen Fenster. Draußen war der

volle Mond heraufgezogen. Dann meditierte er sehr lange und sehr

konzentriert. Als im ganzen Haus kein einziges G eräusch m eh r zu ver-nehm en war , schr ieb er nach Chicago:

M o n t Ste-O dile , 4 .2 . 199 8, 22 UhrFiona!

Nun bin ich also hier auf dem O dilienberg! Wie and ers alles als das letzte M al,

als ich zum ersten M ale hier war. Dam als machte ich nur einen zwei-, drei-stündigen Besu ch; jetzt verbringe ich hier oben au ch die Nach t. D am alsforschte ich in Dokumenten und A rchiven nach dem Leben der O dilie, aus de-

ren w eitverzweigtem G ralsgeschlecht ja fast alle europä ischen Herrscherhäu-ser des zw eiten nachchristlichen Jahrtausends abgeleitet werden können. Da-mals forschte ich mit Sinnesm itteln. Heu te, Fiona, ist aus jener F orschungG eistesschau gew orden. Ich erlebe jetzt am eigenen S eelenleib, wie historisch-symptomatologische Erkenntnisarbeit in dem einen Leben im nächsten Lebendann zur G eistesschau gesteigert wird. D ies die Grundstimmun g, die michauf der ganzen F ahrt von C olmar bis hierher begleitet hat. Ganz andere A r-

chive öffnen sich mir hier — so weit wie kaum jemals zuvor! — als jene, diedurch M enschenhand verschließbar sind und um die so viele Kämpfe tobtenund no ch toben werden. In diesen unvergänglichen A rchiven ruht die wahreWeltgeschichte, und alle Fable-convenue-Geschichte erscheint hier wie einkurzer Spuk, von dem d ie M enschheit einige Jahrhunderte befallen war! Es istein heiliges Gesetz: Keinem , der mit Wahrheitsernst und W ürde die Erkennt-nis von Vergangenem zu finden ringt, werden jene M ächte, welche über allesM enschentrachten w achen, den Zu tri tt zu den ew igen Archiven wehren, indenen jene große C hronik ruht, aus der auch un ser M eister schöpfte. (WennW olfram von E schenbach , der große G ralspoet des M ittelal ters, von der«Chron ik von Anschau» spricht, dann meint er übrigens auch diese Chronikmit.) Do ch glaube nicht, daß mir zu viele Flügel wachsen! F ür diese ewigenAr chive gibt es keine Zutrittsgarantie, gewisserm aßen ein für allemal. Dennum die Pforten, die zum W eltgedächtnis-Hause führen, zu p assieren, bedarf esvor den T ürhütern immer wieder des «Bew eises» hoher geistiger und auch mo -

ralischer Errungenschaften. Hier wird von F all zu F all entschieden, ob einer

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dieses «Maison d'Anschau» selbständig betreten darf. Hier hilft kein Diplo-matenpa ß, den auch ein durch U nmoralität an Geist Verminderter oder eindurch D ummh eit unmoralisch W erdender benutzen kann ... Stark erlebe ichim gegenwärtigen M oment im Zusammen hange mit den unvergänglichenArchiven diese wun derbare gegenseitige Verschränkung von M enschenstre-ben, geistigem Gesetz und der Notwendigkeit von höherer Bew illigung für je-den Zugang zu gewissen Geistbereichen. —

Dies also war die Grundstimmung auf meiner Fahrt hierher.

Doch jetzt der Reihe nach. Ich fuhr in einem hübschen M ietauto zuerst nachAndlau. Früher hat man Lazarus-Reliquien in der Krypta der Abteikirche ver-wahrt. Davon ist heute in den Führern keine Rede mehr. — Ich bewunderte er-

neut den herrlichen F igurenfries an der Au ßenwa nd der K irche (im Nordenund im Westen). Er besteht aus einer Reihe wirklicher und Fa bel-Wesen. Zuersteren zählt auch ein Kamel. Auf dessen Rücken kam im 9. Jahrhundert eineGralsreliquie an den F uß des O dilienberges. Es war ein Kreuz mit einer ein-gelassenen Blutsreliquie (ein Glasbehälter mit dem Blute Christi), wie wir ausder Legende von Hugo von Tours auch äußerlich bestätigt finden. Durch dieseBlutsreliquie und d en Ritter Hugo drang die G ralsströmung in die O dilien-strömung ein. Dem B ildhauer von Andlau schwebten diese Tatsachen vor Au-gen, als er sein herrliches Kamel gestaltete.

Neben dem P ortalbogen betrachtete ich einen Löwen, dessen R achen Sim-son m it einem sieghaft festen G riff geöffnet hält. Ich dachte a n den «LöwenWa terloos», den kein Simson zu beherrschen wußte und der Europa so vielUnheil brachte. Ich schaute manchen edlen A ndlauer im Ge iste sich herunter-neigen, vor allem schaute ich Richardis, die Gründerin der Klosterkirche And-laus, die wie Hugo von Tours durch das T or der schmerzhaften Verleumdung

zur Geisterweckung schritt. Ich spürte stark den alten Geist des großen Pap-stes Nikolaus, der Europa zu begrenzen hatte. Und immer w ieder mischte sichdas Bild von Nantjoff ein, Fiona. —

Dann fuhr ich über Barr hinauf zum Berg. Ich wollte noch vor U ntergang derSonne oben sein. Am D orfausgang von Barr machte ich noch ganz kurz haltund betrachtete das Hau s, in welchem unser M eister mehrmals G ast vonEdouard Schuré war, der vor über hundert Jahren seine Großen Eingeweih-

te n schrieb.

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Als ich weiterfuhr, sah ich innerlich, wie sich die beiden M änner m it demt ie fsten E rnst über V olks- und M enschheitsangelegenheiten unterhielten.Auch d ie geistesstarke Frau des M eisters war dabei, und hier in Barr war es,F iona, daß er sich dazu entschloß, den Schleier, welcher über seinem weis-heitsvoll von seinen M eistern mitgelenkten Leben lag, ein klein wenig zu lüf-

ten. Die F reunde st iegen auch zum Berg hinauf und sprachen über unsereO dilie. Was so gesprochen w urde, ist ein Teil der Ätheratmo sphäre diesesBergs geworden und aus ihr ablesbar, als stünde es geschrieben.

Endlich war ich oben. Betrat den Innenhof der A nlage. Und erlebte einengroßen S chock. Eine hölzerne Geden ktafel erinnert nämlich an den P olen-papst, der 198 8, nach seinem Au fenthalt in Straßburg (wo er im Europaratund dann im B au von Steinbach war) und in Andlau (!) auch noch den O di-lienberg entweihte! Welch weltgeschichtliche G roteske! Hier wirkte — noch im

siebenten Jahrhundert — jene Individualität, die dann im neun ten als PapstNikolaus darum bemüh t war, Euro pa seine künft ige G estal t zu geben. Inihrem M oltkeleben stand und rang sie später in den F olgen der von ihr ja mit-verursachten O st— West-Spaltung des Abendlandes.

Du w eißt, wie er dank seiner Ga ttin auch den A nschluß an die G eisteslehreunseres M eisters fand und no ch im Leben zwischen Sinneswelt und G eistes-welt ein moderner Brückenbaue r wurde. Und m odern will sagen, aus der eig-

nen Individualität heraus, was heute jedem M enschen guten W illens ohne gei-st ige B evormund ung erreichbar ist. Nach seinem To de tei lte er einmal ingroßer Sc hlichtheit mit, daß h eute alle M enschen, jeder einzelne für sich, sol-che Brückenba uer werden sollen, und er benutzte dabei (durch den M und desM eisters) ausdrücklich das Wort «pontifices». «Pontifices» ist die M ehrzahlvon «pontifex», was der gebräuchliche lat. Ausdruck für den P apst von R omgeworden war. Von «pontifices» zu sprechen h eißt das alte Papstprinzip insG rab zu tragen. Denn dieses kennt nur jeweils einen einzelnen erwählten

«pontifex», der allen andern M enschen gegenü ber eine Vorzugsstellung in-nehat, dem G eiste näher steht und dem die anderen vertrauen und gehorchen

sollen. Vom G esichtspunkt alten Pap sttums au s gesehen, ist ein Re den von«pontifices» (statt «pontifex») die allerschlimmste K etzerei. Den n es bedeutetja das G eistes-M ündigwerden jedes einzelnen! U nd w enn dies noch durcheinen M ann geschieht , der früher selber Papst gewesen w ar, so l iegt dasungeheuere F aktum vor, daß sich das alte Papsttum in und du rch sich selber

völlig überw unden hat, allerdings zunächst natürlich nur in seinem fortge-

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schrittensten V ertreter. Durch dieses eine Wo rt «pontifices», Fiona, h at dieM oltke-Individualität das alte Pa pstprinzip in d ie Vielzahl menschlicher P er-sönlichkeiten aufgelöst. Und wer noch weiter auf der alten Form des Pontifex-

Prinzips besteht, spottet allem wahren M enschheitsfortschritt.

Un d genau d as tut natürlich unser Polenpapst (nebst seinen A nhängern,unter denen sogar solche sind, die gelegentlich auch von den F rüchten unse-res M eisters naschen!). So stößt hier oben ein Vertreter des schon längst un-zeitgemäß gewordenen Ponti fex-Prinzips mit dem Ü berwinder ebendiesesüberalteten Prinzips aufs heftigste zusamm en.

Ach, w enn die M enschen nur m it Geistesohren solche Geisteskollisionenhören könnten!

Stelle D ir im G eiste vor, die M oltke-Individualität w ürde in d er jetzigen

Verkörperung, die ja ha uptsächlich im O sten spielt, eines Ta ges diesen O rt be-suchen — und erleben müssen, wie das, was er schon lange überwunden hatund w as einst zeitgemäß un d richtig wa r, gerade hier «erneuert» wird, dasheißt ganz un verwa ndelt fortbestehen w ill ...

Doch, ich weiß natürlich, daß der G eist von Ahriman u.a. gerade dadurch ge-gen allen Geistesfortschritt in der M enschheit wirkt, daß er seine Werkzeugeund Diener da zu treibt, Geistes-Erden-O rte, an denen einstmals viel Bedeuten-

des geschah, mit der lähmenden Substanz von alter Geistigkeit zu überziehen.Diesem Z wecke dienen solche Papstbesuche. Der P olenpapst ist ein ganz

besonders gutes Werkzeug für das A hriman-Bestreben. Seine Spuren findenwir in der (später «chr is tl ich» gewordenen) M oschee von C ôrdoba (w ieJacque s mir sagte), wir finden sie in C omp ostela oder auch in C anterbury.Und nun ist also auch die Wirkensstätte des großen Nikolaus und der O diliesolcherart entweiht! Doch w er das einmal we iß, braucht sich nicht beirren zulassen. Der Blick muß eben tiefer dringen, unter diese Ah rimanglasur. Dan n

ist das Wesen tliche imm er noch zu finden ...Ich stand dann vor dem Sarkophag von Eticho, dem Vater der O dilie, der

später als der schlechte Ratgeber von Nikolaus erschien. Es gab auch einenguten Ratgeber des P apstes. Das w ar A nastasius B ibliothecarius. Ihm ver-danken wir — rein äußerlich gesehen — die Kenntnis von den Vorgängen aufdem K onzil von Ko nstantinopel von 86 9, auf dem man ja zugunsten des an ei-nen au serwäh lten einzelnen gebun denen P onti fex-Prinzips dem R est derMenschen das individuelle Geistprinzip verdunkelte. Anastasius kehrte dann

als Gattin M oltkes wieder und w urde W ächterin der selbst in F insternis ge-

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stellten M oltke-Seele. Eticho dagegen w urde wiederum d er große O pponentder M oltke-Seele. Er war K aiser Wilhelm (II.).

Als W ilhelm führte er die deutsche P olitik nach de r geistig inhaltslosenReichsgründung von 18 70 auf den absoluten Nullpunkt. (Was nachher mitdem Hitlerismus kam , war ein Sinken un ter diesen Nullpunkt, in eine A nti-

Politik, in w elcher nur noch die D ämonen walteten.) Daß Eticho als böser Rat-geber und d ann als K aiser Wilhelm wirkte, zeigt ganz klar, daß seine H in-wen dung zum C hristentum, von d er ja die Legende spricht, nicht t iefer Artgewesen ist. Bemerkensw ert, daß Eticho das Elsaß im Jahre 666 als erblichesHerzogtum empfing.

Das G ewölbe dieser Kreuzkapelle, in der der Etichosarg steht, wird von ei-ner wu nderbaren M ittelsäule abgestützt. Die Basis dieser Säule wird von vier

Pa aren überkreuzter Hände au f dem Bo den festgehalten. D ieser An blickwurde m ir zum Sinnbild: so wird hier oben der O dilien- und der wahre Euro-pagedanke durch die Hä nde U nsichtbarer für die Zukunft festgehalten — dieganz bigott-katholische A hrimang lasur wird diese Händ e nicht von dieserM ittelsäule fortbekommen ...

Was meine ich mit dem O dilien- und Europagedanken? Ich w ill es gleichbeschreiben, doch folge mir zuerst noch kurz in die angrenzende K apelle. Sieist dem Täufer gew eiht, und sie beherbergt den Sarkophag der H eiligen. (Vor

ihm ließ sich vor zehn Jahren der P olenpapst beim Beten ablichten.) Od iliewurde, w ie Du w eißt, ganz blind geboren; der Vater wollte sie daher gleich tö-ten lassen — «wer ist es, der hier sündigte?» — , doch die M utter Bereswindebrachte sie in aller Heimlichkeit in ein Kloster im Bu rgund. Ein paa r Jahrespäter sucht Erhard, der Bischof von Regensburg, von einem T raumgesicht ge-

leitet, dieses Kloster auf, um das blinde Kind zu taufen. Durch die T aufe wirdO dilie sehend. M it Hilfe ihres jüngeren Brud ers Hugon kehrt sie in das El-ternhaus zurück, doch gegen den W illen ihres Vaters, der den Brud er dafürtotschlug. Od ilie konnte nun mit Wund erkraft den B ruder neu beleben. Dar-auf hieß sie der V ater bleiben. Doch später wollte er sie gegen ihren W illeneinem M ann zum W eibe geben. Da floh sie zu dem anderen O dilienberg, derja bei Arlesheim zu finden ist und den ich no ch besuchen w erde.

Die Hun de der Verfolger machten erst vor einer F elswand h alt, die sich hier

zu ihrem Schu tz auftat und sich hinter ihr sofort verschloß. Nun er st gab derVater al len W iderstand gegen ihren Wil len auf und schenkte ihr den B au-

grund für ein K loster.

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Nun ist es doch ganz aufschlußreich: Wir finden hier den Tä ufer und inAndlau unten einen Lazarus-Bezug! D ie zwei Tohannesse spielen also auch indie O diliensphäre mit herein. Und ha t O dilie nicht mit jedem der Johannesseselbst etwas gemeinsam? Sie sollte ja als Blindgeborene getötet werden und

wurde dann nach ihrer wundersamen Tau fe auferweckt, das heißt im Geiste se-hend (de nn das steht doch in Wahrh eit hinter ihrem P hysisch-Sehend -Wer-den).

Doch nun hinaus auf einen schmalen Felspfad, der die Anlage am O strandüber ein plötzlich abfallendes Felsplateau umführt. Zur linken Hand die Ap-sis der neueren Konventkirche (von deren Dach eine weniger als mittelmäßigeO dilienstatue in das Land blickt), rechts Tal und Wald u nd W eite, die von

Schritt zu Sch ritt noch zun immt. Endlich trittst Du au f die Fe lsterrasse.Rech ts zwei kleinere Ka pellen, daneben alte, in den F els gehauene G räber(vielleicht keltische K ultgräber?). Wiederum ein paa r sehr alte Linden, mitausgehöhltem Stamm , grüngestrichene B änke. Von hier aus geht der Blicknach O sten und Nordosten bis nach O ffenburg und Straßburg! Unter D ir dieweite, weite Ebene (die Oberrheinische Tiefebene). Hier ein Dorffleck, dort einStädtchen, und alles wie von einem zarten Weiß ganz leicht bedeckt — das

Weiß scheint über dieser Ebene zu schweben — , und mit dem zarten Weiß be-gann sich im M omente, als ich oben ankam, ein noch zarteres Sonnenrosa zuvermischen. Von hier aus, F iona, ging die christliche Substanz — die auch vielKeltisches noch in sich trug — ins Abendland h inaus. Von hier aus strahltemächtig der Impuls für Europas Zukunft aus. Daß diese Zukunft eine solchewerde, die im rechten Sinn na ch O sten offen liege, verlangt schon d ie ganzgleichnishafte Lage dieses Bergs. Ist es ein Zufall, daß zu den vielen Königenund F ürsten, die hier oben weilten, auch Ka rl IV. (der Luxemburger) zählt,

der das prä chtige Schloß Karlstein baute, der mit dem Rosenkreuzertum ver-bunden war und den der M eister als den letzten Eingeweihten auf dem Herr-scherthron bezeichnet hat? Ka rl IV. nahm ein Stück des Arms der he iligenO dilie als Reliquie mit nach Prag und verwahrte sie im Veitsdom! So schluger eine Brücke vom O dilienberg ins westslawische Prag, von w elchem ja diesechste nachatlantische Epoche einmal auszugehen hat.

Hier will ich meinen jetzigen Bericht kurz unterbrechen. Ich habe das Ge-fühl, daß in der Nacht noch manches klarer wird. M orgen abend folgt also derzweite Teil aus C olmar.

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Haro ld Freem an m achte wie gewo hnt die Rückschau auf den Tag, wo-bei er die verschiedenen Geschehnisse, ja auch deren Einzelelemente,

in zeitlich um gekeh rter Reihe nfolge vor de m inneren Blick Revue pas-sieren ließ.

In dieser Nacht erlebte er sich fortwährend im Zustand leibfreien

Bewußtseins.Dieser Zustand war ihm an s ich etwas Wo hlbekanntes; öfter t rat er

durch die Übungen des Meditierens auf; von Zeit zu Zeit durchsetzte

er, zumindest phasenweise, Freemans Schlaf. Doch während dieser

Nacht war dieser Zustand langanhaltend und von besonders intensi-

ver Art.Als Freem an lange vor dem M orgengrauen wie neubelebt und voller

Energie ans kleine Fenster trat und den Ort des Sonnenaufganges vonvornh ere in bestim m te, fühlte e r sich reich besch enkt. Er fühlte sich durchdiese Nacht in seinem Streben neu gewe iht, wie nach einem langen Auf-enthalt in einem unsichtbaren T em pel. Und an den Wänden diese s T em -pels ha tte m an ihn vieles lese n lassen . .. Ha ro ld Freem an m editier te, lasund m achte Aufzeichnungen. Draußen war noch finstere Na cht.

Schließlich ging am Horizont der Ebene die Sonne auf, genau am

Punkt, den Freem an vorhe r ins Visier genom m en ha tte .

Nach dem Frühstück schaute sich der amerikanische Besucher vordem Speisesaal die auffallenden Fresken an, die nach den Illustratio-

nen im Hortus D eliciarum von Herrad von Landsberg angefertigt wor-

den waren. Herrad war vielleicht die geistreichste und würdigste der

zah lreich en Ä btissinnen, die a uf die h eilige O dilie folgten, so beh aup-tet jedenfalls die Monographie, die über sie im Souvenirgeschäft zu

haben war. Freeman machte in der kühlen, frischen Morgenluft noch

einen Gang zur «Heidenmauer» und bewunderte die Größe der ge-

ringfügig be ha uene n Steinquade r, die sie bildeten.Eine Stunde später kam en erste Buss e m it T ouristen oder «Pilgern»

an. Harold Freeman setzte sich ans Steuer seines Wagens und fuhr

langsam los. Er ve rließ die Straße, die na ch A ndlau führte, und wähltedie N 130.

Kurz darauf hiel t e r s einen Wagen vo r dem «Strutho f» an. So he ißtdas eh em alige Vernichtungslager , das die deutsche W eh rm acht h ie r e r -

r ich tet ha tte — das e inzige von dieser Art auf dem Bo den Frankreichs .

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Der Struthof liegt nur etwa 15 km vom Odilienberg entfernt und gehört

wie dieser zum nördlichen Hohwaldgebiet, einem Teilstück der Voge-

sen. Zu dieser Morgenstunde befindet er sich — wenigstens zur Win-

terszeit — im Schatten, und da auch noch ein kalter Wind das Tal hin-

aufblies, schlug Freeman, während er den Blick auf das Gelände diesesLagers richtete, den Mantelkragen hoch.

Die in einen Hang gebaute Anlage hat Rechtecksform und wurde

terrassiert; sie ist zweimal von Stacheldraht umgeben, der innere in je-

nen Tagen elektrisch geladen, dazwischen ein Patrouillenpfad. Sieben

Wachtürme entlang dem Draht, wohlerhalten, mit dunklen Fensterlu-

ken, unheimlich und schreckeinflößend. Zwischen den zwei obersten

Baracken ein großer Galgen. Die ganze Anlage sieht aus, als wäre sie

ganz unverändert aus der finsteren Vergangenheit in die Gegenwarthineingestochen worden. In der Nähe des Vernichtungslagers, damals

wohlverborgen, eine Gaskammer.

Heute ist der Struthof ein «Monument historique». Ein großes Stein-

mahnmal, das vor dem Lager aufgerichtet wurde, berichtet von Natio-

nen, Rassen, Zahlen.

Sollte Freeman darauf nachsehen, w ie viele Menschen hier vergast

oder gefoltert worden waren?Harold Freeman zog es vor, das Mahnmal mit den Ziffern aus der

Ferne zu betrachten.

Die Billettkasse öffnete. Freeman kaufte eine Lagerdokumentation.

Auch waren erste Busse angekommen. Ein ernster Führer sammelte die

Angekom m enen. M it leiser , eindringliche r Stim m e fing er zu erzählen an.Freeman stieg in seinen Wagen und fuhr die D 130 zum Odilienberg

zurück. Es gab in dieser Richtung kaum Verkehr. Er fuhr sehr langsam.

Der dunkelgraue Wagen fuhr am Hauptportal des Klosters links vor-

bei, den Berg hinunter, auf der D 109 in Richtung St-Nabor. Er passierte

die Odilienquelle auf der rechten Straßenseite und hielt kurz darauf an

einer Serpentine unterhalb des Hotels St-Jacques an. Von hier aus wan-

derte er zwischen Buchen, Pappeln, Linden, die in feierlichem Weiß

den Wanderer zu grüßen schienen, das kleine Tal hinauf, das sich ober-

halb von St-Nabor bis zum Fuß des dicht bewaldeten konkaven Berges

zieht, von dessen Felsvorsprung die «Hohenburg» — das ursprüngliche

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Kloster der Odilie — ernst herunterblickt. Hier unten gründete Odilie

bald ein zweites Kloster, die Abtei Niedermünster, für Kranke und Ge-

brechliche. Freeman wanderte zu den Ruinen, die nun in der frühen

Mittagssonne lagen. Er genoß die Stille, die hier herrschte. Keine Auto-

busse weit und breit, kein einziger Tourist.

Den letzten Halt auf dieser Exkursion machte Harold Freeman eine

Weile später am unscheinbaren Friedhofseingang von St-Nabor. Mit

leichten, raschen Schritten ging er auf das niedrige Kapellchen zu und

schaute durch ein Eisengitter auf ein Gemälde von geringer Höhe,

doch verhältnismäßig großer Breite, das sich unterhalb der einfachen

Altarplatte befindet. Es zeigt links ehrfürchtige Klosterfrauen, in der

Mitte ein Kamel, mit einem Kreuz beladen, rechts fünf Ritter, die ihm

das Geleit zu geben scheinen.

Eine Viertelstunde später stieg Harold Freeman in den Wagen, um

nach Colmar abzufahren. Ein stilles Leuchten schien von seinen ganz

entspannten reifen und doch jugendlichen Zügen auszugehen.

Als er kurz nach sechzehn Uhr an der Réception des Hotels St-Mar-

tin die Wagenpapiere zurückgab, bedankte sich dieselbe Dame, die den

Mietwagen für ihn besorgt hatte, mit einem Lächeln, das unserem Ho-

telgast ganz besonders freundlich vorkam.

Colmar, 5. Februar 1998

Hier folgt also der zweite Teil des «O dilien-Eticho-Berichtes». Ich sage ganzbewu ßt O dilie-Eticho, denn der w eitere Verlauf der Reise zu der wichtigenM ysterienstätte stand im Zeichen der Licht— F insternis-Polarität, die dieseNamen repräsentativ bezeichnen. —

Ich verbrachte fast die ganze Nacht mit Bew ußtsein außerhalb des Leibes.Ich schaute die «Sonne um M itternacht», die mir im Astrallicht eine Tempel-wan d beleuchtete, auf der ich u. a. Folgende s zu lesen aufgefordert wurde :«Jetzt rechnen auf Erden die ahrimanischen Gewalten; doch den Rechnungs-abschluß werden nach langer Zeit andere Geister machen. — Bereitet euch fürdas Jahrhundertende vor. — In der O dilienströmung war auch viel Finsternis.Die muß noch ganz von Licht durchleuchtet werden .» Diese Worte gaben mir

für alles F olgende die Richtung.

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Sie sind von un serer großen M oltke-Seele, die so tief mit dem O dilienbergverbunden ist, in das W eltgedächtnis eingegraben worden . Ich habe wörtlichaufgeschrieben, was ich nachts im G eiste las.* — So habe ich die H eiligkeit derNach t erlebt und war auch in der Nach t so wissend m it dem «So nnenlauf»

verbunden, daß ich eine Stunde vor dem Erden-Sonnenaufgang ganz genauam Ho rizont den Pu nkt bezeichnen konnte, an welchem sie erscheinen mußte.Und genau an diesem Pun kte, F iona, ist sie dann erschienen!

Ich frühstückte, von stillen Klosterschwestern — heute ohne ihre Tracht —sehr aufmerksam bedient. Dann sah ich mir ein F resko aus dem Hortus Deli-ciarum an, einer herrlichen Zusam menfassung de s mittelalterlichen W issens,das noch im 12. Jahrhundert lebte. Herrad, die Verfasserin, stand u.a. auch zuC hartres in Beziehung! Schon rein äuß erlich ist das belegt. Ähnlich wie Bru -

netto Latini, der große Lehrer D antes, wurde sie vom C hartreslicht erfaßt.Da nn schaute ich ein Stück der «Heidenm auer» an, für die ich letztes M al

nur w enig Interesse hatte. Sie besteht aus großen Q uadern, stamm t aus derM egalithzeit, war ursprün glich fast drei M eter hoch, ist zwei M eter breit undüber zehn Kilometer lang. Diese Mauer hält bis heute wie ein geistiger Magnetdie alte G eistigkeit des O rtes an den B erg gebunden.

G egen neun U hr hielt ich meinen Wagen vor dem «Struthof» an. Und dam itkomme ich zum «Nachtpol» meines jetzigen B esuches. Der «Struthof» war eindeutsches K onzentrationslager. Das einzige, das jemals auf französischem Ter-

rain errichtet worden war. 10 km Luftlinie vom O dilienort entfernt, im glei-chen B erggebiet wie dieser liegend.

D er Struthof wa r in erster Linie ein V ernichtungslager für poli t ische«Vergehen». Hier starben Ru ssen, Ungarn, Juden und Zigeuner und vieleM itglieder der R ésistance. Auf letztere bezieht sich eine Tafel mit der Inschrift:

«A la gloire des résistants F rança is exécutés ou disparus dans les prisonsNazies.»**

Do ch wurden hier auch m edizinische «Versuche» durchgeführt, an 90 Jü-dinnen zum Be ispiel , welche ma n zu diesem Zweck aus A uschwitz komm en

* Es wird wohl eine der Post-mortem-Äußerungen Moltkes sein. Vielleicht sind

diese Aufzeichnungen in der Zwischenzeit veröffentlicht? Bitte prüfe für michnach.

** Du siehst, wie selbst an solche r Stätte das W ort «gloire» verwe ndet wird!

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ließ und die man nach erfolgtem Experiment in die Gaskammer des Struthofsschickte. Die Leichen w urden da nn im Anatomischen Institut von Straßburgwissenschaftlich «ausverwertet».

Bald kamen auch hier Busse an, eine F ührung wurde angeboten. Sie warsehr ernst und würdig und zeigte doch, wie hilflos noch die M enschen des fast

Und enkbaren zu gedenken suchen . Obw ohl die «Hilfe» ja schon längst für je-dermann verfügbar ist: in F orm der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis desDäm onenwirkens. Denn nicht Menschen-Iche waren hier am Werk, sonderndurch die Menschen Heere von Dämonen. Gerade, daß die M enschen heutenoch so wen ig von Dämon enmäch ten wissen wollen, öffnet ihre Seelen diesenM ächten weit!! Und daß so viele Deutsche sich dem Geisteswissen, das inihrer M itte erstmalig erblühte, hartherzig und stur verschlossen, w ar ihre

eigentliche, tiefe «Schuld». Alles übrige war F olge dieser Geistes-Trägheit.Erkenntnis des D ämonenw irkens ist das eine, das an solche O rte hingetra-gen werden muß.

Das an dere ist die leuchtende und feurige Wahrh eit von Reinkarnationund Karma.

Das eine kann da zu verhelfen, die aus Abgrunds-Finsternis geborene Ver-gangenh eit allmählich zu verstehen. Die andere Erken ntnis richtet unsernBlick auf künftige Entwicklungen, auf das Unvernichtbare im M enschen, das

— allen irdischen Vernichtungslagern unerreichbar — in immer neuen Erden-leben vom Sieg des Lebens und des Geistes kündet ...

Diese zwei Erkenntnispfeiler müssen hingetragen werden a n die O rte des«Vernichtens»: Das D ämonen-Wissen, als ein «Vorhof» aller Geist-Erkennt-nis; und die Wah rheit von den wiederholten Erdenleben. Dann können einstan solchen O rten wirkliche, Vergangenh eit und Zukun ft voll umspannend eErkenntnis-M ahnfeiern gehalten werden.

O hne diese G runderkenntnisse gleitet alles menschliche Beden ken des fastUndenkbaren doch n ur allzuleicht in sehr gefährliche oder wenigstens in un-fruchtbare Sphären ab. Fehlt die Dämon en-Schau, dann kommt es leicht zufeindseliger Stimmung gegen a lles Deu tschtum in der Welt und da mit ebenauch gegen das so tief verborgene wahre D eutschtum, das mit all den Scheuß-lichkeiten rein gar nichts zu schaffen hat. Diese Scheußlichkeiten müssen viel-mehr als Bew eis dafür genommen w erden, wie weit sich viele Deu tsche allemwahren Deutschtum, oft ohne es zu ahnen, vollkommen entfremdet hatten.

«Wenn d er Deu tsche es versteht», so sagte einst der M eister, «sich zu durch-

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geistigen, dann wird er zum Segen der W elt; versteht er dieses nicht, so wirder zum F luch der Welt.» —

Solche G edanken, F iona, bewegten mich, als ich an dieser Stätte stand. Undsolche G edan ken, wie ich sie soeben ku rz skizzierte, trug ich in den «Struthof»,

trug ich auch nach Bergen B elsen, Ravensbrück, M aidanek und in das scheuß-lichste von allen deutschen Lagern — Auschw itz ... Denn wer eines dieser Lagerwirklich sah, der sah alle O rte der «Vernichtung», auch die der Gegenw art ...

Do ch sieht man eben n icht, wenn m an nicht mit den G edanken schauenkann, die für Geisteswirklichkeiten hinter allem irdischen Gesch ehen sehendmachen können. —

Und nun bedenke, wa s es heißt, daß dieses Lager unweit des O dilienbergesliegt. Es ist die Finsternis, die aus der Sphä re Etichos nachw irkt! 666 e rhielt

E. das Elsaß — im Jahr von Gond ischapur, im Jahr des Tieres aus dem Ab-grund. In diese Finsternis mu ß n un das G eistesl icht getragen w erden, dasO dilienlicht, das in der N achbarsphäre doc h so ungehe uer mä chtig strahlt.

Ich sah schon auf der Fahrt nach C olmar vom Zuge aus die Haute Koe-nigsbourg. Diese Burg w urde vor rund hun dert Jahren Kaiser Wilhelm ange-boten, der sie kaufte und d ann sehr scheuß lich renovierte. So kam d er wieder-geborene Eticho später wiederum zu einer Burg, die sich in der Näh e zu derHo henbo urg befindet (die Eticho O dil ie schenkte) . W ie merkwürdig dasSchicksal manchmal ähn liche M otive wiederholt! Und ist es nicht wahrhaftigeine finstere Linie, die vom Wirken Etichos über den sch lechten Ratgeber von

Nikolaus zu W ilhelm II. führt , der für w ahres D eutschtum vö llig blind w arund d eshalb alle deutsche Politik auf den absoluten Nullpunkt führte. An die-sen finsteren Eticho-Nullpunkt brauchte nur na ch unten a ngeknüpft zu wer-den, um den A bstieg in das Schattendeutschtum zu vollenden* ...

Do ch folge mir nun noch ganz kurz zum Lichtpol meiner Reise, zu O dilie. Ichfuhr nach dem B esuch des Struthofs zum Kloster Niedermünster, das wun -derbar am F uße des O dilienberges liegt, von dem jedoch nur noch ein paarRuinen stehen. Hier hatte O dilie ein zweites Kloster begründet, das vor allemeine sehr bedeutungsvo lle Heilstätte gewesen ist. Noch h eute spürst Du einestarke Strahlung in der Au ra dieses O rtes.

* Warum es sich gerade bei den Deutschen so fatal auswirkt, wenn sie vom Geist

nichts wissen wo llen, darüber ev. aus Basel oder W eim ar m ehr.

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Hierher kam nun zu Beginn des 9. Jahrhunderts auch das schon erwähnteKamel mit jener Blutsreliquie, die Hugo von Tours von K arl dem Groß en zumGeschenk bekommen ha tte, nachdem au f wunderbare Weise ausgekommenwar, daß Hugo schuldlos war und es nur Neider und Verleumder waren, wel-che ihn des Ho chverrats bezichtigt hatten. Ferner kam ein U nbekannter zuO dilie und schenkte ihr drei Samenkörner einer Linde — daher überall die Lin-den, hier unten wie auch oben au f dem Berg. Dies geschah zum Zeichen, daßan dieser Stätte an der wa hren Trinitätsauffassung (Leib, Seele und G eist)festgehalten werden sollte, die ja noch im gleichen Jahrhundert einem sp iritu-ellen A xthieb (869, K onstantinopel) fast vollständig zum O pfer fiel. Ist esübrigens nicht ganz eigenartig: Eticho hä ngt mit 666 zusam men, seine Toch -ter starb im Jahre 720 ; und 72 0 ist genau ein Drittel einer vollständigen Kul-

turepoche (= 2 160 Jahre); sie schließt mit ihrem Tod das erste Drittel der neuenspirituellen Zeitepochen ab, die m it dem Jesusleben angefangen hat.

Wäh rend ich auf einem trockenen Stück Holz saß und meinen B lick in dieseskleine H ochtal schweifen ließ, stand p lötzlich Nantjoff wieder innerlich vormir. Und nun will ich es D ir sagen: er hängt zusammen mit O dilie, wie Etichomit Wilhelm II. und w ie die M oltke-Seele mit einem Bruder der O dilie undspäter mit Papst Nikolaus. Und ich erlebte nun den starken Drang, auch noch

den anderen «O dilienhügel» zu besuchen, der d rüben liegt bei Base l, in derEremitage Arlesheims, von der wir ja auch oft gesprochen haben. —

Bevor ich wieder aufbrach, schaute ich gewissermaßen durch das B erg-massiv hindurch , nochm als zurück zum Struthof. Bilder stiegen in mir auf,von Holocaust-Schicksalen. Die Gestalt von Anne F rank stand — repräsenta-tiv für Millionen — vor meinem Geistesauge. (Vor ein paar Jahren ging ihr Bildja anläßlich der 50-Jahres-Fe iern zum sogenannten Kriegsende erneut durch

alle Welt.) Da wuchs aus ihrer äußerlich vernichteten Gestalt eine Seele ausdem Norden, voll Kraft und Zuversicht, wiederum in weiblicher Gestalt! Wieder lebende Bew eis der Unvern ichtbarkeit des Lebens! Dies alles jedoch erstfast unaussprechlich zart und leise. Du weiß t ja selbst, wie solche Dinge leichtund schnell zerstieben können. Doch ist es mir ein wichtiges Erlebnis. Viel-leicht kommt irgendwa nn ein Wink von a ußen , der mir Anlaß gibt zu weite-rer Erforschung dieses doch so repräsentativen Schicksals. Ich bin dem Geniussehr dankbar, gerade h ier in Niedermünster eine solche Imagination zu finden.

Ich sage finden, denn ich habe ihren Inhalt wahrlich nicht gemacht. So darf ich

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hier an diesem O rt das Heilende der leuchtenden und feurigen Wa hrheit vonden w iederholten Erdenleben neu erleben. Ich kenne nichts, was unser Ich sostark durchleuchtet und durchw ärmt und heilt wie diese Wahrh eit.

~

Zum Sch luß der Rundfahrt besuchte ich den Friedhof von St-Nabor und schautedas G emälde an, w elches im Kapellchen un ter der Altarplatte befestigt ist.

G anz unverän dert , wie vor siebzig Jahren, F iona, als ich es zum erstenM ale sah. Das Kam el mit den fünf Rittern, das Kreuz, in dessen M itte, gleich-

sam intarsiert, die Blutsreliquie, die ich selbst hierhergebracht, bevor ich m ichzum anderen O dilienhügel am Jurafuß begab ...

Hierher hat te ich vor langer Zei t ein G ralsgefäß gebracht — mit neuerG ralsstimmun g im Innern gehe ich hier fort. D ie Spur fand ich in An dlau, inSt-Nabor schloß sich der K reis. Und wenn dieser Kreis die Gralsstimmung be-zeichnet, so ist die Hohenbourg sein G eistzentrum, während Niedermünsterund der Struthof sich wie Lebenspol und Todes pol verhalten, und diese Po lesind in Harmonie zu bringen — wenigstens in der Erkenntnis, und da s istschon viel! M it dieser Gralsstimmu ng, die nun zur Gralsaufgabe wird, ver-lasse ich das schöne C olmar und besuche Basel, und dann Stuttgart.

Tausend Küsse H arold

P. S. (23 Uhr): Ich will noch Sätze von der Moltke-Seele für Dich niederschrei-ben, die mit dem v ergangenen un d künftigen Europa tief zusamm enhänge nund die ich in der N acht auf heute ebenfalls in jener großen «C hronik» las.

«Es oblag Nikolaus, die Ideen zu fassen, welche den O sten von dem W estentrennen sollten. — Am En de des Jahrhunderts wird meine Seele die umgekehrte

Aufgabe zu lösen haben.» Gegen diese heutige Aufgabe der M oltke-Seele undder mit ihr Verbunden en (z.B. Nantjoff!) kämpfen, oft unbewuß t, Rom , Wa-shington und Brüssel. F erner: «M an darf nach O sten nicht bloß mit ökono-mischen Gedan ken denken, man muß so denken, daß der O sten die mitteleu-ropäische G eistigkeit versteht.» Das versteht gerade B rüssel nicht, weil mandort vom G eist nichts wissen will und also auch den mitteleuropäischen G eistnatürlich nicht erfassen kann.

D ann durch d ie M oltke-Seele ein Wort von seinem Ratgeber (im 9. Jh.):«Die G eister werden sich von Europa zurückziehen, aber die Europäer werden

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sich später nach ihnen sehnen. O hne die G eister werden die Europäer ihre M a-schinen und ihre Einrichtungen machen. D arin werden sie groß sein. Doch sie

erziehen sich dadu rch in ihrem eigenen Schoß die Westmenschen, die ihnen dieahrima nische K ultur bis zum höch sten Gipfel treiben und d ie sich an ihreStelle setzen.» Solche «W estmenschen», F iona, sind es, welche h eute die sogrundv erkehrte, weil ganz geistentbößte Po litik der Brüsseler EU betreiben!(Nantjoff hat in Brüssel wiederum von diesen «Westmenschen» gesprochen !)

Dan n, ganz klar und h errlich leuchtend: «Europa m ußte sein altes Kleidausziehen. Nun w and elt es eine Weile nackt durch d ie Entwickelung derM enschheit.» Die K leider, welche Brüssel für Europa schneidert, sind nichtsals des Kaisers «neue Kleider»! Sie werfen über das noch imm er nackte eu-ropäische G ebiet höchstens ein paar dünne S chleier. Verschleierung der Nackt-

heit — zu mehr ist es noch nicht gekomm en.Dann : «Europa lechzt nach dem G eist und vertreibt doch allen G eist. Es

herrscht Furcht vor dem G eist.» Dies ist das europäische Dilemma, F iona. Ah-

riman will Europa durch die F urchtwaffe im Ge istlosen erhalten.Schließlich: «Europas G edanken suchen d iese Orte.» (G emeint sind der

Elsässer und der Arlesheimer O dilienberg.) Europ a kann trotz al lem n urdurch d en konkreten G eist wirkl ich neu «gekleidet» w erden. Diese neuenKleider, sie bestehen aus d em w ahren Individualismus, aus der Erkenntnisder sozialen D reigliederung, aus der W ahrhei t von Reinkarnat ion undKarm a usw., kurz aus den ernstgenommenen G edanken der doch schon vor-hand enen G eist-Erkenntnis. Alles Nichteingehen a uf konkrete Geistigkeit istlediglich ein we iteres Verde cken von E urop as Na cktheit . .. D es Ka isers«neue» Kleider — Du wirst Dich doch des gleichnamigen M ärchens Ander-sens entsinnen? —

Hier noch ein Schem a von w ichtigen Tendenzen im heutigen Europa. In W irk-lichkeit vermischt sich alles, die Ten denzen zeigen sich nie rein für sich (weilsie sich ja gegenseitig durchau s auch in Schran ken halten), doch sind sie etwas

ganz Reales:1. F ür B rüssel ist Europa eine W irtschaftsfrage. Sein Eintreten u.a. für die

fürchterliche Gentech nologie (eine Karikatur der guten Seiten des eugeneti-schen O kkultismu s!) ist von h ier aus zu begreifen, und h ier liegt auch d erwahre G rund, weshalb man solchen Wert legt auf die Schweiz — einen K ern-

herd dieser fürchterlichen W issenschaftstendenz. Davon aus B asel mehr.

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2.Straßburg möchte seinem marianischen Europa auch noch etwas Geistbeimischen; doch kennt es nur den ahrima nisierten Geist der Kirche. Undschwä rmt für C omp ostela ...

3.Vom O dilienberg im Elsaß strahlte einst Europas wa hres Licht für das

2. nachchristliche Jahrtausend nach dem O sten.4.Vom O dilienberg bei Arlesheim strahlt das Licht für das Europa d es nun

folgenden Jahrtausends. Doch w ird es kaum gesehen und nur von w enigen be-

achtet. — So weit ganz aphoristisch meine «Europa-O diliengedanken». Bitteprüfe auch die D ir jetzt mitgeteilten M oltkeworte nach, wen n möglich.

Zum Sch luß noch etwas Heiteres:

P.S. Als ich gestern wegfuhr, hatte ich nicht vor, auf der «Hohen bourg» auchzu übernachten. Ich meldete mich da her hier im St-M artin nicht ab. Als ichheute nachm ittag an der Réception die W agenschlüssel abgab, lächelte dasF räulein, das den M ietwagen bestellt hatte, als ob sie ein Gehe imnis mit mirteilte. Sie glaubte woh l zu wissen, ich hätte irgendwo die Nacht d urchzecht,bei «Wein, Weib und Gesang» — und schien mein kleines Abenteuer nicht nursehr gut zu verstehen, sondern auch kom plizenhaft zu billigen!

Ich lächelte charmant zurück. Es ist doch schön, w enn man solche Zeichenmitmenschlicher Akzeptanz bekommt, besonders wenn sie «Sünden» gelten,die man nicht begangen hat ...

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Basel

Nach ein paar Tagen stiller Arbeit im gemütlichen Hotel von Colmar

wollte Harold Freeman nun nach Basel weiter. Nachts hatte es ge-

schneit. Doch am Morgen seiner Abfahrt schien die Sonne wieder. Es

war der 12. Februar. — Freeman schaute durch das Abteilfenster seines

Waggons in die weite Ebene des Rheins, die in ihrem sanften, gleich-

mäßigen Weiß wie von feierlichen und geheimnisvoll besänftigenden

Vorgängen zu träumen schien.

Am Basler Bahnhof entschloß sich unser Reisender, trotz des Kof-

fers und der umfangreichen Aktentasche, mit der Straßenbahn zum

Hotel zu fahren. Er nahm die Nummer 8 und fuhr bis zu der Haltestelle

«Schifflände». Ein erster Blick auf den altbekannten Rhein, der an die-ser Stelle von der ältesten der Basler Brücken überspannt wird. Nach

ein paar Schritten, den Blumenrain hinauf, stand Freeman vor der cre-

mefarbenen Steinfassade des Hotels «Drei Könige».

«Willkommen in der Rheinstadt, Monsieur Freeman! Sie wurden

schon erwartet!» Mit diesen Worten kam ihm aus der großen Drehtür

ein Portier entgegen und nahm dem Neuankömmling mit geübtem

Griff das Gepäck ab.

«Mr. Freeman, aus New York», wiederholte ein bejahrter Herr mit

dunkler Brille, tiefem Baß und stark ergrautem Haar. «Hier, bitte, Mr.

Freeman, füllen Sie uns doch noch bitte dieses Formular hier aus.»

Monsieur De Pury, wie sich nun der Chef de Réception Freeman ge-

genüber selbst vorstellte, warf einen kurzen Blick auf Freemans Diplo-

matenpaß, senkte dann die Stimme und sagte fast entschuldigend:

«Sie verstehen sicher, daß wir durch die Umstände gezwungen

sind, außerordentliche Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.»Freeman füllte das ihm vorgelegte «Sicherheitspapier» aus und

wurde dann in einem Nebenraum wie an den internationalen Flughä-

fen von Beamten in Zivil begutachtet und kontrolliert. Kurz darauf be-

dankte er sich auf das freundlichste bei De Pury und ließ sich auf sein

Zimmer führen. Es lag im dritten Stock, ging auf den Rhein hinaus und

hatte einen kleinen Balkon.

Nachdem der wendige Hoteljunge die Außentür des Zimmers leise

hinter sich geschlossen hatte, trat Freeman trotz der kühlen Witterung

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im Mantel auf den zierlichen Balkon hinaus, den er schon auf dem Ho-

telprospekt von Onkel Alfred eingehend bewundert hatte. Er zündete

sich einen Zigarillo an, stützte seine Ellbogen auf das schmiedeeiserne

Geländer und ließ den Blick ganz langsam über Rhein und Dächer in

die Ferne schweifen. Ein Klingeln riß ihn aus dem wachen Träumen. Eswar Herr De Pury:

«Tausendmal Verzeihung, Mr. Freeman. Ich habe ganz vergessen,

Ihnen mitzuteilen, daß Briefe und ein Päckchen für Sie angekommen

waren ... Ich lasse alles unverzüglich auf Ihr Zimmer bringen. Tau-

sendmal Verzeihung, Mr. Freeman!»

Freeman legte auf, als sein Blick gerade vis-à-vis des Telefons auf

eine kleine Messing-Inschriftstafel fiel, die oberhalb des Louis-XVI-

Schreibtischs an der Wand befestigt war. Er trat näher und las mitwachsendem Erstaunen: «Hier in diesem Raum logierte zwischen

dem 22. August und dem 5. September 1897 Theodor Herzl, der Be-

gründer des Zionismus, während des von ihm nach Basel einberufe-

nen Ersten Zionistenkongresses, der im Großen Saal des Stadtcasinos

stattfand. — An diesem kleinen Sekretär schrieb er die Eröffnungs-

rede.»

Harold Freeman entfuhr ein Ausruf der Verwunderung.«Sie wünschen, Herr?» fragte der Hoteljunge, dessen Eintritt Free-

man ganz entgangen war.

«Nichts, danke, nichts! Nein, wirklich nichts! Legen Sie die Post

dort auf den Tisch. Und sehen Sie die Zehnernote neben jener Vase lie-

gen? Sie ist für Sie, ja, doch für Sie! Keine Ursache! Auf Wiedersehen —Ach, wenn es möglich wäre: ein kleines Kännchen Schwarztee, bitte!»

Bevor sich Freeman seiner Post zuwandte, verschaffte er sich einen

Einblick in die Geschichte dieses Hauses. Die Hotelbroschüre offen-

barte: Viele Herrscher, Staatsmänner, Erfinder, Wissenschaftler, Künst-

ler, Dichter und so weiter waren hier seit der Hotelgründung im Jahre

1026 (!) ein- und ausgegangen. Staufer, Habsburger, Napoleon, Vol-

taire, Metternich, Königin Viktoria, der deutsche Kaiser Wilhelm II.,

Erzherzog Eugen, der hier neunzehn Jahre im Exil verbrachte und den

die hiesige Bevölkerung vertraulich «Erzi» nannte.

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Freeman machte eine kurze «Geistesübung» und wandte sich dann

seinen Briefen zu. Je ein Brief von Fiona, Jacques und Onkel Alfred.

Und ein Päckche n, desse n Art und Um fang ein kleines Buch ve rm utenließ, ebe nfalls vo n Fiona.

«Was dem Herzen stets am nächsten steht, zuletzt», dachte unser

Re isender und öffnete den Br ief vo n Onkel Alfred. Er las:

N.Y., 2. 2. 98M ein lieber Harold!

Du wirst gewiß verstehen, wenn ich Dir von neuem ein paar Zeilen

schre ibe. Ich will es D ir ganz offen sagen: De in Bericht a us Brüsse l ist

so knapp und pessim istisch ausgefallen, daß ich fürchte, De ine Z eit seimehr mit anderem erfüllt als mit den Dingen, von denen ich bis anhin

glaubte, daß sie auch im Zentrum Deines Interesses stünden. Für uns

h ier bist Du nicht nur abgere ist, sondern re gelrecht versch ollen! WillstDu Deine vielverspreche nde Karriere a n den Nagel hängen?! Ge denkstDu eigentlich noch Diplomat zu werden?

Ich kann ja gut verstehen, daß die Freiheitsluft Europas Deinem

Ge ist ganz neue Antriebe verleiht, doch denke auch a n Deine Vo rsätze

so wie an die V erspreche n, die Du uns gegeben h ast . Auch De ine M ut-ter ist beso rgt; sie ha t seit Deinem We ggang nichts von D ir gehört! Ichhoffe, daß Du wenigstens gelegentlich an Fiona schreibst! Du kennst

mein Naturell — laß bitte wieder von Dir hören — und nicht nur eine

h albe Se ite lang! De in Dich innerlich be gleitende r

Onkel Alfred

... in der schrecklichen Empfindung, seinen Neffen aus dem Auge zu

verlieren ...

Harold Freeman mußte über das ihm wohlbekannte sanfte «Poltern»

seines O nkels läche ln. Doch e r nah m sich vor, ihm wirklich a usführlichzu schreiben und seiner Mutter in Vancouver nicht nur ein Geschenk

zu bringen, sondern schon von hier aus eines abzuschicken.

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Jacques Ro i schrieb aus Nantes:

Nantes, 1. Februar 1998Lieber Freund!

Höre und staune: Es sind nun 33 Jah re h er , seit die «Bone s-Zah l 322»,zu der Du m ir so W ichtiges e röffnet ha st, zur Auslandstelefon-Vorwah lvon Brüssel wurde! Ich wurde kürzlich darauf aufmerksam, als ich

nach Brüssel anrief und mich bei einem Freund erkundigte, der bei

Euro-Telecom arbeitet. Ich finde diese «Kleinigkeit» bedeutend. Wir

wurden ja von unserem Lehrer in das Geheimnis dieses Zyklus einge-

weiht. «Weihnachtsjahr» und «Osterjahr» nannte er den Ausgang und

den Endpunkt eines solchen Zyklus. Im Osterjahr geht auf, was manim We ihnachtsjahre säte. 1998 geh en also für die Brüss eler EU-Zentraleganz besonders üble Bones-Impulse auf — denn ich kann die Sache

nicht für einen Zufall halten. Die Amhursts, Noires und Co. haben

nochmals eine Weile guten Fahrtwind, «gut» natürlich nur für ihreRichtung. Doch nich t für lange Ze it!

Nun will ich Dir die ungleich wichtigere Entdeckung melden, die

ich am selben Tage machte: Ich habe auf der Pariser Welternäh-rungskonfere nz — die äußerst traurig ablief: kein Abstrich auf der Seiteder bekannten Nahrungs-Gen-Giganten — den Vater von «Antinous»

getroffen — und er m ich, will sa gen: Wir ha ben uns so fort erkannt. AmHändedruck war a lles klar. Auch er wa r ja ein alter Sch üler in der K ult-klasse des Meisters. Er ist etwa in Deinen Jahren, stammt aus Mexiko

(Vater Russe, M utter deutschstäm m ige Jüdin). Es is t wunderbar , m einteurer Freund, wie der Kreis der 48 jetzt in die Erscheinung tritt. Wir

sprachen vo n dem großen W erk der drei, in desse n Zeiche n wir drei (er ,Du und ich selbst) damals eng verbunden wurden — eng und unver-

brüchlich. We nn wir 48 bald kom plett se in werden, dann bilden wir eingeistiges Gewicht, das auf die andere Waagschale drücken wird, und

diese s wird weit schwe rer wiegen als das Gew icht der Noires und Am -hursts auf der ganzen We lt. Du weißt, daß ich dies o hne allen Ho chm utsa ge. We r einm al ehrlich unter jenem Ch artresfenster stand, wie wir esbeide taten — wie tut noch die Er innerung daran so wo hl! —, der ha t eingutes Mittel gegen alle Anwandlungen dieser Schwäche. Dies wollte

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ich Dir sagen, damit Du siehst, was sich in Folge unserer Begegnung ab-

zuspielen anfängt. — Ich hatte übrigens in Basel einmal eine Unterre-

dung mit Erzherzog Eugen (im Volk «Erzi» genannt). Er war der Sache

unseres Meisters gegenüber aufgeschlossen, nur bereits zu alt. Es war

im gleichen Hotel, in dem Dich, wie ich hoffe, dieser Brief erreicht.

Meine Gedanken sind daher in Deiner Nähe. Wie freue ich mich schonauf unser Prager Wiedersehen!

In alter Freundschaft

Dein L.-J. R.

Harold Freeman fühlte sich durch diesen Brief von Jacques in einer Art

durchwärmt, wie er es bis dahin nur nach Briefen Fionas kannte. So

war die Reihe nun an ihr! Er öffnete zuerst das kleine Buch-Paket und

zog ein schmales Werk heraus und las: «Sarah Upmark — Die nackte

Wahrheit». Er blätterte und sah sich dann das Photo der Autorin an

und las die Angaben zu ihrem Leben. Dann legte er das Büchlein rasch

zur Seite, wie über eine innere Entdeckung fast leicht erschreckt ...

Fionas liebe, ruhige, regelmäßige Schriftzüge trugen ihn bald auf das

ihm bekannte Meer des inneren Erlebens, auf dem er sich so gerne mitihr traf.

Chicago, 10.2. 1998Harold, Liebster!

Wie geht es Dir in Deiner Raum- und Zeitenreise? Oder hast Du Dei-

nen Sinn nur auf das Ewige gerichtet? Ich träumte kürzlich, daß wir

uns ganz heftig stritten und daß ich mich danach bei meiner besten

Freundin Maud ausweinte und ihr sagte: «Ich finde es so schwierig zu

ertragen, daß er auch ohne mich ganz glücklich leben kann!» Dann

wachte ich mit einem Schlage auf und dachte lange nach. Du siehst

also, wie wenig ich noch gegen Anwandlungen solcher Art gewappnet

bin! Ich glaube nun, in diesem Traum nur das erlebt zu haben, was ich

am Tage bloß wie nebenbei einmal kurz dachte, ohne diesem Denken

meine volle Aufmerksamkeit zuzuwenden, wie uns dies — ich bin wohl

nicht die einzige — ja oft passiert. So kann dann nachts das Fühlen wir-

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ken, welches wir bei dem, was wir am Tage denken, eben meist ver-

schlafen. Was sagst Du selbst dazu? Ich weiß, daß ich in Wirklichkeit

aus meiner Gegenwart heraus ganz anders denke und auch fühle über

uns. Doch manchmal schleicht sich eben altes Fühlen in ein nicht be-

wußt ergriffenes Gedankenleben ein. Wie vielschichtig die Seele ist ...Und das bringt mich auf eine alte Frage: Könntest Du mir nicht einmal

im einzelnen beschreiben, was Du eigentlich beim «Meditieren» tust?

Du weißt, daß es mir selber manchmal schwerfällt. Vielleicht beachte

ich nicht alles recht? Im übrigen: Ich träumte lange, lange nicht mehr

von dem Meister! Ich hoffe, es ist nicht ein schlechtes Zeichen.

Was Du aus Brüssel, Bruselles (!) und aus Colmar schreibst, ist un-

glaublich bewegend, schön und faszinierend für mich. Daß wir beide

uns mit Wiertz befaßten, ist wieder einmal aufschlußreich für die «un-terirdische» Verbindung zwischen unseren Seelen!

Der Isenh eim er Altar — ich ha tte das Ge fühl, an Deiner Seite vor demWerk zu stehen, während ich die Worte las, die Du mir schriebst.

Ähnlich ging es mir mit dem Odilienberg. Und jetzt höre und

staune, Harold! Du ahntest richtig: Die «Moltke-Worte» sind inzwi-

schen alle publiziert. Maud besitzt ein Exemplar! Ich prüfte alle Deine

«Geist-Zitate.» Sie stimmen ausnahmslos!

Ach Harold, was werden wir nicht alles zu besprechen haben! Wir

werden Wochen brauchen!

Ich stieß im übrigen beim Blättern auf eine Emerson-Passage (im

Montaigne-Essay), wo er zwar recht verhüllt und doch ganz deutlich von

der Reinkarnation spricht. Ich werde sie Dir abschreiben und senden.

Zum Schluß noch dieses fast Unglaubliche: Auch ich befaßte mich

in letzter Zeit mit Anne Frank! Maud schenkte mir, wie sie's ja öfter tut,

ein kleines Buch, und zwar die Autobiographie einer mir bis dahin völ-lig unbekannten Schwedin, die u.a. von ihrem Vorleben als Anne Frank

erzählt ... Und da schreibst Du mir zu der gleichen Zeit von Deiner

Anne-Frank-Schauung in Niedermünster! Wenn hier wirklich Wahr-

heit liegt — wie mir mein ungeprüftes Fühlen sagt —, so heißt das doch,

daß heute die Mysterien wirklich «auf der Straße» liegen ... Ich schicke

Dir das Büchlein gleich. Bitte schreibe mir, was Du von dieser Sache

hältst. — Ab übermorgen bin ich fünf, sechs Tage lang in San Francisco.

Ich springe wieder einmal ein. Diesmal Elsa von Brabant im Lohengrin

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— eine m einer Lieblingsrollen. Halte m ir den Da um en. Ich bin dann abdem 14. wieder in Ch icago .

Deine Fiona

P.S. Deine Co lm arschi lderung hat m ich dazu angere gt, wieder einm al

den Nova lis vorzunehm en. Ich schwa nke zwischen den G eistlichen Lie-dern und dem Essay Die C hristenheit und Europa. Beides ha ben wir ja da-mals auf der Reise in das liebe Griechenland gelesen. Die Erinnerung

daran ist jetzt noch warm!

~

Punkt 19 Uhr nahm Harold Freem an in dem Eßsaal des Hotels den ihm

zugewiesenen Platz ein. Er saß allein an einem kleinen Tisch und ge-noß se h r bald ein Fischge richt.Den Ka ffee wo llte er auf der gedeckten Rh einterras se neh m en. Zum

Glück fand sich ein letzter freier T isch. Freem an se tzte sich und bat denKellner um die Bas ler Ta geszeitung.

«Entschuldigen Sie bitte, ist an Ihre m T isch no ch frei?» erkundigtesich kurz darauf ein jüngere r Herr m it blauen Augen, schwa rzem Bartund einem grünen Cut, währe nd er a uf seinen älteren Be gleiter zeigte,

bartlos , blond, m it fein ges chnittenem Ges icht — in einem eleganten An-zug von dunkelgrauer Farbe.

«Bitte sehr, meine Herren», sagte Freeman frisch. «Es geht wohl

nachher ins Theater?»«In die Ope r», korrigierte ihn der Jüngere. «Wir kam en e ine Stunde

früher a ls erwa rtet an. Und so . ..»«... gibt es unerwartet die Gelegenheit zu einem zwanglosen Ge-

spräch mit Unbekannt.» Freeman war in aufgeräumter Stimmung.

«Was werden Sie denn seh en?»«Lohengrin», antwortete der Ältere.«Lohe ngrin! Wie h err lich! M eine Lieblingsoper Wa gners!» Freem an

begann vor Mitfreude zu strahlen.

«Sofern die Inszenierung etwas taugt», bremste ihn der Jüngere.

«M an weiß ja h eute nie. On verra. Das h eißt im Gegenteil: im schlim m -sten Falle wird man ja nicht sehen, sondern bei geschlossenen Augen

eben einzig hören müssen .»

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Der Ältere der beiden lenkte das Gespräch rasch auf ein anderes

Gebiet, indem er sich danach erkundigte, was Freeman, dessen engli-

scher Akzent ihm nicht entgangen war, denn nach Basel führe. Der Ge-

fragte sprach daraufhin von der diplomatischen Berufsarbeit in New

York, von der Überfahrt zu Schiff, vom Aufenthalt in Brüssel und vonseinem Prager Auftrag, eine Konferenz für Weltwirtschaft zu arran-

gieren.

«Und zwar geschieht das unter vollem Einschluß der Idee der Drei-

gegliedertheit sozialer Organismen», präzisierte Freeman, «die Ihnen

ja vielleicht nicht unbekannt sein wird.»

«Ach, Sie sind also mit Anthroposophie vertraut?» fragte nun der

Jüngere mit sichtlicher Verwunderung.

«Das darf ich wohl behaupten», stellte Freeman fest.«Und Sie glauben, daß mit Dreigliederung am Ende des Jahrhun-

derts überhaupt noch was zu retten ist?» gab der Ältere mit großer

Skepsis zu bedenken.

Freeman wurde ernst.

«Unternimmt ein guter Arzt nicht alles, um den Todkranken zu ret-

ten?» fragte er zurück.

«Ach, wissen Sie, es ist doch vor der Katastrophe nichts mehr aus-zurichten», sagte wiederum der Ältere. «Keiner kann mehr in die Spei-

chen greifen, wie schon der Amerikaner ...»

«... Caroll Quigley sagte», setzte Freeman zum Erstaunen der zwei

Freunde fort. Und ernst und zugleich durchaus freundlich fügte er

hinzu: «Doch wer sich solches Denken selbst zu eigen macht, vermin-

dert seine Aufbaukraft und fördert doch in Wahrheit nur gewisse Dun-

kelmächte, nicht wahr, meine Herren?»

«Nun ja, vielleicht kommt doch noch eine Rettung durch die bestenSchüler unseres Lehrers», sagte nun der Jüngere, wie um die Aussage

des Freundes etwas abzumildern, doch ohne auf die Feststellung von

Freeman näher einzugehen. «Diese Schüler sollen ja am Ende des Jahr-

hunderts wieder da sein. Jedenfalls hat einst ihr Lehrer ihnen gegen-

über von einer solchen Möglichkeit gesprochen.»

Der Jüngere blickte etwas fragend Freeman an.

«An welche Schüler denken Sie konkret?» fragte Freeman unbefan-

gen.

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«Nun ja, an Leute wie W. J. Stein, Ita Wegman, D. N. Dunlop,

Ludwig Polzer-Hoditz und noch viele, viele andere», gab der Jüngere

zur Antwort. «Das waren immerhin bedeutende Persönlichkeiten in

dem nahen Umkreis ihres Lehrers. Zum Beispiel existiert die WorldPower Conference von Dunlop ja noch heute fort! Und die Arlesheimer

Klinik ... Und die weltweiten politischen Bemühungen von Polzer,Stein und ...»

«Alles schön und recht», unterbrach der Ältere recht brüsk, «doch

wer sagt uns denn, daß das auch alles eintrifft, daß sich diese Möglich-keit» — er sprach das W ort gedeh nt und m it Ge wicht aus — «tatsächlichverwirklicht? Auch die so genannten Platoniker aus dem ho he n M ittel-alter sollen ja erneut verkörpert sein, wie so manche sagen.» Und in

scharfem Tone setzte er hinzu: «Ich für meinen Teil bin jedenfalls, sofürchte ich, noch keinem einzigen begegnet! Auch keinem dieser

<Schüler> aus der Anfangszeit der geisteswissenschaftlichen Bewe-

gung. Das alles wird wahrscheinlich sehr viel später stattfinden, in-

folge des so ungeheuer intensiv gewordenen Kulturzerfalls.»

Harold Freeman schwieg und blickte durch das Fenster auf den

Rh ein hinaus, auf dem der W idersch ein des Lichtes tanzte, das a us Alt-stadthäusern auf das Wasser fiel.

«Es sei denn», fuhr der Ältere, den feinen Kopf zu seinem Freundgewendet, fort, «es waren damals doch die richtigen gewesen ...» Er

warf dem Jüngeren bei diesen Worten einen sehr ironischen Blick zu.

Dann brache n beide in ein scha llendes Gelächter a us .«Verze ihen Sie, bitte», faßte sich de r Ältere zuerst. «Wir erinnerten uns

so eben a n eine wirklich kom ische Ge schichte. Wisse n Sie, vor rund zweiJahren suchten mich ganz unerwartet eines schönen Tages drei junge

Engländer in m einer W oh nung auf. Sie redeten vo n großen, weltweitenProjekten und wollten m eine M itarbe it gewinnen. Nach dem Abendess enoffenbarten sie mir dann in feierlicher Weise den eigentlichen, <tieferen>Grund für ihr Ersch einen, und sie gaben zu versteh en, daß — nun hörenSie gut zu: — in diese m Augenblicke niem and anders vor m ir stünde a lsDunlop, Stein und Polzer-Ho ditz! See lenha ftig se lbstvers tändlich!»

Freeman war gerade im Begriff, die Kaffeetasse an den Mund zu

führen, und hielt für einen m inim alen, unbem erkten Augenblick in der

Bew egung inne.

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«Ich erzähle Ihnen eine wirkliche Geschichte! Nun, ich war im tief-

sten Inneren in einem solchen Maß frappiert, daß ich einfach höflich

blieb und mich zuvorkommend verhielt. Da mir einmal Aufzeichnun-

gen dieser wichtigen Persönlichkeiten zur Verwahrung übergeben

worden waren — was sie wohl von irgendeiner Seite in Erfahrungbrachten —, holte ich aus meinem Dokumententresor Briefe Steins und

Dunlops und ein kleines Zettelchen von Polzer-Hoditz raus und legte

alles diesen jungen Dachsen vor. Sie sagten <Ach!> und <So!> und viel

mehr nicht. Ich stellte dann gewisse Fragen. Zum Beispiel: Warum ist

Dunlop nicht zur sogenannten <Weihnachtstagung> erschienen. Der

angebliche Dunlop II gestand mir nun, dies heute auf das tiefste zu be-

dauern, doch wußte er anscheinend auch nicht ganz genau, weshalb

er damals nicht nach Dornach fuhr. Ich fragte auch, ob sie gewisse spi-

rituelle Übungen zu machen pflegten, worauf mir Stein II zu verste-

hen gab, daß er bei den sechs Nebenübungen — Sie werden wissen,

was ich meine — meist nur bis zur dritten komme. Und Polzer II, der

konnte es kaum fassen, daß von seinem Nachlaß praktisch nichts

mehr übrig sei. — Nun, kurz und gut, die Sache war grotesk! Stellen Sie

sich vor, drei Jünglinge aus England, so zwanzig, dreißig Jahre alt, de-

nen überdies ein vierter sagte, mit welch erlauchten Vorleben sie aus-gestattet seien!»

«Jaja, die Illusion pflegt in bezug auf solche Dinge äußerst stark zu

werden», sagte Freeman nachdrücklich und schlicht. «Nirgends

scheint's so schwer zu sein, Schein und Wirklichkeit zu trennen wie auf

diesem Felde.»

«Auch im Zusammenhang mit der angeblich erneut verkörperten

Anne Frank war das schon zu konstatieren», bestätigte der Jüngere,

nicht ohne leisen Stolz. «Vor drei Jahren war sie hier in Basel. Zu einerDichterlesung hergekommen — im gleichen Stadtcasino, in dem einst

Herzl seinen so fatalen Weltkongreß eröffnete.»

Freeman wurde hellhörig.

«Nun ja», übernahm der Ältere die Führung, «seelisch noch ein Teen-

ager, mit naiven Ansichten und viel, sehr viel Gefühl! So wirkte sie auf

jeden Fall auf uns. Und das soll Anne Frank sein? Da bleibe ich sehr

skeptisch.»«So spät schon, liebe Güte!» rief auf einmal ganz erschreckt der Jün-

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gere de r beiden. «Wir m üssen s chleunigst fort! Auf Wieders eh en! Undnoch einen s chönen Aufentha l t in unserem Land!»

«Ich wünsche Ihnen einen schönen Lohengrin!» sagte Freeman und

staunte über die Geschwindigkeit des Aufbruchs der zwei Fremden.

Harold Freeman atmete tief durch. Dann griff er zu der Zeitung und

begann im Wirtscha ftsteil zu les en. Eine h albe Stunde später such te erdie Ruhe se ines schönen Zim m ers auf . Er m achte e s s ich a n dem kle i -nen Sekretär bequem und schrieb an Fiona:

Basel, den 12 . Februar 1998

M eine allerliebste F iona!

Heute bin ich in der Rheinstadt angekommen — und habe schon den E indruck,ich sei bereits seit vielen Woch en hier! So v iel ist in den letzten Stund en hierpassiert. Ich möchte gleich auf D einen letzten Brief antwo rten und D ir dannmeinen ersten Basler Bericht erstatten. — Du schreibst von einem T raumerleb-nis, das mich auß erordentlich berührt. Es ma cht mir einmal mehr ganz klar,wie tief wir innerlich verbunden sind. D as zeigt sich ja au ch «äuß erlich», andem synchronen A nne-Frank-Erlebnis, das wir beide hatten. (Ich werde das

von D ir geschickte Büchlein sofort lesen und D ir dann darü ber schreiben.)Aufs neue werd ich auch gew ahr, daß wir, ohne Schlaf und Traum zu kennen,das wirkliche soziale Leben eben nur — verträumen und versch lafen. Im Tief-schlaf gibt es zwischen M enschen keine Lüge und V erstellung. Ein jeder gehtin jedem anderen , mit welchem er in lebensmäßiger Beziehung steht, unge-hindert ein und aus, ganz ungesch minkt. Hier zeigt sich Haß a ls Haß un dnicht maskiert durch «Höflichkeit», hier zeigt sich die Begierde als Begierde,

ungeschminkt vom «An stand» usw. usw. Ich finde es sehr schön, Fiona , wiesubtil und wahr D u D einem Traumerleben nachgingst. Solche Dinge muß be-achten lernen, wer soziale Wirklichkeiten finden möchte ...

Du meinst, es sei vielleicht ein schlechtes Zeichen, daß Du nicht mehr vondem großen Lehrer träumst. Ich sage Dir: im G egenteil! Nur w o man nochnicht wirklich intuiert, muß d ie Seele — instinktiv im T raum, in der Ima gina-tion bewu ßt — zu Bildern greifen. Ist das nicht ein schöner Trost? Du träum stnicht mehr von «ihm», weil Du die Fäh igkeit errungen hast, mit seinem W e-

sen zu verkehren. Wer B ilder webt, beweist, daß er im A bstand lebt zur W irk-

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lichkeit. D er Intuierende hebt allen A bstand auf und w ird mit jedem W eseneins — Akt für A kt natürlich, nicht auf einen Schlag. Du bedachtest den Ver-lust; nun betrachte den Gew inn!

G erne schreibe ich einmal davon , was für mich das M editieren ist, doch

bitte hab G eduld. Es muß in einem näch sten Briefe sein.In bezug au f die schon eingetretene Veröffentlichung der t iefen M oltke-

Worte riet ich also richtig! Ich danke Dir von Herzen, daß Du meine Geist-Zi-

tate überprüftest. Es freut mich, daß sie alle stimmten! — Und was Novalis an-betrifft, so fällt ja au ch von einem solchen M oltke-Wo rt ein helles Licht aufsein Werk Die Christenheit oder Europa. D ieses Wort heißt: «U mi legtedem Novalis die Ü berschätzung der Jesuiten nahe» — im Sinne einer allzu ho-

hen W ertschätzung derselben. Diese Ü berschätzung wie auch die der ganzenKirche R oms findest Du am deutlichsten in besagter Schrift von ihm. KeinWun der, daß auch G oethe sie nicht leiden konnte und von ihrem D ruck, alsman ihn nach seiner M einung fragte, ganz entschieden abriet und S chellingganz en tsetzt war, als Nov alis sie im F reunde skreise vorlas. Hier l iegt eingroßes R ätsel vor. Es hängt vielleicht damit zusamm en, daß Rom zu einer sei-ner früheren Verkörperungen (Johannes der T.) durch Jahrhunderte hindurcheinen starken «Weihrauch» w ehen ließ ... Ja, Fiona, w ir werden vieles zu be-

sprechen ha ben ...Nun zu d em, w as ich seit meiner Ankun ft hier erlebte. Ich logiere nun im

Zimm er Herzls (!) und schreibe diesen Brief am schönen Louis-XVI-Sekretär,an dem er die Eröffnungsrede für den B asler Kongreß verfaßte! Ist es nichtganz eigenartig, womit ich hier in Basel konfrontiert bin? D er Zionismus au fder einen Seite — die Anne-Frank-F rage (durch Dich!) auf der anderen. Einedenkw ürdige Signatur. Ich will versuchen, sie in nächster Zeit zu dechiffrie-ren.

Da s in gewisser Hinsicht wichtigste Ereignis dieses Tages wider fuhr mirnach dem Abendessen. Ich setzte mich auf die überfüllte Rheinterrasse, die we-gen ihres schönen Ausblicks und auch wegen der M usikkapelle — etwas M ar-

kusplatz-Ambiance — bei den Baslern wie auch bei den fremden Stadtbesu-chern sehr beliebt ist. Ich w artete auf den K affee und w ollte in der «B aslerZeitung» lesen. Da nahm en auf den letzten freien Stühlen meines T ischs zweiHerren Platz, beide elegant und ausgesucht gekleidet. Sie wollten nachher in

die O per. Ich sah sogleich, daß sie die Geisteswissenschaft des M eisters ken-nen, wie m an das nun einmal sieht, wenn man sie bereits im letzten Leben fin-

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den durf te . Erw ähnte im Zusamm enhan g mit meinem P rager Auftrag dieDreigliederungsidee des M eisters. Skepsis bei dem Älteren der beiden — einem

sehr gepflegten Herrn m it feinem glattrasiertem An tlitz, das von W ahrh eits-liebe zeugt — , der auch meinen G eorgetown-Lehrer Quigley kennt und meinte,daß d och vor d er großen K atastrophe nichts mehr auszurichten sei. Ich wandteein, daß eben alles unternommen w erden müsse, w ie das auch ein Arzt bei ei-nem Tod geweihten tue.

Darauf lenkte dann der Jüngere der beiden — blauäugig und schwarzer Bart,

sympathisches G esicht — die Rede auf die große Prophetie vom Ende des Jahr-hund erts, die «uns» und die Platoniker betrifft. «Vielleicht komm t doch no cheine Rettung durch die besten Sch üler unseres Lehrers», sagte er vermittelnd.Ich fragte: «An w elche Schüler denken Sie konkret?» Er: «Nun ja, an Leute wie

Stein, Wegman, D unlop, Polzer-Hoditz und noch viele, viele andere.»!Fiona, es war wirklich überraschend, die letztmaligen Erdennamen m einer

F reunde und auch meinen eigenen auf einmal solcherart zu O hren zu bekom-men! Er fand noch, daß dies ja «immerhin bedeutende Persönlichkeiten in demnahen U mkreis ihres Lehrers» seien. Und w ar zum Beispiel von der Tatsachebeeindruckt, daß Nicks «World P ower C onference» noch heute existiert. Doch

in diesem Augenblick fiel ihm der Ä ltere fast brüsk ins W ort, um w iederum dieSkepsis — sie scheint die dominan te Seelenluf t von ihm zu sein — auszu-

drücken, die doch h ier geboten sei. Diese Skepsis dehnte er auch auf Platoni-kerpersön lichkeiten aus. Er sagte, wiederum ganz wörtlich: «Ich für meinenTeil bin jedenfalls, so fürchte ich, noch keinem einzigen begegnet! Au ch keinemdieser Schüler aus der Anfangszeit der geisteswissenschaftlichen Bew egung!»

Nun w issen wir auch dies, F iona: Selbst die besten unter solchen Leuten —

und ich hatte Anlaß, dieses Dop pelgegenüber für sehr ernst und fähig zu er-achten — , selbst die besten haben keine Zuversicht «aus Eisen» — wie wir sie

entwickeln lernen muß ten — oder sie vergeuden ihre Kraft mit Skeptizismusohne M aß!Der Äl tere sprach, ihm wohl unbew ußt , in seiner Ä ußerung im ü brigen

von «F urcht». Und F urcht, das wissen wir, ist woh l das stärkste Geistverhül-lungsmittel Ahrimans.

Und dann, Fiona, kam der eigentliche Höhepunkt der doch bem erkenswer-ten Unterhaltung: Der Ä ltere erzählte mir, daß vor rund zwei Jahren d rei rechtjunge Engländer bei ihm erschienen seien und ihm im Laufe einer langen U n-

terredung zu verstehen gaben, sie seien Jacques, Nick und ich, Fiona! In allem

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Ernst: Ein jeder von ihnen hält sich für einen von uns! Ich hätte um ein Haarganz laut herausgelacht. Doch das Luziferisch-Komische ist ja nur die eineSeite dieser ungewöhn lichen Begebenhe it. Statt meiner lachten meine Tisch-genossen laut heraus. So komisch fanden sie die Sache. Das sahen sie sofort —

daß das nur eine Illusion sein kann. Sie merken, daß hier nur ein karikierterSchein a uftrat, doch die W irklichkeit, von d er ja imm erhin ein kleinesStückchen, nä mlich meine W enigkeit, vis-à-vis von ihnen saß, bleibt ihnentrotzdem fest verschlossen.

Zum Schluß erwähnten sie auch unsere Schwedin, welche ja als AnneF rank betrachtet werde, worüber sie natürlich ebenfalls sehr skeptisch seien.Sie war, so hörte ich von ihnen, erst unlängst hier in Basel, las im selben Stadt-casino, in dem Herzl seinen Basler Kongreß eröffnete, aus einem ihrer Werke!

Dies alles ist mir wiederum ein w ichtigstes Erlebnis, wie Du Dir ja d enkenkannst. Nun ist auch dieses klar, daß in der geistigen Bew egung, der wir an-gehören, M enschen sind, die an sich in hohem M aße aufrichtig und wahr-heitsliebend streben, die wegen ihres unbeherrschten K ritizismus aber außer-stande sind, die große Prophetie vom Ende des Jahrhunderts wirklich ernst zunehmen. Sollen wir von ihnen völlig unerkannt zu Werke gehen müssen? Dasist die große Frage. Das heißt, das war die große Frage.

Denn die andern, welche diese erste freie Prophetie der Weltgeschichte*ernstzunehmen wissen — dürfen uns nicht finden. Ich meine hiermit alle Noi-res und A mhursts dieser Welt.

Wir sind also in der grotesken Lage, daß solche, die mit Schrecken mit unsrechnen, uns nicht finden dürfen, während jene, die uns — wenn auch , wie indem hier offenbarten F alle, allerdings nur halbwegs — gelten lassen, uns nicht

finden wollen.G erade für die M enschen aus der geisteswissenschaftlichen B ewegung

bringt das Ende des Jahrhunderts auch in dieser Hinsicht eine Probe ihres spi-rituellen Wollens. Und ich ahne, daß gerade hier in Basel ein besonderer Ver-such stattfand, die M ensche n diesbezüglich innerlich zu testen. Da s ganze

* Frei, weil ihre Verwirklichung einzig und allein von unsere m freien Versteh en derNo twendigkeit eines rasch en Wiederko m m ens abh ing — zur Rettung der Zivilisa-t ion a m Ende des Jahrh under ts .

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«Ann e-Frank-G eschehen» scheint mir irgendwie damit in einem w ichtigenZusammenh ang zu stehen. Doch davon wirklich später.

Ü berblicke ich die ganze Lage (seit dem Anfang m einer Reise bis zu diesemZeitpunkt) in bezug auf das tatsächliche Ve rhalten in der «We lt» zu «uns», soergibt sich folgendes Gesamtbild:

1. M an rechnet fest mit uns, doch negativ (im 3 22 -Bereich)2. M an rechnet halbherzig mit uns (B eispiel: die zwei Herren)3. M an ignoriert uns ganz (das Gros der geisteswissenschaftlichen G esell-

schaft, der wir früher angehörten)4. M an behauptet ganz pauschal, wir seien wieder innerhalb von dieser tod-

geweihten irdischen Gesellschaft tätig (der «Großkophta» und seine San-tiagoschäfchen)

5.Man identifiziert sich aus persönlichen Motiven mit uns — «sauceanglaise», siehe o ben

Alle Positionen von 2 bis 5 fördern indirekt die erste, die immerhin im Ke rnsehr rea listisch ist! Insbesond ere tut dies die 4. Position.

In Anbetracht von diesem Stand der Dinge, F iona, werfe ich erneut die großeF rage auf: M üssen wir , d ie 48 , a l leine von uns selbs t erkannt an unserM enschheitswerk herangehen? O hne verstehende Helfer aus dem Kreise derer,

die das W erk des M eisters doch im positiven Sinne ernst zu nehm en suchen?D ie Gegner, die die erste Position beziehen, würden d ies natürlich als einenwesentlichen Teilerfolg verzeichnen ...

Hier breche ich für he ute ab. Das Z immer ist zu stark geheizt, die Luft ganztrocken. Ich werde vor dem Schlafengehen in der Bar noch etwas F euchtes zumir nehmen müssen.

F ortsetzung dann morgen nach dem F rühstück. H.

Haro ld Freem an setzte s ich ein paar M inuten später an die Bar im Erd-geschoß, an der noch reges Leben he r r schte . Auch hier kam er so gleichm it e inem jungen M ann m it schwa rzem Lockenkopf in ein unerwarte-tes Gespräch. Er war Maler, und er hatte eben, wie er sagte, ein sehr

großes Bild vollendet. Freeman wollte wissen, was es für ein «Sujet»

habe. Der Maler lächelte erfreut und doch mit innerer Zurückhaltung.

Dann sagte er mit großer Würde:

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«Ich nenne es <Apokalyptisches Europa>.»

Freemans Interesse war geweckt.

«Es zeigt die Alte Welt, aus der Vogelperspektive, öd und länder-

weit verwüstet. Häuser fallen, Städte sinken in die Erde, Meere treten

über ihre Ufer. Und ...» — der Maler wurde ernst und feierlich und brei-

tete die Arme aus — «und über allem eine große, liegende Gestalt. Doch

wiederum fast durchscheinend und transparent — das war malerisch

nicht leicht zu lösen! Das Haupt in England, die Füße gegen Osten.

Über diesem sichtbar-unsichtbaren Leib — ich sehe, ich kann frei mit Ih-

nen reden — holt eine Hand, die aus dem Süden kommt, in schwarzem

Handschuh steckend, zum wiederholten Hieb mit einer Axt aus. — Das

Haupt der liegenden Gestalt trägt eine Dornenkrone.»

Freeman hatte sehr energisch zugehört. Als der Maler schwieg, be-merkte er:

«Das Leiden Christi im Ätherischen ... Das Leiden Christi um die

Geistverstocktheit von Europa!»

Der Maler schaute ihn mit großen, dunklen Augen an.

«Sie kennen Rudolf Steiners Geisteswissenschaft?» fragte er er-

staunt.

«Wer darf sie unbeachtet lassen, der den wahren Geist der Zeit er-

fassen möchte?» fragte Freeman schlicht zurück. Nach kurzem

Schweigen fuhr er fort und sagte:

«Und die Geistverstocktheit von Europa sehen Sie als eine Auswir-

kung der Klingsormächte aus dem Süden!»

«Ganz richtig! Ganz genau, so ist es!» rief Freemans Gegenüber aus.

«Als ich letztes Jahr zum ersten Mal in meinem Leben nach Sizilien rei-

ste, besuchte ich den Ätna, Taormina, Syracus, Palermo und auf der

Rückreise bestieg ich die Ruinen von Caltabellota, dem alten Klingsor-schloß. Ich bin nicht hellsichtig im eigentlichen Sinn des Wortes, doch

daß die Klingsorkraft noch heute dort zu spüren ist, das steht für mich

so fest, wie daß wir zwei uns hier an dieser Bar zusammen unterhal-

ten.»Der Maler war in Fluß gekommen, und Freeman hörte ernst und

gerne zu. Nach einer Weile sprachen beide Männer über das, was für

die Rettung von Europa und der ganzen Zivilisation noch unternom-

men werden könnte.

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«Ich h abe a uf dem Bild auch noch den Auferstandenen gem alt», er-gänzte nun der Maler. «Ich trage Hoffnungskraft in mir. Doch ich ge-

stehe Ihnen, diese Kraft ist noch zu unbestimmt, und wenn ich mor-

gens in die Zeitung blicke, gerät sie leicht ins Flackern.» Der Maler

schwieg und setzte dann hinzu: «Ach, wenn doch nur die großen

Schüler des Begründers der grandiosen Geisteswissenschaft bald kä-men! Vielleicht kommt dann durch diese Menschen doch noch eine

wah re W ende, nicht wie die vo n 1989, nach der e s bald m it allem , wasnicht weiterhilft — beim alten blieb. Nach einer kleinen Pause sagte er:Vielleicht sind sie ja auch schon da und brauchen unsere Hilfe oder

M itarbe it, nicht wah r?»«Das könnte durchaus sein», gab ihm Haro ld Freem an recht .«Das könnte durchaus sein, nicht wahr!» wiederholte da der Maler

und schaute Freeman warm und aufmerksam ins Auge. Nach einer

kleinen Pause sagte er: «Leider werde ich noch anderswo erwartet.

Seh r gerne h ätte ich m ich w eiter unterhalten! Ich bin im nächs ten Som -m er a ber in Ne w Yo rk. Und wenn ich wüßte, wo Sie anzutreffen wären,würde ich Sie gerne wiedersehen! Und dann reden Sie ein wenig!»Freem an überreichte ihm darauf sein Kärtchen, und die beiden M ännernahmen herzlich voneinander Abschied.

Am andern Morgen setzte Freeman den Bericht an Fiona nach dem

Frühstück fort:

Hier folgt der 2 . Teil der ersten Basler A ufzeichnung. Ich suchte vor demSchlafengehen also noch die Bar auf. Un d war im Nu in einer neuen Unter-haltung — mit einem schwa rzgelockten M aler, der eben ein Gem älde fertig

hatte. Es zeigt Europa gan z in Krieg und in Verwü stung, darüber eine riesigeGestalt, doch liegend, mit dem K opf in England und den Füß en weit im O sten;

dornengekrönt, in der Herzregion verwund et, halb transparent, so daß durchdie G estalt hindurch auch gleichzeitig die Landsch aft sichtbar ist. Un d überder G estalt ein Hackbeil, Blut daran, von einer Hand aus R ichtung Süden festund stark geführt. Der M aler sprach von C altabellota, das er letztes Jahr be-suchte, und beschrieb die Klingsorw irkung, die noch heute dort höchst spür-

bar sei.

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Ich erkannte gleich auch hier, daß auch er sich mit der Lehre unseres M ei-sters viel und ernst beschäftigt hatte. Er sprach dann von den Zeitängsten undvon der H offnung, die er in sich trage. Un d plötzlich sagte er: «Ach, w enndoch n ur die großen Schü ler des Begründers der grandiosen (!) G eisteswis-senschaft bald kämen!»

Dieser A usruf war so echt und ehrlich, daß ich sehr erschüttert war. Erfügte dann hinzu, daß sie — also unter anderen «wir» 48 — vielleicht schon dasein würden un d unsere Hilfe brauchten. Ich sagte: «Das könnte durchau ssein.» M ehr konnte ich nicht sagen. Denn selbst wenn jemand un s einmal di-rekt befragte, ob wir vielleicht mit dieser oder jener Individua lität im karm i-schen Zusammen hange stünden, wir könnten höchstens sagen: «Du m ußt essagen; es ist an dir, das zu erkennen.» Wer d ie Antwort von uns selber haben

wollte, würde doch nur zeigen, daß er die gesetzmäßigen Wege w irklichen Er-kennens igno riert und sich statt dessen lieber etwas «offenbaren» lassenmöchte, was natürlich weit bequemer ist. So sind w ir auch in dieser Hinsichtin einer doch sehr paradoxen Lage — auf der einen Seite darauf angewiesen, daßuns einige zumindest finden, und gleichzeitig sehr strikt daran gebunden, unsniemals selbst zu offenbaren. So sind «wir» alle Lohengrine, Fiona! Und müs-sen es ertragen.

Do ch zurück zum M aler. Er scheint etwas zu ahn en, will mich näch sten

Sommer in N.Y. besuchen. Sein künstlerisches F ühlen inspiriert ihn mehr, alser im Wachbewuß tsein weiß. —

Dies alles trug ich durch die Nacht.Und das ist das Ergebnis, welches sich mir aus der Nacht heraus ergab: Es

müßten jetzt Versuche unternommen werden, in künstlerischer Weise auf diegroße Prophetie, in deren Zeichen wir längst stehen und die sich jetzt verwirk-licht, hinzudeuten. (Das D enken ist vom Kritizismus angefressen, das W ollen

ist zu schwach geworden, sonst könnte auch das Wollen sehend werden; bleibtnoch w ahres künstlerisches F ühlen, wie ich es bei diesem M aler traf.)Vielleicht romanhaft, Fiona, könnte über «un s» und unser neues W irken

am Ende des Jahrhund erts etwas Licht verbreitet werden. Rom anhaft zeigen,wie wir nun den un verbrüchlichen Vertrag erfüllen: Es wäre d es Versucheswert. Dazu gehörte M ut und P hantasie. Es müßte nur die letztere dabei auftatsächlicher Wesenseinsicht fließen u nd dürfte nicht aus subjektiver Willkürsprießen. Kein leichtes U nterfangen!

Stell Dir vor, Fiona, jemand w ürde diese Reise nach Europa, die Begeg-

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nungen, von den en ich Dir schrieb und weiter schreiben werde, die Berichte,die ich schicke, überhaupt die B riefe, die wir tauschen usw . usw. romanhaftdarzustellen suchen — er hätte einfach sozusagen diese «Eingebung». Nun,nach den E rfahrungen von gestern bin ich fest entschlossen, eine solche M ög-lichkeit zu denken, im B ewuß tsein, daß, w o so etwa s einmal mit Energie ge-

dacht w ird, auch die W ege zur Verwirklichung des dergestalt Gedachten leich-ter gangbar werden . Ich habe nä mlich nicht den Eindruck, daß ein solchergeistiger G edankenkeim in der vierten «Schicht» des G eisterlandes bis jetztschon existiert hat. Wir w erden in den nächsten Jahren vielleicht sehen, ob sichjemand fand, um eine solche künstlerische M öglichkeit auch zu verwirklichen.

Es ist ja leider nicht gerade seh r wahrsc heinlich!

Es käme gar nicht darau f an, ob in einer solchen D arstellung auch alles völlig

«realistisch» abläuft, sondern, ob sie so gehalten wäre, daß etw as von dem We-sen, das un s eignet, und dem Streben, das un s trägt, darinnen lebt und atmenkann. Das wäre das Entscheidende!

Ich frage Dich ganz einfach: Wäre in bezug auf «uns» und un sere gegen-wärtige und künftige Mission eine dergestalt fiktive Wirklichkeit einer wirkli-chen F iktion, wie sie ja in der G estalt von drei beklagensw erten Engländernbereits tatsächlich existiert, nicht bei weitem vorzuziehen?!

Vielleicht, wirst Du m ir sagen: Es kommt doch gar nicht darauf an, daß un-sere Helfer auch erkenne n, wem sie Hilfe leisten. Hauptsach e, es kommt amEnde des Jahrhunderts zu effektiven Werk-Gemeinschaften. Gewiß, so habe ichnoch bis vor kurzem auch gedacht. Und es ist auch, in bestimmten G renzen,immer no ch ganz richtig, so zu denken. D och gegenw ärtig gibt es erstensM enschen, die falsche Vorstellungen über unser Sein und W irken ganz be-wuß t verbreiten (die Noires, der Groß kophta etc.) , und zweitens solche, die

sich für uns selber auszugeben angefangen haben. Deshalb muß es auch nochM enschen geben, welche w issen, wie die Dinge w irklich stehen. D as ist einehernes G esetz des Ausgleichs. Vielleicht genügen ganz, ganz w enige. Viel-leicht die jew eils nächsten drei, die jeder von uns vieren (Jacques, Nick, ich —

und Du , Fiona!) w ohl bald wird finden dürfen.So viel also im A ugenblick zu diesem Ge genstand. —

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Harold Freeman machte einen Rundgang durch die Altstadt Basels. Erkam am Nietzschehaus und kurz darauf am Paracelsus- und am Eras-

mushaus vorbei. Eine Weile später stand er dann im Basler Kunstmu-

seum vor de n Bildern Böcklins.

Erneut zog ihn «Die T oteninsel» m ächtig an, wie dam als, als er siez um e r s te n M a le s a h .Er stöberte in einer Buchhandlung und stieß auf ein ihm unbe-

kanntes Buch von Sarah Upmark und einen Band mit Briefen Otto

Franks, des Vaters Anne Franks. Freeman kaufte beide Bücher und

stieg dann in die Straße nbahn, die nach Arlesh eim hinausfährt. Er spa -zierte eine gute Stunde durch die Eremitage, stand auf dem Holzsteg,

welcher in den großen Teich hinausführt, und betrachtete die schönen

Schwäne.Nach dem Abendessen im Hotel vertiefte Harold Freeman sich in

seine neu erwo rbene Lektüre .Nachts träumte er vom «Großkophta» von Dornach. Bedrohlich

und doch voller Angst stellte dieser ihn zur Rede, als er eben von der

Erem itage a us zum Goe the anum wandern wol lte . Am Grenzs te in zumkatholische n Kantonsgebiet von Solothurn sprach der G roßkoph ta ihnhe r r isch an:

«Wieso bis t du gekom m en, unser We rk zu s tören?»Der übergroße Mann sah Freeman eindringlich und doch sehr

furchtsam an. Mit stark erhöhter Stimme wiederholte er in dezidierter

Abwandlung:

«Wieso se id ih r gekommen, unser Werk zu stören, denn ich weiß,

daß du nur Vorposten von vielen bist. Warum seid ihr gekommen, un-

ser We rk zu stören? De nn unser We rk ist gut vora ngeschritten.»

Und nach einer langen Pause, in der der Großkophta die Wirkungseiner Wo rte zu so ndiere n suchte, setzte er m it bösem Ausdruck in denAugen scha rf hinzu:

«Laßt uns in Ruh e unse r We rk vollenden! Wir bedürfen e uer nicht!»Darauf verschwand er plötzlich lautlos, und Freeman sah, wie

Schlangen mit Dämonenfratzen aus dem neuen, renovierten Bau her-

vorgeglitten kam en — und erwachte.Dieses T raum bild gab ihm viel zu denken. Er m achte intensive Gei-

stesübungen und schrieb am frühen Morgen je einen langen Brief an

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seine Mutter und an Onkel Alfred und einen kürzeren an Jacques. AnJacques schr ieb Haro ld Freem an:

Basel, Freitag, den 13 . Februar 199 8

Mein lieber Jacques!D eine lieben Zeilen haben mir bei winterlicher W itterung das H erz erwärm tund auch den Sinn erhellt. Der 33 -Jahres-Rhythmus in bezug auf 322 ist einwichtiger Hinweis. — Daß Du den Vater des «Antinous» getroffen hast, ist un-geheuer schön un d für uns 48 sehr bedeutsam. Nun sind wir ersten «drei» der

Weltenstunde «Juli 19 17» also wiederum vereint! Und bald auch werden w irwoh l noch «A ntinous» entdecken ...

W as D u dann wei ter von uns 4 8 schreibst, ist wahrhaf t mutverleihend.U nd M ut benötigen wir ja angesichts der Finsternis und W irrnis, die unsjetzt so dicht umgibt, schon in besond erem M aße. D ie Geisteswirrnis greiftrasch um sich — und ist auch ungeheuer ansteckend geword en. Ein Beispiel,das mir auf der B asler Hotelterrasse von seiten zweier H erren «zufällig» zuO hren kam: Es laufen jetzt drei junge Engländer herum, die sich allen Ern-stes, Jacques — für uns ausgeben! (Konkret: für D ich, für Nick und für m ichselbst.) Ich berichte dann im einzelnen in P rag darüber.

W as Du v on der Ernä hrungstagu ng schreibst , ist ja unendlich traurig.Die G entechnik macht übrigens gerade hier in dieser Stadt sehr bösen F ort-schritt. D er C hemiegigant Nov artis ist in dieser Hinsicht überaus a ktiv. Da sgehört — wie auch der Zionismus, wie einst die Reformation, wie die Bew e-gung unseres M eisters — zum reichen Karma dieser Stadt . Der chem ischeÄther ist hier ja besonders stark. Daher die Möglichkeit für Luzifer, durch dieErdchemie großen Einfluß auf die Seelen zu gewinnen. Auch das LSD wurdein den sechziger Jah ren hier in dieser Stadt ganz «zufällig» entdeckt, durchden Basler Hoffmann ...

Hast Du von Nick gehört?Wie freue ich mich selbst auf unser Prager W iedersehen!

Dein Harold

P.S. Im Traum erlebte ich den G roßkophta, nachdem ich ihn in Brüssel in per-sona sah. Er wies mich vom Gelände d es neuen, zweiten Bau s des M eisters;

mit haß- un d a ngsterfülltem B lick rief er: «Wieso seid ihr gekomm en, unser

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Werk zu stören? Laßt uns in Ruhe unser Werk vollenden.» Und d ann zumSchluß: «Wir bedürfen euer nicht!» Nichts Neues also, Jacques, und doch: eineweitere Bestätigung für das, was w ir schon lange wissen. Sagte nicht der M ei-ster, eines Tages auf den Bau heruntersehend, zu einem seiner Nächsten: «Was

glauben Sie, wird man uns am Ende des Jahrhunderts dort unten noch hin-einlassen?» Heute steht es fest: M an w ird es nicht.Und noch etwas: Beim M editieren zeigten sich die Ringlein, von denen Du

mir auf der F ahrt von C hartres nach Paris gesprochen hast, über zwei, dreiAltstadthäusern d ieser Stadt ...

Nach dem Frühstück auf der Rh einterras se sch rieb Freem an folgendenBericht an Fiona:

Basel, den 14. Februar 1998Liebste!

Ich habe das Gefühl, daß Du in San Fran cisco eine wunderbare Elsa sangst!Es sollte mich sehr w undern, wenn ich mich in diesem Punkte täusche. Als ichgestern in der Eremitage bei Arlesheim auf dem a lten (!) Holzsteg stand und

die schönen Schwäne voll Bewunderung betrachtete — da zog mein Sinnen fortzu Dir und D einem Schw anenritter ...Ich war also im G ralsgebiet. M ächtig wirkte fort, was ich im Elsaß schon

erlebte — den Zusammenhang mit dem 9. Jahrhundert — , und kräftig lebte auf,was mich der Eremitage so tief verband — im 9. und im ersten Viertel dieses 20.Jahrhunderts. Bilder stiegen in mir hoch von jener w underbaren F rau, als dieder große Freund des M eisters hier einst lebte und den getöteten Geliebten inden A rmen hielt. Sigune und Schionatulander nennt W olfram dieses Paa r ja,

wie Du weißt. Und dan n auch wieder Bilder von O dilie, die hierhergeflohenwar. Ich fand d ie Felsenhöhle, die ihr plötzlich Schutz geboten. Ich stieg auf ei-nen Hügel und begnügte mich mit einem Blick auf den nahen zweiten Bau desMeisters.

Nachts träumte ich vom «Großkophta». Ich war im Traume im Begriff, vonder Eremitage aus zum Bau des M eisters hinzuwandern — so wie ich damalsoft vom Bau h ierher in dieses Gralsgebiet gewandert w ar. Da trat mir an derGrenze der K antone der Groß kophta entgegen. Er hatte Angst und drohte mirdaher. «Wieso bist du gekommen, unser Werk zu stören?» rief er mir entge-

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gen. Und da nn: «Wieso seid ihr gekommen, unser Werk zu stören, denn ichweiß, daß du nur Vorposten von vielen bist!»

«Wieso bist du gekommen, unser Werk zu stören?» — kennst Du diesesWort, F iona? Es ist das erste Wort, das der «G roßinquisitor» Do stojewskiszu dem C hristus spricht, der wieder kam. Daß auch w ir an diesem O rt in die-

ser Art empfangen werden — rein geistig, rein der inneren Gesinnung nach,nach au ßen braucht sich das natürlich nicht zu zeigen — , das wissen wirschon lange. Heute nacht wurde e s mir zum Erlebnis. «W ir bedürfen euernicht!» — das war sein letztes Wort. Er verschwa nd darauf mit einem Schlagund gab den B lick frei auf den renovierten Bau des M eisters. U nd wa s sahich? Schlange n mit D äm onen fratzen glitten überall hervor un d züngeltenzum Himmel .

Ich erwa chte, meditierte kräftig (Näheres dazu au s Stuttgart, wie v erspro-chen) und ha tte bald ein anderes Bild vor meinem G eistesauge: die Druiden-skizze, die der Lehrer malte, nachdem er P enmaenmawr in W ales — eine Ar-tusgegend — gesehen hatte. Du erinnerst Dich da ran? Verlassene Altäre ingeheiligtem G ebiet, zwei P riester noch, d ie treu ihr Am t verrichten, und zahl-reiche Däm onen, die gierig hoffen, Herren dieser K ultstätte zu werd en. Nun,heute sind auch diese letzten Priester fort, und die Dä mon en haben sich ver-mittels ehrgeiziger, eitler M ensch en des K ultgebiets bemächtigt: So sieht es

heute an der S tätte aus, die uns so h eilig war. D och so ist stets der Gan g derW eltgeschichte: W o das B este wohnte, kommt nach einer Weile meist dasSchlimmste hin ...

Nun habe ich genug gesehen: Wir brauchen den entweihten Tempel nichtmehr zu betreten.

~

Nun zu un serem a nderen, wei t wicht igeren Thema: Sarah Up mark/AnneF rank. Ich kaufte gestern ein paar B ücher, u.a. Upma rks Autobiograph ie, inder sie offen von dem A nne-F rank-D asein erzählt, an das sie sich bereits alskleines K ind erinnerte, wovon sie unbefangen, ganz nach K indesart, auch an-deren erzählte — und damit ein F ait accompli geschaffen hat, mit dem sie spä-ter leben muß .

Das zeit l iche Zusammentreffen meiner Niedermünster-Schauung mitD einer inneren Be schäf tigung mit Ann e F rank hat mich in höchstem M aß

frappiert!

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Und d ann das Bu ch von Sarah U pmark, als ich hier in Basel ankam! G e-stern kaufte ich mir noch ein anderes B uch von ihr, und auch noch einen Band

mit Briefen O tto F ranks. — F iona, mir ist sonnenklar geworden: hier liegt nunein G eheimnis vor, das ein wirklich offenbares ist. Ich streife kurz die Pun kte,die mir jetzt am wichtigsten erscheinen. Sarah U pm ark spricht in frühsterKindh eit, sobald sie überhaupt nur sprechen kann, von ihrem zw eiten Leben,das ihr gleichsam noch im Nacken sitzt.

M it zehn ist sie in A msterdam, nimmt am Ba hnhof beide Eltern an d erHand, um sie zum A nne-Frank-Haus hinzuführen. Sie kennt den W eg genau.Sie sieht sofort Veränderungen, die an der H ausfassade vorgenommen w ur-den. In ihrem alten Zimmer sieht sie auf den ersten Blick noch ihre alten Fo -tos (Filmstars und M usikidole); erst als sie merkt, daß ihre M utter nichts der-

gleichen sehen kann, erkennt sie, daß jetzt nichts mehr an den Wä nden hä ngt.So tief hatten sich ihr diese einstigen geliebten Bilder eingeprägt, daß die kleineSarah im a llerersten Augenblick eine frühere Erinnerung a uf die leere Wandwo rtwört lich proj iz ier t . G anz wu nderbar, wie die neue Wah rnehm ungzunächst von einer alten (als Erinnerung fortlebenden) überlagert wird. Nachwe nigen M inuten drängt es s ie mit M acht hinaus. Sie fühlt , hier drinnenkann sie nu r ersticken.

Die M utter ist zutiefst erschüttert und end lich von dem V orleben der un-

gewöhnlichen Tochter überzeugt. Der Vater, ein in Schweden sehr verehrterArzt und Schriftsteller, schweigt und nimmt sich a lles tief zu Herzen. D ies al-les spielt um 1 964 , Sarah ist zehn Jahre alt.

Zu diesem Z eitpunkt lebte noch der Vater An ne F ranks, der Auschw itzüberlebte und de r den langen R est des Lebens, der ihm noc h verblieb, völlig inden Dienst des durch M iep Gies bewahrten Tagebuches seiner Tochter stellte.Dieser ungewöhnlich reine und bescheidene M ensch, der durch eine wahre Le-

benseinw eihung gegangen ist, wohnte hier in dieser Stadt. Er schrieb Briefe indie ganze Welt und h atte damit wahrlich viel zu tun, denn aus praktisch allenKo ntinenten schrieben junge M enschen ihm nach der Lektüre dieses Tage-buchs un d klagten ihm die Nöte, die sie hatten, und fragten ihn um Rat. Erantwortete auf einen jeden B rief! (Da s kann von m ir ja leider nicht behauptetwerde n, es sei denn, D u hast mir geschrieben ...) Er verteidigte in großer R uheund m it Sachlichkeit die Angriffe, die auf die Echtheit dieses Tagebuch es un-ternommen wurden — zum ersten M al im übrigen in Schwed en, um die Zeit,

als Sarah Upm ark erstmals vom vergangenen Leben sprach.

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Holocau st-Verneiner de r dickköpfigsten Sorte machten ihm vo n Zeit zuZeit das Leben schwer. Schließlich wurden Schrift- und Tinten- und Papier-proben gemacht und d ie Echtheit aller Aufzeichnungen Sarahs unumstößlichnachgewiesen.

O tto Frank starb hier in dieser Stadt im Jahre 19 80 .

Gleich nach dem Tod erlebte er in der W elt des Geistes etwas völlig Uner-wartetes, das ihn zunächst — so meine ungeprüften Impressionen — sogar ver-wirrte: Er fand d ie Tochter nicht und konnte da s zunächst nicht fassen undverstehen. Sie war doch längst vor ihm gestorben! F ür sie hat er sein Lebenhingegeben, nun hoffte er, sie nach dem T od zu finden. Warum kann sie meinIch im Totenreich nicht finden? Das war die F rage, die sich ihm gleich wie einRiesenrätsel vor die Seele stellte. Er konnte sie nicht lösen! Das war sein größ-ter Schmerz, sein eigentliches Kamaloka nach dem Tod.

Bis ihm dann endlich Lösung wurde dieser Rätselfrage — durch den ande-ren Vater dieser Individualität, den V ater Sarah U pmarks nämlich, der vierJahre nach ihm starb. Dieser Vater kannte ja d ie geistigen Erlebnisse der Toch-ter und konnte sie sogar verstehen. Nun, dieser «Tote» löste O tto F rank dasschwere Seelenrätsel; er begann zu ahnen, weshalb er sie im ganzen Totenreichvergeblich suchte, und diese Ahnun g wurde ihm zum hellsten Licht: Weil sienämlich wiederum auf Erden weilt!

Fiona, solche D inge spielen sich im 20 . Jahrhundert in der Welt der Totenab: Ein Verstorbener wird durch einen später Kommend en über einen M en-schen, dem sie beide karmisch nahestehen, aufgeklärt. Ist das nicht ganz groß-artig und tief bedeutsam ?

Diese beiden Väter, Fiona, arbeiten seither in innigster Verbindung, wiemir scheint, auch noch mit vielen andern Seelen. (Ich sehe einen neuen K reisentstehen, der dem Emerson- und G rimmkreis als ein weiterer «Ring» zu-wächst.) Sie wollen nun die Wa hrheit von den wiederholten Erdenleben, ganz

konkret im Hinblick auf den M enschen, welcher ihrer beider Tochter wa r, derganzen M enschheit offenbaren. Denk einmal, welch ungewöhnliche Gescheh-nisse, welch Weckruf hier am Ende des Jahrhunderts laut ertönt! Ann e Frank— weltweit ein Symbol der sinnlosen «Vernichtung» allen M enschenlebens,M enschenstrebens durch das abgeirrte Deutschtum; Sarah Upmark — die wer-dende Symbolgestalt für die reale Unvernichtbarkeit von allem Leben, leben-diges Symbol der Unbesiegbarkeit des M enschengeistes, welcher ewig ist und

der durch wiederholte Erdenleben schreitet.

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D ies scheint die Schicksalschiffre dieser Individualität zu sein, welche inden zwei Persönlichkeiten Anne F ranks und Sarah U pma rks wirkte resp.wirkt. Durch ihre eigene Persönlichkeit wird Sarah Up mark Zeu gnis sein füralles Wa lten dieses Unpersönlich-Ewigen in jedem M enschen. (O h, es wird

ein großes Leiden oder vielmehr großes O pfer sein, das Sarah U pmark dadurchauf sich nimmt.) Daß diese Ch iffrenschrift gelesen w erde, dazu w irken nun die

Väter aus der Welt der sogenannten T oten mit. Und w ie streben sie dies an?Dadurch, daß sie hier auf Erden M enschen zueinanderführen, die mit SarahUp mark oder Anne F rank in lebensmäßiger Beziehung stehen. Un d manchedieser M enschen, Fiona, so v iel ist mir bewußt geworden, fangen diese wun-derbare C hiffre, die von der ja ganz ve rgessenen M enschheitsfähigkeit derReinkarnation spricht, wirklich an zu lesen.

Hinter diesem Geistbemühen der zwei Vä ter stehen auch die «M eister».Sie prüfen nun, w o M enschen sind, die den K arma- und den R einkarnations-gedanken wirklich ernst zu nehmen willens sind und daraus auch die Konse-quenzen ziehen wollen. Denn w elche Riesenkonsequenzen sind hier in der Tat

zu ziehen! Aus dem Strom des in die äuß ere Vernichtung «konzentrierten» Ju-dentumes stehen Seelen auf wie die von Sarah U pmark, die alle falsche Bin-dung an die Rasse od er die Nation durch ein Erw achen in der wahren Ind ivi-

dualität, die ewig ist, in hohem M aße überw inden. Durch das B uch, das ichmir gestern kaufte, Fiona, w ird ganz klar, wovon in diesem F alle dieses innereErwachen ausgegangen ist — vom C hristus, der in unserer Zeit im Ä ther wan-delt, auch im Re ich der «Toten». Anne F rank starb 15jährig, karmisch ja fastunbelastet, mit wa chem kritischem V erstand, mit Sinn für alles Schöne, m iteinem Herzen, das do ch bis zum letzten Schlag noch an das G ute glaubte, dastief in jedem M enschen schlum mert. Diese Seele trat voll tiefer F ragen in dieWelt des Geistes. Warum ist Böses in der Welt? W arum läßt G ott und Jesus

dieses Böse zu? Und es war der Au ferstandene, der dieser Seele nun im To-tenreich die wahre Lebensantwort gab! Das Sch icksal wurde d ieser Seele da-

durch v öllig metam orph osiert: von einer leidenden ist sie zur tief wissendengeworden . Schau nur diese Texte an, die von Sarah U pmark schon in frühsterJugend hingeschrieben wurden. Sie zeugen von der w irklichen Erfahrung deslebendigen C hristus, der im Ä ther wandelt, von den ewigen G esetzen karmi-scher «Vergeltung», von der großen Wah rheit von der immerw ährenden Ent-wicklung aller Wesen. Vo m spirituellen Licht, das auch da s schlimmste Er-denleid verstehen läßt . D ie 10jähr ige Sarah schreibt von den D ämo nen

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Hitlers, deren W erk er tat — völlig frei von Rach e- oder Schuldgedanken, die

doch heute noch so weit verbreitet sind, weil die M enschen selten unterschei-den, ob ein M enschenich am W erk ist oder eben ein D ämon enwesen . D ie10jährige Sarah kann es unterscheiden ... durch die vorgeburtliche Begegnungmit dem C hristus aufgeweckt ... So schreibt sie gleichsam den «Prolog in der

Hölle» zu den Ta ten Hitlers, dieses absoluten Anti-Fa usts.Liebste Fiona, ich bin Dir ja so dan kbar, daß D u mir das B üchlein schick-

test! W as ist von diesen Dingen nicht U nendliches zu lernen!Ich schrieb vorhin von den erhabenen «M eistern». Was so du rch Sarah

Up mark in die W elt trat , benutzen sie, so fühle ich, gewissermaßen wie einO kkular, um die G esinnung einer großen An zahl M enschen aus der geistes-wissenschaftlichen B ewegung unseres M eisters zu betrachten und zu prüfen.Von daher ist es sehr bedeutsam, daß gerade dieser M enschenkreis auf Sarah

U pma rk in den letzten Jahren aufmerksam gew orden ist . Au ch im BaslerStadtcasino waren hauptsächlich Vertreter dieses Kreises, als sie hier aus ihrenWerken las, wie ich Dir schon früher schrieb. Und wie nahm en sie die «Sache»

auf, wenn man hier von «Sache» sprechen kann?Die meisten blieben an d en Vo rstellungen hängen, die sie sich von Ann e

F rank gebildet hatten. Sie glaubten dahe r auch, von Sarah U pm ark in be-stimm ter Art beeindruckt sein zu müssen — falls «die Sache» stimmte. Nun

ware n viele selbstverständlich nicht beeindruckt, weil eben ihre Vorstellungennicht befriedigt wurden. Denk D ir, Fiona, M enschen rechneten in dieser Stadtdam it, daß hier ein ungew öhnlich großes Schicksal vorzuliegen scheint. Un dweil ein Abend d ann nicht so verläuft, wie es ihre Vorstellungen w ünschen —lassen sie die ganze Frage fallen und bespötteln dann die Sache. (Wir kennen

ja sehr gut die Tiere aus dem A bgrund, wie sie uns der M eister in der erstenKlassenstunde zeigte.) So ha t das G ros der M enschen reagiert, die eigentlichdie nötigen Vorausse tzungen hätten, um in solche Dinge einzudringen. Sooberflächlich ist noch das Interesse an konkreten Schicksalsfragen! De nn obSarah U pmark A nne F rank wa r, hängt schließlich ja davon nicht ab, ob sie ihr

Publikum an einem Abend voll zufriedenstellt!Doch braucht es nicht allein Verstand, den viele haben; es braucht auch

noch ein H erz, das selbstlos sein kann un d geduldig. Jener Abend w ar viel-leicht (ich urteile nach einem Presseecho, das ganz exoterisch war) kein Höhe-punkt im Schaffen Sarah Up marks — doch daß so kluge M enschen wie die bei-

den O perngänger, die ich auf der Rh einterrasse traf , so w egwerfend und

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lieblos über das Erscheinen dieses M enschen in der R heinstadt sprechen konn-ten, ist tief, tief traurig. Denn es zeigt mir, daß die M enschen gar nicht ahnen,

wie sie selbst durch solche Dinge einer stillen P rüfung unterzogen werd en. —

E s gab, wie ich herausfand, zum G lück auch Ausna hmen in dieser Hinsicht,

doch sie bleiben in der Minderheit.Nun, schon «damals» sind die großen W iderstände da durch aufgetreten,

daß konkrete Karma-O ffenbarungen du rch den Lehrer in die Welt getragenwurden.

An der B asler Fa snacht — einem dekadent gewordenen W interaustrei-bungsritus — hat man sich sogar einmal ganz öffentlich über den angeblich neu

verkörperten «Alexander den G roßen» aus Arlesheim lustig gemacht , derdoch, w ie wir wissen, in w eibl icher Verkörperung w irk lich an dem O rte

wirkte. — Das G espött, das Sarah Upmark zu erdulden haben w ird, dürfte w ohlkaum w eniger vulgärer Sorte sein. D ie Geistesfurcht ist eben heu te wirklichmächtig.

Dies alles ist für «uns» sehr aufschlußreich. Haben d och auc h wir im 20 . Jahr-hundert zwei Verkörperungen durchzumachen, die zweite dabei in der größ-ten F reiheit, die wir jemals hatten ...

Un d auch bei uns besteht die M öglichkeit, da fortzufahren, w o wir letztesM al die Arbeit ruhen lassen mußten.Anne Fran k hatte einen unerfüllten großen W unsch — Schriftstellerin zu

werden. Sarah U pmark ging an die Erfüllung dieses G eisteswunsches, kaumkonnte sie als Kind die F eder führen. Und ist es nicht bei uns ganz ähnlich?W olltest Du nicht letztes M al schon singen? G ingst Du nicht deshalb nachWien, vor hundert Jahren, in die Do naustadt, in der ich selber letztes M al ge-boren wurd e? Ich selber wirke nun mit Nick und Jacques und D ir, Fiona, für

alles das, was da mals unvollendet bleiben mußte: aufgrund der M enschen-,Völker-, Erd- und Welterkenntnis w ill ich helfen, für das 2 1. Jahrhundert eineWeltwirtschaft zu etablieren, die auf die Erkenntnis baut, daß C hristus undnicht Ahriman seit Golgatha der wahre F ürst der Erde ist. Zu diesem Zw eckefahre ich nach Prag.

Auch der große M eister hat an a l les angeknüpft , was letz tes M al nochKeim ge blieben w ar: Er stiftete den kleinen O rden auserw ählter Schüler, dener damals schon gestiftet hätte, wenn er nicht aus wah rem M itleid den Ver-such der «Weihnachtstagung» unternommen hätte.

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Was uns mit Sarah Upmark ferner noch verbindet — oder sie mit uns — , istdieses: Wir leben in gewissem Sinn e in Erdenleben, das in zwei getrenntenAkten spielt. Daher haben w ir in der nach Erdenzeit bemessenen sehr kurzenPha se unseres diesmaligen vorgeburtlichen Lebens au f die F rüchte unsererletzten Taten im D evachan V erzicht geleistet — bis zum Tod na ch dieser jetzi-

gen Verkörperung ...

Ich glaube, Basel hat mir jetzt das Wich tigste gegeben, was ich für die Weiter-fahrt benötige: Einblick in den besten Teil des Judentums. Der dekadente Teildes Judentums sucht ja blind den Rückfall in den jüdischen N ationalismus. Esist dies der Ahasver-Teil, der durch nichts verwandelt werden will, der zu Bru-

dermord und n ochma ls Brud ermord nur immer führen kann. Der beste Teildagegen ist mit Seelen wie der F rank-Seele verbunden. Hoch und w eit hinausüber alles Rassewesen w ächst in solchen Seelen alles Judentum, sich damitnun in neuer A rt dem C hristentum annähernd , mit dem es einst so tief ver-bunden w ar. Solche alten Tuden seelen wollen nun dem gan z verirrtenDeutschtum zum aktuellen C hristentum des 21 . Jahrhunderts wahre W egeweisen! D as ist die welthistorische Verflechtung, in der sich beide Völker nunbefinden! Theodor Herzl und die letztjährige Herzl-Feier — dies auf der einen

Seite, auf dem absteigenden Ast des Judentums. Sarah Upmark — und mit ihrviele, viele Seelen ihrer Art — als lebendige Besiegerin von allem Engen inner-halb des Judentums — es dadurch neu verchristlichend — auf der andern Seite:Dies sind mir nun die beiden Pole Basels, so wie mir Niedermünster und derStruthof die Od ilienpole wurden .—

Verzeih, daß dieser Brief so lang geworden ist. Doch wie soll man solche«Gegenstände» kurz behandeln!

Nächste Woche fahre ich n ach Stuttgart. Doch bitte schicke Deine nächstePost nach Prag. (Adresse folgt im nächsten Brief.)

Tausend Küsse Harold

P.S. Vor dem Gang zur Eremitage bei Arlesheim bewunderte ich im MuseumBö cklins «Toteninsel». Er war einst ein Artusritter und gehört auch in dieWagner-Merlin-Sphäre ...

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Haro ld Freem an brachte noch e in paar seh r s t il le T age in der Stadt amRheinknie zu. Er machte Aufzeichnungen, las, spazierte oder medi-

tierte. Als er sich dann eines schönen Morgens an der Réception bei

M onsieur De Pury bedankte, kam gerade noch e in Brief von Fiona a n.

Die Marke zeigte die bekannte Golden-Gate-Brücke. Freeman setztesich zum letzten M ale a uf die R he inter ras se und begann zu lese n.

San Fra ncisco , Freitag, 13. Februar 1998

M ein lieber Ha rold!

Vor der zweiten Vorstellung am Abend will ich Dir jetzt schreiben.

Gestern kamen wir bei schönstem, warmem Wetter an. In der Nachtzuvor träumte ich von Merlin und von Uterpendragon, dem Vater

König Artus'. Ich wußte erst nichts mit dem Traumbild anzufangen.

Do ch im Lauf des T ages klärte e s s ich a uf, wie Du gleich seh en wirst.Vielleicht vergaß ich e s zu sa gen: M aud begleitet m ich, und so kön-

nen wir in Sausalito wohnen, in der Zweitwohnung, die einer guten

Freundin Mauds gehört, die zur Zeit gerade in Paris weilt. Von dieser

Wohnung aus, die an einem Abhang steht, siehst Du in die Bucht vonSausalito, in der dauernd Schiffe kommen oder gehen, vom kleinsten

Kah n bis zu wah ren Riese nfrach tern; letztere in etwas größerer Entfer-nung lautlos in den Hafen San Franciscos gleitend. Auch ein Teil der

Golden Gate Bridge ist zu sehen, wenn nicht der Nebel sie verdeckt,

der h ier , gerade wie die Schiffe, lautlos kom m t und geh t.Wir gingen noch am Nachmittag zu einer wunderbaren Meeres-

bucht ganz in der Nähe. Der Pazifik brauste mächtig, Pelikane zogen

durch die Luft. Auf einmal dachte ich: Diese Meerlandschaft erinnertdoch a n eine andere M ee rlandschaft. Wo ran erinnert s ie denn nur? Undplötzlich wußte ich's: s ie erinnert an T intagel, Haro ld, das wir vor dreiJahren endlich seh en ko nnten! Auch eine W estküste. Das Spiel der Ele-mente, dauernd wechselnd, Licht, Luft und Nebel, Wasser, alles fort-

während in neue Wechselwirkung tretend — das kenne ich sonst nur

von de r T intagelküste. Auch die Form ation der plötzlich steil abfallen-den Küstenhänge, der Buchten und der Felsenriffe erinnert ganz an

England. Eine Felsenhöh le, ha lb im Wa sser , läßt das M eere stosen «m a-

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gisch» we rden. Und sieh e da: Auf einm al sagt m ir M aud, wie wenn sielese n würde, was ich gerade dach te und em pfand: «Diese Höh le nenntm an M erl incave.» M ein T raum bild s tand m ir wieder vor der Seele .

Dann fuhre n wir auf einer Fähre in die Stadt hinüber. Die Silho uette,die sie aus der Ferne bietet, ist ganz unvergleichlich lieblich und

verlockend. T eils sind es wo hl die Hügel San Francisco s, die de r Stadtetwas Beso nderes ver leihen, te i ls die seh r geh eim nisvollen N ebels trei-fen, die manchmal ganze Hochhausfronten in der Mitte voll ver-

decken, so daß der obere Teil der Häuser regelrecht zu schwebenscheint — ich weiß es nicht ...

Ich war noch ganz in Merlin-Stimmung, als ich mich dann in der

Gardero be schm inken ließ. Ich plauder te ganz m unter m it der M aquil-

leuse — und sann zugleich im stillen über Wa gners e instige Ve rkörpe-rung als M erlin nach. Eine feier liche Stim m ung breitete s ich w arm undweit in m einem Herzen aus . Ich h atte das Gefühl: Zum ers ten M ale binich in der Seelenstimmung, die dem Lohengrin zugrunde liegen muß.

Dann erlebte ich die zauberhafte Ouvertüre, ganz zart und fern ge-

spielt, als hätte ich sie nie ge h ört: Gralsstimmung auf Merlin-Untergrund.Und dieser Untergrund enthüllte sich mir weiter in dem zweiten Akt,

wo Friedrich sich von Ortrud trennen will und es nicht kann und sie

ihn wieder in ihr Zaubergarn einspinnt! Als Friedrich ganz erschrecktund doch gebannt ausruft: «Du wilde Seherin, wie willst du doch ge-

h eim nisvo ll den Ge ist m ir neu berücken?», da e rlebte ich in Ortrud Vi-viane und Friedrich als Merlin, der ihr verfällt. Viviane ist die Kundry

M erlins, Harold! Jetzt er lebe ich, wie Wa gner durch die Sphäre Ortrud-Vivianes zum Gralserlebnis kam . Er war s elbst Friedrich, um sich da nnzum Lo he ngrin hinaufzuläutern. Ich w ußte nun: Von «Lo h engrin» aus

muß man Wagners Parsifal verstehen lernen. Das alles zog in Ah-nungsweite durch die Seele und beflügelte mir den Gesang. Ich habe

Elsa niem als schöner s ingen können als an diesem Abend.Lo he ngrin, ein junger Schwe de, war ga nz und gar ergre ifend, doch

gefaßt, wie we nn auch er vo n einer starken Liebe zu dem We rk und des-sen Schöpfer innerl ich get ragen wurde. Jetzt seh e ich zum ersten M al,was Wagner mit der Lohengrin-Gestalt den Menschen sagen will:

«Neh m t m it Dank entgegen, was der Geist euch offenbaren möchte, und

verlangt nicht undankbar nach dem , was dieser G eist euch noch verbor-

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ge n hält. Die W ege zu den To ren geistigen Erlebens m üßt ihr euch in ha r-ter Arbeit selber e bnen. Do ch a n den To ren se lber rüttelt nicht gewa lt-sam; sie öffnen sich gerade, wem, wann und genauso weit, wie es die

Hüter dieser T ore wollen. Lernt es, euch m it dem , was euch gegeben ist,

im Augenblicke wirklich zu begnügen.» So könnte man vielleicht dieLohengrin-Stimmung umschreiben, die die Menschenseele (Elsa) im-

m er neu erringen m uß. — D as Publikum wa r tief bewe gt, so sanft und«from m », wenn der Ausdruck nicht ganz m ißverständlich wäre .

Nach der Vorstellung saßen wir gemeinsam vis-à-vis des kürzlich

renovierten Opernhauses in einem Restaurant zusammen und mußten

unsern Kellnern oder Kellnerinnen Red und Antwort stehen — nicht

darüber, was w ir essen wo llten, so ndern über alle Einzelheiten unser erAufführung. Fast das ganze Personal ist hier nämlich in Gesangsaus-

bildung, die es sich auf diese Weise finanziert. Wenn ein Opernabend

derar t tiefe Re sona nz auslöst und Ta usende von M ensche n in dankba-rer Ergriffenheit besonnen applaudieren, dann ist auch dieses eine

Kraft, die alle Zivilisationsabgründe überbrücken hilft. So fühlte ich

noch während des Applauses.

Und heute morgen dachte ich an «uns» und an die «48» (zu denen

ich mich selbst, im Gegensatz zu Dir, nun wirklich nicht zu zählenwage, Harold). Und ich erlebte stark das Lohengrin-Geschick, das al-

len wahren Schülern unseres Meisters doch bevorsteht: Nur denen

können sie sich offenbaren, die selbst schon Gralsgebiet betreten ha-

ben. Den andern dürfen sie sich stets nur unerkannt als Helfer zeigen,

sollen sie nicht jäh vertrieben werden ...Nachdem ich mich entschlossen hatte, diesen Brief zu schreiben,

Haro ld, entdeckte ich, daß h eute Wa gners T ode stag ist!

Nun, in meiner Seele wenigstens hat er dieser Tage und besondersheute, wo ich dieses schreibe, eine kleine Auferstehung feiern können! —

Maud ruft & läßt Dich herzlich grüßen. Wir müssen unverzüglich

fort!Sei also inniglich geküßt von Deiner Fiona!

Harold Freem an fa lte te den Brief sorgsam zusam m en, bezahl te das Ge -

t ränk und nah m von Bas el Abschied.

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Stuttgart

Im Hauptbahnho f von Stuttgar t sah s ich Free m an nach gewo hnter Arterst in der Bahnhofsbuchhandlung nach Zeitungen und neuenBüche rn um . Er griff entschloss en zum Economist und zu einem dickenTaschenbuch. Dann suchte er die Uhlandshöhe mit der Hauss-mannstraße auf. Es war früher Nachmittag. Das Wetter freundlich,

aber kühl. Die Straße war ganz voll von jugendlichen Menschen,

Mädchen sowie Jungen, auch Erwachsenen, die auf einen großen Bau

zustrebten oder aus ihm in das Freie traten. Offenbar ein Schulge-

bäude. Freeman blieb kurz stehen, kehrte dann dem Bau den Rücken

und genoß die Auss ich t auf die Stadt, die sich vo n hier o ben bietet; auf

den Bahnhof, den Mercedes-Bau daneben; dann auch auf ihm unbe-kannte Bauten, die erst nach dem Krieg entstanden waren. Dann

wandte er s ich wiederum dem Schulgebäude zu, betrat den breiten Zu-gangsweg und s tand in einem großen Pausenho f, der s ich im m er m eh rzu füllen sch ien. Ein jugendlich er R o llbrettfah rer s cho ß seh r knapp anihm vorbei, ihm ganz vergnügt ein Lächeln schenkend. Hier e in Wa lk-m an, dort ein Ringlein in der Braue , oder Ha are , dere n Farbe die Naturbeim besten W illen nicht zu produziere n in der La ge wäre . ..

Nach einer Weile trat er wieder auf die Haussmannstraße und ging

die Steintreppen hinab, die in die Stadt hinunterführten, bis zur Land-

hausstraße. Er klingelte an einem Haus, auf dessen Türschild stand,

daß m an h ier im Sinne der «anthro poso phisch or ientier ten Ge is teswis-senschaft» zu wirken sich bemühte. Eine freundliche ältere Dame ließihn ein und erkundigte sich nach den Wünschen des Besuchers. Er

wolle nur den alten Raum betrachten, den Säulenraum, der doch, so

hoffe er, erhalten sei. Er sei vom Krieg fast vollkommen zertrümmertworden, erfuhr der unerwartete Besucher, doch habe man ihn wieder

aufgeba ut, nach alten Plänen. Erst jüngst sei er e röffnet wo rden und be-so nders feierlich en Anlässe n gew eiht. Die Dam e h ielt auf einm al inne,blickte Freeman forschend an und fragte:

«Sind Sie M itglied de r Ge se llscha ft?»«Nein, das bin ich nicht», gab Freeman auf das freundlichste zur

Antwort.

«Nun, dann ka nn ich Ihnen leider keinen Zutrit t lasse n!»

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«Oh, wie schade!» sagte Freeman. «Wie gerne hätte ich den Raum

gesehen!» Wieder blickte er die Frau ganz freundlich an. Dann blitzten

seine Augen voller Schalk.

«Kennen Sie die Anekdote von dem Menschen, der nur für ein paar

kurze Stunden Mitglied werden wollte, damit er zu den Aufführungenzugelassen werde, die man in München gab?»

«Sie meinen die Mysterienspiele vor dem Ersten Weltkrieg?»

Freeman nickte stumm und freundlich. Die Dame blickte ihn schon

wieder sanfter an. Ihr Interesse schien geweckt. Sie dachte nach. Plötz-

lich glitt ein Leuchten über ihr Gesicht.

«Ja, natürlich, das war doch unser Stein! Nicht wahr, der wollte

doch als junger Dachs die Aufführungen sehen ...»

«... war aber noch nicht Mitglied der Gesellschaft», fuhr Freeman

trotz der Unterbrechung sehr bestimmt und höflich fort. «Und daher

wollte ihn das Fräulein an der Kasse erst nicht reinlassen, nicht wahr?»

«Ja, ja, genau! So war's! Dann kam jedoch der Doktor und meinte

ganz belustigt zu ihm: <Nun, mein lieber Stein, sie müssen Mitglied

werden. Die Dame tut nur Ihre Pflicht. Doch Sie können nach der Auf-

führung ja sofort wieder austreten!> — Ach, wie großartig der Doktor

war, nicht wahr?» Die Dame am Empfang begann zu schwärmen.«Nicht wahr, Herr ...»

«.. . Free m an.»«Großartig, nicht wahr, Herr Freeman!»

«Ja, gewiß, das war wirklich großzügig vom Doktor, sehr, sehr

großzügig von ihm!» rief Freeman in bewußter Modifikation des eu-

phorischen Adverbs. «Da haben Sie ganz recht! Sehr großzügig von

ihm!» Freeman schaute nun die Dame wieder ganz besonders liebens-

würdig an. Da sagte sie auf einmal kurz entschlossen:«Na gut, ich drücke beide Augen zu. Dort hinten ist die Treppe, die

hinunterführt. Schauen Sie sich nur den Raum in aller Ruhe an. Ich

habe hier zu tun.» Sie zeigte durch ein Glasfenster auf einen übervol-

len Schreibtisch. Und, wie es schien, nicht ohne Stolz auf Ihre neuge-

borene Großmut, fügte sie hinzu: «Und bei mir benötigen Sie nicht ein-

mal für fünf Minuten eine Mitgliedskarte!»

«Sie übertreffen noch den Doktor!» scherzte Freeman. «Ich dankeIhnen sehr. Ich danke Ihnen.»

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Free m an neigte leicht das Ha upt und ging dann in den Säulenra um ,der zur Zeit ganz lee r wa r. Er ha tte eine Kuppeldecke, die a uf vierzehnSäulen ruhte, deren Kapitelle merkwürdige Formen zeigten. Zweimal

sieben Säulen standen sich in dem ovalen Raum, die stark gewölbte

Decke tragend, gegenüber. Wand und Decke waren blau bemalt, die

Säulen paarweise aus ganz verschiedener Holzart. An den Wänden

ware n zweim al s ieben Rundbilder zu se he n, die an Szenen aus der O f-fenbarung des Johannes zu erinnern schienen.

Freem an atm ete t ief e in und sah s ich lange al les a n.Eine halbe Stunde später nickte er der Dame, die ihn eingelassen

hatte, lächelnd durch das Fenster zu, verließ das Haus, das ihm so

wichtig schien, und stieg zur Haussmannstraße hoch.

Den A bend brachte er in der Pension Re gina a n der Alexanderstraßezu.

Stuttgart, Samstag, den 2 1. F ebruar 199 8Liebste F iona,

ich wollte eben das Ho tel verlassen, als mich in B asel noch D ein letzter Brief

erreichte. Wie klingen unsere Seelen innerlich zusammen ! Unsere B riefe, die

sich wieder kreuzten, drehen sich von gan z verschiedener Seite her zugleichum Lohengrin! W as D u als «Lohengrin-St imm ung» beschreibst , ist ja soschön und wahr beschr ieben! Wa r Ba sel schon in an derer Hins icht e ine«Reise-Wende», so gilt das auch für diese «Stimmun g»: Du ha st sie mir durchDeine schönen Worte für die ganze F ortsetzung der Reise m itgegeben, als spi-rituellen Zusatzproviant gewissermaßen. Er kam zur rechten Zeit, denn hieran diesem O rt entstand ja einst mein G ralsbuch. Un d hier an diesem O rt er-

lebte ich zum ersten M al das leibfreie Bew ußtsein. Hier war ich selber «Lo-hengrin» gewo rden. Der Sc hwa n, der ihn geleitet, ist das Symbol der drittenStufe aller Einw eihung, auf der der Schüler allem Irdischen für eine W eile ab-zusterben lernt; das entspricht bewußtseinsmäß ig einem vollen Leer-Bewuß t-sein, das ich noch erläutern werde. (D as leere Bew ußtsein ist die Vorausset-zung der Inspiration.) Die ersten beiden Stufen sind das Studium, dan n folgtdie Imagination, die Inspiration und schließlich die Intuition. Basilius Valen-tinus bringt mit dieser Vierheit vier bestimmte Tiere in Z usamm enhang: R abe

(Studium), Pfau (Imagination), Schwan (Inspiration), Pelikan (Intuition).

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Wie treffend ist z.B. doch die Cha rakteristik Imagination = Pfau! A uf der Ima-ginationsstufe ist ja gleich die luziferische G efahr vorh and en, sich in denReichtum dieser selbstgeschaffenen Bilderwelt buchstäblich zu verlieben; werin ihr «herum stolziert», «herum pfaut», der ertrinkt leicht in der Bilderflut.

Das W eiß des Schw anes deutet darauf hin, daß alles Fa rbig-Bildliche auf höhe-rer Stufe wieder überwu nden w erden mu ß. Wer an den B i ldern fes thäl t ,komm t nicht weiter. Und w as den P elikan betrifft, so ist er also der exakt-ima-ginative Ausdru ck der Intuition. Un d ich finde es sehr schön, daß Du im a me-rikanischen Artus-Gralsgebiet am Pa zifik auch noch P elikane sahst! Sie pas-sen ja so gut zur intuitiven Seite De ines Wesen s.

Nun strei fe ich no ch ein, zwei T age lang durch Stuttgart, das m ir letztes

M al so viel bedeutet hatte . Hier war in mehrfacher B eziehung d ie eigent-liche Wen de me iner letzten Lebenspilgerfahrt geschehen. Sie führte michvom O sten na ch dem Westen ( je tz t re ise ich in umgekehr ter Richtung) —

über Stuttgart. Hier fand ich m eine Lebensstellung in d er ersten W aldorf-schule.

Ich stand am frühen Na chmittag mitten auf dem großen Pau senhof, aufdem noch eine a lte, mir vertraute Linde wäc hst. Inmitten all der Schüler! Wiefühlte ich mich plötzlich wieder in dem alten Elemen t! Am liebsten wäre ichnun einfach in den nächsten Klassenraum gegangen, um zu u nterrichten;nein vielmehr: um m it Unterrichten fortzufahren. Es war mir ganz, als ob ichselbst nur in der P ause wä re, viele Stunden hinter mir und viele Stunden vormir hätte. Eine leise We hmu t zog mir da durchs Her z, als ich mich de r Zeit er-innerte, die ich hier durchlebte. Sie war so reich und sch ön, in manch erlei auchschwer! P lötzlich sah ich nichts mehr u m m ich her; doch tauchten innerlichGesichter auf, mein edler, guter Wiener Jugendfreund, meine ungarische Frau,

ich selbst, mit Nickelbrille, in grauem, etwa s ausgebeultem A nzug, beide Ta-schen vo llgestopft mit Bü chern für den U nterricht in W eltgeschichte; unddann der M eister, wie er selber oftmals über diesen Hof geschritten kam unddie Kinder an ihm hingen wie die Trauben an der Rebe. Ich unterdrückte dieseBilder w ieder, denn sie kamen ungeru fen, und ich will auch nicht von geisti-gen Erlebnissen jema ls überwältigt werden ... Natürlich hat sich viel verän-dert, an den Bauten, und vor allem an den «Kindern», wie w ir sie noch bis zur12. Klasse nannten. Ein Oberstufenschüler flitzte auf dem Rollbrett dicht anmir vorbei und lächelte verschm itzt und pfiffig. Ich nahm es a ls ein Zeichen,

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daß diese Jugend a lles Lebensgleichgewicht in der Bew egung finden will undnicht in starren P ositionen ...

Natürlich hielten hier auch Walkmen od er PC s Einzug, wie an Köpfen oderTaschen leicht ersichtlich w urde. Und a uch jugendliche Paare sieht man hier,in einer Art sich ihre Seelennähe körperlich bekundend, wie das undenkbarge-

wesen w äre vor siebzig Jahren — ich will sagen: vielleicht nicht ganz nach A rtvon R omeo u nd Julia ...

F iona, diese Dinge müssen alle kommen un d können, falls sie auszuartendrohen, nur in rechte B ahnen finden, falls die Lehrer innerlich stets den Bezugvon B ild und G egenbild erleben können. Was ich dam it meine? Es gibt im heu-

tigen «Kulturleben» vier Feinde (u m nu r die auffälligsten aufzuzählen) derdrei höheren Erkenntnisstufen, die doch aber gleichfalls kommen m üssen:

1. Visuelle M edien (auch die Welt der PC s gehört zum T eil dazu) sowie 2 .D rogen* stehen freier innerlicher Fä higkeit zur Imagination entgegen: DieseM edien oder D rogen sind Imaginationsabtöter. 3. Akustische Berieselung deseinzelnen schließt diesen in sich se lbst und seine kleine W elt ein, statt ihmdurch Inspiration das «K lingen» aller Weltgesetze mehr u nd m ehr zu offen-baren. 4. Sexuelle Prom iskuität und wah llos freizügiger U mgang m iteinander

kann das Urbedürfnis nach Vereinigung mit dem ganz realen G eistwesen imandern M enschen vollständig verdecken.

Da s sind potentielle Gegenbilder, die die Jugend zu beherrschen drohen .Du verstehst mich recht: Natürlich können PCs beispielsweise nützlich sein.Doch, daß m an sie zu seinem N utzen einsetzt, das ist eben erst zu lernen. Hierist der wesenha fte G egner jedoch nicht zu unterschätzen: im W orld Wide We bsitzt Ahrima n wie eine Spinn e, um die individuelle Intelligenzleistung durcheine A rt von W eltenintell igenz, mit der der einzelne «ve rnetzt» w ird, zu er-setzen. Wer im «Netz» sein Eigendenken voll bewa hrt, der trägt die Geistig-keit von M ichael auch in die Sphäre seines Geistesgegners. Doch das ist nicht

so leicht, wie manche M enschen meinen. Wie sagte doch der M eister? Ahri-man wil l den M enschen die individuelle Intell igenz wie «W ürmer au s derNase ziehen» und diese W ürmer zu einem groß en kosmischen Intelligenz-wurm haufen amassieren, den er verwaltet, Ahriman. Un d das versucht erheute u.a. vermittels einer weltweiten Vernetzung unzähliger elektronischerRechner und Informationsspeicher zu erreichen. Seine stärkste Suggestion auf

* Dro gen sind naturgem äß auch Fe inde der zwei nächsten Stufen de r Erkenntnis .

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diesem Felde: Quantitativ prinzipiell unendliche Informationsinhalte seien al-

ler Denkleistung des Einzelmen schen übe rlegen. Diese Suggestion gilt es zudurchschauen, dann kann auch mit dem W WW im Sinne M ichaels , und dasheißt vernünftig, umgegangen w erden. Bei diesen D ingen handelt es sich nir-

gends um ein Entweder-O der, sondern darum, daß die Jugend lerne, ihnenüberall den rechten Platz und Stellenwert zu geben. Da s aber wird nur m ög-lich sein, wenn die Lehrer neben dem gew ohnten Ge genstandsbewußtsein, wodas Studium e inzusetzen hat, auch die höhere n drei Stufen der Erkenntnis insich selber auszubilden im B egriffe stehen. Auf keine andere W eise werden siemit den so zahlreich werdend en G egenbild-Erscheinungen in der Jugend fer-t ig werden . Nur wer voll durchschaut, von welcher hohen F ähigkeit diesesoder jenes eine G egenbildtenden z darstellt , kann im Sinne eines gan z be-

stimmten Urbilds korrigierend wirken.Do ch hier fällt mich eine bange So rge an. Wen n ich mir die Lehrerantlitze,

die ich heute mittag sah, noch e inmal innerlich vergegenw ärtige, so ergibt sich

leider ein gemischter Eindruck. Es gibt jetzt nämlich offenbar auch solche Leh-rer, die den Weg der h öheren Erkenntnis (der ja, recht begangen, immer a uchmoralische Erhöhu ng oder Stärkung mit sich bringt) anderen zu gehen über-lassen möchten, w enn sie ihn nicht überhaupt für überflüssig halten. Dochauch ernste, wache A ugen und G esichter habe ich gesehen.

Als ich das G elände dann verließ, trug ich eine große Hoffnung oder Bitte in

der Seele: daß das pädagogische Wirken, das hier einst den Ausgan g nahm, denokkulten Impetus behalten möge (im S inne der erw ähnten S elbsterziehung).Das wird aber nu r möglich sein, wenn das Un terrichten völlig frei bleibt vonden jesui t ischen B estrebungen der gegenw ärtigen G esel lschaftsführun g!Schwere K ämpfe werden hier noch durchzufechten sein, Fiona. Die Gesellschaftist nicht mehr zu retten, da sie ja von deren eigner Leitung vom Geiste unseres

M eisters fast restlos losgerissen wurde. Umso m ehr muß seine menschenseelen-rettende Erziehungskunst unbeschadet in das 21. Jahrhundert kommen können!

Es war in meiner Seele wie ein stilles «Beten» zu den spirituellen Mächten, diedem «F estesakt der W eltordnung» (wie der M eister diese Schulgründung einstnannte) ihre Weihe gaben. M ögen sie sie weiter geben. Das w ird jedoch nurmöglich sein, wenn d ie Unterrichtenden in Dankbarkeit zu diesen M ächtenblicken lernen. Dazu gehö rt okkulte Selbsterziehung.

Als ich mich ein letztes M al nach den Ge bäuden um sah, vergegenwä rtigte

ich mir im Innern voll bewuß t die edle, markige Gestalt des Schulgründers:

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Emil M olt, die Reinkarnation von Karl dem G roßen, wie Du Dich erinnernwirst. Hinter dieser Schulgründung steht schicksalsmäßig also wiederum dasneunte, wichtige Jahrhundert, mit dem wir doch so tief verbunden sind. D erM eister sagte uns einmal, in unseren Klassen säßen viele Seelen, die früherLeibern angehörten, welche in den Sachsenkriegen dieses Kaisers umgekomm en

waren.

Was ich hinterher getan u nd äu ßerlich un d innerlich erlebte, werde ich D irmorgen schildern.

22 . Februar, Sonntagmorgen

Nach e iner langen, reichen Nacht w ill ich D ir nun W eiteres berichten. Ichschrieb von meiner ersten Leibfreiheit, die ich hier in Stuttgart vor mehr als sieb-

zig Jahren vollbewußt erlebte. Heute war ich in dem wunderbaren R aum, in dem

sich dies vollzogen hatte. Es ist ein mittelgroßer Kuppelraum — aus drei Elliptoi-den kunstvoll konstruiert, mit zwei R eihen von je sieben Sä ulen und den zwei-mal sieben Siegeln an den Wänden , die wir ja gut kennen und die zum größtenTeile mit gewissen Szenen au s der Offenbarung im Zusammenhange stehen.

Dieser Raum war dan n im K rieg fast vollständig zertrümmert worden. Vor

ein paar Jahren stellte man ihn wieder her. Er ist dem P ioniermodellbau nach-

gebildet, der in M alsch bei Rastatt steht, nur im M aße dreima l größer, so daßer vierzig, fiinfzig Me nschen faßt — ein würdiger Versam mlungsort für uns 48!

Du erinnerst Dich an M alsch: M ein damaliger Unterrichtskollege Stock-meyer hatte nach dem M ünchener Kongreß von 19 07, wo die Säulen und dieSiegelbilder erstmals sichtbar waren, den Impuls, beim Meister nach dem Bau-gedanken an zufragen, der ihnen, wie er meinte, doch zugrunde liegen müsse.Der M eister war zutiefst erfreut und mach te ihm sogleich die erste Skizze. Soentstand der M alscher Bau. Die K apitellmotive der sieben Säulen fanden sich

dann später in dem ersten Dop pelkuppelbau in Dornach wieder.Ich schritt von Säulenpaar zu Säulenpaar u nd sah m ir die M otive an, als

hätte ich sie nie gesehen. Erst die Saturnsäule, dann d ie Sonnen- u nd d ieM ondensäu len, die komplizierten M erkursäulen, dann die Jupiter- und Ve-nussäulen. Du weißt , daß diese geist-geschöpften Fo rmen d ie Essenz derganzen Erdentwicklung zeigen, welche durch die sieben planetarischen Ent-wicklungsstufen geht — vom Saturn bis zum Vulkan. Die M otive fangen bei

den Saturn-Formen an und enden bei den Venus-Formen. Das Vulkandasein

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der Erde liegt ja über alles heute Vo rstellbare so ungeheuer weit hinaus, daßder M eister davon keine F ormen schuf; dafür zwei Formstrukturen für die bei-den Haup tabschnitte der Entwicklung unserer Erde: die M ars- und M erkur-phase. Wie wunderbar berichten diese Fo rmen vom G esetz in allem Werd en:

Aus der Einfachheit entsteht das K omplizierte, dann erneut, jedoch auf höh e-rer Stufe, wiederum die Einfachheit.

F iona, das gilt ja auch für jedes «kleine Werden» innerhalb des großen W el-tenwerdens! Das kleine W erden meiner Reise durch Europ a beispielsweise ...

Lange s tand ich zwischen d em komplexen M erkurkapi te l l und den soschlichten Jupitermotiven.

Vor über siebzig Jahren fand ich innerhalb der eigenen Entwicklung mei-nes G eistes den Impuls, vom M erkurwerden in den Jupiter den Ü bergang zu

machen ; ersteres entspricht dabei dem Gegenstand sbewuß tsein, wie es heutevoll entwickelt ist; «Jupiter» dem imaginativen kün ftigen B ewußtsein u nsererMenschheit.

Hier in Stuttgart wurde dam als so viel Zukunft in m ir angelegt, daß ichdavon w ohl noch in vielen Leben werde zehren kön nen! D och ich schweifeschon voraus!

In diesem Kuppelraum hielt ich gestern also Rückschau auf den feierlichen

Au genblick, als ich vor ü ber siebzig Jahren, a us dem Leib befreit, die großeRückschau in die letzten Erdenleben hatte. In die Zeit Almeydas, in das un swichtige Jahrhundert von P apst Nikolaus usw. Ich habe D ir davon ja oft er-zählt . Es war an einem Sonntagmorgen vor 74 Jahren. Die Weihehandlungmit den Schü lern, innig zelebriert von einem F reund. Ich wu rde auf denÄtherwellen ganz bestimmter M antren aus dem Leib getragen. — So glaubteich es damals. Es ist auch wirklich wahr, doch ist es nicht die ganze Wahrh eit.Heute kann ich sehen, daß noch etwas a nderes im Spiele war. Zwar h atte ich

die erste Stufe zeitgemäßer G eistesschülerschaft nach vielen Jahren m it sehrsicherem Erkenntnisschritt erklommen; doch um zu diesem Schauerlebnis auf-zusteigen, half ein weiteres, das bisher un beachtet blieb, entscheidend m it. Die

F ormen, die ich hier erneut bewun dern lerne und die mir wiederum den altenBa u von Do rnach vor das A uge zaubern, sie wiesen mir die Spur. Diese For-men sind ja so gebildet, daß sie im B etrachter etwas w ecken können. Etwas,was in jedem M enschen lebt, der heute inkarniert ist; ich sage lebt, denn, ob-

woh l es eben lebt, ist es zumeist von tiefer Nacht der U nbewuß theit fest um-hüllt. Doch die Formen dieses Baus wecken dieses Etwas leise auf; beim einen

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mehr, beim andern w eniger. Du wirst erraten, was ich sagen möchte. Siewecken auf das schlummernde Vermögen wahrer Karm a-Schau. «Karma-schauen-erweckende-Formen» hat der M eister in den B auformen von M aischund Dornach gleichzeitig hineingeheimnißt als au ch offenbart. Und heutenacht wurde mir klar: Weil ich selber solche Formen ha tte auf mich wirken las-sen dürfen — ich meine nun in meinem letzten Erdenleben — , wurde ich, als ichin dieser Stadt den Leib verließ, in die Karmaschau getragen, in das Panoramameiner karmischen Vergangenheit. Daß ich damals dafür wach geworden bin,verdanke ich nur zum geringen Teil den eigenen Bemühun gen; weit wichtiger— ich sollte vielmehr sagen: weit erhebender — war für mich die Schicksals-gnade, immer wieder unter solchen Formen frei herumw andeln zu dürfen.«Karmaschauen-erweckende-Formen» w aren abgebrannt, als der erste Bau

verbrannte. Das w ar der eigentlichen G egner größte Schadenfreude. «Karma-schauen-erweckende-Fo rmen» müssen wiederum erstehen. Auf das Jahr 2080hin würden w ieder solche Kupp elbauten blühen, in der ganzen Welt. So sagteunser M eister vor dem Bran d des ersten Baues dieser Art in einem Vortrag,den er hier in Stuttgart hielt. Deshalb hat man allen Anlaß , gerade hier in die-ser Stadt dem tieferen Gehalt des Baugedankens und der Sprache seiner For-men nachzugehen.*

In diesen F ormen liegt die eigentliche G rundsubstanz der zukünftigen

Baukunst. Wie die Gotik einst durch ihren Form-Impuls die M enschen lehrte,sich in F rommheit zu den Göttern zu erheben, so wird der M ensch der Zu-kunft von den neuen F ormen lernen, sich in stiller From mheit als ein Gott zufühlen, der durch wiederholte Erdenleben schreitet. — Du siehst, weit mehr alseinzelne Erlebnisse von dam als interessiert mich nu n das F ormen-Element,das meinem alten Schauen F lügel lieh.

Auch die Siegel machten einen tiefen, neuen Eindruck auf mich. Ganz be-

sonders gilt dies für das siebte Siegel, das in dieser Art vom M eister neu ge-schaffen wurde und in der O ffenbarung des Johan nes nicht enthalten ist. Esist das Gralssiegel, mit dem dreidimensionalen W ürfel — dem Stein der Wei-sen, aus d em die Sch langenkraft aufsteigt, in einer Art von Lemniskatenform,um sich dann im W ende- oder besser Umstülppu nkt der Lemniskate zu ver-

* Was s ie gegenwärtig m it dem zweiten Bau in Dornach tun, is t zum T eil ein abge-schmacktes Nachahmen der Formen aus dem ersten Bau. «Karmaschein-er-

weckende-Form en» kom m en dabei höchstenfalls he raus .. .

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wan deln: Physische T riebkraft wird zu geistiger Be wegungskraft, die zumGral erhebt, der sich kelchförmig im Zeichen einer Taube aus der Höhe umge-kehrt herniedersenkt. Du hast die Bilder ja in Deinem Arbeitszimmer. —

Der A nblick dieses Siegels brachte mir mein Gralsbuch neu zur Anschau-

ung. Ich ließ es 192 8 hier in Stuttgart drucken. Ich zeigte darin nach den Hin-weisen des M eisters den wa hren Hintergrund der G ralserzählungen imneunten na chchristlichen Jahrhund ert und zog die Fä den von den d ichteri-schen Gralsgestalten zu den ganz real-historischen Personen, die dem Dichterinnerlich vor Augen stand en. Ich entdeckte beispielswe ise hinter KlingsorLandulf von C apua (der später dann in Hitler wirkte). So war es auch keinWunder, daß ich eines Tages vom Reichsinnenministerium der Nazis aufgefor-dert wurde, zu den von ihnen angestrebten Gralsforschungen beizutragen. Ich

lehnte das natürlich ab, doch um den Preis, aus Deu tschland fort zu müssen.Das war der eigentliche Grund, warum ich vor bald 66 Jahren dieses Land ver-ließ. Wen die Nazis nicht für sich gewinnen konnten, dem trachteten sie nachdem Leben, umsom ehr, wenn er noch halber Jude war ... In England traf ichdann d en armen R avenscroft, der mein Gralsbuch kannte und mein Schü lerwerden wollte. So wie ich selber einst von unserem M eister als ein Schüler an-genommen wurde, so nah m ich Ravenscroft als Schüler an. Zwar ha tte er sich

schon auf manchen W eg verirrt, doch war sein Streben damals echt. Ich halfihm auf dem Weg der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis, wie ich wirklichglauben darf, ein gut Stück vorwärts. Ich schenkte ihm Vertrauen und erzählteihm auch mancherlei, was nicht im Gralsbuch steht. Nach meinem Tod erlag eraber der Versuchung, einen Sensationsroman aus dem zu machen, was ich ihmeröffnet hatte. Du erinnerst Dich doch an sein Buch Der Spee r des Schick-sals, das wir eines Tages in Vancouver in der M etropolitan-Buchhandlung er-blickten und um das ich au f der Stelle und zu D einem nicht geringen Staunen

einen großen B ogen mach te, weil ich sogleich ahnte, welche Schiefheiten undUn wah rheiten darin sind. Nun lief ich nach der An kunft hier im Bahn hofgleichsam in das Buch hinein. Da es doch sehr viel berührt, was eben mit Er-lebnissen zusammenhängt, die ich einst in Stuttgart hatte, überwand ich michund nahm es mit. Was finde ich darin nun schwarz auf weiß, was mir mein Ah-nen längst schon sagte? Z um B eispiel F olgendes: Ravenscroft bringt mich inVerbindung m it dem «F ührer»! Ich hätte, so behaup tet er, mit Hitler in derSchatzkammer der Wiener Hofburg vor der Lanze des Longinus, dem Speer, dereinst die Seite Ch risti zu durchstechen hatte, höchstpersönlich selbst gestan-

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den! D as ist natürlich reiner Schw indel, doch gab's der Sache P rickligkeit undPfeffer. Ein Schüler aus der neuen Ritterschaft des G rals und «Klingsor» — vordem Heiligen G ralsspeer! W ahrscheinlich steckte auch der H err Verleger hin-

ter dieser prächtigen Erfindung; Rave nscroft war ja in finanzieller Hinsichtmeist ein armer Schlucker. So kann A rmut (und in diesem F all wohl auch noch

Ehrgeiz auf okkultem F elde) korrumpieren.Seitenweise schiebt das Buch mir selbst — und manchm al auch dem M ei-

ster! — Dinge in den M und, die nur aus Ravenscrofts und des Verlegers Hir-nen stamme n. Auch was die M oltke-Do kumente anbetrifft, von denen ich dem

«F reund» vertrauensvoll gesprochen hatte, wird der reinste U nsinn aufge-tischt! Sie, Eliza, hätte nach dem Tod e ihres Gatten die Post-mortem-B rückeaufgebaut. Sie hätte diese M itteilungen im Jahre 1 91 6* selbst empfangen! Und

wa s für M itteilungen! Der tote M oltke Rav enscrofts spricht vom A ufstieg Le-nins (der natürl ich in den wah ren D okumenten nicht einmal genannt ist);oder warnt vor H itler, der nach der verstorbenen M oltke-Seele (!) der wieder-

verkörperte Landulf von Capu a sei. Usw. U sw. — So kann persönliches Ver-trauen in der G eistesschülerschaft natürlich auch zum M ißbrauch Anlaß ge-ben. Auch d aß ich spä ter Ch urchill über Hitler aufgeklärt, ja sogar «beraten»haben soll, ist absoluter Schwindel.

Ein anderes E reignis, das mit Stuttgart fest verbunden ist & das m it dem er-wä hnten Unsinn da und dort zusamm enhä ngt, trit t mir wieder ins Bew ußt-sein: Die Verh inderung der vo rbereiteten Veröffentlichung der un s gut be-kannten M oltke-Aufzeichnungen, die den K riegsausbruch im Som mer 19 14schildern. Diese Aufzeichnungen zeigen, wie verwirrt der Kaiser und die ober-sten M inister am V orabend d es Ersten Weltkriegs dachten un d agierten. Sie

hätten, rechtzeitig im Frü hjahr 19 19 in die Welt getragen, ganz zweifellos ver-hindert, in Versailles den für De utschland/Österreich so fatalen Alleinschuld-paragraphen du rchzudrücken. Die ganze deutsche Rechte hat von diesem P a-ragraphen parasitenmäßig ungeheuer profitiert. Du rch Un geduld von M olt(!) wa r ein erstes Exemplar der kleinen Sch rift in falsche Han d gelangt. Diedeutsche Heere sleitung protestierte — schickte einen M ann nach Stuttgart, um

* In Wirklichke it ha t der M eister zwische n 1916 und 1924 die Post-m o r t e m -Mittei-

lungen inspiriert bekommen.

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beim M eister selbst die weitere Verbreitung der gera de frisch gedrucktenSchrift zu unterbinden. Fü nf Stunden, Fiona, sprach der M eister mit dem O f-fizier in einem Raum der alten Schule. Deutsche «Ehre» lasse es nicht zu, denK aiser in der Ö ffentl ichkeit in solcher W eise bloßzustel len, w ie es diese

M oltke-Aufzeichnungen sachlich tun. Deu tsche «Ehre» siegte da mit übermenschliche Vernunft! Der M eister schwieg und fügte sich. Was hä tte er auchunternehmen sollen? Hätte er die Schrift verbreitet, hätte doch die deutscheHeeresleitung die Brosch üre in der Ö ffentlichkeit auf der Stelle «widerlegt»!In Versailles hätte es ein Hohnlachen gegeben — ob solcher deutscher «Einig-keit» in Sachen Kriegsschuldfrage! Vor de r W eltgeschichte: ein Versinkendeutschen G eistes, der nicht «Ehre», sondern Wah rheit braucht ...

M olt stand da mals in den Vo rbereitungen zur Schu leröffnung. Ein guter

Teil des intensiven Enthusiasmus, m it welchem er zu Werke ging, stammt ausder bitteren Erkenntnis über die fatalen F olgen seines unbedachten H andelnsin der M oltke-Sache. So «profitierte» die Erziehungskunst des M eisters voneinem w ahren U nglück auf der Ebene der großen Politik ...

~

M orgen werde ich noch eine A usstellung besuchen, auf die man m ich in der

Pen sion, in der ich dieses schreibe, aufmerksam gemacht hat. Od ilon Redon,eine seltene Gesamtwerkschau, wie man mir versichert. Ich berichte Dir nach-her. Auch w erde ich dann etwas sagen über da s, was M editieren für michheißt. Dein H .

Auf dem We g zur Ausstel lung pass ier te Freem an anderntags e ine Au-tographenhandlung. Von Handschriften bereits in seiner Schulzeit

äußerst fasziniert, beschloß er, ganz kurz einzutreten. Er hatte sichnicht lange um gese he n, als ihn e in ältere r , doch a uffallend agil geblie-bener grauhaariger Herr ansprach.

«Kann ich Ihnen helfen?»«Danke, nein. Ich sehe mich nur gerne um. Wissen Sie, ich liebe

Autograph en, seit dem Zeitpunkt, als ich lese n lernte», sa gte Fre em anfreundlich, ohne den amerikanischen Akzent gewissermaßen aus-

zuzieh en, wie er e s m eist tat, wenn er irgendwo in offiziellem Ra hm ensprechen m ußte oder wenn er Fiona aus den We rken ihre s Lehre rs vorlas.

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«Auf Reisen?» fragte teilnahmsvoll der Autographenhändler.«Auf Diplo m atenre ise durch den schöne n alten Erdteil.»«Ein Diplomat, der Autographen liebt ...», sagte der Besitzer im

Tone eines Connoisseurs, der einen neuen Wein probiert und dessen

Urteil in der Ke lter de r Erfah rung reif gewo rden wa r. «Nun, da m uß ich

Ihnen meine neueste Entdeckung zeigen! Heute morgen erst hier ein-getro ffen ...»

Freem ans Neugier war gewe ckt. Der Her r nahm ein in blaue De ckeleingebundenes Typoskript zur Hand, öffnete die erste Seite, hielt sie

Freeman hin und sagte:

«Das ist die erste Doktorarbeit über Anthroposophie, die je ge-

schriebe n wurde. Von W . J. Stein. Da s o riginale T ypo skript!»De r M ann h ielt plötzlich inne, wie s elber überra scht von der direk-

ten Art, m it diesem eve ntuellen Kunden gleich in m edias re s zu sprin-gen, und sagte m it ganz leicht ges enkter Stim m e:

«Verzeihen Sie, Sie wissen doch, wovon ich rede, nicht wahr?» Er

scha ute Freem an m it dem Ausdruck von an Sicherh eit grenzender Ver-mutung an.

«Welcher wahre Zeitgenosse könnte denn die Anthroposophie nichtkennen?» sa gte Freem an, diplom atisch lächelnd.

«Nun, seh en Sie, das a hnte ich so gleich, daß Sie die Ge istesw issen-scha ft von Steiner kennen!» Froh , die s elbstgeba ute K lippe unerwa rtetleicht umschifft zu haben, fing der Händler zu erläutern an:

«Diese A rbeit is t ein Unikum . De r Schüler sch rieb, der M eister kor-rigierte, und später gab der Schüler beides in den Druck. Doch vorher

schickte Stein die Arbeit nach Berlin, wo Steiner alles durchlas.» Der

Bes itzer sch lug die T itelse ite a uf.«Hier seh en Sie den Stem pel des Kriegsm inister ium s.» Freem an las:«Vom Pressebureau des Kriegsministeriums genehmigt. Wien, am

22. Februar 1918.»Freem an h ielt kurz inne.«Ach, sieh da, der gleiche T ag wie he ute!» rief der Händler plötzlich

voller Freude.«Der gleiche T ag wie h eute», wiederho lte Freem an h öchst ers taunt,

doch ganz gelassen.

«Wir betrachten also diese K os tbarkeit genau am rechten T ag!» Der

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Händler blätterte in freudiger Erregung vor Freemans Augen langsam

weiter. «Schauen Sie: Das hier sind alles Korrekturen Steiners, mit dem

Blaustift hingeschrieben, den man damals hatte. — Stellen Sie sich vor:

bei all der Arbeit, die er selber hatte, sieht er eine Schülerarbeit durch,

Blatt um Blatt. Dazu nahm er sich Zeit!»«Sehr erstaunlich in der Tat!» sagte Freeman dezidiert, während er

die Blaustiftkorrekturen ganz genau betrachtete. Der Händler hatte

nun die Seite 48 aufgeschlagen. Rund um die Ziffer 48 am Kopf der

Seite stand in blauer, leicht verblaßter, kleiner Schrift ein mehrzeiliger

Zusatz. Freeman beugte sich leicht vor und las in einem Zuge leise

vor:

«Durch eine solche Vorstellungsart ist man aber genötigt, das <Ich>

nicht abgetrennt von dem Weltall — auch nicht nach Vergangenheit undZukunft — zu denken. Es setzt sich nur ein Prozeß fort, der schon da

war, in der Abgliederung dessen, was als <Ich> vorgestellt wird und der

auch nicht aufhören kann, wenn das aufhört, was als Ich vorgestellt

wird.»

Von Freemans Dechiffrierkunst außerordentlich beeindruckt, blät-

terte der Händler eine Weile schweigend weiter. Dann schlug er noch

die letzte Seite auf und sagte: «Sehen Sie, die Korrekturen gehen bis

zum allerletzten Absatz durch.»

Freeman schaute auf den letzten Absatz, optisch eine Mischung aus

den stark verblichenen Maschinentypen und den von Hand geschrie-

benen Worten oder Satzteilen am Rand der Zeilen oder auch dazwi-

schen, und er begann die letzten Sätze auf der letzten Seite wieder

halblaut vorzulesen:

«Diese Betrachtungen zeigen, daß im menschlichen Bewußtsein die

höheren Bewußtseinsarten keimhaft veranlagt sind; und wie das ge-wöhnliche Bewußtsein seine Wirklichkeit in der Durchdringung der

Wahrnehmung mit Begriffen und Ideen findet, so finden die drei Stu-

fen übersinnlicher Erkenntnis in anderer Art ihre Wirklichkeit. Daß es

von diesen drei Stufen übersinnlicher Erkenntnis Wissenschaften gibt,

sollte durch das Aufzeigen der Erkenntnistheorien dieser Wissenschaf-

ten hier erhärtet werden.»

Freeman schwieg, schaute dann den Autographenhändler freund-

lich an und sagte:

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«Ich danke Ihne n für den Einblick in die K o stbarke it, die Sie h ier inHänden ha lten.» Die be iden He rren sch wiegen eine kleine W eile.

«Vielleicht will Sie der Herr erwerben?» Der Händler blickte nun

den potentiellen Kunden mit höflicher Erwartung an.

«Danke, danke, m eine Reisespes en sind schon ho ch genug!» wehrte

Freeman lächelnd ab. «Und sicher wird der rechte Sammler nicht zulange a uf sich wa rten lasse n!» Freem ans Stim m e klang beinah e tröstend.

«Wir wo llen's ho ffen, wir wollen's ho ffen — obwo hl die Schätzer sol-

cher Dinge doch recht selten sind. — Da s T ypo skript kam he ute m orgenm it der Post he rein. Am 22. des M onats Februar a lso, taggenau geradeach tzig Jahr e, seitdem das W erk die Gre nze nach Berlin pass ierte! Dermir ganz unbekannte frühere Besitzer versicherte in seinem Brief, es

würden h ier gewiß die rech ten Augen a uf die Blätter fallen. — Im übri-gen: Verzeihe n Sie, daß ich Sie m it dem jüngsten m einer Funde überfiel.Doch ich habe gleich gemerkt, daß Sie für so was Sinn und auch Ver-

s tändnis ha ben.» Na ch kurzem Zögern fügte der bejahr te M ann hinzu:«Wissen Sie, man kriegt so mit den Jahren einen Blick für diese

Dinge.»«Einen Blick für diese Dinge . ..», wiederho lte Freem an, währe nd er

dem Händler w ach und lächelnd in die A ugen blickte. Dann w andte er

s ich r a sch zum Geh en.«Auf Wiederseh en!» sagte er in aufgeräum ter Stim m ung.«Auf Wiederseh en! Und gute We iterreise!»Der Autographenhändler hielt dem jungen Diplomaten sehr zuvor-

kommend die Türe auf. Doch dieser ließ zwei Herren, die die Auto-

graphenhandlung eben zu betreten im Begriffe waren, seinerseits aufs

h öflich ste de n Vo rtritt.

Kurz darauf s tand Ha rold Freem an in der Re don-Ausstel lung. Sie warchro nolo gisch a ngeo rdnet, um dadurch die ganz einzigartige Entwick-lung diese s Künstlers anscha ulich zu m ache n, wie die e rs te T afel demBes ucher sa gte, insbeso ndere den «Sprung» aus dem Schwa rzweiß derersten vier Jahrzehnte seines Schaffens in die Welt der Farbe, die die

letzten zwei Jahrzehnte dominierte.

Von Saa l zu Saal wuchs Freem ans Staunen über diesen M aler , auch

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die Ve rwunderung darüber, im letzten Leben nichts von ihm geh ört zuhaben. Die ersten Räume zeigten Redons «noires», wie sie der Maler

zärtlich nannte, wohl wissend, daß die meist in Kohle ausgeführten

Zeichnungen die größten Leh rm eister der Spätgeburt der Farbe für ihnwaren. Da waren Illustrationen zu Flauberts Versuchu ng des heiligenAntonius, zu Gesch ichten Po es, zur O ffenbarung des Johannes; dann auch

Darstellungen visionärer Szenen, die Satyrwesen, Monster oder

Charaktere aus der Welt von Shakespeare zeigten; Caliban etwa aus

dem Sturm oder La dy M acbeth, gerade im Begriffe, ihren Gatten zu derBluttat anzustiften; immer wieder die Gestalt Ophelias im Wasser.

Dann die Motive «Flüchtiger Ruhm», «Falscher Ruhm», «Gestürzter

Ruhm ». Im m er wieder Gesichter m it geschlossenen Augen.

Dazwischen Fa rbbilder , in Öl, auch A quarelle. Doch erst im Saal ab1890 gewann die Farbe gleichsam Oberhand. Nun traten auch ver-

m eh rt Pastel lbilder h ervor . Freem an scha ute s ie s ich einzeln lange a n.«Das heilige Herz» aus den neunziger Jahren: ein Christustorso, das

Gesicht ganz schwarzumhaart, in braun-bleichem Teint, geschlossene

Augen, eine leis ora nge Aura, nicht um s Ha upt h erum , sondern gleich-sam hinter diesem Christushaupt. Vom schwarzen Haar führt ein

blaues Ba nd in die H erzre gion hinunter. Hier durchdringen ro te Strah -

len eine sch warze Wa nd, weiter unten Ge lb, das aus e inem Leuchtzen-trum nach a llen Seiten strah lt.

Dann die Barkenbilder. «Die mystische Barke», entstanden zwi-

schen 1890 und 1895: ein Boot mit blauer Außenwand auf grünem

Meer, helle Schaumkronen da und dort; ein großes, trapezförmiges

Segel aus warmem Sonnengelb, ganzflächig entfaltet und gespannt

dem Bildbetrachter zugekehrt; am Bug des Bootes, fast unscheinbar,

besche iden e in altes Paa r , ganz nahe beieinander s itzend, in die gleicheRichtung scha uend, sie (in Blau geh üllt) das Se gel ha ltend, er das Steu-errude r . ..

Auch zwei kleinere Gemälde hielten Freeman eine Weile fest: ein

Gesicht in gelb-ovalem Spiegelrand, ernster Blick unter halbgeöffnetenLidern, zwei Finger a n den Lippen — «Das Schwe igen». Ein M änner-antlitz, von langem Haar umrahmt, eine Farbpalette vor der Brust aus

leuchtend rot und grünen Blumenblättern, den Zeigefinger (abgewin-

kelt) m it der Ha nd ans Kinn gelegt — «Da s Ge he im nis».

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Dann ein Frauenkopf, mit geschlossenen Lidern, der leichtgeneigte

Kopf von braunem starkem Haar umfaßt, auf zartem blauem Hinter-

grund; wie unterhalb der Schultern abgeschnitten auf heller Fläche ru-

he nd — «Die geschloss enen Augen».Und schließlich ein Gemälde, das Freeman derart festhielt, daß der

Wärter des Museums dreimal sagen mußte, daß die Öffnungszeitvorüber sei: Über einer rosa Seen- oder Meeresfläche ein aufsteigendes

Felsenriff, vom Violett und dann von dunklem Blau fast demateriali-

siert; auf dem höchsten Teil aus rotem Grund heraus links ein nach

rechts gerichtetes Profil, mit fest verschlossenem Auge; aus demselben

Rot auftauchend, doch der Meeresfläche näher, rechts ein Mädchen-

profil, linksgerichtet, das linke Auge fest verschlossen, von zartem wei-

chem Teint; um das Männerprofil ein Schweif aus starkem Grün; das

Mädchenhaupt von Rosa-Violett umgeben — Dante und Beatrice. Eines

der allerletzten Ölgemälde Redons aus dem Jahre 1914, zwei Jahre vor

dem Tod gemalt, heute in Tokio hängend.

Harold Freeman prägte sich besonders dieses letzte Bild in das Ge-

dächtnis ein und verließ als allerletzter Ausstellungsbesucher das Ge-

bäude wieder.

Freemans Zug nach Wien sollte in zwei Stunden gehen. So schrieb er

aus dem Intercity-Restaurant von Stuttgart noch das Folgende an

Fiona:

Stut tgart , am M ontag,dem 23 . Februar 1998 ,18 U hr ,

Intercity-Restaurant

M eine liebe F iona!

Ich sitze jetzt im Bah nhof Stuttgarts , wo ich letztes M al so oftmals angeko m-

men oder w eggefahren war und von dem ich nun auch heute abend wieder indie Ferne fahre — im Nachtexpreß nach Wien.

Ich w ill Dir vor der A bfahrt schildern, w as ich in den letzten beiden T agen

hier er lebte. Zuerst e in herrliches Gem älde: die Köpfe D antes und d er Bea-tr ice, beide im Profil , einander zugew endet, die Augen vo llkomm en geschlos-

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sen. Beide ganz aus Farbe und aus Landschaft (ein Bergrücken und M eer?)auftauchend. Diese Farben, F iona! Dante selbst in ein ganz wunderbares Rotgetaucht, das glüht , doch nicht verbrennt; sein T orso ruht auf blauem ,teilweise auch violettem Felsengrund; das Haupt leicht Beatrice zugeneigt. Sozeigt Redo n Dan tes wesenha fte buchstäbliche Zu-Neigung von innerlicherG lut erwärmt, auf w ahrer, unerschütterlicher Devotion beruhend. B eatricesHaupt von D antes Rot wie aufgenommen , ganz umhüllt, doch innerlich ihrEigenwesen wahrend (heller Teint), ihre Reinheit, die natürliche Aufrichtig-keit (gerade Kopfhaltung) ihres ganzen Wesens. Redon setzt die Liebenden ineine Seelenfarbenlandschaft. Das sind nicht mehr n ur «Dante» oder «B ea-trice», das ist ein jeder Liebende in H ingabe an die G eliebte. Da s ist dieHingabe des M enschen an die reine Seele, an den reinen G eist, Fiona! Denn

alles ist auf diesem B ilde reinstes Innensein. Dieser M aler ist ein M ystiker derLiebe, die im Innern sehend macht. Daher m acht er seinen Liebenden dieAu genlider zu! Immer wieder fand ich sie im G ang durch diese Au sstellun-gen — die geschlossenen Augen. Redon ist der Maler der geschlossenen Lider,we il er innerliches Sehen zeigen möch te, wie ich's noch an keinem an dernfand. Du w ürdest singen wollen, Fiona, könntest Du ein solches Bild be-trachten ...

«Dante und B eatrice» ist eines der letzten Werke R edons: Er m alte diesen

Hymnus auf die Innerlichkeit aller wahren Liebe im Jahre 1914, als sich dieganz geistverlassene M enschheit zum ersten M al im 20 . Jahrhundert weltweit

zu zerfleischen anfing ...Dann malt er Barken, welche über innere Gewässer fahren — wahre See-

lenschiffe.Ein kleines Bo ot zum Beispiel, ganz gebaut aus tiefem Blau d er inneren

Verehrung: mit einem P aar darinnen, still bescheiden beieinander sitzend, er

am Steuer, sie das Segel führend, das in wunderbarem G elb erstrahlt — Gei-steskraft und -klarheit führt die beiden au f der Seelenfahrt ins U nbekannte ste-tig vorwärts! Fiona, Red on hat auf diesem B ild auch uns gemalt, nicht wahr?

«Das h eilige Herz» — ein Ch ristusbild, von dem ich eine gute Abbildunggefunden habe. Wiederum die Augen fest verschlossen, tiefe Sammlung umdas Haupt — und dann die Farbenwelt des wahrsten Fühlens, die, vom Hauptentzündet, aus dem H erzen strahlt. Unbeschreiblich!

Dann stand ich lange Zeit vor zwei kleineren Gemälden, die mir tiefen Ein-

druck machten: «Das G eheimnis» und «Da s Schweigen» — alles dargestellt

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mit zwei G esichtern, mit Han d, G estus sowie F arbe; nichts ist allegorisch,sondern tief erlebt. Auch von diesen B ildern fand ich Karten.

Nun, Fiona, folge mir in Räume, die ich nachher sah: hier hängen

hauptsächlich die Zeichnungen, Radierungen und Drucke R edons. «M es noi-res» nannte sie der M eister zärtlich. Denn w eil er selbst — aus tiefer Ehrfurcht

vor der W elt der Farbe — bis in sein sechstes Lebensjahrsiebt meist bescheidenim Schwa rzweiß verharrte — gebaren ihm die «noires» die unvergleichlichschöne W elt der Farbe a uf den B ildern, die ich Dir beschrieb. Redon ist so et-was w ie ein neuer Rembrandt (den er übrigens verehrte): Aus dem Leben imHelldunkel schritt er zu der F arbe. So war es tatsächlich in seinem K ünstler-leben!

~

Nach dieser wund erbaren Ausstellung folge mir in eine Autograph enhan d-lung. Was mich hier erwa rtete, wirst Du a ber kaum erraten: das Typoskriptder D oktorarbeit, die ich letztes M al in Wien verfaßte und die der M eister vonder ersten bis zur letzten Ze ile durchgelesen h atte und a uf jeder Seite korri-gierte und ergänzte!!! Heu te hielt ich dieses Typoskript erneut in meinen Hä n-den! Der Verkäufer — ein nicht mehr junger, weltgewandter M ann und guterM enschenkenner — muß gespürt haben, daß zwischen diesem Typoskript, das

ihm am selben Ta g erst zugegangen w ar (!) , und meiner W enigkeit ein sehrreales Band besteht. — Wiederum Gelegenheit, mich nach außen völlig zu be-herrschen! Doch im Innern war ich sehr bewegt, wie D u D ir ja denken kannst.Wir blätterten das Gan ze durch, vom En de bis zum Anfang. Ich las des M ei-sters Korrekturen in der so lieben, blauen Schrift. Ich las den Sch lußpassus d er

Arbeit wieder, mit Einfügungen seiner Hand. Sie sprechen von d en höherenBe wu ßtseins- und Erkenntnisarten, die im ganz gewö hnlichen Bew ußtseinkeimhaft schon veranlagt sind.

An einer andern Stelle las ich halblaut, tiefbewegt die Sätze: «Durch einesolche Vorstellungsart ist man aber genötigt, das < Ich> nicht abgetrennt vondem W eltall — auch nicht nach Vergangenheit und Zukunft — zu denken.» Alsich diese Sätze in der Schrift des M eisters nach so vielen Jahren (un d dochzugleich so w enigen) langsam wiederlas, wurde es ganz weit in meiner Seele.D ie Zei t, als ich im F elde s tand und in G efechtspausen an dieser Arbei tschrieb und dachte, stieg vor meinem G eistesauge ins Bew ußtsein hoch. Dochsah ich alles wie von außen . M ein Ich-Erleben wurde w eit und weiter. Ich er-

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lebte mich dabei ganz aus dem Blickwinkel der anderen. Aus dem B lickwin-kel von Vo rgesetzten, Kameraden, au s dem Blickwinkel des M eisters, der soliebevoll und gütig zu mir war und der mir immer A ntwort gab, wenn ich ihnnach etwas fragte. Und ich fragte vieles, wie D u we ißt, Fiona! D as alles dau-

erte nur A ugenblicke. Die Schlußp assage m einer Arbei t bestärkte mich inmeinem gan zen Streben, den Pfad zur höheren E rkenntnis in diesem Lebenfortzusetzen. Wa s ich vom unbegrenzten Ich las, läßt mich jetzt in wun der-barer Weise neu erkenn en, daß da s Ich in Wahrh eit in der Welt zu finden ist,nicht im engen Seeleninn ern. M it heiligen Gefüh len erlebte ich in diesemAugenblick die alte Wahrhe it, daß das nur p ersönliche, begrenzte Ich bloß Il-lusion und M aja ist, aufs neue. Und w o fand ich diesen wundervollen Zusatzunseres M eisters? Auf Seite 48 dieses Typoskriptes! 48 , Fiona, die Za hl von

Dir und Jacques und N ick und Nantjoff und von mir— und allen, die noch zuuns stoßen.

In jedem von uns 48 muß diese Ich-Wahrheit verwirklicht sein. Deshalb istes so grandios und schön, daß mir diese Wahrhe it hier zusammen m it der unsso essentiellen Zahl entgege ntritt, jetzt wo ich ja auf der Sam melreise aller 48bin ...

So kann auch einstmals Unbedeutendes bedeutend w erden, wenn m an nurden Blick für solche Dinge hat ...

Der Zu fall wo llte überdies, daß ich das alte Typoskript am selben Tag (dem

22 . Februar) in Händen halte, als es vor achtzig Jahren auf den Tag genau dieGrenze nach B erlin passierte, wo es dann v om M eister durchgelesen wurde ...

Solche «Zu fälle» sind n atürlich nichts als leicht getarnte eherne G esetze.M an betrachte sie als Winke für den Aufmerksam en, in gewisser Hinsicht

noch mehr aufzumerken.So weit nun mein Bericht, Fiona.

Nun m uß ich aber ein G eständnis machen. Wärest Du die beiden Tage hier ge-

wesen (mit der Inbrunst Dantes wü nschte ich es m ir!) , so wü rdest Du m ichLügen strafen. Denn ich habe nicht der Reihe na ch berichtet. Und doch be-richtete ich «nach d er Reihe». Ich habe D ir, was ich die letzten Ta ge hier er-lebte, nämlich in der zeitlich umgekehrten R eihenfolge dargestellt (bis in man-che Einzelheit hinein).

Aber: m uß n icht jeder, der hinein w ill in den G eist, in solcher Art dieRaum -Zeit wirklich Lügen strafen? Im «Ge ist» (das heißt zunächst in der uns

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wohlbekannten Seelenw elt) fließt die Zeit ja rückwä rts, von der Zu kunft in die

Richtung der Vergan genheit. Dieser rein astrale Zeitstrom ist nun die B edin-gung allen «Schauens», wie wir ja vom M eister wissen. Wer über unsere Sin-nenw elt mit ihrer Vorwä rts-Zeit hinaus will, muß lernen, in die Rückwärts-Zeit hineinzukomm en und in ihr zu «schw immen». Da s woll te ich nun v or

der Abfahrt etwas praktizieren, wä hrend ich D ir schrieb.M it solcher Rückschau au f Vergangenes beginnt auch a lles ernste M edi-

t ieren — wom it ich nun beim «Thema » wäre , zu dem ich Dir noch e twasschulde.* Doch laß es mich nicht «doktoral» behandeln! Denn neben den nunwirklich m eisterhaften D arstellungen, die uns unser groß er Lehrer gab,könnte ich nur P hiliströses sagen.

Erinnere D ich jetzt an zwei der kleineren G emälde R edons, die ich in derAusstel lung bewun dert hatte: «Das Schw eigen» sowie «Das G eheimnis».Schw eigen heißt ja für den G eistesschüler, das Bew ußtsein von den Sinnes-eindrücken der Gegenw art wie auch von den ungezählten «Inhalten» aus derVergangenheit für eine W eile zu entleeren. Du kannst es auch d ie Herstellungder völligen Bew ußtseinsleere nennen.

Denk D ir einen Baum im Som mer, voller bunter Blätter. Nimm den Stamm,die Äste als ein Bild für das Bew ußtsein, die Blätter für die bunten Inhalte des-

selben. Nun muß man lernen, Blatt für Blatt von A st und Zw eig zu streifen,

bis nur das blattlose Skelett, die bloße inhaltlose F orm zurückbleibt — (sie ist in-haltlich ein Nichts, doch höch ste Potentialität, Nichts als — das B ewuß tsein des

Bew ußtseins). In diesem Sinne müssen wir zum M editieren jedesmal Bewuß t-seins-Herbst herstellen. (We nn ich diesen Vorbere itungsakt besonders intensivvollziehe, so taucht bei mir mit Regelmäßigkeit das Bild auf von der Schlange,die sich in den Schw anz beißt.) Schw eigen dann die Eindrücke der Gegenw artund sind die Inhalte aus der Vergangenh eit aus dem Bew ußtsein ausgelöscht —und fällt man nun nicht ungewollt in Schlaf! — , dann ist man in der Stimmung

der Empfänglichkeit für etwas, das man w ohl Geheimnis nennen mag — fürwahrhaft Neues, Un bekanntes, das aus der anderen, astralen Zeit heraus gebo-ren werd en w ill. An diesem Pu nkte soll ein Bild, ein Wort, ein Satz ins Zen-trum des geleerten und gereinigten B ewu ßtseinstempels hingestellt und fest-gehalten werden. Im Grun de ist es nicht entscheidend, was davon man h ierzu

* Von den sechs N ebenübungen, die ja die allererste Grundvorauss etzung des M e-

ditierens bilden, seh e ich jetzt ab.

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wä hlt. (Ich selber wä hle meist den Satz «Weisheit ist im Lichte» als Ausgangs-punkt für Weiteres.) Die Anstrengung des F esthaltens erzeugt nun gleichsamden A ltar, auf dem das Angeschaute ruht. Dann w ird das Angeschaute auf dem

inneren Altare einer Art von Wärmep rozeß ausgesetzt. Es wird vom M editan-

ten wortwörtlich bebrütet. Das Angeschaute od er «Da rgebrachte» wird, umden Vergleich noch zu erweitern, sozusagen «Ei». Und nach einer Weile (indi-viduell natürlich sehr verschieden lange) wird dem Bild, dem M antram usw.etwas völlig Neues zu entsteigen suchen. Dieses Neue ist so wenig etwas A us-gedachtes, sowenig es das K üken ist, das aus dem Ei ausschlüpft, das regelrecht

bebrütet wird. Dieser Wä rmeprozeß ist für alles M editieren von entscheidenderBedeutung. Ohne ihn — kommt nichts heraus.

Au ch das Red on-Bild, das ich in Wirklichkeit zuletzt gesehen hatte — das

Bild von Dante und von Beatrice — , kann uns eine schöne Vorstellung von die-sem Wä rmeprozeß geben, den man ebensogut «Liebesprozeß» nennen könnte.So wie sich hier rein innerlich die Liebenden vereinen — so muß der M editantsich wärm evoll mit dem geliebten «G egenstand» vereinen, den e r selber erstauf den A ltar des eigenen B ewuß tseinstempels legte ... So muß d er M editie-rende ein «Dante», eine «Beatrice» werden: U nd aus Seelen- und aus G eistes-tiefen wird das w ahre W esen des geliebten «Gegenstandes» ins gereinigte Be-

wu ßtsein treten können ...Das alles ist natürlich unvollständig und auch recht «persönlich». Und esließe sich natürlich noch sehr vieles zu dem Them a sagen, selbstverständlich.Doch ich will auf diesem F elde freiester und doch gebunden ster Betätigung desM enschen , wie gesagt, auf keinen F all ins Lehrhafte geraten. Meditieren ist —

wie übrigens schon reines Denken — künstlerisches Tun für mich. Und deshalbknüpfte ich für die Beschreibung dieses Tu ns an große , edle Kunst an, w ie ichsie soeben sehen d urfte.

Ü brigens, ein Prüfstein des Ge lingens ist auf diesem F elde innerer Betäti-gung die persön lich-unpersö nliche Emp findung, m it allen Esoterikern derW elt durch den A kt des M edi tierens in geheime, aber ganz reale G eis t-berührung zu gelangen. Diese wichtige Empfindung — die sich nur durch sol-ches Tun einstellt und nie von selber kommt — ist ein grundlegender Baustein

für den M enschheitstempel aller Wahrheitssucher. So bauen w ir im M editie-ren in besonderer Art am Fun damen t der Tempelstätte, die uns auch bekanntist als das neue , künftige Jerusalem der «O ffenbarung».—

Nun, Liebste, fahre ich nach W ien (nur für ein zwei Tage, H otel Sacher),

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und bald bin ich in Prag (vom 2 7. Februa r bis in die ersten M ärztage hinein).

Schreibe, wenn D u schreibst, dorthin. Ad resse: Hotel Euro pa, Wen zelsplatz25 ,110 00 Praha 1 , Tschechien.

Tausend K üsse aus dem kalten Bahnhof Stuttgarts (5 Grad minus!)

Dein Harold

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Wien

Als Harold Freem an am andern M orgen im Wiener Hotel Sacher e in-traf, wa rtete ein Brief von Jacques a uf ihn.

Freem an ruhte s ich e rs t e ine W eile von der s t rapaziösen Nach tfahr taus. Da nn öffnete er Jacques R ois Brief und las:

Be rlin, 21. Februa r 1998Ho tel Sorat (!)

Mein lieber Harold!

Ich konnte m eine Seh nsucht nicht bezwingen, den Ausga ngspunkt der

großen W eltbewe gung aufzusuche n, zu deren Diener wir berufen wur-den — im Zeiche n jener DREI, die do ch in allem Weltgesche he n waltet. —

Ja , Du sieh st ganz richtig: ich sch reibe diese Zeilen a us dem Hotel SO-RAT , in dem ich vo r der We iterfah rt nach Pra g für ein paa r Nächte ab-gestiegen bin. Wie Du aus dem beigelegten Faltprospekt ersehen kannst,existiert die So rat-Kette seit dem Jahre 1989 und ha t hierin «unsere m »Berlin den Ausgangspunkt genom m en. Allein in dies er Stadt gibt es fünfHotels mit diesem Namen! Der Hotelmanager weiß natürlich nichts

vom wahren W esen, das gr insend hinter diesem Nam en lauert. Sym pto-m atisch is t es a ber doch re cht aufschlußreich: ein volles M ensche nalter(also 72 Jah re) nach de m wichtigsten Vers uch der Ne uzeit, die ganz ver-irrte M ensch he it auf die Lösekra ft der D REI zu we isen (1917), steigt im«We ndejahr zum Abgrund» 1989 «Sora t» aus den Untergründen dieserStadt! Und «heute» haben wir das eigentliche Jahr des gleichnamigen

T ieres , dessen Zah l die Za hl des M ensche n he ißt , die 666 beträgt. Das

wissen wir ja a us der Offenbarung jenes Eingew eihten, dem wir auf derFah rt von Char tres nach Pa ris in großer Schicksalsgnade vor nicht langerZeit begegnen durften . .. «Sorat» ist als Sonnendäm o n wo hl der größteGe gner jener DR EI, in dere n Zeichen wir stets wirken wo llen, obwoh l erse lbst aus lauter «Dreien» zu besteh en sche int. 1998 = 3 m al 666 — wirwerden also in dem gegenwärtigen «Soratjah r» die schlim m ste Gegner-scha ft für unser W irken zu erwa rten h aben.

Als ich gestern an den Bauabgründen dieser Stadt vorbeispazierte,

st ieß ich gleichfalls auf den Nam en So rat! Irgendeine Bauges ellschaft

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ließ sich dazu inspirieren, sich mit diesem Namen zu benennen. Und

zu dem, was jetzt in Deutschland und besonders in Berlin geschieht,

paßt der Na m e leider, leider - ich sa ge dies in bittrem Ernst - nur allzugut. Die Menschheit glaubt in unbewußter, aber ganz dämonisch in-

spirierter Eingebung, die Lösung ihre s Ch ao s würde a us dem Abgrund

steigen müssen - aus den materiellen Erdenkräften. Fast alles, was siehe ute baut, is t Abgrund, den m an in die Höhe n stem m t! Die Bank- unddie Verwaltungstürme Hongkongs, Frankfurts oder auch Berlins -

nichts als in die Höhen umgestülpter Abgrund. Hier haben wir die

«imposanten» Gegenbilder jenes «Himmlischen Jerusalem», das wir

durch die Mantren, welche wir vom großen Lehrer haben, rein inner-

lich errichten helfen können. Das Himmlische Jerusalem wird durch

die Geist-Bausteine, die wir in den Herzen formen, aus den Höhen zu

den Erdentiefen h ingebaut. Aus wa hre n Geistesh öhe n bauen wir, nichtaus den Abgrundtiefen, die nur zu den fiktiven Höhen dieser babylo-

nischen Gebäude führen können. - Ach, die Menschheit hat es ganz

verlernt, daß alles Bauen ursprünglich vom Geiste ausgegangen ist -

und auch in Zukunft wiederum vom Geiste auszugehen hat!

Die Großkophta-Gesellschaft könnte hier im Hotel Sorat übrigens

zu ganz passablen Preisen Räume für gewisse Konferenzen mieten -

was paßte besser zu dem Geist, der ihre Spitze schon seit mehrerenJahrze hnten fest im Griff hat . ..Ich lese hier in einem Sammelband zum wahrhaft ernsten Thema

«Ahriman». Unglaublich, mein lieber Harold, wie frivol da mancher

Beitrag abgefaßt ist. Auch be fasse ich m ich gegenwärtig (rein innerlich)m it dem ho he n Genius von Kaspar Hauser , desse n Geis tgestalt m an javor zwe i, drei Jah ren neuerdings m it jesuitischen M etho den zu verh ül-len suchte, nicht zuletzt im Schoß der Großkophta-Gesellschaft. Der

neuerliche Geisteskampf gegen die Mission von Kaspar Hauser gehtauch uns viel an, denn er fließt aus ganz denselben trüben FM-/SJ-

Quellen, aus denen man am Ende des Jahrhunderts auch über unserneues Wirken für den Geistimpuls des großen Lehrers Finsternis ver-

breiten möchte.

Daneben schärf ich meinen Geist an Nietzsches An tichris t , um im -mer klarer zu erkennen, welche Signaturen Ahriman im Denken und

im Stile hinterläßt, wenn er durch Menschen denkt und schreibt.

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Ich hoffe, Dir gefällt das Sacher (welches, wie ich hörte, noch fast

unverändert ist). In einem seiner Räume feierte ich ja vor nun rund

hundert Jahren Hochzeit, u. a. im Beisein meines lieben «Chartres-

vaters» ...

Auf Wiedersehen in Prag!

Dein J.-L.

Übrigens: Ich durchschritt das Brandenburger Tor, versuchte mich in

jene Stunden zu versetzen, als in der Nacht vom 9. auf den 10. No-

vember 1989 die Menschenmassen diese West—Ost-Schwelle ungehin-

dert überschritten. Dieser Schwellenübertritt vollzog sich nur in der ir-

dischen Horizontalen; es fehlte die okkulte Ver tikale! Nur ein parallelverlaufender geistiger Schwellenübertritt hätte in soziales Neuland

führen können.

~

Durch den Brief von Jacques wie innerlich durchwärmt, durchstreifte

Freeman kurz darauf in seinem schwarzen, warmen Reisemantel die

alte-neue Stadt. An der Staatsoper vorbei kam er durch die Maximili-

anstraße in die Hegelgasse und machte kurz vor einem unscheinbaren

Wohnhaus halt.

Danach suchte er die Schottengasse auf und betrachtete vom Frei-

ung aus die kürzlich renovierte Hauptfassade des altehrwürdigen

Gymnasiums der altehrwürdigen Benediktiner — das berühmte Schot-

tenstift. Die Sonne brach nun kräftig durch die Wolken, die Tempera-

tur war im Vergleich zu Stuttgart milde. Freeman setzte sich im alten

Innenhof auf eine Holzbank und begann der «Welt von gestern» nach-zusinnen. Nach einer Weile schritt er langsam durch die Herrengasse

und setzte sich am Michaelerplatz ins gleichfalls renovierte Café Grien-

steidl. Bei einem doppelten Braunen überflog er kurz die Schlagzeilen

und Leitartikel einer ganzen Anzahl österreichischer und ausländi-

scher Zeitungen. Später überquerte er den Michaelerplatz und schritt

an der Spanischen Reitschule vorbei in Richtung Augustinerkirche, in

der einst Kronprinz Rudolfs Trauung stattgefunden hatte. Er betrat die

Kirche und begab sich unverzüglich in die Krypta, wo er eine Weile wie

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in etwas Unsichtbares tief versunken stehenblieb, wie es schien, ganz

oh ne Interesse für den Raum , in dem er s ich befand.Nach einem Mittagsimbiß im Café Altenberg am oberen Teil der

Herrengasse spazierte Freeman hinter der Votivkirche durch die

Schwa rzspanierstraße. Am Ge bäude m it der Nr. 15 teilt eine T afel m it,

daß in diesem Hause am 26. M ärz 1827 Beethoven ges torben war .Etwas später treffen wir den Wienbesucher in der Nähe des Palais

Liechtenstein, auf der berühmten Strudelhofstiege auf einer schmalen

Steinbank sitzend und ins Weite sinnend.

Den Nachmittag verbrachte Harold Freeman briefeschreibend im Ho-

tel. Abends ging er in die O per, in welcher se it dem Brand des T he atersan der Wien Das Phantom der Oper auf unbestimmte Zeit im Spielplanstand.

Noch bevor er a nderntags nach Prag abfuhr , sandte e r an Fiona denhier folgenden Be richt:

Wien, M ittwoch, den 25 . Februar 1998M eine Liebste!

Ich sitze hier im Hotel Sacher un d schreibe Dir dies wieder vo r der A bfahrt.Ich kam am M orgen sehr erschöpft hier an, ruhte mich im Zimmer aus und

erfrischte mich a n einem B rief von Jacques. — Dann spazierte ich recht ziellosdurch die m ir so tief vertraute Stadt, in der ich letztes M al das Licht der W elterblickte.

Das Geburtshaus in der H egelgasse steht noch immer. Ist es nicht sehr schön,

wie Schicksal mich — und «Schicksal» ist der Name einer Gottheit — das letzteM al, bis in solche Kleinigkeiten, auf den W eg des klaren, reinen Denken s wies?

Durch da s Denken zu den Geisteshöhen, sagte Schicksal ernst — und ließ michin der Hegelgasse meinen Erdenweg beginnen. So kam ich durch das D enkenzum Begreifen jener Lehre, deren F rüchte heute in mir reifen. Unser Lehrer sagte

doch einmal, daß er sich in nichts von Hegel unterscheide, außer, daß er Konse-quenzen aus ihm zog ... — Auch das Schottengymnasium, deren Lehrern meine

Jünglingsseele so unend lich viel zu danken hatte, steht noch da, als sei es wirk-lich unvergänglich! Im schö nen, alten Innenhof ließ ich die Ge stalten und G e-

sichter meiner damaligen Lehrer in tiefer Dan kbarkeit vor meinem Inneren R e-

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vue passieren. Was waren das für edle, hochgesinnte M änner! Auch mein da-

maliger Bruder und m ein lieber Jugendfreund traten vor das G eistesauge.Im C afé Griensteidl, von dem w ir manchma l sprachen, trank ich einen fa-

belhaften W iener Kaffee, den man in N ew Y ork trotz aller App roximationen

letztlich doch vergeblich sucht. (Den n zum A roma gehört auch no ch der O rt,an d em m an seinen Kaffee trinkt ...)Hier hatte einst der Lehrer seine Grundlinien geschrieben. Sein Bild trat

mir erneut entgegen, so wie er damals war: jung, energisch, voller Feuer un ddoch mit unglaublicher Innigkeit in seinem Blick. In diesem K affeehaus, in dem

die ganze Wiener Intelligentia verkehrte, legte er den Same n für die Zukun ft ei-

ner neuen W elt. In dieser «Welt von gestern» baute er die Welt von morgen.D ann suc hte ich die K rypta in der A ugustinerkirche auf. Hierhin hatte

mich der Lehrer und der M eister eines Tages still hineingezogen, nachdem wirauf dem W eg zu einem Vortrag das Griensteidl passierten, ich war auf Fron t-urlaub. In der Stille dieser Krypta sagte er, als wä re es das S elbstverständlich-ste der Welt, solche D inge auszusprech en: «Ihr Brude r arbeitet zur Zeit dasBuch durch, das ich einst im G riensteidl geschrieben hatte.» M ein Bruder w arzu diesem Zeitpun kt schon seit ein paar W ochen tot, das heißt, er lebte auf der

andern S eite unseres Alls in intensivster Weise fort. Das B uch, von dem derLehrer sprach, w ar das letzte Buch gew esen, das mein lieber Bruder las, bevorer an der F ront den merkwü rdigen O pfertod erlitt, der äußerlich gesehen wieein Suizid aussieht und doch im G runde keiner wa r. In diesem A ugenblick,F iona, hatte mich der Lehrer für das Leben der Verstorbenen erweckt. Dasstand nun gestern klar vor m einer Seele. Da s kleine Stückchen des gesam tenLebens, das w ir das Erdenleben nennen, wie anders nimm t es sich doch aus,

wenn wir beginnen, die viel längeren Strecken wah rzunehmen, die vor undnach dem Erden leben von jedermann durchsch ritten werden! Ja, Fiona , Zei-

ten werden kommen, in denen w ir auf Fragen wie die folgende die Antwort ge-ben müssen: Wo* befandes t du dich 19 50 , 190 0 , 1860 , 1620 oder 869 usw.Un d zwar konkret die Antwo rt geben müssen. Etwa: Ich befand mich in derVenu sregion nach dem letzten Erdenleben, im Zusam menh ang mit den undjenen M enschenseelen, mit denen ich das und das erlebte, zum Beispiel an demoder jenem Geist-Konzil teilnahm usw. D iese Aussicht auf die absolute Trans-

* Die Kategor ie des Wo des Aristoteles kann h ier auch leitend werden, denn sie giltauch für den Geistesra um .

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parenz der ganzen Lebensläufe stieg in meinem Innern hoch , während ich indieser Krypta weilte. (Auch diese Sache hängt natürlich mit dem «Phan tom»zusammen, von w elchem ich aus Cha rtres schrieb.)

Hegelgasse, Schottenstift und Augustinerkrypta! Es w aren dies das letzte M al

die O rte meiner dreifachen G eburt, Fiona! In der Hegelgasse kam mein Leibzur Welt (wie jeder Leib nach kosmische n G edan ken strukturiert). Die Seelewu rde mir im Schottenstift entbunden . In der A ugustinerkrypta wurde ich imG eist erweckt ...

Nach dem M ittagessen in der Herrengasse passierte ich (in der Schwarzspa-nierstraße) das Sterbehaus von B eethoven, in dem sich ja auch C ampanella-We ininger erschossen hatte, wie D u D ich aus meinem diesbezüglichen B e-richt, den ich Dir von Paris zuschickte, sicherlich erinnern wirst.

Schließlich ruhte ich auf einer schönen Bank inmitten der verschränkt-ver-schlungen en «Strudelhofst iege», die Heimito von Do derer durch seinengleichnamigen Rom an auch auß erhalb von Wien zu einer «Sehenswürdigkeit»erhob. Hier hatte ich ein merkw ürdiges Erlebnis. Ich las das G edenkged ichtvon D oderer, das auf einen Stein graviert ist. Es lautet:

We nn die Blätter a uf den Stufen liege n,he rbstlich a tm et aus den alten Stiegen,was vor Zeiten über sie gegangen.

Mond, darin sich zweie dicht umfangen

hielten, leichte Schuh und schwe re T ritte.Die bem oo ste Vase in der M itteüberdauert Jah re zwischen Kriegen.Viel ist hingesunken uns zur Tr auer,und das Schönste ze igt die kleinste Da uer.

Diese m elancholisch-schönen W orte, die ja subjektiv ganz wahr und tief emp-funden sche inen , führ ten mich zu e inem «M antram» aus der 1 3 . K las-senstunde unseres M eisters, das ich gleich an O rt und Stelle, wie das D ode-rer-Gedicht ergän zend, innerlich rekonstruierte. Es ist ein kosmischer D ialogzwischen dem H üter der Schwelle und einem Wesen au s der Hierarchie der

Seraphine. Angesprochen ist die M enschenseele.

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Der Hüter spricht:Es spricht, der das Menschensein, das vollbrachte,durch Tode und Geburten, sinngerecht,zum Atmen bringt in gegenwärt'ger Zeit.

Aus dem Reich der Seraphine tönt es :Blick auf deines Schicksales G eistesprüfung.

Die innere Vergegenwä rtigung dieser durch den M eister in die Welt der Sinneherabgeholten G eistesworte brachte mich mit einem R uck in Schwellenstim-mung. Un d nach einer W eile merkte ich, daß diese W orte nun in einen Gei-stesraum gedrungen waren, in dem sich Do derer, in dem mein Bruder, in dem

sehr viele Seelen weilen. Und ich begann ein G eistgespräch mit diesen vielenSeelen. Ich sprach im G eist mit Doderer, der o ftmals hier gesessen hatte. Ichwies ihn au f die große G eistgestalt, die hier in W ien im Erdenleib von W ei-ninger für kurze Zeit verkörpert wa r und die erneu t verkörpert lebt in einemLeib aus dem F ranzosentum. Auch m it dem lieben Brud er sprach ich seelischintensiv. Er hat jetzt eine Aufgabe im Seelenlan d: A llen, die zu früh un dselbstgewählt aus ihrem Leben scheiden, weist er orientierend einen We g zum

Geisterland.Auch meine eigenen Tode und Geburten stellten sich mir vor den Seelen-blick.

~

Am A bend saß ich im Phantom der Oper. Ja, Du liest ganz richtig, F iona!Ich tat mit einem M ale allen Widerwillen von mir ab, überwand mich regel-recht — und hielt bis zum m akaberen Ende durch. Das P lot spielt in der O per

von P aris, zur letzten Wende d es Jahrhund erts. Ein G eist-M ensch spukt imO pernhaus herum, verliebt sich in die Primadonna , stif tet Unheil und V er-wirrung un d w ird zum Schluß in h öchst perverser Art «erlöst». D iese Storyputzte unser Landsm ann W ebber mit Effekten auf. Zum B eispiel bringt ergleich am Anfang in einer A uktionsszene unter der A uktionsnummer 666 denmagischen Kronleuchter ins Spiel, der mit dem «P hantom» und seinem Wir-ken im Zusam menha nge steht. Das a llein ist schon bemerkenswert, daß W eb-

ber seiner Handlung diese Zahl des «Tiers» zugrunde legt. — Im zweiten Akttritt das Phantom — nachdem m an bereits glaubt, es endlich los zu sein — mit

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herrischer G ebärde in der O per auf und verlangt mit Drohgewalt, daß m an die

von ihm verfaßte Oper spiele! Fiona, das war ein zutiefst erschütternd-interes-santer Augenblick! Ein Geheimnis aus dem Abgrund offenbart sich hier ganzunverh üllt: Ah riman (der Sora tdiener) hat sich in die Ku nst geschlichen undwill sich auch auf diesem Feld zum absoluten Inspirator-Imperator krönen las-sen. Darauf hört man die von ihm «gedichtete» M usik (nachdem vorher im-mer wieder F etzen aus dem klassischen O pernrepertoire zu hören waren). Et-was m usikalisch F ürchterlicheres kannst Du D ir nicht denken!

Nach diversen M orden gibt ihm die von ihm beherrschte Sängerin den«Treueeid», bereit, den w ahren F reund zu opfern, welcher um sie bangt undzittert. Voll «Groß mut» läßt am Sc hluß das w irklich scheußliche Pha ntom die«Beute» ziehen — per Nachen durch ein unterirdisches G ewässer.

Du siehst, hier wird versucht, der M enschenseele das Ü bersinnlich-Böseals etwas d urchau s Liebenswertes vorzuführen. Es gibt nichts Kläglicheresund Verlogeneres als dieses Buhlen Ahrimans um eine M enschenseele — wie eshier zur Darstellung gelangt.

Hier siehst Du A hriman ganz innerhalb der K unst als der Zerstörer allerwa hren K unst auftreten, die ja imm er auch mit F reiheit innerlich verwandtsein muß . Kein Atemzug v on F reiheit geht jedoch durch dieses Stück. Alles istvon Suggest ion, vom falschen G lanz der M acht beherrscht. Das P ublikum

war aber sehr begeistert. Die Vorstellungen sind auf M onate im voraus aus-verkauft. O hne «Sacher» hätte ich natürlich keinen Platz bekommen. — Wi-derlich und aufschlußreich im Jahr des T ieres 199 8 ...

Jetzt geht's in das m ir unbekannte Prag. W enn ich m eine Reise mit einerEllipse vergleiche, in deren einem B rennpunkt Pa ris und C hartres und vielesan V ergangenhei t gesamm elt is t, so komme ich nun in den zw ei ten B renn-punkt, welcher P rag (und W eimar?) in sich birgt und vo ller Zukun ftskräfte

ist.Bis auf bald

Dein auch D einem W esen treuer Harold

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Prag

Vom konvex gewölbten Mittelfenster des Grand Hotel Europa blickte

Harold Freeman lange auf den Wenzelsplatz hinunter. Nach Herzog

Wenzel/Vaclav war der Platz benannt, dem Märtyrer des Tschechen-volkes, der im Mittelalter mit den östlichen Germanen Frieden suchte,

der Rom in seine Schranken wies — und dafür sterben mußte. Freeman

unterhielt sich schon im Geist mit Jacques, der (wie Nick) erst andern-

tags in Prag eintreffen sollte, wie er an der Réception erfuhr.

In freudiger Erwartung dieses ersten Wiedersehens der drei

Freunde skizzierte Harold Freeman eine Art «Agenda» dieses Aufent-

haltes in der Moldaustadt. Diesmal würden nun Besuche auf der tsche-

chischen wie auch auf der US-Botschaft selbstverständlich unvermeid-

bar sein. Er rief gleich auf der Botschaft seines Landes an und erfuhr,

daß Mrs. Albright in zwei Tagen überraschend hier erwartet werde, um

mit Vaclav Havel ein zwar offiziöses, doch sehr wichtiges Gespräch zu

führen, zeitgleich also mit dem von Freeman arrangierten Wirtschafts-

treffen. Dann ließ er sich die schon im voraus festgelegte Zeit wie auch

den Ort des Wirtschaftsforums, zu welchem durch die Prager Botschaft

Einladungen an besonders ausgewählte Diplomaten sowie Wirt-schaftsführer aus der ganzen Welt ergangen waren, noch einmal be-

stätigen. Eröffnung: Morgen (Freitag, den 27. Februar, 16 Uhr 00); Ort:

Vladislavsaal auf dem Hradschin. Begrüßung der Gäste dieses Fo-

rums: Staatspräsident Havel. Schließlich teilte man ihm mit, es sei ein

Brief von einem Mr. Burns aus New York eingetroffen. Freeman bat,

ihn per Kurier in sein Hotel zu schicken.

Nach dem Mittagessen blätterte er in der Lounge in diversen Zei-

tungen des Landes.

~

Es war später Nachmittag; ein mildes Wehen in der wolkenlosen Luft

schien bereits den Frühling anzukünden.

Freeman war zum ersten Mal in Prag. Er hatte zwar schon «letztes

Mal» die Moldaustadt des öfteren besuchen wollen, doch niemals hatte

sich Gelegenheit dazu geboten. Nun freute er sich umsomehr. Er be-

schloß, zu einem kurzen Rundgang aufzubrechen. Bald stand er voll

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Bewunderung auf dem atemweiten Altstädter Ring und betrachtete

die halbverdeckte Teynkirche sowie das alte Rathaus. Er streifte an den

wohlerhaltenen Bauten aus der Zeit des Jugendstils vorbei zum Juden-

friedhof und fand sich kurz darauf auf der so malerischen Karlsbrücke,

welche von den Statuen vieler Heiliger gesäumt ist und die zur Klein-

seite von Prag hinüberführt. Er betrat den Innenhof des Palais Wald-

stein und hatte bald durch steile Gäßchen das eigentliche Wahrzeichen

von Prag erklommen — die große Burganlage Hradschin, von der man

eine wunderbare Aussicht auf die Stadt genießt.

In einem in die Burgmauer nach Art der alten Felsenklöster einge-

lassenen Café genoß der eilige Besucher nebst der Aussicht auf die

Moldau, die sich in dem Licht der Abendsonne still und sanft ins Ferne

wand, einen Prager Capuccino.Auf dem Rückweg zum Hotel passierte er das Smetana-Theater und

sah sich das Programm der Vorstellungen an. Am Samstagabend

wurde Smetanas Libussa aufgeführt. Die Vorstellung sei ausverkauft,

erfuhr er an der Kasse. Da erschien ganz plötzlich ein sehr schlanker,

mittelgroßer Herr, sehr vornehm und sehr höflich, und erkundigte sich

an der Kasse nebenan, ob er seine Opernkarten noch zurückerstatten

könne, eines Todesfalles wegen. Freeman packte die Gelegenheit beim

Schopf und kaufte auf der Stelle drei erstrangige Karten für Libussa.In der Nähe des Hotels blieb er vor dem Fenster eines Antiquariates

s teh en. Geo rge Berkely — The C omple te W orks, Vo l. I— V., in blauen, guterhaltenen Leinenbänden. Ein leises Lächeln spielte um die Lippen

Freemans, als er sich zum Gehen wandte.

Nach dem leichten Abendessen schrieb er einen ersten Brief an

Fiona, der so rasch und skizzenhaft gehalten war wie sein erster Stadt-

rundgang.

Praha, Donnerstag, den 26 . Februar 1998

Liebste F iona!

Dies is t e in erster Gru ß und K uß aus P RA HA , was «die Schwel le» heißt , inerster Linie West— O st-Schw elle, aber — und das ist viel wichtiger — auch noch

G eis tes- Schwelle für den Ü bergang des P hysischen ins G eis tige , und umge-

kehrt. Doch das w eiß ja heute fast kein M ensch mehr.

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Du rchstreifte diesen Nachm ittag zum ersten M al die Stadt. Die Jugend -stilgebäude — fast alle wohl erhalten — würden D ich entzücken. Auch im Pa-lais Waldstein weilte ich ganz kurz, suchte dann den Hradschin auf, auf demsich so viel Schicksal zutrug und noch fernerhin vollziehen wird.

Nach dem F all der M auer in Berlin strömten Menschen aus den ganz ver-armten Ländern Ruß lands in die Mo ldaustadt. Zugleich drang aus dem We-sten die sogenannte M arktwirtschaft herein und brachte alles in den M am-monsog, der n un auch den O sten ganz beherrscht. Es gibt jetzt sehr vielKriminalität hier. Schon im Taxi, das mich zum H otel fuhr, merkte ich sofort,wie der F ahrer recht geschickt sondierte, zu welcher Art von K unden ich zuzählen sei: zu denen, die man übers O hr haut, oder zu den anderen, die imBilde sind. Ich erkundigte mich im Hotel, ob der Preis, den ich bezahlen mußte,

angemessen w äre. M an versicherte mir wiederholt, daß ich keineswegs betro-gen worden sei. Ich wirke also trotz der Unkenntnis der Sprache w ie jemand,der «im Bilde ist» ... Auch d ie Prostitution treibt hier sichtlich traurig-düstereBlüten, wie an vielen Straßenecken oder H auseingängen unversteckt zu sehenist. (Nach dem Essen blätterte ich eine Prager Zeitung durch. Ich verstand jakaum etwas, doch eines fiel mir auf, wozu man wenig Tschechischkenntnissebenötigt: die illustrierten Schnellkontaktanzeigen. So unverhüllt wie hier

wird nirgends in den U SA un d woh l auch kaum im übrigen Europa die Ein-samkeit und der G eschäftssinn vo ll zu M arkt getragen ... Das sind auch Ge-genbild-Tatsachen: in einem Volk, wo ho he G eist-Erhebung möglich ist, kannauch der F all in M aja-Wirklichkeiten umso tiefer sein. Darüber mehr ein an -der M al.)

Ich setzte mich in ein ganz kleines Panoram acafé in der Burgm auer desHradschin und sah die M oldau mir zu Füßen fließen und im G lanz des mil-den Abendrotes in die F erne ziehen. Nun dachte ich ganz stark an D ich, Fiona!

Ich dachte an die Aufführung von Smetanas Mein Vaterland, die wir einst inVanco uver erleben durften, vor vielen, vielen Jahren ... Vor allem an denM oldau-Satz, der von Harfenklängen eingeleitet wird. Dabei genoß ich einenC apuccino, den m an hier nicht bloß mit feinen Schokoladestücken deckt, son-dern auch mit etwas Zimt darauf serviert! Schmeckt ganz hervorragend! Einewahre Ü berraschung!

Auf dem Rückweg fand ich «zufällig» ganz buchstäblich die letzten K artenfür

Libussa,die am Samstag abend dargeboten wird. Drei Karten ... Also sol-

len Jacques und Nick zu diesem Abend von mir eingeladen werden! So haben

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wir schon jetzt die schöne A ussicht auf den A usgleich zu dem D iplomaten-treffen auf dem Hradschin, das ja morgen nachm ittag eröffnet wird ...

Ich sah in einer Antiquariatsauslage — Du weißt ja, solche O rte ziehenmich fast magisch an, wie das Licht die M otten — die Werke Bishop Berkeleys.Wie D u D ich erinnern wirst: Der große Lehrer wies mich letztes M al beson-

ders auf das Studium Loc kes und Be rkeleys hin, die die Welt ganz einseitig be-trachtet haben. Locke holt alles aus der Sinnesw elt und B erkeley aus demG eist. Er, Berkeley, hatte die ganz sonderbare Auffassung, daß alles, was es aufder We lt an Dingen gibt, nur insoferne existiere, als es auch von irgend jemandwahrgenommen werde, von irgendeinem endlichen (= M ensch) oder auch un-

endlichen Geist (= G ott). Esse est percipi — postulierte er geradezu! (Das be-deutet: Sein heißt Wah rgenommenw erden.) Wenn niemand da ist , um es

wah rzunehmen un d auch G ott die Augen schlösse, dann zerfiele jedes D ingsogleich in Nichts! Als ich m ich zum G ehen wa ndte, dachte ich im Innern:We nn Berkeleys Werke hier von mir nicht weiter wahrgen omm en werden undauch kein an derer Perzipierer kommt und gleich an m eine Stelle tritt , danndanken s ie ihr F ortbestehen nur der W ahrnehmung durch G ott. Zum G lückbin ich nicht Atheist , so dachte ich, sonst müß te mir im Sinne Berkeleys imAugenblick des G ehens um den F ortbestand von seinen Werken bange werden,und ich m üßte wirklich warten, bis ein anderer Betrachter kommt, um m ein

Wah rnehmen der v on mir doch ho chgeschätzten Werke ohn e Lücke fortzuset-zen ... Nun, ich hoffe, Fiona, wen igstens wir zwei existieren wirklich, ohne daßwir fortwährend von i rgendjemand w ahrgenommen w erden müssen, undzwar auch dann, w enn «G ott» gerade anderes zu tun beliebt, als uns im Au gezu behalten ...Seriöse F ortsetzung folgt bald! D ein H.

P.S. M orgen wird das erste W iedersehen sein mit Jacques und Nick. Wie freuich mich darauf!

Kaum hatte Freeman seinen «Waterman» in die Westentasche einge-

steckt, als ihm ein Bediensteter den Brief von M r. Burns aufs Zim m erbrachte.

Freem an setzte s ich auf das bequem e So fa und begann zu lese n:

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N.Y., 20. Februa r 1998Mein lieber Harold!

Wenigstens stand schon im voraus fest, daß Du zum Monatsende ganz

gewiß in Prag sein wirst! Sonst hätte ich ja wieder nicht gewußt, wo Du

gerade steckst und also meinen Brief an ganz Europa adressieren kön-nen ... Nun hoffe ich, daß Du auf diesem Wirtschaftsforum Wichtiges

erreichst! Du wirst nun Wirtschaftsführer sowie Diplomaten kennen

lernen, in deren Händen fast das ganze Schicksal des Planeten liegt.

Bist Du Dir bewußt, daß Du etwas arrangiert hast, das dem Wirt-

schaftsforum von Davos zwar nicht an Größe, doch an Qualität in kei-

ner Weise nachzustehen braucht? Ich ging soeben noch einmal die Li-

ste aller Eingeladenen durch - auf die ich, wie Du Dich erinnern wirst,

noch manchen Namen setzen konnte, der Kennern als «Geheimtip» gilt

- und darf befriedigt sagen: Du wirst der Spitze der globalen Wirt-

schaftsaristokratie begegnen. Nimm die Chance also wahr! Und ver-

baue Dir nicht schon im voraus den noch freien Samstagabend mit ir-

gendeiner Opernaufführung! Manch Entscheidendes kann nur «am

Rande» solcher Konferenzen eingeleitet werden. So spricht Erfahrung

vieler Jahre. Traue der Erfahrung, welche ich für Dich zu Frucht und

Nutzen bringen möchte -

Dein Onkel Alfred.

~

Harold Freeman saß an einem kleinen Frühstückstisch, wartete auf den

Kaffee und betrachtete die schöne Jugendstileinrichtung im halbbe-

setzten Speisesaal. Zusammen mit dem Kaffee wurde ihm nach weni-

gen Minuten auf einem kleinen Holztablett ein Brief gebracht, der ebeneingetroffen sei. Freeman sah die Schriftzüge Fionas, ließ den heißen

Kaffee etwas kühlen, öffnete den Brief mit einem rasch gereichten

Brieföffner und begann zu lesen:

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Chicago, 20.2.98

Haro ld! Liebster!

Heute sende ich Dir ein paar Impressionen, die mir in den letzten Ta-

gen durch die Seele zogen. Seit Du mir aus Basel schriebst, ist mein

ganzes Seelenleben in neuer innerer Bewegung. Ich möchte es wie folgtausdrücken: Immer wieder merke ich, wie sich unwillkürlich eine

deutliche Empfindung in mir ausgestaltet: Die Empfindung, Harold,

daß «wir» (die 48, zu denen ich mich, wie Du weißt, nicht zähle, und

deren nähere Um gebung, zu der auch ich gehören m ag) nun gleichsa mwahrgenommen werden und ferner auch, daß dieses Wahrgenommen-

werden unser ganzes Sein bereichert. Im Grunde doch ganz wunder-

bar! Ich s age m ir von Ze it zu Zeit: Nun bist Du irgendwie nicht nur dieFiona, die D u wirklich bist, so ndern auch noch eine Fiona, we lch e nurder Möglichkeit nach existiert. Doch was heißt denn nur! In diesem

NUR verbirgt sich aller Reichtum wahrer, wirklichkeitsgeschöpfter

Pha ntasie. Falls jem and über uns nun wirklich eine Ph antasie ers chafft,wie Du es als wirklich-möglich dachtest — und mein Empfinden sagt

m ir, daß das nun real geschieht —, nun, so gewinnen wir dadurch ein neues,zweites Sein und Leben. Es ist so aufregend und schön, sich zwi-

schendurch als halbe Phantasiefigur zu fühlen. Ich stelle mir nun bei-spielsweise und gleichsam wie zum Scherze vor, daß der potentielle

Romancier, von dem Du mir geschrieben hast, nachdem Du mit dem

M aler spra chst, vielleicht gerade s olche Zeilen «findet», wie ich s ie hierniede rsch reibe . .. und dann natürlich a uch no ch andere s h inzufügt, dasich in Wirklichkeit nicht im geringsten schre ibe . ..

So stelle ich mir wie zum Scherze vor, doch diesem Scherzen liegt

für mich ein großer Ernst zugrunde. So soll es überhaupt bei wahrer

Kunst zugeh en: Ernst und Sche rz, sie m üsse n beide do ch die treuestenBegleiter alles , alles schönen Scheines w erden!

Das bringt mich zu dem nächsten Punkt. Ich las die letzten Tage

vor dem Schlafengehen manchen schönen Vers vom guten, großen

Morgenstern. Ich sprach zu Maud davon, und dann erfuhr ich etwas

sehr, sehr Wichtiges von ihr. Wir beide haben nie davon gesprochen.

Für mich ist das ganz neu! Nun: Maud erzählte mir, daß Morgenstern

nach seinem Tod der Lehrer wurde u.a. von Herman Grimm. Das

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heißt, er trat post mortem in den Menschenkreis, in dem auch Emer-

son und Hallam, Tennyson und unsere Bettina weilen. Er brachte die-

sem Kreis die Feuerbotscha ft unsere s großen Le hre rs . Is t das nicht un-geheuer aufschlußreich, im wahrsten Sinne dieses Wortes! Wie wird

auch hier nicht alles reicher! Es wird ganz klar für mich: Auch vomguten Morgenstern muß inspiriert sein, wer mit Phantasie und Wirk-

lichkeitsgespür sub specie reincarnationis an die Schilderung von Men-

sche nschicksal gehe n m öchte. We il nur er von allen Neueren den gött-

lichen Humor entwickelte, ohne den kein Drama wiederholterErdenleben wirklich darzustellen ist. Hoffen wir also, daß die Ro-

m anfiguren, die — wer w eiß — a us uns zum Beispiel werden könnten,des Humors nicht ganz entbehren, dieses Morgensternes aller tieferen

Erke nntnis ...Ich s chließe diesen Brief m it einem Vers von T ennyso n; er i s t dem

jungverstorbenen Herzensfreunde Arthur Hallam zugeeignet. Doch

ich e rlaube m ir an diese r Stelle, ihn auf Dich gesch rieben a ufzufass en . ..

M y love involves the love before ;M y love i s vas te r pass ion now;Tho' mix'd with God and Nature thou,

I s e e m to l o ve th e e m o r e a n d m o r e .

Ach H aro ld, wenn ich denke, daß zu diese n Freunden längst auch M or-genstern getreten ist! Wa s wird da übers innlich in der wah ren G eistge-schichte nicht ganz Wunderbares vorbereitet für ein kommendes Ge-

schlecht! Und glücklich, wer schon jetzt versteht und innerlich ganz

schweigsam wird, wenn die Saiten seiner Seele von solchem Geistes-

winde, wie er nun im «Oberlande» w eh t, zar t in Schwingung kom m enwo llen. Es um arm t und küßt Dich Deine Fio na.

P.S. Ich freue m ich scho n jetzt auf Deinen «M editationsbrief» und aufden Bericht aus W ien, beides wird woh l schon a uf Reisen sein.

Als Harold Freeman nach dem Frühstück auf sein Zimmer wollte und

die Réception passierte, spürte er an beiden Schultern einen sanften

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Druck. Noch ehe er sich umgewendet hatte, war ihm klar, wer ihn so

freundlich aufzuhalten suchte.

«Nicht so eilig, junger M ann», sagte die bekannte Stim m e Jacques ' ,und Nick, der dazu liebenswürdigst lächelte, sagte gleich ganz unver-

m ittelt und m it große r Heiterkeit ein jede s W o rt betone nd:

«Lieber, lieber Ha ro ld, ist es nicht ganz wunderbar, ech ten Neuver-körperten von dam als leib- und see lenha ftig zu begegnen!» Er deutetedabei a uf Jacques und sich. Da nn zwinkerte e r in der gleich en A rt undWe ise, wie s ie Free m an scho n das letzte M al — in England — so bezau-bert hatte.

Harold Freeman tauschte einen kurzen, vielsagenden Blick mit

Jacques — da nn brachen die drei Freunde in ein warm es, doch nicht un-gebändigtes Gelächter aus.

«M r. Ro i?» erkundigte s ich eine junge Dam e m it tsche chische m Ak-zent, die die Namen der zwei Neuankömmlinge in einer langen Liste

suchte.

«Ganz r ichtig, M adam e: Jacques R oi», ha lf der Angere dete so gleichund begann zu buchstabieren.

Eine Stunde später standen die drei Freunde auf dem Hradschin undsahen auf die Stadt hinunter. Nick erzählte von dem Aufenthalt in

Houston, anläßlich des 75jährigen Bestehens der Weltenergiekonfe-

renz. Er wisse nun, daß jetzt mit aller Kraft ganz neue Wege zu be-

schreiten seien. Nichts mehr sei von alledem am Leben, was er letztes

Mal begründet hatte.

«Doch traf ich M enschen, die uns vielleicht helfen we rden. Zum Bei-spiel einen jungen Ingenieur.» Er zähle zu den 48 und habe schon das

letzte Mal ganz still und wegbereitend in den USA gewirkt. «Beim

Brand des Baus in Dornach war er der Mensch gewesen, der dem

großen Lehrer in der Stunde größter Finsternis das Kreuz zu tragen

half.» Die drei Freunde waren äußerst ernst geworden. Nach einer

We ile sa gte Nick:«Er kennt auch das G es etz der neue n Äth er-Energie.»«Dann muß er auch das Weltgesetz der großen Drei beachten, das

für alle menschliche Gemeinschaft kommen wird», machte Roi mit

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Nachdruck geltend. «Denn ohne die zumindest teilweise Verwirkli-

chung der Dreiheit im Sozialen kann die neue Energie in schlimmster

Art zu M achtzwecken verwe ndet werden.»«Er kennt auch dies Gesetz der Drei», sagte Nick mit ruhiger

Stimme — «und wartet nun darauf, daß wir im Sinne dieser Drei dieDinge vorwärtsbringen. Dazu sind wir nach Prag gekommen.»

Ro i erzäh lte da raufhin auch N ick von der Be gegnung, die e r in Pa-ris mit jenem Menschen hatte, der den Meister 1917 nach den Lö-

sungsmöglichkeiten im Sozialen fragte. Nick lächelte geheimnisvoll

und sagte bloß:«Ich weiß.»Nun m ischte Freem an s ich in das Ge spräch.

«Dann wirs t du auch von der Be gegnung wissen, die ich im M uséeWiertz von Brüsse l ha tte?»

Free m an läche lte m it einer M ischung vo n Belustigung und Prüfungseines Gegenüber.

Nick lächelte geh eim nisvoll und sagte nichts.«Vielleicht s ind es a uch hier in Prag nur ein paar M ensche n, die wir

treffen müssen», sagte Freeman, während er ganz anderes zu denken

schien.

In der Wenzelskapelle des hochgotischen Veitsdoms erzählte Jacques

den Freunden von dem heiligen Versprechen, das er hier an diesem

Orte einstm als ausgesproche n hat te .«Zusammen mit der schönen Slawenseele, die damals meine See-

lenfreundin wurde. Wir gelobten feierlich, zu tun, was uns zu tun ge-

stattet, um slawische und deutsche Menschen miteinander zu verbün-

den.» Roi sprach dann von Masaryk und hoffte auf sein Treffen mitHavel. «Und wißt ihr, wann wir hier an diesem Ort das heilige Gelübdesprachen? Es war vor 66 Jahren, meine Freunde! Und heute, am Ge-

burtstag, den der große Lehrer damals hatte, möchte ich das heilige

Gelübde wiederum erneuern! Wollt ihr m eine Zeugen sein?»Ro i schaute Nick und Haro ld Free m an s ti ll und voll geduldiger E r-

wartung an. Seine Augen leuchteten in mildem, warmem Glanze.

Stumm ergriffen die zwei Angesprochenen die linke und die rechte

Hand vo n Ro i, der nun in ihr er M itte stand. Später weilten sie no ch still

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am Grab von Georg Podriebad, dem Wahlkönig der Tschechen, der Rom

so mächtig trotzte. In diesem Augenblicke schlug es zwölf Uhr mittags.

Nach einem raschen Rundgang durch den Tagunsgsort des Wirt-

schaftsforums stattete man noch der Hradschin-Galerie einen Kurzbe-

such ab. Es gab gerade eine Sonderausstellung mit Bildern von El

Greco. Die langgezogenen Gestalten und Gesichter all der Heiligen und

Büßer schienen die drei Freunde nachdenklich zu stimmen. Vor einer

Darstellung Maria Magdalenas blieben sie am längsten stehen. Die Hei-

lige, die früher, wie man weiß, recht weltlichen Genüssen zugeneigt ge-

wesen war, schaut mit weiß-pastosem Tränenblick zum Himmel.

«Unser Lehrer sagte mir», begann Jacques Roi, «beim letzten unse-

rer Gespräche — er lag schon auf dem Krankenlager —, die Menschheitwerde durch die Jesuiten um alle wahre Frömmigkeit gebracht. Hier

sehe ich zum ersten Mal die Wahrheit dieser Worte in einem Bilde aus-

gedrückt!»

«El Greco malt das religiöse Fühlen, wie es durch das Jesuitenwir-

ken falsch geworden ist», sagte Freeman, halb für sich und doch ver-

nehmlich.

«Nichts ist schlimmer für die Slawenseele als solches korrumpiertes

Fühlen», sagte Roi, sehr ernst geworden. «Hoffen wir auf Slawenmen-schen, die von diesem Einfluß frei geblieben!»

Als die drei Besucher aus dem Hradschin traten, sagte Roi:

«Hier oben wird einmal das erste Licht der sechsten nachatlanti-

schen Kulturepoche angezündet werden. So sagte einst der große Leh-

rer hier in Prag. Doch Rom wird dieses Licht stets auszublasen suchen.

Das kann uns diese Welt El Grecos zeigen.»

«Die Hände von Maria Magdalena waren übrigens sehr schön gefal-tet, schön und schlicht!» bemerkte Nick nach einer Weile unerwartet.

Rois Züge wurden hell.

«Das zeigt, daß auch das falsche Fühlen einen wahren Keim enthal-

ten mag.»

«Achten wir auch auf den Wahrheitskeim im Falschen!» rief Nick

ganz lebhaft und entschieden aus.

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Staatspräsident Havel eröffnete Punkt vier Uhr nachmittags die Wirt-

schaftskonferenz im Wladislawsaal auf dem Hradschin. Warmherzig

hieß er die rund zweihundert Teilnehmer willkommen. Besonders

freue es ihn, daß «fast alle Länder unserer Mutter Erde hier versam-

melt» seien. In der Tat: Jede Rasse, jedes Volk, jede Sprache schien ver-treten. Dann verlas er ein soeben eingetroffenes Telegramm des Pap-

stes, der der Konferenz auf diesem Wege seinen Segen sandte. Die drei

Freunde, die beisammen ganz zuvorderst saßen, tauschten miteinan-

der kurze, stumme Blicke. Havel gab der Überzeugung Ausdruck, daß

die Prager Konferenz ganz neue Brücken schlagen werde, nicht allein

von Mensch zu Mensch, von Volk zu Volk, sondern auch vom jetzigen

Jahrhundert in das nächste.

Schließlich sagte er:

«Ich darf nun Mr. Harold Freeman bitten, ein paar Worte an die Teil-

nehmer der Konferenz zu richten. Mr. Freeman hat in sorgfältigster

Weise alles arrangiert und vorbereitet. Wir danken ihm dafür!»

Unter reichem Beifall schritt Freeman nun zum Rednerpodium.

Warm und kräftig fing er an zu reden:

«Sehr verehrte Teilnehmer der Prager Wirtschaftskonferenz!

Auch ich kann hier so viele menschliche Gesichter sehen, wie esSprachen oder Dialekte auf der Erde gibt. Ich möchte Sie daher ganz

herzlich bitten, dem Kolloquium des Abends zur Psychologie der

Völker beizuwohnen. Denn ich bin zutiefst der Überzeugung, daß

die Weltkrise der Gegenwart nur zu überwinden ist, wenn die Völ-

ker unseres Planeten durch tieferes Verständnis ihrer Eigenarten so-

wie ihres wahren Wesens neue Friedenswege suchen wollen. Im

Zeitalter der Weltwirtschaft muß das immerwährende <Erkenne

Dich selbst!>, das einst vom Tempelfries zu Delphi leuchtete, erwei-tert werden zu dem Leitspruch: <Erkennt die Seelen jener Völker, de-

nen ihr selbst angehört!>

Dieses Wort, es scheint mir heute klar herabzuleuchten von dem

Fries des neuen unsichtbaren Tempels, in dessen Innerem der wahre

Geist der Zeit den Suchenden erwartet. Nur in einer Atmosphäre von

Respekt, Verständnis, Toleranz von Individuum zu Individuum, von

Volk zu Volk kann, wie mir scheint, die wahre Weltwirtschaft erblühen,wie wir sie so dringend aufzubauen haben. — Und damit gebe ich das

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Wort an Mr. Potter, gerade erst zurückgekehrt aus Houston. Mr. Pot-

ter!»Harold Freeman neigte sich bei seinen letzten Worten freundlich

lächelnd seinem Freunde zu.

Der Angeredete trat mit leichten, gleichsam ganz elastisch-elegan-

ten Schritten an das Podium und begann mit klarer, fester Stimme, die

von großer Freundlichkeit umhüllt schien.

«Houston, sehr verehrte Damen und Herren, hat mir letzte Woche

klar gemacht, daß ohne offene Zusammenarbeit der maßgeblichen

Wirtschaftsführer dieser Erde eine Katastrophe droht, die Jahrzehnte

dauern könnte. Erster Grundsatz der Zusammenarbeit, um die Kata-

strophe abzuwenden: weltweite Befreiung aller wirtschaftlichen Ange-

legenheiten aus der Macht der Staaten. Zweiter Grundsatz der Zusam-menarbeit: Befreiung aller wirtschaftlichen Angelegenheiten aus der

Macht der multinationalen Trusts. Denn wer heute nicht in mensch-

heitlichem Rahmen denkt und plant und handelt und nur Interessen

einer kleinen Menschengruppe fördert, der schädigt auch die Men-

schengruppe, die er vorzugsweise fördern möchte.

Verehrte Teilnehmer der Prager Konferenz, die Grundlage von In-

dustrie und Wirtschaft ist die Energie. Nach Entdeckung und Verwer-

tung der zerstörerischen Energiekraft, die durch Kernspaltung gewon-nen wurde, steht die Welt am Ende des Jahrhunderts an der Schwelle

der Entdeckung und Verwertung einer gänzlich neuen Energieform.

Diese Energieform stammt aus allen Aufbauvorgängen in der äußeren

Natur wie auch in unserem eigenen Menschenleib. Es ist die Energie

des Lebens. Doch der Mißbrauch, der mit ihr getrieben werden könnte,

erfordert erst die Bildung einer Menschengruppe, die kein anderes In-

teresse aneinanderbindet als die Sorge um die ganze Menschheit unddas wahre Wollen einer Lösung, die für alle Menschen Früchte bietet.

Kann diese Gruppe hier in Prag gebildet werden, dann werden Schritte

zur Verwirklichung der neuen Äthertechnik unternommen werden

können. Wenn nicht, so muß die Menschheit fünfzig oder hundert

Jahre warten — unter namenlosem neuem Leid und Elend. Sehr ver-

ehrte Anwesende: Globalisierung oder echte Weltwirtschaft; die För-

derung des sogenannten Wohlstands für sehr wenige — oder aber Brot

und Existenz für alle. — Das ist die große Frage, die wir hier und jetzt zu

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lösen haben — und von deren Lösung auch die andere abhängt, von

welcher ich gesprochen habe. Ich danke für die Aufmerksamkeit der

verehrten Teilnehmer der Prager Konferenz.»

Im Wladislawsaal trat nun tiefe Stille ein, während sich Nick Potter

wieder neben Harold Freeman setzte.Es war noch immer still im Saale, als sich Jacques Roi zum Redner-

pult begab.

«Erlauben Sie mir, meine sehr verehrten Damen und Herren, den

Worten meines Vorredners noch etwas Kurzes beizufügen. Es müssen

heute Wege eingeschlagen werden, weltweit neue Nahrungsqualität

zu schaffen. Obwohl kein Mensch ist, was er ißt, so kann doch niemand

ohne rechte Nahrung in der Welt in rechter Weise wirken. Nur extremer

Materialismus denkt gering vom Wert, den die Ernährung für das Er-

denleben hat. Doch die gegenwärtige Ernährungsindustrie wird welt-

weit von der wüstesten Profitgier angetrieben und von einer Einsichts-

losigkeit beherrscht, die fünf Sechstel aller Menschen hungern und

verhungern läßt und das sechste Sechstel völlig falsch ernäh rt. — A uch

zu diesen Fragen wird hier ein Kolloquium gegeben, das morgen vor-

mittag stattfindet.»

Nach diesen Voten traten alle Teilnehmer in lebhafte Debatten. Esgab Erfrischungen diverser Art. Havel machte sich von einer Dame los

und suchte die Gesellschaft der drei Redner, denen er, so schien es, Fra-

gen über Fragen stellte.

Nach der kurzen Pause rief Harold Freeman jene Referenten auf, die

sich bereits schriftlich angemeldet hatten. Alle gingen auf die ange-

sprochenen Motive ihrer Vorredner mit Vorschlägen und Kommenta-

ren ein. Nach dem Abendessen wurde Potters Vorschlag für die Bil-

dung einer Ätherkraft-Gesellschaft ohne Gegenstimme angenommen.

Am späten Abend saßen die drei Freunde in der Lounge des Hotels

noch für kurze Zeit zusammen.

«Als ich diese Menschen sah, aus allen Kontinenten und Kulturen,

da wußte ich», erzählte Nick vertraulich, «daß nun der Augenblick ge-

kommen war, von der Ätherenergie zu sprechen. Im Geiste sah ichblitzartig das noble Antlitz jenes Mannes, welcher diese Energie zuerst

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entdeckte o der vielm eh r neu entdeckte — denn m an kannte sie scho n inder Zeit der längst versunkenen Atlantis.»

«Keely?» f ragte Haro ld Freem an zögernd.«John Worell Keely, Harold», sagte Nick mit leicht gedämpfter

Stimme, während sich die Lounge mit Gästen füllte. «Ich sah ihn in-

nerlich vor mir, so deutlich, wie ich euch hier vor mir sehe.» Nach ei-

ner Pause fuhr er fort: «Vor hundert Jahren sah ich den Motor, den er

erfunden hatte und den nur er bedienen konnte. Seine innere morali-

sche Gesinnung war der eigentliche Urantrieb des Motors, der mit

Ätherkraft betrieben wurde. Heute wird sich zeigen, ob genügend

Menschen da sind, die aus ähnlicher Gesinnung technisch handeln

können. Dann darf sein wichtigstes Ge he im nis, das er m it ins Gra b ge-

nommen hatte, auferstehen und der Menschheit über diesen Abgrundh elfen, in den sie jetzt zu fallen droh t. — E s sind jetzt se it dem T ode Kee -lys hunder t Jahre he r .»

«Zwei mal dreiunddreißig Jahre», sagte Roi fast unhörbar, «das

Gelübde m it der Slawensee le . Dreim al dreiunddreißig Jahre — Aufer-steh ung der Im pulse Ke elys . . .»

«Und alles dies am Tage der Geburt des großen Lehrers, dem wir

letztes Mal begegnen durften», sagte Harold Freeman wie aus tiefem

Sinnen. Die Freunde schwiegen eine Weile in einer Art von konzen-trierter Dankbarkeit. Dann sagte Freeman aufgeräumt:

«Habt ihr übrigens geseh en, von we lcher D am e H avel s ich befreienmußte, ehe er den Weg zu uns fand?» Und ohne eine Antwort abzu-

warten, erklärte e r den Freunden: «Es wa r M rs. Albright, welche frühe reintraf a ls e rwa rtet.»

«Sie vertritt in Prag den Westen und den Vatikan», stellte Roi fast

düster fest.

«Gewiß, doch Havel machte sich doch von ihr los», warf Nick ein.

Und m it geheim nisvollem Läche ln fügte er h inzu:«Wir dürfen also ho ffen!»

Zwei Themen standen anderntags zunächst im Mittelpunkt des Wirt-

schaftsforums: Der Euro und die EU- und NATO-Osterweiterung.

Havel trat für rasches Vorgeh en in beiden Fragen ein. Die m eisten Ko n-

ferenzteilnehmer befürworteten die von Havel vorgeschlagene Euro-

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Politik und die Erweiterung der EU/NATO um sechs Oststaaten. Prä-

sident Havel sagte wörtlich: «Am Ende des Jahrhunderts sollten sich

die Zivilisationen und Kulturen, die ein altes Erbe miteinander teilen,

auch enger aneinanderbinden. Der Kampf der Zivilisationen und Kul-

turen, auf den die Welt durch Samuel Huntington zu achten lernte, istja etwas ganz Reales - nicht weniger real als Mr. Huntington persön-

l ich, den wir ja zu unsere r großen Eh re h ier in unserer M itte ha ben dür-fen. Im Sinne diese s Ka m pfes e rsche int m ir selbst - und woh l uns allen- der engere Zusammenschluß der Europäer als unaufschiebbares Ge-

bot der Stunde.»Da nn wurde vo n der Ar beitslos igkeit, der Kr im inalität, der Pro stitu-

t ion gespro chen. Harold Freem an gab im Lauf der Ko nferenz eine skiz-

zenhafte Darstellung der Geldschöpfung und Geldentwertung imSinne seines Lehrers und betonte, daß nur eine neue Geldordnung die

Arbeitslosigkeit am wirksamsten bekämpfen könne. «Sehen Sie, ver-

ehrte Anwesende», so schloß er seine Ausführungen, «wenn Geld das

T auschm ittel für Ware n ist, dann m uß es selbst nicht nur e ntstehe n, so n-dern muß auch wie die konsumierten Waren selber irgendwann verge-

hen können. Ich meine nicht, indem es ausgegeben wird, sondern da-

durch, daß sein We rt von vornh ere in befristet ist. Auf jede Ba nknote -egal in welcher Währung - wird eine Jahreszahl gedruckt, die angibt,

bis zu welchem Zeitpunkt sie von Geltung ist. So wird dafür gesorgt,

daß die falsche E wigkeit der Ge ldproze sse - das E ldora do a ller Speku-lanten - a ufhört und das G eld statt des se n in die Wirklichke it des ganzrealen Wirtschaftslebens eingebunden wird. Da heute keine Einrichtun-gen da s ind, die Sch öpfung, Um lauf und Entwertung al ler Geldprozess eregeln, kom m t es zu den großen Crash s, zu Inflation und noch m eh r Ar-

bei ts losigkei t. M eine se hr vereh r ten A nwesenden, so lche Wirtschafts-katastrophen sind nur Schattenbilder der Entwertungstendenz, die

dem Ge ld wie allen Wa ren wirklich innewoh nt, m it der m an he ute abe rnicht zu rech nen we iß und wagt. Wäh rend We rte wah rer Ew igkeit nurim Kultur- und Ge istes leben zu erringen sind, sucht m an sie - da für einechtes Ge istesleben kaum Vers tändnis da ist - vielfach in ganz falsche rArt im Wirtscha ftsleben zu erzielen. M an spricht von M axim ierung desGewinns, Shareholder value und ähnlichem - und hat die «Ewigkeit»

des G eldwachstum s im Auge. Unser krankes W irtscha fts leben is t des-

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halb auch der Ausdruck eines abwesenden Geisteslebens. Oder eines

Geisteslebens, in dem sich die Entwertungstendenz, die ins Wirt-

schaftsleben soll, am falschen Orte auslebt. Statt materiellen Wertzerfal-les ha ben wir — we ltweit — den Ze rfall von ethischen und Geisteswerten.Diese beiden Dinge sind ganz unlösbar verbunden. Das neue Denken

über Geldprozesse, das das kommende Jahrhundert zu erobern hat,wird auch Folgendes erfordern: Grund und Boden müssen aufhören,

wie W are zum Verka uf und Kauf zu stehe n. Ferner w ird in Zukunft andie Stelle der Besteuerung des Einkom m ens Bes teuerung der Ausgabenzu treten haben. Schließlich ist das ganze Zinsproblem zu lösen. Die

Auffassung, daß Geld arbeite, hat die M enschhe it an den Rand des M en-schenwürdigen geführt. Sollen 9/10 aller Menschen hungern, damit

1/10 durch die Praxis dieser falschen Auffassung ein Drohnendasein

führe? Diese Dinge sollen Gegenstand der nächsten Konferenz sein, diein einem ha lben Jahre in T oro nto a bgehalten wird. Und noch etwas, seh rverehrte Konferenzteilnehmer: Wie vielleicht schon deutlich wurde,

läßt sich diese neue Geldordnung nur dann verwirklichen, wenn das

Ge isteslebe n frei wird von den Zwängen autoritativer M ächtegruppen,he ißen sie nun Islam oder Kirche Ro m s. Auch dies s oll in T oro nto näherin Betrach t gezoge n werden. Ich danke Ihnen für die Aufm erksa m keit,

die Sie dies en aph oristische n Gedanken sch enkten. — Sie beruh en aufden Anschauungen eines Mannes, dessen Namen allen Anwesenden

ein Begriff sein dürfte und dess en W erk im 21. Jah rh undert zweifello svon neuer R elevanz se in wird: Rudo lf Steiner.»

Freemans Worte weckten Überraschung, Widerspruch und heftige Kri-tik. Mrs. Albright meinte, eine solche Umstülpung der Geldgewohn-

heiten («money habits», wie sie wörtlich sagte) wäre niemals durch-

führbar. Von anderer Seite wurde dies und jenes eingewendet. Dieallermeisten Konferenzteilnehmer schienen sehr erleichtert, als Havel

kurz vor sechs Uhr abends das Forum auf dem Hradschin förmlich

schloß. Er bat die Teilnehmer ganz dringend, sich schon heute für die

Ko nferenz in Kana da zu inskribieren.«Es h at sich ja in diese m T reffen klar gezeigt, daß wir nicht in allen

Fragen einig sind. Doch was die Freiheit unseres Geisteslebens anbe-

langt, die M r. Free m an fordert, so ka nn ich se lber diese Fo rderung nur

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auf das stärkste unterstützen. Und doch: Wir sollten nicht vergessen,

daß es nicht zuletzt die Kirche Ro m s gew ese n is t, die uns, gem einsamm it den USA natürlich» - Have ls Blick glitt freundlich läche lnd zu M rs.Albright - «vom fürchterlichen sozialistischen Experiment, das den

Osten siebzig Jahre lang beherrschte und bedrückte, endgültig befreithat. - Ich danke Ihnen allen, und alle danken wir ganz herzlich Mr.

Freem an, der die Uridee für diese s Forum ha tte .»

Vom Veitsdom klangen schwe re Glockentöne in die m ilde Abendluft hin-aus, während die drei Freunde nachdenklich und schweigsam auf den

Platz des Hra dschin traten und auf die D ächer Prags h inunterblickten.Nach e iner W eile sa gte Jacques:

«Diese Glocken we cken die Erinnerung in m ir an andere und ferneGlockentöne, mit denen einstmals das Jahrhundert eingeläutet wurde,

an desse n Ende wir nun stehe n. Ich traf am ersten T ag des zwa nzigstenJahrhunderts meine edle Freundesseele aus dem alten Rom. Wir gin-

gen bald darauf die sch öne, schw ere , reiche Eh e m iteinander ein.» Roihielt etwas inne, wandte sich dann strahlend seinen Freunden zu und

sagte: «Bald werden, m eine treuen Freunde, neue Glockentöne das fol-gende Jahrhundert einzuläuten haben. Dann werden wir, vereint mit

vielen, vielen Menschenseelen, die Geistesbrücken bauen über den so

weiten Abgrund, der die Menschheit völlig zu verschlingen droht.»

Jacques s chien wie aus we iter Fe rne in die G egenwa rt zurückzukeh ren,als er fortfuhr: «Dies er Abgrund wurde uns ja he ute nach m ittag erneutganz unve rh üllt geze igt!»

«Ich käm pfte m it Däm onen, während ich vom neuen Geld zu spre-chen suchte», s tellte Ha rold Freem an fest. «Am schlim m sten war es , als

ich abschließend den Namen unseres verehrten Meisters nannte:Fürchterliche Angstdäm one n zeigten s ich dem innern Blick!»«Wie meistens, wenn in der Entwicklung wahrer Fortschritt fällig

wird», sagte Nick gelassen.«Havel war doch recht enttäuschend», meinte Freeman. «Seine

Huldigung an Huntington zeugt von se hr naiver E inschätzung des dunk-len Willens, neuerdings Europa von dem Osten Rußlands abzutrennen!»

«Er h at sich noch nicht freigekäm pft von röm ische n und wes tliche n

Ge wa lten», konstatierte Jacques na chdenklich.

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«Der Künstler in ihm scheint mir freier, geistiger zu sein», fügte

Nick hinzu.

«Hoffen wir also, daß ihn wenigstens d ie Ku nst zur Klarsicht brin-

gen wird», beendete nun Jacques den ungesuchten Dialog.

Die Freunde suchten auf dem Wege zum T he ater noch das Ge genstückzum Hradschin auf, die Burg Wischerad, den Stammsitz von Libussa,

der sa genha ften Gründerin der Schwe llenstadt. We nig später s aßen sieim vorneh m en Parkett des Prager Sm etana-Th ea ters und plauder ten inangeregter Stimmung.

Die Aufführung war ernst und würdig, wie es einem Werk ent-

sprich t, dess en Sch öpfer ausdrücklich verlangte, daß e s nur be i feierli-chen Anlässen gegeben werde. In der Pause nach dem ersten Akt un-

terhielten sich die Freunde wiederum sehr lebhaft miteinander.Jacques Ro i schien innerlich s o stark ergriffen, daß ihm Freem an zwei-m al sagen m ußte, am andern Ende des Foy ers s tehe V aclav Havel , e inGlas Champagner in seiner Linken.

«Ha vel?» sagte R oi ganz freudig. «Nun dann sitzt er in der rech tenOper! Wir wollen an ihn denken, wenn im dritten Akt Libussa ihrem

T sche che nvolke eine große Zukunft proph ezeit!»

Es wa r scho n weit nach M itternacht , a ls die Freunde in der Ba r desHotels ihre Frühstückszeit bestimmten.

~

Harold Freeman fand auf seinem Zimmer einen Brief vor. Er war

von Nantjoff.Sein Herz schlug schneller , als e r las:

New Yo rk, den 25. Februar 1998Lieber Freeman,

ich mußte unvorhergesehen in die USA verreisen. Hier traf ich eben

unseren gro ßen Leh rer . Er ha t m ir Wichtigstes gesa gt, auch für Sie undIhre Freunde. Do ch so l l ich Sie zuers t an ganz bestim m te W orte zu er-

innern suchen, die wir beide letztes Mal von ihm vernehmen durften,

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nachdem er diese Welt seit sieben Jahren schon verlassen hatte. Die

Worte, die durch unsere gute Seherin, die damals meine Tochter war,

vernommen wurden, lauteten: <Wenn ihr euch bewußt werdet, daß

auch ich — für euch — mit den Dämonen kämpfe, werdet ihr noch wa-

cher und bewußter kämpfen lernen. Das soll euch Mut und Kraft ver-

leihen, niemals darin nachzulassen, überall die Wahrheit zu vertreten,

wie es jeweils angemessen ist — in Gedanken, Worten, Taten. Denn nur

in solcher Wahrheitssphäre kann ich wiederkommen. Die Wahrheitsta-

ten, die ich für die näherrückende Verbindung brauche, müssen uner-

schrocken ganz im Dienst der Welten-Wahrheit stehen.>

Erinnern Sie sich, lieber Fre em an? Erinnern Sie sich nur! — Und jetzt,jetzt spricht der Meister wiederum, und nun durch mich, zu Ihnen und

den treuen Freunden.Dies ist es, was er mir zu schreiben auftrug: <Sag dies den Freunden:

So ihr in der Wahrheit strebet, darf ich wiederkommen, zu vollbringen

ein Mysterium, das neu ist. Nur aus eurem Wahrheitskampf kann ich

erstehen, um zu offenbaren, was die Menschheit für das 21. Jahrhun-

dert braucht. Nun ist es an der Zeit: Ich werde treten in den Kreis all de-

rer, die mich wahrhaft lieben. Ich sagte einstmals: Nur die durch Leid

und Kampf zu gehen wagen, dürfen auf mich warten. Sie sind es, die

mich finden und erkennen werden. — Die Zeit ist nun erfüllt: Ihr seid

durch Leid und Kampf geschritten, habt ohne Wanken stets für Welten-

Wahrheit euer Eigensein geopfert. Ihr durftet mich im Geist erleben.

Ich trug und schützte jede Frucht aus eurer Geistesmühe. Ich inspi-

rierte euch die neuen Mantren. Bald werden wir uns physisch schauen.

Der Kreis der Achtundvierzig ist nun voll. Jetzt muß er rituell begrün-

det werden.>

Lieber Freeman, dieses wird sehr bald stattfinden: Im August nochdiesen Jahres, an einem Orte in der Nähe einer alten Indianerstätte. Der

Ort heißt Taos, er liegt im Bundesstaat New Mexico. Einzelheiten

schreibe ich sehr bald an Ihre New Yorker Adresse. (Die große Seele,

die den Osten von dem Westen trennen mußte [9. Jh.], wird auch kom-

men. Sie hat den spirituellen Brückenschlag, die jetzt den Osten mit

dem Westen einen soll, schon fast vollendet. Die Brücke wird bald tra-

gen können. Ob Menschen sie begehen werden oder einmal mehr ins

Leere treten wollen — es bleibt natürlich abzuwarten.)

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Mit Geistesbruder-Grüßen an Sie und Ihre treuen Freunde

Vo n ganzem Herzen und auf Wiederseh en seh r , seh r baldIhr alter Nantjoff.

~

Harold Freeman machte wie gewohnt die abendlichen Geistesexerzi-t ien. Mit ganz besonderer Hingabe übte er die neuen Mantren, welchekeiner, der sie innerlich empfangen hatte, niederschreiben durfte.

Dann sa nk er rasch in einen lethe losen Schlaf. Dieser trug ihn no ch vorT agesa nbruch an das Ufer des gewöh nliche n Bewußtseins .

Freem an setzte s ich nach s einen M orgenübungen ans Erkerfenster ,las e rneut den letzten Brief Fionas durch und schrieb dann nach Ch icago :

Praha, den 28. Februar 1998Liebste F iona!

Hab tiefsten D ank für D einen wun derbaren Brief, den ich gleich bei meinerAn kunft fand. So reist Du mir voraus und nimmst mich in Emp fang, wohinich mich auch wende — als wärst Du meine «Ü berseele» — im Sinne Emersonsnatürlich. Wa s Du von M orgenstern entdeckt hast, ist wirklich sehr bedeut-

sam. Den V ers von Tennyson lernte ich gleich auswendig und w eiß ihn nun«by heart», wie wir so sinnig sagen.Da s W iedersehen m it den F reunden w ar unbeschreiblich schlicht und

schön. Nick gab mir zu verstehen, daß a uch ihm bew ußt geworden w ar, daßgegenwärtig von uns dreien wahre D oppelgänger in der W elt herumspazieren.

Un d ich gestehe Dir: in Anbetracht von solcher «Ko nkurrenz» will auch ich,von Z eit zu Zei t, mich gerne als Roma nfigur betrachten — ungestört unddouble frei , wenigstens im R eiche der F iktion . .. Und schließlich: Sind w ir

nicht im w eltumspannend en drama tischen Rom an, den der Schöpfer dichtet,ein jeder eine der Romanfiguren? Unsere «Doubles» in der Wirklichkeit leben

offenbar zur Zeit im Wa hn, sie müßten just für uns einspringen, und ah nennicht, wie sehr sie dabei selber aus der Rolle fallen. Doch d as sind nur Extreme.Jeder fällt aus seiner R olle, der nicht seine R olle spielt.

Die K onferenz war ein Erfolg, wenn man unter dem «E rfolg» versteht,daß Dinge ausgesprochen w erden, die gewöhnlich ungesagt verbleiben. Ha-

vel präsidierte, M rs. Albright stieß im letzten Au genblick dazu, und als Eh-

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rengast besonderer A rt figurierte der fatale Hu ntington, der Harvard profes-sor, der der W elt als ganz naturgesetzlich vorzug aukeln such t, wa s Inhaltvon U S-Gelüs ten nach der W el tmacht i s t — «Ka mpf der Ziv i li sat ionen»heißt sein Schlagw ort, das das neue «Divide et Impera» der USA verschlei-

ern soll. Europ a und der O sten (Rußland ) sollen weiterhin entfremdet blei-ben. Es war ganz furchtbar anzusehen: Havel sank ihm fast zu F üßen, ob-woh l er doch ein guter Künstler ist, ich meine, Wah rheitssinn und Pha ntasie

besitzt.Nick sprach von den uns woh lbekannten neuen Ätherenergien, Jacques

von der Ernährun gsfrage, ich besonders von der Geldlehre des großen Lehrers.

Bis zu meinem Referat, das ich erst heute morge n hielt, ging alles glatt undfreundlich. Doch d ann brach in den Seelen-M enschen-Räum en plötzlich eine

wahre H ölle los. Du brauchst den M enschen nur zu sagen, daß der Wert desGeldes nicht nur jeweils neugeschöpft, sondern au ch vernichtet werden muß— und sie glauben, allen Boden u nter ihren F üßen zu verlieren. So stark hatM amm on, dieser Haup tdiener von Sorat-Ahrima n, die Seelen dazu abgerich-

tet, die Ewigkeit im G eld zu suchen, im G eld, das eben «ewig» wachsen soll.Von w ahrer Ew igkeit dagegen kein Begriff mehr in den Seelen. So verkehrt ist

es im Seeleninneren geworden. A m Ende nannte ich ganz offen und direkt denletzten Erdennam en unseres verehrten M eisters. «Rudo lf Steiner»! Ich wußte

plötzlich, daß ich ihn zu nennen hatte — allen Widerständen, die sich um den

Nam en ranken , fest zum T rotz. D amit aber, daß ich öffentlich den Nam ennannte, Fiona, w ar für mich mit einem Schlag die neue Ä ra eingeleitet, in derwir 48 in der Welt für ihn und für sein W erk (das nie von seinem Namen los-gerissen werden darf!) zu kämpfen haben — und auch kämpfen werden. So ha-ben es auch Nick und Jacq ues empfunden. Als ich den Nam en des geliebtenLehrers aussprach, senkte sich auf einmal über das gesamte A uditorium eine

dumpfe, bleiern-schwere Wolke nieder — voll von ahrimanischer (und auch so-ratischer) Substanz ... Nun w eiß ich, Fiona, w as es heißt, im Red en mit Dä-

monen kämp fen zu müssen.

Eine wirkliche Erholung w ar darauf die zauberhafte Aufführung von S metanas

Libussa. Es ist die Nationaloper der T schech en, die bei uns so gut wie nie ge-

spielt wird. Leider, muß ich sagen . Du wä rst entzückt gewe sen. Schon sehe ichD ich selbst als unvergleichliche Libussa F rieden stiften. Denn Libussa, die

einst Prag gegründet, lehrt ihr Volk die große M acht wahrh aftigen Verzeihens

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kennen . Sie schlichtet einen Brud erzwist. Das ist ein Zukunftszug der sechstennachatlantischen Epoche, die im M anas-Zeichen stehen wird, wo nicht Kampf

der Zivilisationen, sondern das V erstehen walten soll, das allein von M enschzu M ensch V erzeihen schafft. Da ß nicht billiges Verzeihen bloßer «sentiments»gemeint ist, kannst Du da ran sehen, daß Libussa sich Prmysl zum G emah l

wä hlt: Prm ysl heißt der Vordenker, der in die Zukunft Denkende.Da s Publikum klatschte fast nach jedem A ufzug, besonders zu B eginn des

dritten A ktes, als Libussa ihrem V olke eine große Z ukun ft prop hezeit. Sief leht um G ottessegen, um G lück «dem Volke durch Jahrhunde rte». Bei derallerletzten Strophe, die d a heißt: «D er Tschechen Volk w ird niemals unter-gehen/D er Hölle Schrecken w ird es siegreich überstehen», erhob sich dasgesamte P ublikum u nd sang ergriffen und begeistert mit.* Jacques hatte einestille Träne in dem einen A uge, wie ich von der Seite sah. Und Jacq ues ist jamit Prag verbund en w ie mit keiner andern Stadt . Hier wu rde er da s letzteM al geboren. Hier hatte er im Augenblick des Tod es unseres Lehrers dessenletzten Brief empfangen. Und h ier erlebte nun sein Herz durch den G esangLibussas von neuem d ie so hoffnungsvolle Zukunft dieses Volkes. Auch H avelwohn te dieser Aufführung persönlich bei, was Jacques als gutes O men w er-tete.

Noch ein W ort zu dieser einzigartigen M usik: Es gibt in Smetanas M usik Pas-sagen, die ich so beschreiben möchte: Flach e, weiche W ellen von lang gehalte-

nen A kkorden sinken au f Dich nieder; zugleich steigen aus der Tiefe ähnlichausgebreitete Akkorde auf, um sich mit den ersten zu durchdringen. So dringtdas Ich in faustischem Bestreben stetig aufwärts, während sich das Geistselbstgnadedevoll auf es herniedersenkt. Das ist die A ufgabe der Rand slawen: dieIch-Ku ltur Europas mit der ostslawischen G eistselbstkultur völlig zu durch -dringen. Jacques legte einst mit einer Tschechenseele vor sech sundsechzig Jah-

ren hier in Pra g ein geistiges Versprech en ab, für diese G eistselbst-Ich-Durch-dringung immerfort zu wirken. Kein W under, daß ihn Smetanas Libussa somac htvoll-still ergriffen hat.

Als ich weit nach M itternacht ins Zimme r trat, find ich einen Brief vonNantjoff vor. Nach dem vielen Unerw arteten folgte nun das U nerwa rtetste

* Hast Du mir nicht einst erzählt, daß sich die Italiener beim Auftritt des Gefange-

nenchore s im Nabucco ähnlich zu verh alten pflegen?

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von allem: Er schrieb von unserem M eister und daß er uns (die 48) sehr baldsehen wolle*. Im kommenden A ugust, in der Nähe Taos in New M exico. Fiona,

diese B otschaft, s ie erfüll t mein H erz mit solcher t iefer D ankbarkeit undF reude, daß ich D ir im A ugenblick nicht mehr dazu zu sagen weiß. In weni-

gen M inuten werde ich im F rühstücksraum die Freunde treffen. Wie werdensie sich beide freuen!Nur einen Sa tz will ich Dir niederschreiben, den N antjoff mir von früher

ins Gedä chtnis rief. Er stammt von unserem Lehrer, und er lautet: «Wenn ihreuch bewußt werdet, daß auch ich — für euch — mit den Dämonen kämpfe, wer-det ihr noch wacher un d bewu ßter kämpfen lernen.» Ein solches Wort nachdem am Nachm ittag Erlebten!!!

M ein Herz befindet sich im Jubel wahrer U nbesiegbarkeit, die täglich sich

erringen lä ßt ...Hier macht das Pendel meiner West— O st-Reise durch Europa kehrt. Wie

harmonisch werden doch die «Höhepunkte» in Paris und P rag durch Smetanaverbunden! Ich habe a ber die Empfindung: Die Nach richt unseres M eisterswird das P endel schneller westwä rts schwingen lassen, als ich bisher dachte ...

Au s tiefster Seele küßt Dich an de r Schw elle zu der langersehn ten Vitanova

Dein D ich immer liebender Harold

Im Frühstücksraum des Hotels wartete Jacques Roi auf seine beiden

Freunde, ein Buch vo r s ich, in dem er aufm erksam zu lese n schien. AlsHarold Freeman und Nick Potter sich gleichzeitig zu Roi hinsetzten,

steckte dieser die Lektüre unauffällig in die Jackentasche. «Nicht so

rasch, mein Freund», scherzte Freeman. «Laß ruhig sehen, womit du

vor de m Frühs tück deinen Ge ist erfrischst!» Potter zwinkerte, wie umdie Forderung auch seinerseits zu stützen.

Roi lächelte den beiden freundlich zu und zog das kleine Buch er-

neut aus seiner Ta sche und legte e s den Freunden auf den Tisch. Es warDer A ntichrist von N ietzsche .

* Nach de r Bege gnung, die ich m it ihm ha tte, als ich 17 wa r, und von der ich auchden Nächsten gege nüber stets zu schweigen h abe, wird sein Auge, das vo ll We is-he it, Liebe, Feuer ist, m ich nun bald zum zweiten M ale treffen ...

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«Als ich unlängst in Berlin im <Sora t> woh nte, ho lte ich das We rk ausm einer Reisetasche », sagte er e r läuternd. «M an kann Erstaunliche s ent-decken, wenn man dieses durch und durch ganz ahrimanisch inspi-

rierte Werk studiert und dann so manches neue Werk durchliest, das

aus den Hexenküchen der Verlage oder Pressehäuser unserer Gegen-

wart herkommt. Wo kann man denn die Signatur von Ahriman alsSchriftsteller noch klarer seh en als in Nietzsche s Antichrist?»

«Ein Übungs- oder Schulungsbuch für Dich?» fragte Freeman mit

Erstaunen.

«So ist es , lieber Freund. We r Ah rim an e rkennen will , m uß auch dieSprache untersuchen, die er spricht, wenn ihm ein abgedämpftes

m ensch liche s Be wußtsein eine Zunge zur Verfügung stellt! — D och un-

sere Zungen sollten sich nun wohl mit anderem befassen.» Roi zeigteschm unzelnd auf den großen Wa gen, der gerade vo n zwei M ädchen inden Raum geschoben wurde und der mit Früchten, Käse, Broten und

Getränken aller Art beladen war.«Ich h abe e ine Na chr icht für euch beide», sagte Freem an, währe nd

eines der zwei M ädchen T ee und Kaffee nachgo ß.«Ich weiß», sagte Nick m it seh r geh eim nisvollem Läche ln und fügte

dann seh r ernst h inzu: «Der M eister ruft uns in die U SA, um im Som -

m er unse rn Kreis der 48 kultisch zu begründen.»Freem an wa r für eine We ile spra chlos, Roi ganz Oh r. Nick erklärte:«We nn das M editieren ganz besonde rs gut gelingt, kann ich m anch-

m al m it dem M eister spreche n — so klar und deutlich, wie wir drei unsunterh alten. So w ar e s auch die letzte Na cht.»

«Dann erkläre unserem Freund hier bitte auch noch, wo das Tre ffenabgeha lten wird», sagte Freem an, im m er noch ers taunt und über seinepartielle Ü berflüssigkeit nun s ichtlich am üsiert .

«In der Näh e der Stadt Ta os , lieber Jacques, in New M exico», sagteNick, als wäre es das Selbstverständlichste der W elt.

«Ta os?» sagte Ro i und schwieg. «T ao tl — T ao . Eine Gegend, wo sichbestes Spir ituelles m it dem Schlim m sten m ischte?»

«In der Nähe dieser Stadt liegt ein altes Tao-Heiligtum, eine Stätte

altatlantischer Saturnmysterien», sagte Nick, und nach einer kleinen

Pause fügte e r h inzu: «Doch auch die M yster ien des T ao tl, die Um keh-

rung des Großen Geistes Tao, sind nicht weit von jener Stätte später

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hingetragen worden. Die Taotl-Intentionen wirkten durch die Goldgier

des französischen Königs bei der Ausrottung der Templer mit. Und in

der Nähe der Stadt Taos liegt Los Alamos, wo vor fünfzig Jahren erst-

mals eine atomare Bombe explodierte. — Im Spannungsfeld der beiden

Tao-Ströme muß die alte Tao-Weisheit nun erneuert werden. Nur sokann der Dämonenkampf an der kommenden Jahrtausendschwelle

siegreich überstanden werden.»

«Ja, auch von Dämonen sprach der Meister in der Mitteilung durch

Nantjoff», sagte Freeman halblaut zu sich selbst. Und dann vernehm-

bar zu den Freunden: «Auch die große Moltke-Seele und ihr guter Ra-

ter werden sich uns einen.»

Roi und Potter nahmen diese Mitteilung mit Dankbarkeit und

Freude auf. Dann aßen die drei Freunde schweigend weiter.«Es ist also sehr tief begründet, wenn die Urversammlung aller 48

bei Taos abgehalten wird», stellte Jacques nach einer Weile fest.

«Sehr, sehr tief begründet», sagte Nick nach einem ernsten Schwei-

gen.

Da wandte Harold Freeman sich zu Roi zu und sagte:

«Hat nicht auch Marguerite Yourcenar in Taos den Impuls empfan-

gen, den Hadrian-Roman, der lange liegen blieb, nach langem Zögern

wieder fortzusetzen?»

Roi und Harold Freeman tauschten einen stummen Blick. Dann

sagte Roi in warmer Heiterkeit:

«Ich will euch einen Traum erzählen, den ich gestern hatte. Der Mei-

ster neigte sich mit seinem Sternenblick zu mir und wollte meine Uhr

betrachten. Nach kurzer Prüfung sagte er: <Sie geht ganz richtig!> Und

dann mit Donnerstimme: <Es ist jetzt an der Zeit!> Dann machte er mit

seiner Rechten das Zeichen Michaels vor meinem Herzen! Und ich er-wachte.»

In diesem Augenblick begannen Sonntagsglocken überall zu läuten.

Erst schwach und wie von ferne, dann immer lauter, näherkommend.

«Nun wird das Ende des Jahrhunderts eingeläutet», sagte Roi ganz

freudestrahlend-sinnend. «Bereiten wir uns auf die Grundsteinlegung

für das kommende Jahrtausend vor!»

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Weimar

Harold Freeman fuhr am selben Vormittag bei mildem, trockenem

Frühlingswetter im Mietauto zur Moldaustadt hinaus. Links und

rechts der Zufahrtsstraße zu der Autobahn nach Weimar standen

Frauen, Mädchen — und selbst Kinder, wie ihm scheinen wollte. Ersteinzeln, dann in Grüppchen, schließlich während vieler hundert Meter

in kurzen oder langen Ketten.

Nach zwei Stunden parkte Freeman seinen Wagen in der Innenstadt

von Dresden. Nun konnte er sich einen alten Wunsch erfüllen: die six-

tinische Madonna Raffaels zu sehen. Er besah sich auch die Bilder

Rembrandts, ein paar Böcklin und einige Gemälde des Arztes, Wissen-

schaftlers sowie Goethefreundes Carl Gustav Carus. Dann speiste er zuMittag, auf der Brühlschen Terrasse, mit unverstelltem Blick auf das

kühle Elbewasser und die Nordstadt.

~

Den nächsten Zwischenhalt machte er in Jena. Hier wollte er allein das

Schillerhaus besuchen. Lange saß er in der Gartenlaube an dem kleinen

Steintisch und notierte sich, bevor er wegging, Worte des Gedenkens,

die auf einer Tafel eingemeißelt waren.Am andern Abend traf er dann in Weimar ein, wo er etwa eine

Woche bleiben wollte. Er stieg im Hotel Elephant am Markt ab, wie ihm

Onkel Alfred sehr geraten hatte. Hier hatten seit rund drei Jahrhun-

derten Dichter, Künstler, Musiker verkehrt — von Goethe über Wagner

oder Clara Schumann bis zu Walter Gropius und Wassily Kandinsky.

~

Spät abends schrieb er an Fiona:

Weimar , M ontag den 2 . M ärz 1998

Liebste!

Weimar! Ich bin angekomm en! Hier lasse ich mir etwas Z eit! —Willst Du erst kurz hören, wa s ich auf der F ahrt hierher erlebte (in einem

schnel len roten M azda)? Ich fuhr zuerst bei dichtestem V erkehr im Schri t t-

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tempo aus P rag hinaus. Die Ausfallstraße, die nach Norden führt, war vonHunderten von F rauen dicht umsäumt, die den Leib zu M arkte tragen. Ach,wenn es nur die Leiber wären. Denn die Seelen werden ja auch m itgezogen,ganz besond ers bei den jungen. Es gab darun ter zehn- bis zwölfjährige Kin-

der! Auf vielen der Gesichter: Spuren regelmäßigen Konsums von harten Dro-gen. Prag ist gegenwärtig ja der größte D rogenumsch lagplatz Europas. Sosieht die Keh rseite «Libussas» a us ...

Erster Halt: Dresden. Ich suche nur den «Zw inger» auf. Nun habe ich dieherrliche Sixtina Ra ffaels gesehen! D as B ild ist unbeschreiblich schön. B e-schreiblich schön dagegen ein paar R embrandts und vor allen Dingen ein mirgänzlich unbekanntes Bild von Ca rus. Es heißt «Go ethe-Denkm al» und zeigtdie sinnig-t iefe Ehrfurcht , die der M aler vor dem G enius des mit teleuro-

päischen O lympiers hatte. Im M useumsführer steht, was C arus selber über dasGemä lde sagte: «Da ich nämlich außerstande wa r, dem Dichter das M onumentzu errichten, dessen er w ürdig war, so hatte ich versuchen w ollen, ein solcheszu malen. M an sah da also in klarem Sommerm ondschein in ein wunderbaresF elsental hinein, wo auf großer, von F elsen umragter Klippe ein dunkler Sar-kophag sich erhob, dessen M itte eine hohe metallene Harfe zeigte, zu deren bei-

den Seiten B ilder von betenden Engeln knieten, von Nebelsilberduft umzogenund von schlanken Tannen ü berwachsen. Das ganze Bild trug den Ausdruckvon S tille, Einsamkeit und Klarheit und ziert noch, indem ich dieses schreibe,unsere Zimmer. Eine eigene Begeisterung wehte in dem G anzen, und es ver-fehlte nicht seinen Eindruc k auf viele, die es betrach teten.»

Zu diesen vielen zähle nun auch ich, F iona. Ich weiß nicht, ob ich einenschöneren B eginn des Eintritts in die Goe the-Sphäre hätte finden können a lsdies Ca rus-Bild. Ich werde jedenfalls versuchen, meine Seele so zu stimm en,daß d er G enius von G oethe, welcher jetzt und heute lebt, sie durchw ehen

möge, wie die reine Bergluft durch die Harfe Carus' weht.Ich saß dann auf der «Brühlschen Terrasse», genoß den Ka ffee und die Aus-

sicht auf die Elbe und sann dem Schicksal Dresdens nach. M an nennt die Stadtja auch d as «Elbflorenz». Gerade C arus kann un s das erklären. Er war ja hierin Dresden tätig, hauptsächlich als Arzt und Forscher, der im Briefwechsel mitG oethe stand. Er verkehrte jahrelang mit Prinz Johann, später Kön ig Sachsens.Dieser w ar ein wa hrer Schöngeist; und als «Philaletes» übersetzte er die Gött-l iche Ko m ödie Da ntes. C arus wu rde jeweils aufgefordert, die Arbeit seineshohen H errn zu komm entieren und zu fördern. Hier siehst Du einen wichtigen

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F lorenz-Einschlag im Zeit- und Raum gewebe, wie es Schicksal schafft. Dochauch die ital. O per überhaupt sowie die M alerei Italiens wurden hier mit großerAnerkennun g aufgenommen . Zum B eispiel lebte C analetto der Jüngere (einNeffe des bekannteren Venedigma lers) viele Jahre hier.

Später wirkte Wa gner hier, um nur den größten aller M usiker zu nennen,

die mit dieser Stadt verbun den bleiben. Sein Rienzi wie sein Holländer wur-den in der Semperop er Dresdens erstmals aufgeführt.

Dieses Elbflorenz wurde 19 45 eingeäschert. Die Bomber of His M ajestylegten diese Stadt bekanntlich buc hstäblich in Sch utt und Asc he. Hund ert-tausende, da runter viele, viele K riegsflüchtlinge, die in D resden Sc hutz ge-funden hatten, kamen dabei um. Dies geschah am 13 . Februar 194 5. Dem T o-destag von Richard W agner! An diesem kleinen «Zufall» zeigt sich, daß der

K rieg in W ahrh eit gegen jene G eistigkeit entbrannte, die nur in Euro pablühen kann un d die die Welt (die meisten Europäer eingeschlossen!) seit je-her sucht — und immer flieht.

M an hat im Stadtkern alles wieder aufgebaut, ganz exakt, zum Teil nachStichen C analettos, da auch viele P läne alter Bauten vollkommen vernichtet

waren.

x -

D ann ma chte ich kurz halt in Jena. Ich wollte nur das Schillerhaus mit seinemG arten sehen. Ich trat gleich in den letzteren, schritt den schma len Pfad en t-lang, der zwischen Rosenbeeten — herrlich, wie die Rosen noch in der Erinne-rung zu duften scheinen — zur bekannten Laube führt , in der sich Schillergerne aufhielt. Hier setzte ich mich eine W eile an den Steintisch mit der run-den P latte. Auf dieser P latte schrieb ich mir die W orte ab, die man auf ihr ein-gemeißelt hat. Es sind W orte G oethes, der am E nde seines Lebens einst mitEckermann hier weilte. Diese W orte lauten: «In dieser Laube, auf diesen jetzt

fast zusammengebrochenen Bänken haben wir oft an diesem alten Steintischgesessen und man ches gute und große W ort miteinander gewech selt.» Als icheine W eile selbst ganz still hier saß, sah ich d ieses vor mir, F iona: die beidenF reunde im vertraulichen Gespräch , nicht ohne manchen Scherz — es war dieZeit, als sie die «Xen ien» machten (und diese ihnen Luft!) — , von Zeit zu Zeitvon einem H ustenanfall Schillers unterbrochen, dann wiederum in t iefstemErnst . Auf m einen Seelensaiten klang nun W ort um W ort ein m anches der

G espräch e auf, das beide miteinander führten. Einzelheiten dann zu Hause. —

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Nun will ich ruhen. Morgen früh ins Goethehaus! Es ist nur ein paar

Schritte vom Hotel. Weimar ist so klein!

Kuß H arold

Freeman las noch eine Weile in den Goethevorlesungen Grimms und

blätterte dann eine Goethehaus-Broschüre durch, die in seinem Zim-

mer lag.

Er war der erste Fremde, der anderntags das Goethehaus am Frau-

enplan betrat. Er erstand sich an der Kasse einen Führer durch das

Haus und stieg die breite, feierliche Innentreppe hoch.

Es schien ihn gleich ins «Juno-Zimmer» mit den blauen Wänden

hinzuziehen. Der Raum, in welchem Goethe Gäste zu empfangenpflegte. Auch Carus hatte hier geweilt, Sulpiz-Boisserée, der Kunsthi-

storiker; der Knabe Mendelssohn, der Goethe auf dem Clavicord vor-

spielte, ebenso wie Clara Wieck, die später Schumanns Gattin wurde;

natürlich Eckermann, und — wer nicht alles noch! Und immer auch

kurz Goethes Frau, sobald es Kleinigkeiten zu servieren galt.

Freeman schien es zu genießen, daß er ganz allein im Raume war.

Er betrachtete die schlichte, große, ihm von vielen Bildern wohl-bekannte Juno-Büste, welche Goethe sich in Rom als Gipsabguß er-

worben hatte. Doch sein Blick glitt weiter, blieb auf einem schmalen

Kästchen ganz in Fensternähe haften. Darauf steht eine kleine Bronce-

plastik. Unverkennbar: eine Nachahmung der Moses-Plastik Michel-

angelos, en miniature, fast zierlich. Goethe brachte sie im Jahre 1812

aus Karlsbad mit.

Freeman strebte leichten Schrittes weiter. Auf der Schwelle zum be-

nachbarten und gleichfalls blau gestrichenen Urbino-Zimmer wandteer sich nochmals um. Die Moses-Plastik und die Juno-Büste am linken

Rande seines Sehfelds, blickte er nun voll Bewunderung und Staunen

durch die Fluchten vieler Zimmer, deren Türen alle offen standen.

Er besah s ich Goe thes Arbeitszim m er, das im h interen T eil des Hauses,auf der Gartenseite, fast wie abseits, liegt. Hier schien eine unscheinbare,

handgroße Napoleon-Glasbüste seine Aufmerksamkeit zu erregen.

Er warf noch einen Blick in Goethes Schlafgemach, mit dem großen

Sessel, in dem der Greis zu sitzen pflegte und in dem er sitzend starb.

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Bald darauf saß Harold Freeman an einem kleinen Kaffeetisch und

machte sich Notizen. Später schrieb er Postkarten, an seine Mutter, an

Nantjoff und an Onkel Alfred. An den Onkel schrieb er:

W eimar , den 3 . M ärz 199 8

Lieber Alfred!

Prag w ar e in Er folg , obwohl ich auch n och in der O per war . Ich sprach mit Ha-

vel, knüpfte wichtige Kontakte und konnte schon die Folgekonferenz ankün-

den. Sie soll im F rühherbst in Toronto abgehal ten werde n.

Herzlich Dein, so hoffe ich, noch immer vielversprechender Coordinator

Harold

P.S. Den k nicht , daß ich in We imar al le Pol i tik vergesse!

~

Nach dem Essen fuhr der rote Mazda westwärts aus der Stadt hinaus.

Freeman besichtigte Schloß Ettersburg mit der einstmals schönen Park-

anlage: Das herzogliche Jagdschloß, wo Carl August oft mit Goethe

weilte und Billetts an Frau von Stein verfaßte. Auch sie selbst, die ihm

so teuere «Charlotte» seiner ersten Zeit in Weimar, spazierte gerne mitdem jungen dichtenden Minister durch die lichten Buchenwälder auf

dem Ettersberg. Vielleicht an einem solchen Tag wie heute, in milder

Luft des Vorfrühlings, die vom munteren Gesang von Lerchen und von

Amseln widerhallte.

Dann suchte Freeman jene Stätte auf, die von diesen Wäldern ihren

Namen stahl: «Buchenwald» — der Ort, an dem sich alles Licht der

Goethezeit in Finsternis verkehrte.

Auf dem Parkplatz standen viele Autobusse. Freeman kaufte einen

Lagerführer und trat als erstes in das kleine Arztgebäude, in dessen

«Untersuchungsraum» noch heute eine große Meßlatte an einer Wand

montiert ist. Hier mußte jeder Sonderhäftling sich in seiner Körper-

größe messen lassen. Im Augenblick, in dem der waagerechte Meßbal-

ken, von oben kommend, auf den Scheitel drückte, zerriß ein Schuß die

Luft. Hinter dieser Wand trieben Todesschützen ihr Geschäft: Durch ei-

nen gut verdeckten Schlitz in dieser Latte schossen sie die frisch Ge-

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messenen ins Jenseits. An einem einzigen Tage wurden rund 8000

Kriegsgefangene aus Rußland in solcher W eise um gebracht.Später fand er die im Lagerführer angegebene Stelle, wo die

«Go ethe -Eiche» e inst gestanden ha tte. Als m an 1937 ein großes W ald-

stück für das Lage r rode te, wurde nur die «Dicke Eiche », wie sie in denFlurplänen des Ettersberger Forstes hieß, verschont. Unter diesem

Baum sol l Goe the m anches M al m it Frau von Stein gesesse n haben. Hateine Art perverse r Ho chachtung vor «Go ethe» die SS daran geh inder t,ihrem T odeslager auch die Goe the -Eiche h inzuopfern? So f ragte Free -m an sich im stil len.

In der Frühe des folgenden Morgens schrieb Freeman seinen zweitenWe im ar-Briefbericht für Fiona:

4. 3. 98, 8 Uhr 15Liebste Fiona,

im G oethehaus verw eilt zu haben gibt noch jetzt im Nachklang aus d er Nacht

heraus der Seele neue A temweite. Ich hatte wieder G lück und wa r alleine in denRäumen dieses Hauses. Go ethe ließ das Haus, das ihm der Herzog schenkte,

ganz nach seinen V orstellungen um gestalten. Breite Treppe aus m assivem Holz,feierlich fast wie als Tem pelaufgang zu empfinden, zweimal um d ie Ecke, in denEcken auf Konsolen P lastiken, die G oethe aus Italien mitgenommen hatte. Schon

hier wird deutlich: G oethe wo llte sich die Eindrücke Italiens und m ittelbar auchG riechenlands in Weima r fest bewahren. Vor den R epäsentations- und W ohn-räumen im ersten Stock ein «Salve» auf dem Boden , intarsiert.

Dan n im Inneren der eigentlichen W ohnung. M ich zog es gleich ins Juno-Zimmer, in dem d ie überlebensgroße Ko pfbüste das Hauptstück ist. Das Zim-mer ganz in B lau gehalten, der F arbe, «die uns nach sich zieht» und Seelen-weite in uns w eckt.

Ich mu ßte plötzlich an die W orte Go ethes denken, die er hier in diesemRaume, lebhaft auf die Juno deutend, einst zu Sulpiz-Boisserée (einem Freund

und K unsthistoriker) gesprochen h atte: «Ich bin ein Plastiker!»Ist das Wort nicht wunderbar, wenn D u es mit dem zusammenhältst, was

unser großer Lehrer über G oethes einstige Verkörperung in Griechenland ent-

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hüllte: Daß er als P lastiker gelebt hat und daß in dessen Jugendjahren noch dasgreise Auge Platos auf den hochbegabten Jüngling fiel.

W ährend ich so san n und dac hte, gli tt mein Blick ganz unvermerkt aufeine kleine Broncestatue nah beim Fenster: Eine hübsche M iniaturnachah-mung des berühm ten M oses M ichelangelos. Diese kleine Statue hatte ich beim

letzten Weimar-Aufenthalt (vor etwa 70 Jahren), als ich auch d as G oethehausganz kurz besuchte, nicht beachtet. Jetzt we ckte mir der Anblick dieser M oses-Statue Worte unseres Lehrers auf, die tief in mir geschlummert hatten und mitdenen er uns da mals nur ganz zart und indirekt auf Goethes karmischen Zu-sammenh ang mit M oses aufmerksam zu machen suchte. Diese zarten Winkehaben wir vernomm en und ließen sie doch unbeachtet. Das w underbare Rein-karnationsgeheim nis durfte unser Lehrer gar nicht unverhüllt verraten. Stell

Dir nur den neuerlichen Haß vor, den das in der Kirche R oms auf ihn undseine Strömung hätte ziehen müssen. Doch au ch das Judentum d er Welt hätteeine solche Wa hrheit kaum ertragen können. (Heu te ist das anders, w ie ichnachher schildern werde.) Un d auch G oethe selbst: Seine Seelenkeuschheitwo llte tiefere G eheimn isse nur angede utet haben. Lies, wie er im Meis te r überdas ihm durchaus he ilige Leid C hristi schreibt!

Am M orgen stand mir klar vor meiner Seele: Unser M eister machte einesTages im Zusammenhan g mit G oethes Karma aufmerksam auf Kon rad Bur-

dach, einen G oethekenner von der besten Art . Burdach fand — ohne Rein-karnation zu kennen und ohn e O kkultist zu sein — ganz exoterisch hinter Goe-thes Leben und ganz besonders hinter seinem Faust (der ja der treuste Spiegeldieses Lebens ist) ungezählte Züge aus dem M osesleben und der M osessage.Burda ch schildert, wie der Knabe G oethe schon Hebräisch lernt, die Genesiszu wiederholten M alen liest und durchstudiert, wie in Straßburg G oethe spä-ter eine Doktorthese über d ie mosaischen G esetzestafeln schreibt usw. V ielesdavon scheint in ihm durch Herder angeregt zu sein, mit dem er ja in Straß-burg viel verkehrte und der selbst Wichtiges zum A lten T estament geschrie-ben hatte.

In Italien wird die M osesschicht in G oethes Leben eine W eile durch d iegriechische verdeckt — und doch auch w ieder aktiviert. «Hier ist Notwendig-keit, hier ist Gott!» ruft der Plastiker in Goethes S eele angesichts der K unst-werke der G riechen aus. Doch die Zunge führte ihm der G eist des M oses, derGesetz und G ott geschaut. M it der Strenge M oses' lernte Goethe in Italien auf

die Welt der K unst zu schauen. Dann tritt die M osesschicht, rein äußerlich ge-

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sehen, ein Jahrzehnt zurück. Doch n ur, um stärker als zuvor erneut hervor-zutreten: 1796 übersetzte Goethe die hochgeschätzte Lebensschilderung Celli-

nis, den er Schiller gegenübe r in gewisser Hinsicht mit dem M oses zu ver-gleichen sucht. Und C ellini scheint es in der T at zu sein, der Goethe w ieder auf

die M osesspur zurückbringt.179 7 schreibt er seinen A ufsatz «Israel in der W üste», in dem er, unbewuß taus eigenem Erleben schöpfend, eine Deutung dieser Ph ase aus dem Leben sei-nes Volkes gibt. Der A uszug aus Ägypten, wo M oses eine Einweihung erfah-ren hatte, aus der heraus ihm seine innere M ission au fging. Dann nimmt erfast zur gleichen Zeit, unter Schillers Zuspruch, seine A rbeit an dem zweitenTeil der F aust-Tragödie endlich wieder auf. Diese beiden D inge stehen mitein-

ander im Zusammenhang!

So fühlte Go ethe M oses in sich leben, aber ganz als Plastiker. Ist es nichtganz ungeheuer schö n: Im Juno-Zimmer offenbart er, auf die Juno-Büste deu-tend, seine Plastiker-Vergan genheit, und im gleichen Zimmer steht danebeneine M oses-Plastik!

M ichelangelo hat dem M oses übrigens in sachgemäßer Eingebung zweiHörner auf das Hau pt gesetzt. Sie stehen für die zweiblättrige Lotosblume inder Stirnmitte. M oses war d er Vorbereiter des Ich-bin-Bew ußtseins und der

Intellektualität. Doch letztere erhielt er noch aus altem Hellsehen heraus. Da-her die beiden Hörner (He llsehen) und die T afeln des Gesetzes (gehirngebun-

denes Denken).So w ar die Individualität, die die G estalt des «M oses» prägte, später auch

in «G oethe» plastisch wirksam. Sie, die Individualität, ist nämlich der bedeu -tendste von allen P lastikern: Sie plastiziert aus ihrem ew ig-einen K ern imLaufe der Verkörperungen die ma nnigfaltigen Gestalten unserer Persön lich-keit heraus. Sie ist der unbekann te Gott im Innern, das ehern e G esetz, «nach

dem w ir angetreten», sie lehrt «geprägte» F orm, sich «lebend zu entwickeln».Sie ist der große P lastiker der menschlichen Ve rkörperungen. Sie soll verehrt

und angebetet werden, nicht «M oses» oder «Goethe», die Name n der Persön-l ichkei ten, die nichts als ihr G eschöpf sind. Bedenken wir, w as dieses re-inkarnatorische G eheimnis in bezug auf den Zusamm enhang bede utet , derzwischen D eutschen und den Juden w altet! M ehr davon dann nachher.

O h, wie vieles gäbe es darüber noch zu sagen, F iona!Nur dieses noch: Nicht nur hier im Juno-Zimmer, auch in F orm von ganz

realen M enschen scheint in Weimar viel von Goethes karmischer Vergangen-

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heit ihn gew issermaßen zu umgeben. Ich gebe Stichw orte. (Wir können dannzu Hause diesen Fragen weiter nachzugehen suchen.) Wieland — Griechen-land, Frau von Stein — Ägypten. Herder — Israel/Ägypten, Christiane, seineF rau — wahrscheinlich Rom, in welchem G . einmal unter Hadrian (!) gelebthat, wie er selber ebenfalls zu Su lpiz-Boisserée bem erkte, wohl in w eiblicher

Verkörperung.

~

Als ich aus dem Juno-Zimmer ins U rbino-Zimm er schritt , blieb ich auf derSchw elle stehen, wandte mich noch einm al um und sa h durch fünf , sechsZimm erfluchten durch die türelosen Rahm en in eine wun derbare Pe rspek-t ive. Im Juno-Zim mer stel lten s ich mir die bedeutend en V erkörperungen

G oethes vor die Seele. D as trug mich über die uns wohlbekannte Schw ellezwischen Sinnesw elt und G eisteswelt und w eitete den Seelenblick durch dieJahrtausend e, als die mir nun im Rü ckblick diese Zimm er, die ich übersah, er-scheinen ...

Nach diesem intensiven inneren Erleben konnte ich nicht mehr viel anderesbetrachten. Nur das Arbeitszimmer und das Sterbezimmer w ollte ich noch sehen.

Der Arbeitsraum liegt im hinteren Teil des Hauses, auf die G artenseite zu;

er wirkt sehr schlicht, fast streng. Keine Büsten, keine Bilder an d en W änden,

kein Sofa oder Teppich. Kein Besuc her, keine Freunde d rangen je hier ein. Weraus dem heiligen Ich-B in zu schöpfen hat, der kann bei seiner A rbeit keineZeugen od er Zuschaue r gebrauchen. Im Repräsentationsteil dieses Hausesfindest Du den G oethe, welcher welt- und menschenoffen ist; hier dagegen dennach au ßen hin w el tabgewandten unbekannten Wand erer, der ganz demG roßen G eiste zugewen det ist, der in allen Dingen wa ltet.

So lernst Du G oethes Wesen kennen — oder um bescheidener mit ihm zusprechen: die Wirkungen von dessen Wesen — , wenn D u sinnend durch seinHaus geh st. De nn er schuf sich darin einen treuen Spiegel, tief wah r, nicht im-mer vollbewu ßt. Bis in die sinnlich-sittliche B emalung seiner Zimmer (da r-über dann zu Hause mehr).

Beinahe hätte ich ein Wichtigstes ganz übersehen: A ls ich mich zum Geh enwan dte, bemerkte ich zu meiner nicht geringen Ü berraschung eine kleineGlasbüste Napoleons, etwa h andgroß, äuß erst hübsch, unscheinbar in einerEcke stehend. Der einzige Kunstgegenstand in Goethes A rbeitszimmer, F iona!

Napoleon im inneren Ich-bin-Bezirk des zeugenlosen Schaffens! Bei der be-

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wuß ten Kargheit dieses Raum es ganz gewiß kein Zu fall. Es berührte michganz eigenartig.*

Ich mach te dann den S chluß im Sterbezimmer. Einfaches Holzbett, daraufeine rote Decke, grüne Wände, in Bettnähe ein schlichter, kräftiger Lehnstuhl,

gut bepolstert.

Und hier, Fiona, wurde mir nochmals ein Neues offenbar. Ich betrachtete denSessel, in dem der greise Goethe oftmals saß — und sitzend starb. Sitzend wieder tiefgeliebte M oses M ichelangelos ...

Es war ein Do nnerstag gewesen, gegen M ittag, Tag des Jupiter, in dessenZeichen das G esetz gestanden hatte, nach dem er angetreten war.

All dies ist so ungeheuer schlicht und zugleich tief real-symbolisch.

17 Uhr 30

Und hier die Impressionen, die ich gestern nachmittag in Buchenw ald emp-fing: Als erstes sah ich jenen Raum, in welchem in der fürchterlichsten WeiseTausende vo n russischen Gefangenen ermordet wu rden. In einem «Arztzim-mer» — welch ungeheurer Hohn auf alles wahre Heilen! — mußten sie sichnacheinander vor eine M eßlatte hinstellen, die an einer Wand befestigt ist. ImAugenblick, wo der wa agerechte M eßbalken von oben kommend auf demScheitel stehen blieb, wurde dem G efangenen durch einen un sichtbarenSchlitz vom Hinterzimmer ins G enick geschossen. Fiona! H ier hörte ich dasfürchterlichste Hohn lachen von Ahriman, das mir je begegnet ist und das nochheute jedem Schauenden aus der Akasha-C hronik laut entgegentönt.

«Was ist des M enschen Größe?» D iese F rage, die im Kern von Goethes

Schaffen steht, auch wenn sie vielleicht nicht in dieser Form geäußert w urde,ist für ihn und seinesgleichen n atürlich spirituell gedacht und tief empfun-den w orden. Die Antwort würde w ohl in G oethes Sinne lauten müssen:«Der M ensch ist himm elsgroß und sternenweit, denn er ist Ebenbild der

* Aus dem Führer war dann zu entnehm en, daß Eckerm ann die Büste wegen ih rerFarbwirkung und im Bewußtsein der Napoleonverehrung Goethes von einerReise nach Italien (und zwar über Genf), auf die e r Go ethes Soh n eine Strecke weitbegleitete, nach Hause brachte.

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G ottheit. Doch w urde diese Ebenbildlichkeit verdorben (durch den E influßLuzifers und Ahrimans). Durch «F austisches» Bestreben kann sie neu undrein errungen werden.» So etwa w ürde G oethes Antwo rt lauten. D iesespirituell gedachte Frage nac h des M enschen «M aß», die in jedem Herzenwo hnt , wurde von de r Wissenschaf t , der K unst und in der Rel ig ion ins

Physisch-Äu ßerliche übersetzt: Der M ensch wurde n ur mehr rein physischaufgefaßt. Wenn m an ihn rein ph ysisch «mißt» und wä gt, verbirgt sich je-des M enschen W ert und Wesen. Er scheint nichts wert zu sein, da sein W e-sen eben nicht im Ph ysischen zu f inden ist. Da s rein physisch-äuß erl icheM ensch enbild (anstelle jener Ebenb ildlichkeit von G ott) ist für das wah reM enschenw esen «Tod». Die physische Ermordun g ist das grauenhafte Ab-bild dieses Geistesmordes. Nirgends w ie in diesem «Ä rzteraum » von B u-

chenw ald trat mir d ie To deskraft der m aterialistisch-physisch orientierten«Wissenschaft» vom M enschen so furchtbar deutlich vor das Auge. Wer dieFrage nach des M enschen «Größe» nur noch äuß erlich verstehen kann, mußein M enschentöter w erden . ..

Dann stellte sich m ir wiederum das Schicksal «unserer» beiden Völker vordie Seele, ähnlich wie im Struthof in der Nä he des O dilienberges, und dochganz anders.

Ich stand an jener Stelle, wo einst die legendäre «G oethe-Eiche» sanften

Schatten spendete. Hier saßen G oethe und C harlotte von Stein oft auf einerBank und sprachen oder schwiegen. Dieses Bild, das mitten aus dem O rt desgrauenha f ten T ötens aufs t ieg , führte m ich in dieser Nac ht in neuart igeSchichten des Erlebens und Erkennens.

«Was G oethe oder Herder, Schiller oder Hegel wollten, das wurde nirgendsStaatskultur», konstatierte einma l jene große S eele, welche sich in Nikolaus(dem P apst) und später M oltke inkarnierte.

Deshalb stieg das Schattendeutschtum auf und «maß« d en M enschen nurnoch äußerlich nach seiner physischen Erscheinung. Daß des M enschen wah-res M aß an G ott genommen worden war, daß «G ott» der M aßstab aller Men-schengröße ist — das wurd e radikal vergessen. Dies ist die wahre Schu ld derD eutschen, nachdem d och G oethe unter ihnen intensiv gedichtet und ge-trachtet hatte: Sie beteten gerade w ie die Kinder Israels das goldene K alb desM aterialismus an.

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23 U h r

Nun höre, wa s mir in der Fo lge obiger Betrachtungen im weiteren noch auf-ging. D ie Legende Kains un d Abels stieg in meiner Seele au f, doch in ihrerG anzheit, wie sie uns der groß e Lehrer so wun derbar enthüllt hat (im Zyklusin Den H aag). Was die B ibel uns von K ain und A bel sagt, ist ja nur die letztePhase des Gesam tgeschehens. Vorher spielte sich das W esentliche ab. Es lassen

sich im Gan zen drei Etappen unterscheiden, w obei die Bibel nur die mittlerebeschreibt. Die erste liegt in ferner P aradiesvergangenheit, die zweite dauertnoch bis in die G egenw art hinein. Die dritte wird erst in der Zu kunft völlig

ausgestaltet:1.Der ursprüngliche Kain (ich nenne ihn K ain I) ist der Paradiesesmensch

am a llerersten Anfange der luziferischen V ersuchung, der, obschon in erstemSelbstgefühl erwachend, innerlich bereit ist, sich einem anderen W esen hinzuop-fern, das er als wertvoller empfindet, als er selber ist. Ich nenne d ieses zweite We-

sen Abel I. Und w as ist «Abel»? D as noch un verdorbene Ebenbild der Go ttheit.Ka in I erlebt an Abel I, daß dieser seinen Seeleninha lt erdw ärts strömen

lassen darf, da er so geläutert ist. Der Inhalt seiner eigenen Seele m uß h inge-gen aufwärts strömen, weil er auf der Erde noch n icht segensreich zu wirkenfähig ist und n ur U nheil stif ten könn te. D urch die Selbstaufopferu ng unddann Vereinigung mit Abel I wird Ka in von «Go tt» erwürdigt, sein Seelisches

nun ebenfal ls zur Erde hin zu tragen, wo er nun der Hüter seines BrudersAbels sein soll.

2.Dieser spirituelle O pferungsprozeß, die Hingabe von Kain an Abel wird

jäh durchkreuzt von Ah riman, der eine Gegentat zu inspirieren sucht. Du rchdessen W irken w ird die O pfertat in M ord verwan del t. Kain mordet seinenBruder Abel, dessen O pferrauch nach oben steigt (= seine gereinigte Astra-

lität; weil wir nun den Erden-A bel (II) vor u ns haben, steigt der Rauch n achoben, Gesetz der U mkehrung).

In dieser Phase setzt die Bibelschilderung des M oses ein. Als Jahw e nachder Tat des K ain Rechenschaft von ihm verlangt, entgegnet er: «Bin ich dennder Hüter meines Bruders?» D as kann kein M ensch verstehen, der nicht weiß,was dem vorausgegangen ist. Weiß m an aber diese Vorgeschichte, dann wirddeutlich: Jeder M ord ist die Verkehrung eines hohen O pfers: Ma n kann auchsagen: eines O pfers, das, statt bis zum Ende d urchgeführt zu werden, p lötz-

lich abgebrochen und in anderes verkehrt wird. De s M enschen ursprüngliche

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«G röße» (zur Z eit, als Luzifer zu w irken anfängt) liegt also darin, daß er sich

im Inneren erfähigt, sich mit Größ erem und R einerem, als das er selber sichempfinde t, selbstlos zu vereinen. K ains «F all», das heißt die Pervertierung sei-ner O pfertat in M ord, ist seine Parad iesaustreibung. Nun h aben w ir denzweiten Kain, den uns die Bibel schildert, den Mörder, hinter dem der abgebo-

gene O pferwille steht.Durch diese Urverkehrung unserer Natur sind wir alle aus dem Paradies

gefallen und Ka in II gewo rden. Die ursprü ngliche Einheit Kains mit Abel istzerrissen worden .

Un d nun ? N un fängt die eigentliche, von ihm selbst ergriffene Entwicke-lung des M enschen an.

3. Nun könn en wir nur durch die «saure Arbeit unsere Geistes», wie He-gel einmal sagte, eine neu e Einheit zwischen Ich un d W elt erringen. Nurdurch langsame En twicklung, durch Erkenntnis kann der W eg zur neuenEinheit mit dem A belwesen aufgefunden u nd beschritten w erden.

U nsere Erkenntnis nimmt also im K ainsmord ihren Ausgang, F iona!Denn im Paradiese brauchten wir sie nicht, da wir in der Einheit mit den D in-gen lebten. Sie umfaß t vier Stufen und führt uns ü ber das an u nsere Sinnegebund ene gegenständliche Erkennen zum ima ginativen, inspirierten undschließlich zu d er höch sten Stufe, die als intuitiv bezeichnet w ird. Auf der

vierten Stufe des Erkennens sind wir wieder an d em P unkte, doch in neuerWeise, wo sich K ain I im Akt der H ingabe mit Abel I vereinte. So kann K ainII zu Ka in III werd en. Kain I befand sich in der Seins-Intuition mit Abel I.Kain III schwingt sich zur Erkenntnis-Intuition auf, indem er sich erneut undvollbewu ßt mit dem G eist der Welt vereinigt. Denn Intuition heiß t ja, mit ei-nem anderen W esen eins zu werden.

So tritt die durch Erkenntnis neu gewo nnene V ereinigung mit allem Geistder W elt an die Stelle der verlorenen, uns einst geschenkten U r-Einheit.

We il nach der Paradiesausstoßung alle irdische Erkenntnis in dem K ains-mord ihren A usgang nahm, haftet heute noch dem me nschlichen Erkennen ein

kainitisch-tötendes M oment an. D enk nur an d en physiolog. Abbau, der m itallem Erdendenken doch verbunden ist, im Nervenprozeß usw . Doch auch aufder mehr seelischen Ebene sieht ein feiner Blick, wie manchm al eine sehr sub-t ile Aggressivität im Stil des D enkens u nd Erken nens leise mitspielt. M anspricht zu R echt von «m esserscharfem D enken»: Es is t die abgestump fte

Kainsw affe, mit welcher der zum Kain (II) gewordene Erdenm ensch das Den-

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ken in die Welt hineinstößt. Wo aber Messer schneiden, wird Lebendiges getö-

tet, Seelisches verletzt. U nser D enken u nd Erken nen ist also im ganz realenSinne die abgestumpfte M ordwaffe des Kain.

Un d nur durch den G ebrauch von dieser «Waffe» können wir erneut insPara dies gelangen! D och auf dem W ege dahin müssen wir erst lernen, unser«messerscharfes Denken» — das heute allerdings bei vielen Men schen selbstschon stum pf gewo rden ist — in geistige Intuition zu wan deln, die selbstlos istund ganz erfüllt sein muß vo n Liebe zu dem an deren und H öheren (A bel III).Und für das neue Denken und Erkennen (im Sinne von Kain III) muß al lesandere auch als Höheres betrachtet werden können, dem man sich in Ehrfurchtnaht. Solang das Denken no ch verletzend «schneidet», sind w ir noch in Nähezu Kain II. Ich denke hier zum Beispiel an die beiden O perngänger, die ich auf

der Rh einterrasse meines Basler Hotels traf. Über D inge, die doch in besonde-rem M aße nur m it Liebe zu betrachten und zu untersuchen sind w ie konkreteKarm afragen, hatten sie ja ziemlich w egwerfend und liebelos geurteilt; wennauch in erstaunlich großer Schä rfe des Verstandes. Du erinnerst Dich viel-leicht? Sie dachten sch arf und konnten doch das W irkliche nicht fassen.

Ü brigens, wenn D u im Denken finden w illst, wo altes Denken (Kain II) inneues D enken (Kain II I ) übergeht , so muß t Du nur den Ü bergang Ver-stand— Vernunft betrachten. De r Verstand trennt ab, isoliert die W elt der gei-stigen G esetze im einzelnen Begriff, die Vernunft verbindet das G etrennte zur

höheren Synthese. (Un sere O perngän ger beispielsweise zeigten mehr Ver-stand als Vernunft.)

Un d nun betrachte G oethe. Steht er nicht grandios in diesem dreistufigenKainsprozeß darinnen? Als M oses übte er den M ord an dem Ä gypter. Er mor-dete damit auch d ie Impulse, die dem altgewordenen Ä gyptertum en tstamm-ten. Eine neue, eben die hebräische M ission sollte durch ihn ja ergriffen wer-

den. Do ch gleichzeitig weist M oses mit dem M ord in repräsentativer Weiseauf die noch unerlöste Ka insnatur (Kain II) im M enschen hin. Und nu n be-schaue Dir die ungeheure Schaffensspanne M oses— Goethe. Und w as findestDu? Die H ingabe an das «Gesetz» steht über ihr geschrieben, das G esetz, dasin den D ingen waltet. Kan n es einen M enschen geben, der vorbildlicher alsM oses-Goethe diese zur Erkenntnis abgestumpfte Waffe Kains zu handhabengelernt? M oses-Goethe zeigte uns den W eg zum neuen Ka instum (Kain III) ,in dem Erkenntnis O pferdienst zu werden h at. Da die Deutschen ihm auf die-

sem W eg nicht folgen wollten, fielen sie in fürchterlichster We ise in die alte,

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mörderische Kainsnatur (Kain II) zurück. Goethes Schmerz um dieses Volk ist

nicht geringer, als der Schmerz des M oses um das seine wa r.

Dieses Schem a kann D ir helfen, die drei Kainsphasen zu überblicken:

Ur-Kain (K ain I) ,

ain III verbindet sich durchgeistig sich mit Abel (I) einend ,ntuition erneut m it Abel (III) ,opfert seine aufkeimende Selbstheit

elbstloses SelbstseinFall aus dem P aradies

ufstieg durch Erken ntnis

Luzifer erregt die SelbstsuchtDas O pfer wird durch Ahriman in Tötungswunsch verkehrt:

Ka in II tötet Abel (II)

Un d nun betrachte noch zum A bschluß einen Ausspruch G oethes über dieVerwandtschaft, die die D eutschen und die Juden aneinanderbindet (im G utenwie im B ösen, d.h. im Sinne vo n Kain II und III). «Deutschland ist nichts, aberjeder einzelne D eutsche ist viel», nämlich der P otenz nach, neuer K ain (KainIII!) zu werden . «Und doch bilden sich letztere gerade das U mgekehrte ein.Verp flanzt und zerstreut wie die Juden in alle W elt mü ßten die D eutschen

werden, um d ie M asse des Guten ganz und zum H eile aller Nationen zu ent-wickeln, das in ihnen liegt.»

In diesem Ausspruch gegenüber Kan zler M üller (Dez. 180 8) liegt das G e-heimnis des deutschen wie des jüdischen V olkes. Sie können einzig heilvoll wir-ken, wenn sie über alles Nationale mit Energie hinausstreben und -wachs en.Da her ist es so bedeutsam, daß n un gerade aus dem Judentum Reinkar-nationserlebnisse im Zusammenhange mit der Zeit des dekadenten Schatten-deutschtums in d ie Welt gelangen. (Neben der bemerkenswerten Schwed in, auf

die Du m ich vor kurzem aufmerksam gemacht hast , wäre auch noch R abbiGershom anzuführen, der von vielen wieder inkarnierten Menschen schreibt,die sich an den Holocaust erinnern.) Die Deutschen könnten sich durch solche

Stimmen aus dem besten Teil des Abel-Judentums von heute — in Israel verharrt

das Judentum auf der Stufe von Kain II — auf das wahre W esen ihres Volkes neubesinnen. Und wer dies vollzieht, dem wird die Lehre unseres M eisters wie diebeste Fortsetzung des Wirkens Goethes vor das Auge treten müssen.

Und diese Lehre, sie verbreitet sich ja heute kräftig in der Welt. So hat auc h

~

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die Verpflanzung «guten» Deutschtums, von der Goethe spricht, bereits be-

gonnen.

Dies a l les zog mir heute durch die Seele , nach dem B esuch im G oethehaus und

im schwarzen Buchenwald, und nach einer intensiven hellen Nacht.

Nun schl ieße ich und werde ein paar T age «ruhen», das heißt , mir Naum burg,

Erfur t und vie l le icht d ie W artburg ansehen.

Ab dem 21 . b in ich in London. Fa l ls Du m ir vor meiner Rückkehr (am 2 6. )

noch einm al schreiben möchtest , ich werde im Ho tel G rosvenor bei der Victo-

ria Station wohnen, in welchem Du uns letztes Jahr für ein paar Tage einge-

mietet hast . (Ich hab e die Adre sse nicht im Kop f.)

Tausend K üsse Harold

In den «Ruhetagen», die nun folgten, suchte Freeman zunächst Erfurt

auf, die thüringische Hauptstadt. Daß hier der Klerus mächtig wirkte,

zeigt spitztürmig der Dom und die Severikirche, mit der großzügigen

Breittreppe dazwischen; Spätfrucht des gezielten Wirkens des Missi-

onsbischofes Bonifatius, der im Jahre 742 hier ein Bistum gründete, das

zu den ersten auf Germanenboden zählte. Das «thüringische Rom»

wird Erfurt daher mit Berechtigung genannt.

Freeman zollte dieser Kirchenanlage Bewunderung und fuhr an-

schließend zum «Palast des Kaisers», in welchem 1808 Napoleon den

hochberühmten «Fürstenkongreß» einberief.

Nach der Schlacht von Jena, die die Preußen niederwarf, war Erfurt

sieben Jahre «kaiserliche Domäne». Auf dem Anger, Erfurts Haupt-

platz, ließ Napoleon einen Obelisken aus Holz aufstellen. Die Bürgerdieser Stadt wurden einem Steuerterror ohnegleichen unterworfen

und mußten dadurch auch zum Rußlandfeldzug «ihres« Empereurs

beitragen. Bis sich dessen Kriegsglück wandte ...

Freeman stellte sich im ersten Stock des «Fürstenhauses» an das Er-

kerfenster, vor dem Goethe im Oktober 1808 zum ersten Male vor Na-

poleon gestanden hatte, während dieser seiner Frühstückspflicht nach-

kam. Denn beim Empereur war alles «Pflicht», von der Frühtoilette bis

zur Unterwerfung ganz Europas.

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Später speiste Freeman in dem umgebauten Wieland-Haus zu Mit-

tag. Nach dem Essen schrieb er Nantjoff ein paar rasche Zeilen:

Lieber Freu nd!

Ich s inne hier in Erfurt über das erneute W irken < unseres> Napoleon. U nserTreffen im M useum «W iertz» steht neu vor meiner Seele. Un d damit auch dieZeit der G eistgespräche m it Nap ., die wir in der letzten Ink. zusam men füh r-ten, in Berlin. «D ama ls» rangen w ir um seine Seele. Heute nah t sich mir sein

G eist, von Licht erfüllt und We ite und vom Idea l der großen D rei.—

Au ch W ieland w urde neben G oethe unserem K aiser vorgestell t. Ich s itzehier im Haus, das W ieland einst bewo hnte. Heute ist es ein Hotel, das den Ab-

grundsnam en «Sorat» trägt. G estärkt durch alte Käm pfe mit Däm onen, trageich an diesen O rt e in w enig von dem Lichte hin , mit dem w ir e ins t Napoleonaus seiner F insternis befreiten .. .

In alter, treuer W affenbruderschaft des G ral

Ihr Freeman

An einem weiteren «Ruhetag» finden wir den Reisenden auf der Turm-zinne der Wartburg. Dann im «Sängersaal», in welchem Wolfram von

Eschenbach und Heinrich von Ofterdingen um die Wette sangen, bis

der Magier Klingsor aus dem Ungarland den Kampf entschied. Das

Lutherzimmer schien Freeman wenig zu beeindrucken; länger weilte

er im großen Festsaal mit der herrlichen Akustik und der prächtigen

Kassettendecke. Er wurde nach den Angaben von Liszt im 19. Jahr-

hundert renoviert. Der Bayernkönig Ludwig war davon so hingeris-

sen, daß er auf Neuschwanstein eine Nachbildung des Wartburgsaales

bauen ließ.

Schließlich machte Freeman während dieser Weimartage auch noch ei-

nen Kurzbesuch in Naumburg. Erst weilte er im Nietzschehaus und

dann im Chorbereich des Domes.

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Eines Abends saß er im Parkett des Weimarer Theaters. Man spielte

Goethes Großkophta.

Auch das Schillerhaus besah er sich natürlich. Auf dem Schreibtisch

das Faksimile der letzten Manuskriptseite des Dichters — der Monolog

der Marfa aus dem unvollendeten Demetr ius .Kurz vor seiner Rückreise nach London suchte er das Goethe-Schil-

ler-Archiv auf und ließ sich eine Handschrift Emersons vorlegen.

Und ein letztes Bild vor seiner Abreise aus Weimar: Sinnend steht er

vor dem Hause an der Ecke Prellerstraße/Steubenstraße, in dessen Erd-

geschoß sein hochverehrter Lehrer sich bei der Witwe Eunike vor über

hundert Jahren eingemietet hatte. Bald nach der Jahrhundertwende

wurde im Parterre des Hauses eine Gaststube eröffnet, die noch heute

in Betrieb ist. Freeman setzte sich in eine Ecke der in dunklem Holz be-

schlagenen Stube, zog die Philosophie der F reiheit aus der Tasche und las

und las, so daß er dem längst eingetroffenen Kaffee erst im Zustand der

Erkaltung seine Aufmerksamkeit schenkte. Der Gedenktafel, die erst

nach der Wende 1989 an der Hausfassade (auf der Seite Prellerstraße)

hängt, galt sein letzter Blick. Er las und prägte sich im Lesen ein:

Hier lebte 1892-1896Rudolf Steiner

Goetheforscher

und Begründer

der Anthroposophie

Am Abend dieses Tages schrieb er seinen letzten Briefbericht für Fiona:

Weimar , den 17. M ärz 199 8

Nun sch ließe ich mit «W eimar» ab. Gen ug hat sich mir hier erschlossen! Ich

will der Reihe nach berichten — mit einer Ausnahm e, die Dich betriff t .. .

In Erfurt suchte ich das «P alais» auf , in w elchem die Begegnung G oethes

mit Napoleon stattfand. An einem heiteren O ktobermorgen wurde G oethe her-

bestellt . De r Kaiser saß beim F rühstück, empfing den Dichter mit den Wo rten

«Vous êtes un hom me!» Kam bald auf Goethes Werther ausführlich zu spre-

chen, den er sieben M al (!) gelesen hatte, und mach te in bezug auf eine ganz

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bestimmte Stelle scharfsinnige Einwendungen. D er Kaiser sprach vom Dram a

der F ranzosen und d er ihm unsympathischen Tend enz, viel zu viele Schick-salsstücke zu verfassen, und meinte rundh eraus: «D ie Polit ik ist doch d asSchicksal!» Ein merkwürdiges Wo rt, vom selben M anne, welcher auch ge-wußt hat, daß «Geschichte» nichts als eine «fable convenue» darstellt, wie ich

Dir aus B rüssel schrieb.Der Em pereur forderte den Dichter auf, doch nach P aris zu ziehen. Ü ber-

haupt sprach meist der K aiser, Goethe antwortet stets kurz, bestimmt und höf-lich. Nach einer Stunde wurd e er entlassen. Goethe hütete die Eindrücke vondieser Erstbegegnung mit Napoleon (eine zweite folgte ein paar T age später, G .

empfing von N. das G roßkreuz der Ehrenlegion) wie ein Heiligtum im Innern.Viele seiner F reunde konnten die Napoleon-Verehrung Goethes kaum ver-

stehen. Hatte denn der Em pereur nicht auch in D eutschland U nhei l ange-richtet?Nach der Niederlage in der Völkerschlacht bei Leipzig (Oktober 1813), die

den Sturz des K aisers einleitete, zersprang in G oethes Arbeitszimme r ein klei-

nes M edaillon Napoleons aus G ips. Go ethe läßt es sofort reparieren und in dieFa ssung auf lateinisch eingravieren: «Scilicet immenso sup erest ex numinemultum» (_ «O ffenbar ist von dem unermeß lich großen göttl ichen W esennoch v iel übrig geblieben.»)

Als Napoleon dann Waterloo erlebte, hoff ten seine F reunde, nun w ürdeGo ethe von der «wahnh aften» Verehrung dieses M annes durch die Tatsachengeheilt . W eit gefehlt! Als man ihn auf die verlorene Sch lacht anspra ch,brumm te er geheimnisvoll, doch seh r bestimmt: «Laßt mir meinen Ka iser inRuh!» W ie wenn er damit sagen w ollte: «Von Napoleon versteht ihr gleich vielwie die Kuh vom Sonntag!»

Ist sie nicht sehr ha rtnäckig und rätselhaft, diese Emp ereur-VerehrungG oethes, liebste F iona? Im A rbeitszimmer gar nichts Schmü ckendes auß erdem besagten M edaillon (heute nicht mehr da) u nd der M iniaturglasbüste, dieEckermann dem D ichter schenkte.

Kurze Zeit nachdem Napoleon auf St. Helena verstorben war (182 1) — wasman in Europa erst nach M onaten erfuhr — , machte Goethe in BegleitungG rüners (M agistratsrat zu Eger) eine W anderung nach F ranzensbad. AlsG rüner eine S prudelquel le kurzerhand «N apoleonsquel le» nan nte, meinteG oethe: «Lassen wir gute W irkungen von dieser Sprudel- oder, wie Sie mei-

nen, Napoleonsquelle für die M enschheit hervorbringen!»

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F iona, dieses W ort aus Go ethes M unde w ird uns nun an jene andereQu elle denken lassen, die einstmals aus dem F els entsprang, als M oses ihn mitseinem Stab berührte. Vor M oses aber hatte Aaron einen Zauberstab, mit demauch er d as W asser fließen m achte ... Ich will mich deutlicher erklären. Denn

jetzt darf ich Dir enthüllen, was die K armaqu elle ist, aus der Napoleon «ent-sprang»: Nap oleon wa r einst als Aa ron, M oses' Bru der, inkarniert . SeinÄgyptenfeldzug — übrigens fast gleichzeitig mit Goethes A ufsatz über Israel!— wird verständlich, seine ebenfalls ganz rätselhafte Hocha chtung vor Goe the,und vieles noch. D ieser Aaron-Hintergrund Napo leons war mir schon dasletzte M al bewußt. Er wurde mir durch jenen M enschen offenbar, der heute als

der liebe Nantjoff wiederum verkörpert ist. Nun ist das Rä tsel, das ich Dir ausBrü ssel schrieb, gelöst. Ich muß te eben Weimar seh en, in der Hoffnung, erst

das G oethe-Rä tsel tiefer zu verstehen, bevo r ich Dir dies sagen durfte. Erst alsmir aus der Karma-Q uelle sprudelte, daß G oethe einstmals M oses war, konnte

ich zu Dir von A aron sprechen. So sind die geistigen Gesetze, nach denen ich

verfahren mu ß. Im übrigen: Die allerletzten A ufzeichnu ngen vo n Ecker-manns G esprächen mit dem D ichter kreisen u.a. um die B ücher M osis ...

Und nun, zum A bschluß dieses Themas, staune, F iona: Emerson schreibt

in Representative Men ers t über Napo elon, dann über G oethe , und imG oethe-Essay stehen die bemerkensw erten Sätze: «Ich schilderte Bona parte alsVertreter der politischen Lebensäußerungen und Bestrebungen des neunzehn-ten Jahrhunderts. Die notwen dige Ergänzung («its other half»), dessen D ich-

ter, ist Goethe.» Emerson nenn t Go ethe in bezug auf unseren Napoleon a lso«dessen andere Hä lfte»! Als ahne er im Innern etwas von d er alten Brüd er-schaft der beiden. So kann nur schreiben, wer den Q uell der K arma-Schauberührt, wenn auch nur ahn end oder träumend ...

~

Ich machte nach dem H alt in Erfurt einen Au sflug auf die W artburg; bei al-lerschönstem Frühlingswetter. Hier wurde einst der «Sängerkrieg» geführt, in

welchem Heinrich von O fterdingen und der Dichter Wolfram neben anderenzusammen um die Wette sangen. In W agners Tannhäuser ist ja w underbar

an diese Vorkom mnisse angeknüpft. Gralsstimmung zog m ir im H erzen ein,als ich im schönen Saale m it den angenehmen Proportionen weilte. Als ich vonder B urgzinne ins Weite blickte, hatte ich ein Scha uerlebnis. Ich kann es Dir

nur mü ndlich sagen.

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Tags d arauf du rchschritt ich jene gleichen Zimm er, die einst NietzschesSchritt getragen hatten — in Naumburg an d er Saale, etwa eine halbe Auto-stunde im Nordo sten Weimars. Hier hatte unser Lehrer vor hund ert Jahrenden schon schwer erkrankten Nietzsche sehen dürfen. Sinnend lag er auf demSofa, den O berleib durch Kissen leicht erhoben, das Auge zu dem «Frem den»

hin gerichtet, doch ohne ihn zu «sehe n». Eine innere E rschütterung e rgriffmich, als ich dieses Bild der Ä theraura dieser Stadt entnahm. Nietzsche hättedoch das Freiheitswerk des Lehrers wie kein zweiter weit und breit in Deutsch-land mit Verstand und H erz in seine Seele aufgenommen. D och die Wogen derUm nachtung h atten seinen G eist bereits erstickt, als dieses W erk dann balddarau f erschien. Und uns er Lehrer liebte Nietzsche tief, wie einen, der «U n-mögliches begehrte», auch w enn er dara n scheiterte! In einem scherzha ft-

ernstgemeinten F ragebogen, den man ihm zum 31 . Geburtstag sandte, schrieber auf die Frage, wer er denn am liebsten sonst gewesen wäre, wenn n icht erselbst: «F riedrich Nietzsche vor d em W ahnsinn» ! ...

Noch etwas W underbares sah ich daraufhin im D om. Ich will es jedoch erstam Schluß verraten.

Gestern abend saß ich hier in W eimar in der Aufführung von G oethes Groß-kophta. D as Stück ist meisterhaft , w ird völlig unterschä tzt. Es war nicht

ohne G rund das erste Stück, das G oethe als Direktor des Th eaters spielen ließ.Geistreich zeigt er, wie ein raffinierter P seudo-O kkultist auf der Ta statur derunerkannten Sehnsüchte und W ünsche seiner Mitmenschen zu spielen weiß.Als ich hinterher beim Ka ffee saß, d achte ich an jenen unsel igen zw eitenGroßkophta, der in der heute noch vorhandenen G esellschaft unseres M ei-sters so viel Unheil stiftet; das kann er aber nur, w eil noch so viele M enschendoch um keinen Preis erwac hen w ollen ... Jetzt erst, nachdem ich dieses Stückgesehen hatte (das ich «dam als» gar nicht kennenlernte), wird mir klar, wietreffend M r. Amhurst (Du wirst Dich wohl erinnern?) diesen M ann auf mei-ner Herfahrt nach Eu ropa als kleinen «Groß kophta» bezeichnet hat.

Gestern machte ich noch einen Rundgang durch das Schillerhaus. Am meistensagte mir der B lick auf Sch illers Arbeitstisch, auf dem ein M anuskriptblattliegt (natürlich im Faksimile) — der letzte M onolog aus dem Demetr ius , derunvollendet blieb, an dem er bis zur Sterbestunde schrieb. Wie war doch Schil-

ler kühn. Kühn bis in den T od, den m an von okkulter Seite mitbeschleunigt

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hatte. Da ran kann gar kein Zweifel sein. Goethe w ußte das a uf seine Weise.Hielt sich daher seh r zurück bei Schillers Tod un d wo llte doch au ch den De-

metrius des F reunds zu End e bringen. Es wollte nicht gelingen. Andere ver-suchten es nach ihm. Zuletzt, soviel ich w eiß, auch unser guter Jacques, noch

kurz vor seinem letzten Tode. D er unvollendeteDemetr ius steht vor den M it-teleuropäern da wie eine M ahnung, die sie an die A ufgabe erinnern soll , dieBrüc ke nach dem O sten geistgerecht und frei zu schlagen, und nicht aus Ge i-stes- oder Wirtschaftszwang herau s, wie heute andauernd gesch ieht.

Vom Schillerhaus begab ich m ich zum Goethe-Schiller-Archiv und ließ mirBriefe Emersons an Herman Grimm vorlegen. Un d was entdecke ich darin?G rimm hatte Emerson ein von ihm (!) verfaßtes Demetrius-Dra ma geschickt,und Emerson w ar davon sehr beeindruckt. So sind auch Grimm un d Emerson

mit diesem wichtigsten P roblem Europas, die rechte Brücke in den O sten zuerbauen, innerlich verbunden!

~

Hier schließe ich den ersten Teil der W eimar-Aufzeichnung für Dich.Das, w as ich heute vor und in dem Hause schaute, in dem der große Leh-

rer lebte, das w ill ich erst durch diese Nacht befruchten lassen. M orgen also

folgt der Schluß.Harold

P.S. Ich entdecke eben in der H ausbroschüre des Hotels, daß Joseph Joachim im

kleinen Freundeskreise, im Beisein Herman G rimms und B ettina von A rnimshier im «Elephanten» eine Beethovensonate spielte. An einem 17 . M ärz ...Wie klingt mir hier in Weimar Schicksal auf!

II .Weimar, M ittwoch, den 18. März 1998

7 U hr 00, vor dem F rühstück

Rudo lf Steiner! Wie scheu ich mich noch imm er, diesen Nam en aufs Papier

zu schreiben, Fiona! Zu heilig glüht er mir im Innern, zu unwa hrhaftig undprofan ertönt er heute längst von allzu vielen Lippen! O der w eckt, wenn mitWa hrhaftigkeit gesprochen , allerschlimmste Angstdämo nen, w ie ich jüngstin Prag erlebte. Diese Hem mun g sei nun langsam a bgetan, ist doch jetzt seit

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Prag die Zeit gekommen, wo wir 48 für die wahren Intentionen unseres Leh-rers Rud olf Steiner in der ganzen W elt auch äu ßerlich zu käm pfen haben.Sein G eist erw artet es von uns, sein Geist , der heute, wie wir wissen, wie-derum verkörpert is t und einen neu en Nam en trägt — den w ir selbstver-ständlich um so m ehr verschw eigen m üssen, als wir seinen letzten nennen

werden. So spreche ich D ir jetzt von «Rud olf Steiner», mich gleichsam vor-bereitend a uf die Zeit, in der ich d ies nach P rag auch öffentlich noch oft zutun gedenke.

Rudolf Steiner war es ja gew esen, der W eimar auf die bisher unerreichteHöhe brachte. Bei seinem ersten A ufenthalt an diesem O rte fühlte er sich «wie

in einer Fe steszeit des Lebens in die Goethe-Ze it versetzt». Nun fühle ich michselber, wie an seiner Seite stehend (ein Zw erg natürlich neben ihm!), «in einer

F esteszeit des Lebens in d ie Steiner-Zeit versetzt».Er ist es, der uns zeigte, wo man wirklich F reiheit findet — im De nken desNotwen digen. Er ist es, der uns in das Gelobte Land der G eisteswissenschaftzu führen wußte, während G oethe nur bis an die Grenze dieses Landes kam;wie M oses, der sein Volk nur aus Ä gypten führte und das G elobte Land nichtselbst betrat. Und er ist es, der uns den neuen M oses-Stab der Ka rmaschau ge-

bracht hat. Durch seine Lehre und n och meh r durch seine Liebe darf ich nungerade hier in Weima r tiefste Schicksalsquellen sprudeln sehen . Wie Karm a-

schau u nd F reiheit bei ihm selbst zusamm enhingen u nd sich gegenseit igstützten, ist mir heute nach t erneut bewuß t geworden.

Ich stand also vor seinem H aus und las:

Hier lebte 189 2-189 6Rudolf SteinerGoetheforscher

und B egründerder Anthroposophie

So schön es a n sich ist, daß m an seiner heute öffentlich gedenkt: M an hä ttevielleicht besser «anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft» geschrie-ben statt «Anthroposophie». Denn letztere wird leicht zur «Weltanschauung»abgestempelt; und W eltanschauungen sind eben etwa s völlig Subjektives, wo-mit es jeder halten möge, w ie er will — «as you like it, beyond objectivity and

science», wie De ine M utter stets zu sagen pflegte.

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In diesem Hau se also lebte er erst bei und später mit der sehr charmantenWitwe Eun ike. Hier endlich wurde ihm, d em faustisch «U nbehausten», eineArt von Heim.

Er woh nte im Parterre des Hauses, das heute eine Gaststätte beherbergt.

Ich setzte mich in eine Ecke, bestellte ein Ge tränk, vergaß sogleich, was ich be-stellte, und las in dem Jahrtausendwerk, das hier geschrieben wurde: Die Phi-losophie der Freiheit. (D u w eißt, ich führe es fast immer m it.) «Jahrtau-sendw erk» ist nicht zuviel gesagt, Fiona, de nn als ich ihn einst fragte, wasnach Ta usenden von Jah ren von seinem W erk noch übrig bleibe, sagte er so-

gleich; «Nichts als die Philoso phie der Freihe it. Doch in ihr ist ja die ganze

Anthroposophie im K eim enthal ten!» W er zum D enk-Erlebnis kommt, derkommt auch zum Erleben spiritueller Wesenheiten. Die W esenheit des Den-

kens selbst ist ja der ä lteste der Urbeginne (= Wesen der Hierarchie der Ar-chai), in diesem «Urbeginne» w ar das Wort, von dem Johannes spricht. In die-sem D enk-Geis t ruht nun auch der wa hre Au sgangspunkt der künft igenG emeinsc haftsbildung. So sagte mir der Lehrer selbst vor über achtzig Jahren

(in Den Haag).D och das Schaffen dieses Freiheitswerkes ruht auf einem großen O pfer.

D ieses O pfer war, daß unser Lehrer vollbewu ßt die Schicksalsaufgabe vonSchröer übernahm , in dem ja, wie Du w eißt, der Geist des Plato wirkte, odervielmehr jener selbe Geist , der auc h in Plato w irkte. Denn (Ka rl Julius)Schröer-Plato hätte Goethes geistgemäß e Anscha uungen d er Natur in eineG eisteswissenscha ft verwa nde ln sollen. Diese A ufgabe zu leis ten, fühlteSchröer sich nicht selbst imstande. Daher schlug er seinen jungen F reund vor

(Steiner-Aristoteles), als es darum ging, die naturw issenschaftlichen Schrif-ten Goethes komm entiert herauszugeben. Dieser übernahm in diesem Augen-blicke ganz bew ußt die von ihm klar durchschaute Sch icksalsaufgabe von

Schröer. Da durch aber konnte er bis in die Schicksalswillenstiefen — nicht al-lein im D enken — F reiheit f inden. Aus K arma-Erkenntnis vollbrachte er diefreie Op fertat. Indem er Sch röers Schicksal übernahm, wurd e er im Hinblickauf das eigene ganz frei. Doch w urde er auch eine Zeitlang einsam. Denn Wei-mar w äre Schröers Schicksalsangelegenheit gewesen! Steiner hatte nun anM enschen anzuknü pfen, mit denen Sch röer hätte wirken sollen. Die Steinerselbst bestimmte Aufgabe w äre es gewesen, au fgrund der Leistung Sch röers(die dieser eben nicht vollbringen konnte) im K onkreten Reinkarnation und

Karm a zu erforschen und zu offenbaren. Dieser Karma-O ffenbarungsstrom

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trat infolge dieses O pfers nun in seinem W irken gleichsam in den H inter-grund, um erst am Ende seines Lebens wiederum mit frischer Kraft hervorzu-treten. Erinnerst Du Dich an den letzten Karma vortrag, den der M eister vorder schw eren K rankheit hielt? E r offenbarte darin erstmalig den P lato-Hin-tergrund von Schröer! A m Ende seines Wirkens offenbart er das Verkörpe-

rungsgeheimnis jenes M enschen, der am opfervollen Ausgangspunkte seinerdamals vielleicht tiefsten K armascha u gestanden hatte!

In dieser Nacht erlebte ich im G eist und vollbewußt: Schröer-Plato ist nunim Begriffe, unserem Lehrer Steiner-Aristoteles am Ende des Jahrhunderts sei-nerseits in opfervollster Weise beizustehen, ja voll und gan z zu dienen. Kar-mascha u und wa hre M enschenfreiheit sollen inniglichst verbunden w erdenund in vielen M enschen zum Erleben kommen. So sucht der G eist zu wirken,

der in Schröe r und in Plato w irkte und der auc h jetzt verkörpert ist. Seinen Er-dennamen kenne ich noch nicht. Doc h gestern nacht erschaute ich den unaus-sprechlichen W esensnamen dieser Individualität. Er leuchtet hell und starkund w arm. Und ich schaute gleichzeitig den Wesensna men unseres großen,guten Lehrers. Er leuchtet hell und stark und wa rm. Da nn schau te ich sie imVereine w irken, die zwei G eistesfreunde , die seit Urbeginn einander scho n ver-bunden sind. Un d eben da hin geht ihr nun vereintes Wirken (unter anderemnatürlich): den M enschengeist auf dasjenige hinzulenken, was bereits im D ia-

loge «Kratylos» von diesem wie im K eim versucht wird, näm lich auf die ewig-unaussprechlichen Wesen snamen hinter allen Dingen sowie auch P ersönlich-keiten. Du erinnerst Dich doch, wie wir in V ancouver einst im Urtext diesenDialog von Plato voll Begeisterung gelesen haben? «Kratylos» zieht darin denGesp rächspartner «Herm ogenes» freundlich-spöttelnd dam it auf, daß er ihmmit feiner Ironie zu wiederholten M alen sagt, sein Nam e sei gar nicht Hermo-genes. Er will ihm dam it deutlich machen: Suche D einen wahre n ewigen Na-men. Erdennamen hast Du viele; in jeder irdischen Verkörperung wieder einen

andern; jetzt heißt Du eben «Hermogenes» — doch Deinen Wesensnamen, derhinter allen Erdennamen einer und derselbe bleibt — den kennst Du nicht.

Dieser K ratylos war ja der Lehrer Platos und kurz darauf als Aristotelesdes greisen Plato Schüler! In Kratylos von Ephesos, in Aristoteles, in unseremLehrer Rudolf Steiner und in XY , von dem auch dessen aktueller Erdennamefür uns ganz unaussprechlich bleiben muß — in ihnen allen wohn te also ganzder gleiche Wesensname. Von daher kann auch eingesehen werden, daß es

streng genomm en Un sinn ist , auch vom reinkarnatorischen G esichtspunkt

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aus betrachtet, wenn einer sagt: Goethe ist M oses, Rudo lf Steiner ist Aristo-teles; auch nicht «ist gewesen». Er müß te vielmehr sagen: Der gleiche unaus-sprechliche «Wesen s-Name» zeigt sich sow ohl in der A ristoteles-Persönlich-

keit wie auch in «Steiner».

O F iona, schon lasse ich mich wieder in ganz andere Betrachtungen fort-reißen. Ich mache hier nun halt. Doch w isse: Diese neue Wirkenseinheit derzwei G eistesfreunde «Plato-Aristoteles» geistig zu erleben ist Höhepunkt undKrönung meines Weimaraufenthaltes. Nun d rängt es mich mit aller Kraft nachHause. Weimar, dieses «Concord» von Europa, wird mir unvergeßlich bleiben.

Ich war geradezu entzückt, gestern hier ein Wort zu finden, das der große Leh-rer Rudolf Steiner über Emerson — der das Weimar von A merika begründete —

geäuß ert hat. M it diesem W ort als frischem F ahrtwind ziehe ich nun w est-

wä rts. Es lautet: «Die Deutschen sch reiben überhaupt keinen Stil. Das sehe ichjetzt am besten, w o ich die englischen Essayisten, namentlich Eme rson lese.»

Da ß ich diesen Satz, den unser M eister hier in Weimar schrieb, auch hierin W eimar finde, ist mir w ie ein freundlich-leiser Ru f, nun rasch zurückzu-kehren in das Land von E merson, zu frischem, tatkräftigem Wirken ...

~

Doc h glaube nicht, daß mich nicht auch ganz anderes mit großer M acht nachHau se zieht. Du selbst, Fiona ! Wie dach te ich an Dich, als ich im Ch or desschönen D omes N aumheims s tand und m ir d ie herr lichen F iguren derberühmten Stifter ansah. Vielleicht erinnerst Du D ich noch an irgendeine Ab-bildung? D ie fesselndste der Plastiken zeigt eine w eibliche G estalt, mit etwabis zur Hälfte hochgeschlagenem M antelkragen und hübsch -geheimnisvollemLächeln. Ich halte sie für die bei weitem vornehm ste Figur, die die G otik je ge-schaffen hatte. Vorneh m, innig, elegant und w eltlich — alles dies in einem. Und

doch : mit Dir verglichen ist sie doch recht stümperha ft gebildet! Me hr wa g ichnicht zu sagen. Sonst habe ich die F urien Thüringens im R ücken, wenn ichnun nach London fahre.

Tausend Kü sse Harold

P.S. Was würde unser «Rom ancier» von meinem Prag- und Weimar-Aufent-halt wohl schreiben wollen, Fiona? Er könnte seelisch außer Atem kom men,falls er alles fassen wo llte. Er müß te nicht nur P hantasie besitzen, sond ern

auch noch m aßvoll sein.

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London

.Am Tag des Frühlingsanfanges flog Harold Freeman mit einer DC-9

der British Airways von Frankfurt aus nach London. Es war ein ruhi-

ges, mildes Wetter, der Himmel wolkenlos. Bald nach dem Start um 19

Uhr wurden erste, leichtere Erfrischungen gereicht. Aus dem Cockpitwurde mitgeteilt, daß infolge einer Überlastung des Verkehrs-Flugrau-

mes über Deutschland die Route dieses neu errichteten Direktfluges

nach London über Frankreich führe.

Freeman lächelte zurück, als ihm eine Stewardess über leerge-

bliebene Sitze ein paar Bonbons anbot. Er saß an einem Fenster des

Economy-Abteils, kostete die kleine Süßigkeit — nicht ohne die Ver-

packung sorgfältig studiert zu haben — und bewunderte die Aussicht.

Dann holte er das kleine Powerbook aus seiner Reisetasche und tippte

einen ausführlichen Prag-Bericht für Onkel Alfred ein.

Später reichte man ein leichtes Abendessen. Gleichzeitig erschien

die Flugroute am Bildschirm oberhalb des Sitzes. Freeman stellte mit

Erstaunen fest, daß das Flugzeug eben Chartres überflog.

Die Sonne glühte warm und rot am ungewöhnlich klaren Horizont,

als die DC-9 eine Stunde später auf dem Flughafen von London-

Heathrow landete.Mit der «Underground» gelangte dann der Reisende zur Victoria

Station und zum Hotel Grosvenor.

Das Grosvenor hat eine große Lounge, in der auch für Non-Residents,

nebst mancherlei Gebäck, viele Sorten Tee und Kaffee angeboten wer-

den. Die kleinen viereckigen Tische mit sehr hübschen rosa Deckchen

stehen in diskretem Abstand voneinander. Vier schwarze imitierte

Marmorsäulen mit stilisierten Papyruskapitellen zieren diesen recht-

eckigen Raum und bilden einen seltenen Kontrast zum vorherrschen-

den Hellgrün eines ausgespannten Perserteppichs.

Als Freeman die ihm aus dem letzten Leben wohlvertraute Lounge

betrat, gab es keinen freien Platz mehr.

«Gestatten?» sagte er zu einer Dame in dunkelblauem elegantem

Deux-pièces, deren Alter schwer zu schätzen war und die sehr auf-

merksam die Herald Tribune las.

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«Aber selbstverständlich», gab die Angesprochene zur Antwort

und musterte den Neuankömmling offen und sehr freundlich.

Man stellte sich kurz vor und war bald mitten im Gespräch. Mrs.

George kam aus Seattle, befand sich nun mit ihrer ganzen Truppe auf

einer Tournee durch Europa und war soeben aus Paris hier ein-getroffen. Als Freeman Näheres zu wissen wünschte, sagte Mrs.

George:

«Mr. Freeman, haben Sie schon mal von Eurythmie gehört?»

«Gewiß, gewiß!» sagte Freeman und lächelte fast amüsiert.

«Und finden Sie an ihr Gefallen?»

«Gewiß, gewiß!» wiederholte er und lächelte erneut. «Ich habe aber

schon sehr lange keine Aufführungen mehr gesehen. Es war» — er hielt

kurz inne, als müßte er sich stark besinnen —, «es war in dieser Stadt ge-wesen, vor etwa 55 Jahren.»

Mrs. George sah ihn mit großen Augen an. Dann huschte ein Er-

kenntnislicht durch ihre Züge, die sehr fein und außerordentlich le-

bendig schienen.

«Oh, ich verstehe.»

Schließlich lächelte sie ihrerseits aufs freundlichste und sagte:

«Was die Eins nicht fassen kann, hat in der Zwei genügend Platz.

Nicht wahr?»

«Hat in der Zwei genügend Platz», bestätigte der junge Diplomat

vergnügt. Dann fragte er charmant:

«Auch Sie befinden sich in Ihrer Zwei im 20. Jahrhundert?»

«Auch ich befinde mich in meiner Zwei im 20. Jahrhundert», bejahte

Mrs. George. Dann fügte sie geheimnisvoll hinzu:

«Ich lebe aber ...» — Mrs. George unterbrach und korrigierte sich —,

«wir leben aber aus der Drei.»«So ist es, Mrs. George: Wir leben aus der Drei.»

«Wie schön, daß Sie verstehen, Mr. Freeman.»

«Wie schön, daß wir verstehen, Mrs. George!»

Die beiden Menschen, die sich erst seit fünf Minuten in der «Zwei»

getroffen hatten, mußten herzlich lachen.

«Nun, wollen Sie nach 55 Jahren wieder einmal eine Eurythmie-

Aufführung sehen, Mr. Freeman?»

«Ich gäbe viel darum, gerade jetzt», sagte Freeman freudig.

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«Morgen abend treten wir im Barbican auf. We nn Sie frei sind, laßich Ih nen eine Karte re se rviere n.» Natürlich wa r er frei!

«Mrs. George, zwar sagen die Franzosen: L'appétit vient en man-

geant! Do ch bei m ir kom m t er nicht sel ten scho n viel früher . - Wo llenSie m ir einen kleinen Vo rblick auf den Abe nd gönnen?»

Die Eury thm istin wollte gerne und begann m it einer Skizze des Pro -gramms.

«Diesmal zeigen wir ein geometrisches Gesetz von höchster sinn-

lich-sittlicher Natur - es heißt <Polarität>.»Freem an horchte auf.«W ir zeigen - selbstvers tändlich in eury thm ischer B ew egung - wie

Polarität im Kreise oder in der Sphäre wirkt, ich meine in der Kugel-

sphäre .» M rs . Geo rge warf Freem an einen kurzen Blick zu, der zu f ra-gen schien, und fuhr dann fort. «Eine Gruppe außerhalb des Kreises,

eine Gruppe, die die Kreislinie zu bilden hat, eine Gruppe, die das In-

nere des Kreises form t.»«Die Zahl der Eurythm isten außerh alb und innerha lb des Kre ises is t

gleich groß, nicht wahr?» bem erkte Free m an.«Genau! - Ich sehe, Sie verstehen etwas von der Sache, Mr. Free-

m an.» M rs. Geo rgé s Ges icht begann zu leuchten und legte sich in tau-

se nd feinste Fältche n. «Sech s a ußen, sechs innen, zwölf auf der Kre is-l inie: Jede Be wegung im Äußeren ruft im Innere n .. .» M rs. Geo rge ließFreeman wei te rmachen.

«... das ganz exakte Gegenbild hervor.»«So ist es. Je weiter nach außen, je näher auf das Zentrum zu. Und

um gekehr t , nicht wah r?» sagte M rs . Geo rge.«Und umgekehrt. Natürlich!» bestätigte ihr Gegenüber. «Ich bin

gespannt darauf, zu sehen, wie Sie das eurythmisch zeigen werden! -Doch sagen Sie mir noch ein Wort vom sinnlich-sittlichen Aspekt derSache.»

«Nun, da gibt es vielerlei Entsprechungen. Zunächst einmal rein

geometrisch: Jeder Expansion im Äußeren entspricht im Innern eine

Kontraktion. Dem Mittelpunkt entspricht im Äußeren die unendlich

ferne Gera de usw. Das kennt ja jederm ann, der jem als etwas projektiveGeometrie getrieben hat. Das Sinnlich-Sittliche, oder vielmehr: das

Ge om etrisch-Sittl iche daran ist nun, daß diese s G ese tz der Po larität auf

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vielen Lebensstufen anzutreffen ist. Nehmen wir einmal das Streben ei-nes M enschen nach einem ganz bestimm ten Ziele. Diese s Ziel sei geo -m etrisch-sittlich unser M ittelpunkt des Kre ises. Nun könnten wir ge-radezu beh aupten: W er dem M ittelpunkt direkt zustrebt , provo ziert

gerade dadurch die polare Fluchtbewegung ins unendlich Ferne. Erentfernt s ich a lso von de m Ziele, wenn er ihm direkt zusteuert . Da sklingt vielleicht noch rech t abstrakt. Do ch we nden wir das einm al aufdie s o genannte Selbsterke nntnis a n. Der M ittelpunkt des Kre ise s se inun jenes Selbst, nach dem die M enschen o ft so gerne suchen. Wie vieleM ensch en wo llen nun geradlinig, auf kurzem und direktem We ge indas Zentrum ihres W ese ns dringen, indem sie nur nach innen schauen,ins Innere des Kreises drängen und alles außer a cht zu lasse n suchen

und völlig intere sse los beise ite sch ieben, was a uf der A ußenseite ihreseingekreisten Selbstes liegt.» M rs. Geo rge h ielt inne und betrach tete ihrGegenüber.

«Die große Illusion, das Selbst befände s ich im Innern», kom m en-tierte Free m an nüchtern.

«Diese Illusion zu zeigen — das ist, was wir versuche n», fuhr M rs.Geo rge m it großem Ernste fort. «Sie ist ja h eute überall verbreitet! M anfand schon e inen Ausdruck, der sie gleichs am adeln sollte, sie jedochnur noch m eh r verschleiert!»

«Biograph iearbeit!» tönte e s fast wie aus e inem M unde, so daß siebeide lache n m ußten.

«Eine wah re Pes t, nicht wahr!» betonte Freem an seh r energisch.«Unser Le hre r Rudolf Steiner wo llte durch die G eisterkenntnis ge-

radezu das Gegenteil anregen», rief M rs. George seh r lebhaft.«Unser Lehrer Rudolf Steiner wollte wirklich und wahrhaftig

Selbsterkenntnis via Welterkenntnis in den Seelen wecken», bestätigteihr Ge genüber. Es h errsch te eine W eile Schwe igen.

«Statt sich fortwähre nd alleine um das kleine Selbst im Kreise s-In-nern zu beküm m ern», fuhr M rs. Geo rge dann sachlich fort, «wollte erdas Se lbstintere sse ers t am W eltinteress e s ich e ntzünden lasse n. InWirklichkeit dringt ein Mensch genau so weit ins Innere des Selbstesein, wie er verm ag, aus sich he rauszugeh en und sich ganz außerha lbdes Kre ises se iner e ngen Selbsthe it m it Interess e a n die Außen-Weltenhinzugeben. Wer ins Zentrum dringen will, der m uß sich ers t im All be-

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wege n lerne n. — Dies ist der Se lbsterkenntnis-T eil des ge om etrisch-sitt-lichen Gehaltes der alldurchwaltenden Polarität», schloß Mrs. George

m it f reundliche r Bestim m theit ab.«Die Kreislinie birgt so m it das Ge he im nis diese r Um wa ndlung von

Innerem in Äußeres, von Äußerem in Inneres», sagte Freeman etwas

tastend.«Doch nur, wenn sie s tets s tröm end eine M itte bildet zwische n Auf-

lösung und Starre. Diese Mitte muß sie weltenrhythmisch stets aufs

neue bilden.»«Und die Kraft, die diese M itte bildet, ist das Herz der gro ßen Dre i,

aus dem wir leben, dem wir dienen wollen», sagte Harold Freeman.

Und nach einer W eile fügte er fast feierlich hinzu:

«Daß gut werde, was wir aus Herzen Gründen ...»«... aus Häuptern zielvoll führe n wo llen», vollende te M rs. Ge orge .«So fordert es der unverbrüchliche Vertrag», sagte Free m an.«De r unverbrüchliche Ve rtrag .. .», wiederh olte sanft und leise M rs.

Geor ge .

~

M rs. Geo rge und Harold Freem an bestel lten nochm als Te e und Kaffee

nach und unterhielten sich noch eine ganze Weile über dies und das,bald heiter , bald in tiefem Ernste. «Das wa r im übrigen ers t der Anfangdes P rogram m s von m orgen abend!» sag te M rs George be im Abschiedplötzlich, wie sich selber überraschend. «Nach der Pause machen wir

zum herrlichen Adagio aus dem C-Dur-Streichquintett von Schubert

Eurythmie.»«Mrs. George! Mein Lieblingsstück von Schubert!» rief Freeman

hocherfreut.

«Das fügt sich ja aufs schönste! Jetzt darf ich schon mit einem auf-

merksamen Hörer und Betrachter rechnen!»«Nur wenn Sie m ir vore rst noch sa gen, wie ich Sie e rreiche n kann»,

sagte Freem an l iebenswürdig, während er den großen Ko ffer M rs . Ge-orge 's ergriff. «Denn Sie we rden kaum im Gro sveno r logieren.»

«Nein, in der Tat, das Grosvenor ist mir zu laut, und auch zu groß.

Ich pflege hier nur auszuruhen, wenn ich per Zug vom Kontinent an-

komme. — Ich logiere meist in einem kleineren Hotel in Kensington,

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nicht weit entfernt vom Hyde Park und vom <Harrods>. Eine wunder-

bare Stille. Seitenstraße, Sackgasse. Sehr breit, mitten drinnen eine

wunderschöne Reihe von Platanen. Und stellen Sie sich vor: Es sind ge-

rade zwölf Platanen, Mr. Freeman! Vom Balkon meines Zimmers aus so

schön und so beruhigend.» Sie reichte Freeman ein Hotelkärtchen, auf

dem er las: Hotel Knightsbridge, 12 , Beaufort G ardens, London SW 3, Tel .0171 /58 9 9271 .

Harold Freeman trug den Koffer bis zum nächsten Taxi und winkte

Mrs. George noch nach, als der schwarze Wagen hinter einem roten

Doppeldeckerbus verschwunden war.

Als Harold Freeman kurz nach 22 Uhr in sein vorbestelltes Zimmertrat, fand er einen Brief von Fiona vor. Noch im Stehen las er:

Liebster, liebster Harold!

Ich heiße Dich im Grosvenor, das mir noch deutlich vor dem Auge

steht, willkommen! Den ersten Deiner Weimarbriefe habe ich mit

großer Freude mehrmals durchgelesen und -studiert. Maud traf ge-

stern bei mir ein. Sie besucht auf ein paar Tage ihre Mutter in Chicago.

Ich las den Brief auch ihr vor. Du wirst gewiß nichts einzuwenden

haben, berührt er doch so vieles, was weit mehr als nur persönlicher

Natur ist. Maud war ganz ergriffen, und sie läßt Dich herzlich grüßen.

— Nun noch ein paar ganz eilig hingeworfene Bemerkungen und Fra-

gen. Las in einer neuen Schubertbiographie, daß Joachim sich sehr für

Schuberts Streichquintett in C-Dur einsetzte. Er hatte es zunächst nicht

leicht damit, doch später war es eine seiner allerliebsten Kompositio-nen. Und gleich darauf wird Grimm zitiert, der über Schubert einmal

schrieb, seine Musik habe «etwas phantastisch Befreiendes», wie es

sonst bei keinem Musiker zu finden wäre. Ich finde diese Grimm-

Bemerkung ungeheuer schön und treffend! Kanntest Du sie schon? —

Nun noch eine Frage, eine Stelle aus der Theosophie des Meisters

betreffend. (Ich las mit Maud etwas darin.) Es heißt, in geistiger Be-

ziehung sei «jeder Mensch eine Gattung für sich». Nun frag ich mich

(und mit mir Maud): Hat auch diese Gattung Arten? Und wenn ja,

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worin bestünden sie? Wenn nicht, weshalb wird der Begriff der Gat-

tung angewendet? Wir haben unsere Vermutung. Doch wollen wir erst

Deine Ansicht wissen. — Nun muß ich zu den Proben (eine Nebenrolle

in Schuberts Fierrabras).

Herzlichst Deine Fiona

Freeman hatte in der Nacht darauf intensive innere Erlebnisse, von de-

nen manche in das Wachbewußtsein drangen. Sie betrafen seine Neu-

begegnung mit Mrs. George und die Gespräche, die er mit ihr weiter-

führte. Dann suchte er im Geiste Beaufort Gardens auf mit seinen zwölf

Platanen. Sah sich auf die Treppe eines Hauses mit der Nummer 28 tre-

ten, in einem ziemlich abgetragenen Anzug, mit leicht gebeugtemRücken. Im Aufwachen stand ein junger Mann vor seinem inneren

Auge, dessen Antlitz strahlte und der ihm mehrmals sagte, daß er nun

bei Fiona eingezogen sei und daß er sich so glücklich fühle.

Nach dem Frühstück fuhr Harold Freeman mit dem Bus am Trafalgar

Square vorbei zum Bri ti sh M useum, in dem er letztes Mal so oft gewe-

sen war. Rasch schritt er durch die Assyrien- und Ägyptenabteilungen

und machte vor den Nereiden halt, die auch heute noch im Parthenon-

Raum stehen. Später setzte er sich in den Reading Room, in dem er da-

mals oft für seine Vorträge und Zeitschriftenaufsätze Recherchen

machte. «Immer noch die Stille, wie sie damals herrschte», dachte er,

zugleich befriedigt und verwundert.

Abends saß er im Parkett des Festsaales im Barbican und war ganz

Auge, war ganz Ohr.

Die letzten Tage vergingen wie im Flug, mit Briefeschreiben, Kaufenvon Geschenken, Besuchen von Museen und einem langen Printbe-

richt an Onkel Alfred.

Am Tage seiner Weiterfahrt nach Southampton schrieb Harold Free-

man nach Chicago:

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London, M ittwoch, den 25. M ärz 1998Hotel Grosvenor

Liebste Fiona!

Wie hat mich Dein Emp fang gefreut! Ich danke Dir von H erzen!Dies ist der letzte Brief vom alten Erdteil. Was n och folgt, wird schon vom

«Dampfer» aus gefaxt.Auf dem British-Airways-F lug von F rankfurt nach London gab es zw ei

Ü berraschungen: 1. Es wurde n Sanddorn-Bonbon s ausgeteilt, von Weledahergestellt(!). Endlich ha t auf wirtschaftlichem F eld wieder einm al jemandaus der Schülerschaft des Meisters eine glückliche Idee gehabt und — durchge-führt! 2. Wir überflogen direkt Cha rtres! An laß, mir den unve rbrüchlichen

Vertrag erneut ins Herz zu rücken, in dessen Zeichen wir ja w iederkamen, indessen Zeichen diese meine Reise steht und den w ir alle (Du mit eingeschlos-sen!) im Ü bergang vom 12 . in das 13 . Jahrhundert während eines großenHimm lischen Konzils geschlossen haben: Um d ie Zivilisation am End e desJahrhunderts vor dem Sturz in Sorats Abgrundtiefen zu bew ahren, sollen jetztPlatoniker mit uns zusamm enw irken. Au ch diese sind schon w iederum ver-körpert. Im G eiste sind mir viele wo hlvertraut. M anch einem durfte ich be-gegnen. Doch immer wußte ich im Innern: Noch muß ich einen andern «F in-

der» dieser Seelen f inden. So da chte ich erneut, nachdem w ir Cha rtresüberflogen hatten. Und dann ging alles schneller als erwartet.

Ich traf im Grosvenor den zweiten «Finder» der Platoniker. Er war im letz-ten Leben M athematiker und hatte sich mit innigem Gemüt der Welt des «Ge-genraumes» hingegeben, in dem die Ätherkräfte wirken. Was er damals den-kend zu durchdringen such te, setzt er heute um in künstlerisch-eurythmischeBew egung. Denn er ist Eurythmist geworden ! Ich m eine Eurythmistin. Ein

paar Jahre jünger als ich, also etwa gleichaltrig wie D u. Woran ich «ihn» er-kannte? Am Lächeln, das in zarten Fä ltchen das G esicht erhebt, nach obenträgt in Licht und Leichte. Das ist ganz ohnegleichen. Ich würde sagen: Solchein levitierend-peripheres Lächeln gibt es nur bei «ihm». Es w ar ganz wun-derbar: Auch «er» erkannte mich in einem ganz bestimmten Augenblick. Al-les ging so selbstverständlich, daß wir nicht davon zu sprechen brau chten. Ernannte unsern Lehrer, ich nannte unsern Lehrer, er sprach von der Christus-kraft der Drei. Wir sprachen von den 48, von d en neuen Zielen unseres Mei-

sters. Auch sie w ird diesen Sommer mit in Taos sein, F iona! Wie schön sprach

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sie von mancher Seele, die sie schon gefunden habe aus dem Strom der uns ver-bündeten Platoniker. — M rs. George, so heißt der alte Freund aus meiner Eng-landzeit, macht zur Zeit mit ihrer Truppe e ine Tournee durch Europa. Ich sahsie gestern abend hier im Ba rbican. Was sie meisterhaft im ersten T eil desAbends zeigten, will ich dir zu Ha use schildern. Nach der Pause a ber mach-

ten sie zu Schuberts C-Dur-Quintett (resp. zum Adagio daraus) unvergleich-lich Eurythmie! Seit 55 Jahre n sah ich end lich wieder einma l die geliebteKunst! Und d ies, nachdem D u mir ganz Unbekanntes von Joachim undGrimm in bezug auf Schubert schriebst! (Hier in London hatte ich das letzteM al im übrigen einmal eine Nichte Joachims getroffen. Sie war zu einem mei-ner Vorträge gekommen.) Un d da ß D u gleichzeitig im F ierrabras zu singenhast ... Wie alles dieses wiederum gefügt erscheint ...

Du weißt, wie sehr ich Schuberts C-D ur-Quintett liebe. Es ist so viel vomJenseits in ihm hörbar. D ie Tonartwechsel (die auch sonst bei Schubert zahl-reich sind), erlebte ich schon immer wie als Ausdruck für die Ü bergänge, diewir M enschen mach en, wenn wir von der einen in die andere Verkörperungzu wechseln haben. Auch bei diesen Übergängen bleiben manche Leitmotiverecht konstant, nur der Schaup latz (= T onart) wechselt das Gesicht.

Du w eißt, ich hatte beim Adagio immer das Gefühl: Man sollte es beim An-blick der so ernst und feierlich gemalten Toteninsel B öcklins hören. Jetzt er-

lebte ich es erstmals im Zusammenspiel mit Eurythmie ganz neu! Das Publi-kum war vollkommen begeistert.

Doch nochmals kurz zurück zu M rs. George ins Grosvenor. Beim Abschiednann te sie mir das Hotel, in dem sie woh nte. Es liegt in einer kleinen Straße,in der ich selbst die letzten Jahre meines letzten Lebens hier in London lebte,liebte und gelitten habe! Beau fort Gardens!

Alles stieg in diesen Tagen wieder innerlich empor: die stille Straße mit derherrlichen Platanenreihe in der M itte (es sind laut M rs. George noch immer

12 ), das Reihenhaus im viktorianischen Stil, das Leben, das ich darin führte,die Patienten, die mich hier besuchten; viele andere Besucher, auch der un-glückliche Ravenscroft; die Spaziergänge im nahen H yde Park; die Vorträge,die ich fast täglich hielt; die unzähligen F ahrten mit der U nderground, in derich immer arbeitete; die Gespräc he mit den Liebsten und den Nächsten. Unddann vor allem: die drei Frauen, die ich letztes M al zu lieben hatte (aus derkarmischen Vergangenheit heraus); das Leid der ersten, die selbst Eurythmi-

stin war und die mir nicht nach En gland folgen mochte; das Leid der zweiten,

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die ich trotz der großen Liebe zwischen uns nach vielen Jahren wiederum ver-ließ, um mit der dritten F rau das Lebensen de zuzubringen, und zwar in ebendiesem Hau s, an das ich derart seltsam hier erinnert worden bin. Wie war esdoch in meinem Herzen damals unruhig! Auch w enn ich immer an der A rbeit

war u nd diese Arbeit innig liebte. Und heu te darf ich die Erfahrung ma chen:Wie tief beruhigend es doch sein kann , auf eine Lebensunruhe zu blicken, dieein für allemal vergangen ist. Da ß ich durch M rs. G eorge in dieser Art — ge-wissermaßen peripherisch — auf mein altes Beaufort Gardens hingewiesenwu rde, nahm ich mir zum An laß, meine Karm a-Rückschau in das letzte Le-ben, das ich hier beschloß, nun ebenfalls in London zu beschließen.

Ich ging am and ern Ta g ins Britische M useum, betrachtete die Nereiden,die ich über alles liebe und die ich einst die ersten Eurythm istinnen der W elt-

geschichte nannte. Auch im Reading Ro om saß ich erneut, in dem auch M arxgesessen hatte. Und in de r letzten Nacht erlebte ich den letzten To d, den ichin London starb. Koronarthrombose. 7. Juli 1957.

Sieben Jahre vor der diesmaligen Erdgeburt. Dann im Erwach en hatte ichein wun derbares anderes Erlebnis: Ein junger M ann erklärt mir strahlend,daß e r bei Dir eingezogen sei und daß er sich bei Dir so glücklich fühle! Ichmüßte D ir nun eigentlich recht böse sein, F iona! Denn ganz gewiß weißt Duschon länger, daß Du solcher guter Hoffnung bist!!! Ich kann nur eines geltenlassen, Dein Schw eigen zu verteidigen: Du w olltest mich bei meiner Ankun ftin Chicago m it dieser wunde rbaren Nach richt überraschen . Nun hab ich'sschon erfahren und freue mich mit Dir — und mit dem «jungen M ann»! Infünf Tagen, meine liebste F iona, schließe ich D ich endlich wieder in die A rme!

Da rauf freut sich Dein «alter» M ann ganz ungeheuer: Harold

P.S. Zu D einer Frage aus der «Theosophie»: G attung = die Individualität;

Art = deren V erkörperungen in verschiedenen P ersönlichkeiten. In diesemSinne sind, so paradox e s klingt, z. B. Aristoteles und T hom as von A quinound unser großer Lehrer «A rten» einer ewigen Individualitäts-G attung, dieden wahren W esensnamen trägt, um den es schon dem Kratylos zu tun war.

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IV.

«Das dritte Jahrtausend zu beginnen ...»

Some thou ghts always find us young and keep us so.Such a thought is the love of the universal and eternal beauty.

Ralph Wa ldo E m e r s o n , The O ver-Soul

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An einem strahlend schönen Nachmittag — es war Donnerstag, der

26. März 1998 — ging Harold Freeman wiederum an Bord der QueenElizabeth.

Seine neue Schweizer Uh r zeigte exakt 15 Uh r, als der Riesendam p-

fer langsam aus dem Hafen von Southampton zog.Freeman hatte für die Rückfahrt eine Außenkabine auf dem Sun

Deck reserviert, unmittelbar über dem Promenadendeck. Er richtete

s ich provisor isch in seinem schwim m enden Logis e in und m achte dar-auf einen ersten Rundgang auf dem Promenadendeck.

«Hab ich's mir doch fast gedacht!» Mit diesen Worten holte Mon-

sieur Noire den Heimkehrer von hinten ein. «Enchanté, Sie wiederuman Bord zu haben, M onsieur Freem an!»

«Pareillem ent, M onsieur Noire», sagte Free m an ausgesprochen h öf-lich.

«Nun, das gibt erneut Gelegenheit zu offenem Gespräch.» Noire

blickte Free m an rech t erwartungsvoll und doch m it kühler Vo rsicht an.«So offen Sie nur wollen», sagte Freeman und schaute Noire ganz

freundlich ins Gesicht. Dieser kniff die Augen über seiner feinen Ad-

lernase für den Bruchteil einer winzigen Sekunde rasch zusammen,

und auch die schm alen Lippen sch losse n sich für einen Augenblick zueinem dünnen Strich.

«Wo llen wir uns in der Q ueens G ril l Lounge zu einem Abendessentreffen, Freem an?» Noire bem ühte s ich um einen unbeküm m erten undsouveränen To n.

«Wird M r. Am hurst m it von der Partie sein, No ire?» fragte Freem anin fas t kollegialer W eise.

«Aber selbstverständlich, Freeman! —Amhurst und ich, wir sind seitBrüsse l unzertrennlich. M an nennt uns scho n die siam esische n Brüder,

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obwohl wir uns rein äußerlich ja nicht gerade gleichen.» Noire kicherteironisch über diesen Sche rz von dritter Seite. Dann m achte e r den Vor-sch lag, für den Vo rabe nd der Ankunft in der G rill Lounge Plätze zu re -servieren.

«Einverstanden», m einte Free m an. «Das h eißt, so fern es m ir gestat-

tet ist, vielleicht noch einen G as t zu bringen.»«Wird im Namen Amhursts akzeptiert», sagte Noire mit einem

se lbstzufriede nen Läche ln. «Ü brigens, in Brüsse l stießen wir auch no chauf unseren deutschen Großkophta aus dem außereuropäischen Al-

penland.»

«Sie m einen aus der Schwe iz?» wollte Freem an wissen.«Ich meine aus der Schweiz! Natürlich!» lachte Noire. «Denn extra

unionem europeam salus non est —wie ich in Abwandlung des auf die

Kirche gem ünzten Spruches im m er sa ge. Außerha lb der EU kein Heil ,und wo kein Heil is t, da kann auch kein Europa sein, nicht wa hr? D ochich ...»

«Sie sprachen von dem Großkophta», unterbrach ihn Freeman und

steuerte zurück. «Tat er Ihnen etwas Nennenswertes kund?»

«Sehr wohl, sehr wohl. Das tat er wirklich. Er schlug uns vor, das

nächste Jahr das <Coudenhove-Jahr> zu nennen. Es werden fünfzig

Jahre seit der Gründung des Europarates sein. Zu Ehren RichardCoudenhove-Kalergis, des Pioniers der Vereinigten Staaten von Euro-pa, jedenfalls im 20. Jahrh undert. Wir werde n die Idee vo n Brüssel auslancieren.»

«Man sollte zwischen Hades und Olymp zu unterscheiden wissen.

Doch kann man sich natürlich auch für Hadesfahrten seine Helden

wählen», meinte Freeman vieldeutig und rätselhaft.

Noire schien nicht so recht zu wissen, wie Freemans Äußerung zu

deuten sei, und hatte es auf einmal eilig. «Nun denn, bis zum Abend-

esse n in der Grill Lounge. Ich w erde a lso rese rviere n lass en. Au revoir ,Freeman.» Erstaunlich schnell war Monsieur Noire in der Menge der

Flaneure auf dem Promenadendeck verschwunden.

Zurück in der Kabine, fand Freeman einen Faxbrief vor. Er war von

Jacques, der a us Ve nedig schrieb. Er las m it Freude:

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Mein guter, guter Harold,

ich konnte meinem Drang nicht widerstehen, auch noch Venedig einen

Kurzbesuch zu machen. Das herrliche Venedig! Fast unverändert find

ich es, gemessen an den Neuerungen, welche Prag und in noch höhe-rem Grad Berlin erlitten hatten. Ich übernachtete im «Monaco», an der

Mündung des Canale Grande, gegenüber der so schönen Kuppelkirche

von Santa Maria delle Salute. Hier war mein Chartresvater oftmals ab-

gestiegen. Am späten Nachmittag — es ist jetzt 11 Uhr nachts — machte

ich alleine eine Gondelfahrt durch die mir altvertraute Stadt. Auch

viele andere Gondeln waren unterwegs, mit stillen Pärchen, fröhlichen

Gesichtern, wehmütigen Liedern bei Akkordeonbegleitung. Bilder

stiegen in mir auf von früheren Fahrten dieser Art, welche ich mit je-nen Menschen machte, die mir letztes Mal so nahe standen — darunter

auch die Seele, die mir einstmals als Antinous zu Seite stand, der

schöne kunstsinnige Knabe, der die wahre Freude in mein Kaiserda-

sein brachte und der dann, wie Du weißt, im Jahre 130 während einer

feierlichen Nilfahrt in das Reich des Hades sank. Mit dieser Seele — sie

war im letzten Dasein Eurythmistin und die Tochter jenes Freundes,

dem zuerst der Meister die soziale Drei enthüllte — hatte ich erst Rom

besucht und eben auch Venedig. Als wir den Palazzo Vendramin-Ka-

lergi passierten, mußte ich an Richard Wagner denken, der hier starb,

und auch an seinen wunderschönen Tristan. Und während wir an die-

sem Bau vorüberglitten, fragte ich mich plötzlich: Hat nicht vieles aus

dem letzten Leben, das du lebtest, selbst wie eine Tristan-Melodie ge-

klungen?

Auch mußte ich des Tempels denken, welcher letztes Jahr so wüst

geschändet wurde, als islamische Fanatiker in Luxor unschuldige Tou-risten schlachteten. Ich war mit diesem Tempel Hatschepsuts ja selber

tief verbunden. Es war dies eine ganz soratische Attacke: Sorat will mit

solchen Morden fürchterliche Angst verbreiten. Er will damit errei-

chen, daß die Menschen diese Orte meiden und von den vergangenen

Kulturimpulsen abgeschnitten werden. Erst will er durch die Furcht

die Seelen lähmen, dann ihrer spirituellen Sehnsuchten entleeren —

denn diese sind es doch, die allem Reisen stets zugrunde liegen, wenn

auch oft verhüllt. Und schließlich will er Einzug halten in die See-

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lenöde, die er vorhe r selbst gescha ffen ha tte. Die M ensche n m üssen dasdurchschauen, daß hinter allen solchen Morden Sorat und die Seinen

grinsen. Ist es nicht ganz greifbar, diese s G rinsen, we nn m an h ört, daßdiese T er ror is ten, die den O pfern m it sa tanischem Geschm ack die Ke h-len aufschneiden, die aufgeschlitzten Kehlen dann «Das Lächeln Al-

lahs » nennen? V ielleicht ist es die dunkle Seite, die Ve nedig ebenfallsbesitzt, seitdem ein Dandolo h ier wirkte, die m ich a uf der Go ndelfah rtan solche Dinge denken ließ? (Natürlich fühle ich als Halbägypter ei-

nen ganz beso nderen Zusam m enha ng zu allem , was das La nd des Nilsbetrifft. Ach, wie schön ist es da andererseits, daß gegenwärtig in der

Nähe Kairos im Sinne unseres M eis ters so ungeh euer W ichtiges gelei-stet wird

Später trank ich auf der Piazza San M arco e inen schm ackha ften Kaffeeund lausch te der Ka pelle vo r dem Café Florian. Sie s pielte ungarischeT änze, m usikalisch m eis terh aft, und endete m it e inem Wiener Wa lzer .Noch immer klingen Wiener Melodien hier fast wienerischer als in

Wien — wie damals, als ich oft und gerne hier gesessen hatte. Noch

heute hörst Du hier so etwas wie den letzten Klang der alten Donau-

m ona rchie, zu der ja a uch Venedig einst geh örte. Wie wenn er e ben nie

ver klingen könnte ...In der Accadem ia sah ich nachm ittags im übrigen ein Gem älde m it

dem auffallenden T itel «Der M arkusplatz und das Ewige» — den M alerkonnte ich m ir offenbar nicht m erken. Von diesem «Ewigen» is t he ut-zutage noch etwas zu spüren ...

Auch das l iebe, teuere T orcello s ah ich ge stern wieder . Die Fresken derBasilika sind ebenfalls ganz unverändert. Sie enthalten u.a. eine Dar-

stellung des Antichrists (Sorat). Er s itzt im Scho ße A hrim ans und trägtdie Züge C hristi. Ich ke nne keine andere ve rgleichbare Beh andlung die-ses Ge genstandes. Es is t, als ob de r Künstler s agen w ollte: Lernt durch-schauen, wie die Ähnlichkeit den Abgrund überdecken möchte, der

zwischen Christus klafft und seinem Sonnengegner. Laßt euch nie

durch Ähnlichkeiten täuschen. Die größten Unterschiede stecken in

den größten Ähnlichkeiten ... Dieses Fresko weckt erneut in meinem

Innern starke, heilige Empfindungen.

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Im Grunde sollte jede Reise nach Venedig in Torcello ihren Ausgang

nehmen. So war es auch geschichtlich. Hier blühte früh ein christlicher

Mysterienkult; von hier aus wurde später die Lagunenstadt erbaut.

Dies alles nur als lieber Gruß von Deinem alten Jacques

P.S. Ich kann es kaum erwarten, bis wir uns in Taos wiedersehen! Um

das dritte nachchristliche Jahrtausend zu beginnen.

Harold Freeman saß am Schreibtisch der Kabine, als es dreimal an der

Türe klopfte. Er spähte durch das Guckloch und erkannte das Gesicht

des schwarzgelockten Malers aus der Schweiz.

«Hocherfreut, Sie hier zu sehen!» begrüßte Freeman seinen uner-

warteten Besucher und führte ihn in die geräumige Kabine.

«Gleichfalls, Mister Freeman!» rief der Maler strahlend. «Ich mußte

früher als geplant nach New York fahren», begann er zu erklären. «Die

Vernissage wurde plötzlich vorverlegt. Es blieb gerade Zeit genug, die

Überfahrt per Schiff zu buchen. Seit dem Tag, als ich in meiner Kind-

heit von dem Untergang der Titanic erzählen hörte, wollte ich einmalauf einem <unsinkbaren> Meeresriesen reisen. Und als Sie mir in Basel

so begeistert von der <Queen> erzählten, da wurde dieser Traum erneut

in mir geweckt. Nun geht er also in Erfüllung!»

Freeman schwieg gespannt.

«In Southampton ging ich gleich zum Captain und fragte, ob ein Mr.

Freeman unter seinen Passagieren sei. Er schaute in der Liste nach und,

siehe da, da standen Sie!» Der Maler schüttelte das schwarze Locken-

haupt und lachte voller Freude über das willkommene Zusammentref-fen. Dann hielt er plötzlich inne und fügte ernst hinzu:

«Ich habe auch die Ehre, Ihnen eine Botschaft zu vermitteln, die Sie

interessieren dürfte.»

«Das klingt ja recht geheimnisvoll», sagte Harold Freeman, sein In-

teresse kaum verbergend.

Freeman bot dem Maler, der im gleichen Alter wie er selbst zu ste-

hen schien, einen Drink an, stellte ein paar Süßigkeiten auf den kleinen

Tisch und sagte:

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«Erzählen Sie mir erst, was Sie alles in der Zwischenzeit erlebten,

lieber Schweizerer! Dann werde ich ganz Ohr sein für die rätselhafte

Botschaft, die Sie bringen.»

«Das eine führt ganz zwanglos zu dem andern», konstatierte

Schweizerer. «Nun, ich fange gleich beim Schönsten an: Freunde lii it nmich zu einer Fahrt nach Chartres ein — kurz nachdem wir uns getrof-

fen hatten. Es war das erste Mal für mich. Sie kennen diesen Ort ge-

wiß?»

«Ich war am Anfang meiner Reise durch Europa selber dort!» be-

jahte Freeman. «Ein unvergeßliches Erlebnis!»

«Das war es auch für mich!» versicherte der Maler. «Zum Glück

nahm ich das Fernglas mit, wie mir ein Freund geraten hatte.»

Freeman blickte einen Augenblick wie fragend.«Sie werden es kaum glauben: Ich saß am ersten Tag im Innern die-

ses Wunderbaus und sah mir stundenlang die Fenster an. Von bloßem

Auge oder eben mit dem Fernglas. Solche Farben habe ich an keinem

Ort der Welt gesehen! Welch tiefes Blau, welch feierliches, starkes Rot!

Und welche Violett-Nuancen! Ich konnte mich nicht satt sehen an die-

sem unerhörten Farbenmeer!»

Harold Freeman hörte schweigend zu.

«Am anderen Morgen sah ich mir natürlich auch die Bildmotive

diese r Fenster a n. Die <Be lle Verrière> zum Beispiel , zu Beginn des rech-ten Chorumganges, den <Jesse-Baum> der Westwand, das renovierte

Becket-Fenster. Doch am meisten sagten mir die vier Evangelisten, auf

den Schultern von Propheten sitzend.»

Ein warmes Lächeln leuchtete auf Freemans Antlitz auf. Nach

kurzem Schweigen sagte er in feierlichem Tone:

«<Ihr si tzet auf den Schultern von Riese n> — so sagte m an den Cha r-tresschülern unter diesen Fenstern — <vergeßt das nie, daß ihr nur etwas

weiter sehen könnt, weil Geistesriesen, lange vor euch wirkend, euch

alle etwas höher hoben.>»

«Sie haben dieses Fenster auch betrachtet!» rief Schweizerer fast un-

gläubig.

«Es ist auch mir das liebste Fenster in der Kathedrale», sagte Free-

man. «Wer dieses Fenster kennt, begreift den Kern der Lehren, welche

man in Chartres gab.»

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Da Schweizerer erwartungsvoll zu schweigen schien, fuhr Freeman

ruhig und wiederum in einer Art von feierlicher Stimmung fort:

«Dieses Fenster lehrt, daß alle wirkliche Entwicklung Kontinuität

erfordert. Evolution — nicht Revolution. Revolutionen verstoßen im-

mer gegen das Gesetz der wirklichen Entwicklung, da sie immer einenBruch der Kontinuität bedingen. Wer gegenwärtig sinnt und forscht

und plant, muß dankbar auf Vergangenem beruhen lernen, muß hoff-

nungsfreudig Künftiges bereiten wollen. Der Einzelmensch muß ler-

nen, sein gesamtes Wirken einerseits als Fortsetzung und andrerseits

als Vorbereitung zu empfinden. Das lehrte und das lernte man in Char-

tres. Wer so gesinnt zu schaffen lernt, der schafft in wahrem Menschen-

Weltgeschehen.»

«Das war's, was ich im Anblick dieser Fenster fühlte», rief der Ma-ler ganz ergriffen. «Ich danke Ihnen, Mr. Freeman, daß Sie meinem

Ahnen einen wahren Ausdruck gaben.»

Nach langem Schweigen fuhr der Maler zu erzählen fort.

«Auf der Fahrt nach Basel — ich fuhr alleine, meine Freunde wollten

in Paris die Sainte-Chapelle besuchen — kam ich ins Gespräch mit ei-

nem jungen Mann, der mich gleich faszinierte. Er stellte sich als ein Be-

rater vor, der gegenwärtig für die Weltgesundheitsbehörde tätig sei.Ich erzählte ihm von meinem letzten großen Bild, das ich in Basel

malte, und auch von dem Gespräch, das ich mit Ihnen führen durfte.

Das schien ihn außerordentlich zu interessieren. Als er merkte, daß ich

mit der Geisteswissenschaft von Rudolf Steiner auf vertrautem Fuße

stand, begann er vom Jahrhundertanfang zu erzählen. Er sprach, wie

wenn er selbst dabeigewesen wäre. Und schließlich redeten wir von

dem Ende des Jahrhunderts. Herr Wegener, so heißt der Mann, sprach

von den 48 Menschen, die es brauche, um die Zivilisation am Ende desJahrhunderts über den Abgrund zu retten, in dem sie, wie ja jeder se-

hen kann, heute zu versinken droht.

Diese 48 Menschen seien nun vorhanden. Sie hätten sich nur noch

nicht alle schon getroffen. Doch das würde spätestens im Sommer die-

ses Jahres sein. Und dann — dann werde durch das Wirken dieser 48 der

ganzen Erdenmenschheit ein starker, aufwärtsstrebender Impuls ge-

bracht. <Aber>, fuhr er fort, <es sind auch starke Widerstände da, ganz

besonders in der Geistbewegung, welche Steiner auf die Erde brachte,

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nachdem sie schon Jahrhunderte im Himmel vorbereitet worden war.>

Ich wurde hellhörig und bat um Einzelheiten. Da sagte Wegener: <Se-

hen Sie, Herr Schweizerer, es gibt gewisse Menschen, die sich für die

ersten Schüler Rudolf Steiners halten — ohne es in Wirklichkeit zu sein.

In Dornach wirkt zur Zeit ein Mensch, der sich für die Reinkarnation

von Miss Maryon hält, wenn auch in männlicher Version. EdithMaryon war hochbegabte Bildhauerin, tief esoterisch, rettete dem Mei-

ster eines Tages auch sein Leben. — Dann spaziert ein falsches Dunlop-

Stein-und-Polzer-Hoditz-Trio durch die Welt! — Ferner gibt es Leute,

die den gegenwärtigen Schatzmeister in Dornach — einen Niederlän-

der, wie Sie vielleicht wissen werden — für den wieder inkarnierten

Dunlop halten! Grotesk! Denselben Mann, der im Zusammenhang mit

den Rassismus-Vorwürfen öffentlich verkündete, daß es in SteinersWerken Äußerungen gebe, die heute nicht mehr haltbar seien. Welch

ein Hohn auf Dunlop, diesen großen Geist des Westens, ihn im Ernst

mit einem solchen Mann, mit einer solchen Sekte in Zusammenhang zu

bringen. Ach, aus dem Flachland Holland kann gewöhnlich eben doch

nichts Tiefes kommen! Nichts als Illusionen! — Ja, ich brauche starke

Worte, Herr Schweizerer! Im Grunde aber noch zu schwach für das,

was sich im Namen unseres Meisters heute weltweit breitmacht.>

Wegener machte einen Seufzer, um dann fortzufahren, wie wenn esihm als eine Pflicht erschiene.

<Und neulich, stellen Sie sich vor, da lernte ich auch noch die re-

inkarnierte Ita Wegman kennen.>

Als Wegener dies sagte, Mr. Freeman, glaubte ich um seinen übri-

gens sehr schön geschnittenen Mund einen ironisch-schmerzlichen

Zug feststellen zu müssen. <Ich lernte diese Dame auf einem medizini-

schen Kongreß in Brasilien kennen. Sie hat zu ihrem Schaden zuviel

Geld und zuviel Zeit und funkt beständig mit dem Handy in der

ganzen Welt herum — im Zeichen Michaels, so meinte sie. Sie hatte nie

gelernt, was wahre Arbeit ist, erzählte mir statt dessen von der Biogra-

phiearbeit, der sie zehn Jahre lang gehuldigt hatte. Diese sogenannte

Arbeit ist der allerschädlichste Ersatz für jede wahre Arbeit, ein Hohn

auf Rudolf Steiners Werk, auf das sie sich beziehen will. Durch diese

Pseudo-Arbeit wird der Mensch ganz psychisiert, Herr Schweizerer,

wenn Sie mir das Wort gestatten. Er plantscht in seinen uferlosen See-

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lenwogen ziellos seinem Untergang entgegen. Der Mensch wird

hochmütig und eitel. In schlimmen Fällen kommt ganz einfach

Größenwahn heraus. Wie bei dieser Dame beispielsweise. Wiederver-

körperte I ta We gm an! Und nun soll s ie — höre n Sie gut zu, Herr Schwe i-

zerer! — außerdem noch in den Vorstand dieser Sekte kommen! Kaumzu fassen! Und doch, wer hätte anderes erwarten dürfen ... >

Wegener sah mich einen Augenblick sehr nachdenklich und etwas

traurig an.

Dann sagte er auf einmal ganz entschlossen: <Doch nutzen wir die

Zeit bis Basel, reden wir von wesentlichen Dingen.>

Ich war beeindruckt, Mr. Freeman, wie Sie sich wohl denken können.

Auf der Weiterfahrt nach Basel unterhielten wir uns über die Be-

dingungen von wahrer Arbeit. Ich müßte wohl ein ganzes Buch ver-fassen, wenn ich alles wiedergeben wollte, was mein Gegenüber dazu

sagte. Nun, schließlich kamen wir zur Schweizer Grenze. Da zog Herr

Wegener auf einmal ein Kuvert aus seinem Koffer. Er legte es in meine

Hand und sagte recht bestimmt und doch fast heiter: <Herr Schweize-

rer, ich möchte, daß Sie dieses Schreiben Mr. Freeman überbringen,

wenn Sie ihn im Sommer in New York besuchen, falls Sie ihn nicht

früher wiedersehen sollten. Ich weiß, wer Mr. Freeman ist, von dem Siemir so schön erzählten. Ich trug das Kuvert immer im Gepäck und

wußte, daß ich eines Tages einen Menschen treffen werde, dem ich es

als einem Boten übergeben sollte. Dieser Tag ist da, der Bote sitzt mir

gegenüber.>Und beim Abschied auf dem Basler Bahnhof sagte Wegener: <Sagen

Sie dem Mr. Freeman: Den Soundso verspar ich mir für die großen Ge-

legenheiten. Er wird schon wissen, was das heißt. Und sagen Sie ihm

einen Gruß von einem alten Kampfgenossen, der sich auf das Wieder-sehen mächtig freut. Und sagen Sie ihm auch: Der Kreis der 48 ist jetzt

voll! Es kann be ginnen!>Und schließlich sagte Wegener und lächelte dabei gewinnend: <Wol-

len Sie mir den Gefallen tun, Herr Schweizerer? Und dieses Kuvert Mr.

Freem an übergeben?>Wie konnte ich die Bitte abschlagen, Herr Freeman? Alles war so

sonderbar gefügt und schien so schlicht und richtig. — So bleibt mir nur

zu sagen: <Den Soundso verspar ich mir für die großen Gelegenheiten.

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Ein Gruß von einem al ten Kam pfgenosse n, der s ich auf das W iederse -he n m ächtig freut. Der Kreis de r 48 ist jetzt voll! Es ka nn beginnen!>»

Wäh rend Schweizerer no ch sprach , zog e r so rgfält ig ein hel les Ku-vert aus der Innentasch e se iner Jacke und legte e s vor Free m an auf denTisch.

«Mission accomplished!» sagte Schweizerer halb scherzhaft, halberleichtert.

«M ission very we ll accom plishe d!» s t rah l te Free m an dankbar .Die beiden M änner plauderten noch e ine W eile angeregt zusam m en.Dann suchte Schw eizerer die eigene K abine auf. Sie be fand sich auf

Deck 1.

Harold Freeman trat an sein Kabinenfenster. Er schaute lange in die

sternenklare Nacht hinaus. Der Orion prangte hell und nah. Das Licht

von Betelgeuze schien zu leben und zu wärmen.

Nach einer We ile s chrieb er auf dem eleganten Schiffspapier an Fiona:

Unterwegs, wie immer, am 26. M ärz 1998

Liebste F iona!Emerson sagt in Over-Soul: «The so ul is no traveller». Und: «Th e intellect isa vagabon d.» fetzt, wo sich die Reise ihrem Ende n ähert, fühle ich, wie wah res ist, was Emerson hier sagt. Alles Reisen ist für unsere Seele, unseren Geistin gewissem S inne nur ein scheinbares. In W irklichkeit entdeckt die Seele, wel-che wa hrhaft «reist», immer ne u den G eistesort, an dem sie ewig bleibt, weiler ihr wa hres Selbst enthält. So fühlte ich, als ich soeben meinen B lick zu B e-telgeuze hob, die aus d em S ternbild des O rion blinkt und funkelt. Auch d erAu sspruch Y anan andas kurz vor meiner Abfahrt fiel mir wieder ein, des wei-sen Bo tschafters von Indien: «Nur dem R eisenden wird sein wahres Selbstentdeckt.» Doch da muß man eben m it der Seele reisen, nicht nur mit dem In-tellekt. Sonst kommt nu r Vagabu ndentum heraus ...

Nun will ich aber ordentlich berichten.

Kau m an Bo rd gegangen, holte Noire mich auf dem Promena dendeck vonhinten ein. (Solche Leute kommen au ch in anderem Sinne meist von hinten ... )

Ich muß m ich auf ein neues «Abendma hl» einstellen, mit ihm un d Am hurst.

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Kaum in der Kabine, klopft es, und der liebenswerte M aler aus der Schweiz— er heißt im übrigen auch noch Schweizerer — steht draußen. Ein herzerfri-schender und sehr bedeutender Besuch! Er war inzwischen auch in Chartres.Im Zug zurück nach Basel traf er — unseren guten Alexander, Fiona! Woher

ich das so sicher weiß? A us den Worten dieses Malers selbst, die die Worte die-ses «F remden» wiedergaben. Der M ann heißt Wegener und muß so um d ieDreißig sein. Er arbeitet zur Zeit für die Weltgesundheitsbehörde. Wegenerrichtete dem M aler, der ihm auch von mir erzählte, eine Botschaft für michaus. Schweizerer übergab mir außerdem auch ein Kuvert. Was darin geschrie-ben steht, weiß ich jetzt noch nicht. Denn ich werde es erst öffnen, wen n ichmeine letzten Zeilen an D ich schreibe, in der Nacht auf M ontag also (30 .M ärz). Ein paar Worte, die der Fremde durch den M aler an mich richten ließ,

machten alles klar: Sie lauten: «Sagen Sie dem M r. Freeman: Den S oundsoverspar ich mir für die großen Gelegenheiten. Er wird schon wissen, was dasheißt.» Diesen Satz, Fiona, schrieb die große Ärztin/Freun din unseres M ei-sters letztes M al an mich! Es war ein W ort des M eisters selbst, das dieser ein-mal zu ihr sagte und da s sie mir nach seinem letzten To de schrieb. Mit dem«Soundso» bin also ich gemeint. Das w ollte Wegener dem M aler nicht verra-ten. So ist die Botschaft dechiffriert: Sie kann nur von der guten A lexander-

seele kommen . Im übrigen: Ist es n icht erneut ganz einzigartig, wie subtil dieFäden laufen? D amals half ich diesem «Wegener», ihre Ärzte-Aufsätze zu sti-lisieren, da sie ja der d eutschen Sprache nie vollkommen m ächtig war. Undjetzt erkenne ich sie an dem falschen V erbum w ieder! Statt «versparen» solltees natürlich «aufsparen» geheißen ha ben, wie der M eister sicherlich auchselbst gesagt hat. Beweis genug!

Wegener erzählte Schweizerer (und d ieser mir), daß ihm in B rasilien seinKarm a-Double begegnet sei. Auch er also besitzt bereits sein Double, genau

wie Jacques und Nick und ich! Und in Dornach sol l auch eine falsche«M aryon» wirken, tief verbunden mit dem sogenannten B auimpuls, dessenProtektor kein Geringerer als Chr. Rosenkreutz sein soll, wie man den Santia-goschäfchen weismacht. (Schweizerer berichtete mir von dem neuen großenSaal, mit den neuen Säulen vor den F enstern, die wie Theaterkulissen wirkenund die schönen F enster ganz verdecken. Darüber mehr Zuhause.)

Als ich heute abend meditierte, ging mir nun au s diesem Teil der M ittei-lungen Wegeners erneut auf: Im gleichen M aße, wie w ir 48 uns jetzt finden,finden sich auch 4 8 D oubles. Dies ist der Plan der Noires und A mhursts:

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durch ein falsches «Set» von 48 von uns wahren 4 8 abzulenken. Durch 4 8Kreaturen uns scha chmatt zu setzen. Diese Kreaturen werden in der Regelnicht bewußt betrügen; sie müssen nur gewisse Schwäch en haben, w ie Ehr-geiz, Eitelkeit und U nw ahrha ftigkeit. D adurch w erden sie für 322 -Projektebrauchba r, und mittelbar für alles Sorat-Wirken jetzt am En de des Jahrhu n-

derts. So müssen w ir mit 48 «betrogenen Betrügern» rechnen, mit 48 falschenDem etriussen sozusagen. Dies der P lan der G egenmächte. O b er völlig aus-geführt wird oder ob es reicht, mit 24 D oubles schon genügend zu erreichen,ist ganz nebensächlich.

Ein neuer K rishnamurti-C oup ist also jetzt im Ga nge. Du erinnerst Dichvielleicht? M it ihm, der a ls der neue C hristus ausgegeben wurd e, sollte letzt-l ich das, was unse r M eister brachte, zugedeckt und ausgeschaltet we rden.

Und in der Tat: Der M eister muß te sich mit einem Häuflein von G etreuen ausder The osophical Society zurückziehen. Die D urchschlagskraft der Lehre, dieer brachte, wurde drastisch eingeschränkt. M anche O kkultisten in T ibet undauch im Westen arbeiteten bewußt in diesem Sinne. Und letztlich zogen sie jaan den F äden. Leadbeater und Besant und auch K rishnamurti waren nur dieMarionetten.

Heute also wird dasselbe angestrebt, mit einem U nterschied jedoch: Wa sdamals gegen unseren M eister unternommen w urde, wird heute gegen uns,

die 48 , inszeniert. W as ihn getroffen, triff t nu n un s, die treusten seine rSchü ler. D ies alles scheint mir nun ganz durch sichtig und un vermeidlich.Zur Stärkung für den G eisteskampf, in dem w ir also mitten drinnen stehen,werden wir in diesem Somm er mit dem M eister in den U SA zusammenkom-men. Kein G rund zum R esignieren also. Nur Klarheit und auch W achheitmuß in un sern Seelen herrschen. So wird die M enschheit wiederum geprüft,wie w eit sie Schein und Wa hrheit unterscheiden will.

Zum S chluß für heute dieses noch: Von Jacques kam h ier ein Faxbrief an. Solieb und innig, und so tief wie alles, was ich bisher von ihm hörte. Er suchtenoch Venedig auf, sah in Torcello jenes Fresko wieder, das wir auch gut kennen:

Sorat/Antichrist, mit den Zügen C hristi , Ch ristus zum Verw echseln ähnlich.Unterscheidung der G eister: Wie wird das am Jahrhun dertende hochaktuell!

Fo rtsetzung in B älde

Harold

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P.S. Je mehr sich meine Reise ihrem Ende n ähert, umso mehr emp finde ich, wieviel und lange ich D ir schreibe. Dabei würde ich so gerne hören, wa s Dichselbst bewegt, Fiona! Wie geht es unserem B esucher? Träum test Du schon sei-nen Erdennam en? — Hast Du D eine Aufzeichnungen fortgesetzt? «Ich —

F iona» wo lltest D u sie einmal nennen. Ist's dabei geblieben? W as ma chtMaud?

Und noch was wollte ich Dir sagen: Schweizerer erzählte mir von einem M en-schen, der mit Hingabe dabei sei, über «uns» (er sagte wörtlich: «über Rudolf

Steiners treueste Schüler, die ja w ieder inkarniert sein müssen») einen Rom anzu schreiben! Ich ließ mir nicht anm erken, wie stark mich diese M itteilung be-wegte. — So wird es also wahr! Der Rom an, der aus dem Stoff sich weben mag,

der unse r Leben bildet, ist wirklich im Entstehen . Wir dürfen recht gespan ntsein, was dabei herauskom mt ... Wenn e r nur zu einem kleinen T eil in meinemSinn geschrieben wird — so wird und so ll es viel an ihm zu rätseln geben. —Nun gehen w ir als Wirklichkeit und gleichzeitig als «Imaginationen» durchdie Welt — ein eigenartiges Gefühl.

Wir werd en ja dann sehen könn en, wie viel von uns in diesen Imaginatio-

nen s teckt ...

Ha ro ld Free m an h atte in der Grand Lo unge ausgiebig gefrühstückt. Erwo llte e ben se inen Platz verlasse n, um sich in der Ha rro d's-Filiale a ufDeck 1 — der einzigen der Welt außer dem berühmten Mutterhaus in

London — nach einer letzten Überraschung für Fiona umzusehen, als

M adam e Jones an se inen Tisch t ra t.«Tiens, tiens! An der gleichen Stelle wie vor einem Vierteljahr»,

sagte die Französin läche lnd.«An der gleichen Stelle wie vor einem Vierteljahr», bestätigte der

junge Diplomat, seine Wiedersehensfreude kaum verbergend. «Neh-

m en wir den Faden des Ge spräches a lso wieder auf! Das he ißt: Falls Siees wünschen, M adam e Jones!»

«Ich brenne a uf die Fo rtsetzung von a llem , was w ir auf dem Schiffund nachher in der Sainte-Chapelle besprochen haben! Ich brenne

wirklich drauf!»

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Madame Jones, in einem roten Frühlingskleid und frisch frisiert, rich-

tete zwei schöne dunkle Augen auf ihr Gegenüber. Freeman küßte ihr

galant und förmlich-stumm die Hand und mußte wiederum den fei-

nen Diamanten bewundern, der ihm entgegenblitzte. Dann sagte er,

fast rätselha ft:

«Bei so viel Wasser, das die Menschheit heutzutage derart uferlosumgibt, tut ein wenig brennendes Interesse wirklich woh l , M adam e!»

«Mein inneres Feu sacré läßt sich auch durch diese Wassermassen

nicht verlöschen, Monsieur Freeman!» Die Diplomatengattin zwin-kerte vo ll Scha lk.

Dann suchte m an das Lido-Café auf, ließ zwei Cappuccini kom m enund genoß die Aussicht auf das M ee r .

«Ihr Ausspruch über Frankreichs Volksgeist ging mir nicht mehr

aus dem Sinn!» Madame Jones zog einen Füller aus der schwarzen,

kleinen Ledertasche. «Sehen Sie, dies ist mein neuer Füller. Der alte

war auf einmal nicht mehr auffindbar. Natürlich ist's ein Waterman.

Ich kaufte ihn vor meiner Abfahrt in Paris. So muß ich immer an die

Gloire vo n Frankreich denken. M eine neue M em otechnik . ..»Free m an lächelte belustigt.«Doch am meisten sann ich über das Gespräch nach, das wir am

Portal der No tre-Dam e und in der Sainte-Cha pelle zusam m en führ ten.Ich dachte oft und lange über die hierarchischen Wesenheiten nach,

von denen Sie gespro chen h aben.»Freemans Züge drückten konzentriertes Interesse aus.

«Sie dachten oft und lange über diese spirituellen Wesenheitennach », sagte er , h alb bestätigend, ha lb frage nd.

«Am meisten über jenes Wesen, das Sie den Denkgeist nannten,

Monsieur Freeman. Das ist für uns, sofern wir denken, ja ein äußerst

ess entielles W ese n, wenn Sie m ir den Pleo nasm us gestatten wo llen.»«In der T at: Was im m er M enschen denken, diese s We sen ist dabei im

Spiele. Wir können über keine anderen Wesen denken ohne die Ver-

m ittlung dieses Denk-Geistes. Er gehört zur Hierarchie der Archa i, derUrbe ginne. Es ist der ältes te der Ur beginne, die ja a uch die Ge ister s indder Ze it.»

«Dieses Wesen ganz zu kennen», zog Madame Jones die Konse-

quenz, «hieße a lles kennen, was M enschen jem als dachten!»

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«Sehr, sehr richtig, Madame Jones! Sein spiritueller Leib besteht aus

dem Gedankenstoff, den Menschen denkend aus der Geisteswelt in

ihrem Denkbewußtsein zur Erscheinung bringen.»

«So muß ein jeder Denkakt diese Leiblichkeit des Denkgeistes er-

weitern!» Madame Jones war über die Entdeckung sehr frappiert.

«Sosehr der Mensch auch wirklich etwas Neues denkt, Madame.

Doch das kommt ja in der Wirklichkeit nicht allzu häufig vor.»

«Und wenn nun jemand etwas denkt, was schon ein anderer ge-

dacht hat?» insistierte Madame Jones.

«Dann berührt er den Gedankenleib des Denkgeistes gewisser-

maßen an derselben <Stelle> wie der erste Denker des betreffenden Ge-

dankens, der diese Stelle auch geschaffen hat.»

«So findet man sich wörtlich in demselben Geist!» Madame Jonesatmete tief ein und blickte Harold Freeman wie erleichtert an. Dann

sagte sie:

«Sehen Sie, da lag für mein Gefühl schon immer meine Differenz

mit Ernest, meinem Gatten. Er suchte das Gemeinsame im Fühlen, in

den Eindrücken der Sinne usw. Geist und Denken war für ihn zu dünn

und flüchtig, wie er immer sagte.» Die Diplomatengattin fügte zur

Erklärung rasch hinzu:

«Wir haben uns vor einem Monat in Paris getrennt. Besser friedlich

auseinander, als im Widerstreit vereint. So sagte ich mir immer wieder

während Jahren. Und eines Tages fand ich auch den Mut, dies Ernest

mitzuteilen. Er war mit einer Trennung schließlich einverstanden,

wenn auch etwas widerwillig. Er bleibt vorläufig in Paris, während ich

zu unserer Tochter nach Chicago ziehe.»

«Nach Chicago!» rief Freeman überrascht. «Da werde ich in Kürze

selbst hinziehen. Zu meiner Fiancée. Sie singt dort an der Oper.»«Wie schön zu hören, Monsieur Freeman. Dann können wir uns in

der Neuen Welt ja wiedersehen!»

«Sobald Sie wollen, Madame Jones. Das wird auch Fiona freuen, der

ich schon von Ihnen schrieb.»

Stumm aßen Madame Jones und Harold Freeman einen Cake, der,

wie der Kellner sagte, vom Captain offeriert sei, und blickten schwei-

gend auf das Meer hinaus.

«Monsieur Freeman», nahm die Diplomatengattin die Unterhal-

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tung wieder auf, «ich s tieß in Frankre ich auf ein sch önes B uch, das ichin einem Zuge las.»

Freem an ho rchte auf.«Es h ieß M ein Lebensgang und stammt von Rudolf Steiner. Sagt Ih-

nen vielleicht der Nam e R udolf Steiner etwas ?»

Madame Jones sah Freeman von der Seite prüfend und fast amü-siert an.

«Dieser Nam e sagt m ir vie l! Sie ha ben es e r ra ten, M adam e Jones!»Freeman war beglückt von der Entdeckung.

«Rudolf Steiner ist der Lehrer, den ich in der Sainte-Chapelle er-

wähnte, noch ohne seinen Namen preiszugeben.»

«Nach e in paar Se iten wußte ich, daß das Ihr Leh rer wa r — und ist —,M onsieur Free m an. Per intuit ionem .»

«Sie a hnen gar nicht , M adam e Jones , wie glücklich es m ich m acht ,daß Sie in so lche r W eise s elbst auf m einen Leh rer s tießen. So will ich Siegleich fragen: Was m achte Ihnen in dem Buch den stärksten Eindruck?»

In diesem Augenblick ließ ein Kellner a n der T he ke eine T asse fal-len, die m it lautem , hellem Knall in tausend Stücke platzte.

«Sche rben br ingen Glück», bem erkte M adam e Jones , «und m anch-mal auch Erinnerungen. Mir zum Beispiel rufen diese Scherben die

Stelle ins Ge dächtnis, wo R udolf Steiner a nscha ulich bes chre ibt, wie e rals Kind die Tassen und die Teller nach jeweiligem Gebrauch einfach

hinter sich zu schm eißen pflegte. Finden Sie nicht auch , daß das e ine e i-gentüm liche G ewo hnh eit für e in Kind is t , M onsieur Freem an?»

«Ich finde sie sehr aufschlußreich», sagte Freeman etwas sphinx-

haft.«Aufschlußreich? W ofür?»«Aufschlußreich für den eigentlichen Kern der ganzen späteren

M ission des Kindes .» Freem an tönte noch s phinxhafter .«Sie wollen mich aufs Glatteis führen!» rief Madame Jones in ge-

spielter Entrüstung.

«Keineswegs, M adam e. Es is t m ir voller Ernst!»«Erklären Sie sich bitte!»«Mit Vergnügen! — Also gut: Die Erde ist der Schauplatz unseres

Menschenwirkens, nicht wahr? Damit wir auf der Erde wirken kön-

nen, mußte Geistsubstanz verdichtet werden, chère Madame. Hinter

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allem physisch-materiellen Dasein steht das große Opfer der Verdich-

tung. Opfer, sage ich bewußt, denn es mußten Wesen sich aus spiritu-

elleren in dichte Daseinsformen bannen lassen, als Träger der Verdich-

tung eben. In allem physisch-materiellen Dasein leben solche Wesen

wie verzaubert. Um des Menschen willen, um der menschlichen Ent-wicklung willen. Ist es nicht ganz billig, daß der Mensch an dieses Op-

fer denkt und diesen Wesen dankt?»

Madame Jones hörte ganz gefesselt zu.

«Und was würde dieser Dank bewirken, Madame Jones?»

«Er müßte diesen Wesen helfen, aus dem Exil der Stoff-Verdichtung

langsam wieder heimzukehren!» zog Madame Jones die Folgerung aus

dem Gesagten.

«Ganz recht, Madame! Und wie ist dies zu bewirken? Anders alsdurch eine Art Ent-Dichtung des zuvor Verdichteten?»

«Es scheint nicht anders möglich», konstatierte Madame Jones.

«Nur dadurch werden sie von ihrer Aufgabe der Geist-Verdichtung

frei. Sehen Sie, das ist der Gang der Evolution. Aus Geist wird Stoff —

aus Stoff wird Geist. Für alles braucht es Helfer. In der Stoffesphase ist

im Stoff der Geist verzaubert und gefangen. Wird Stoff zerstört, wird

also Geist befreit. Oder ganz konkret: Zerfällt der Stoff, so werden da-durch Geister frei! Verstehen Sie, was das bedeutet?»

«Ich ahne mehr, als daß ich voll verstehe, Monsieur Freeman. Doch

kehren wir zurück zur Tasse unseres Knaben.»

«Nun, in der Geste dieses Knaben lag keineswegs Zerstörungswut.

Denn mit allen andern Gegenständen ging er sorgfältig und schonend

um. Nein, hier zeigt sich Dankes-Wille an die Wesen, die uns unser Er-

denleben brauchen lassen. Dankes-Wille, der die Geistwesen befreien

möchte, die dem Menschen eine kosmische Weile selbstlos dienen.Natürlich wird sich das in vollem Maße erst in ferner Zukunft regel-

recht vollziehen können. Doch diese Zukunft fängt schon bei der

Dank-Erkenntnis an, was für Wesen, was für Opfern wir das Dasein in

der großartigen Welt verdanken.

An dieser Angewohnheit des kleinen Rudolf Steiner sehen Sie den

Willen zur Befreiung aller Geister, nicht allein des Menschengeistes.

Dieser Wille zur Befreiung steht im Zentrum der gesamten Wissen-

schaft des Geistes, die der Knabe später schuf.»

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«M onsieur Freem an, dam it ist seh r viel gesagt — und viel, wo rübernachzudenken is t . Auch diese s T he m a sucht naturgem äß nach Fo r tset-zung.»

Da platzte wieder eine Tasse auf den Boden, diesmal in der Küche

des Cafés.

«Wie deuten Sie den Ko m m entar der zweiten Ta sse, die in Sche rbenging, M adam e?»

Heiter und zugleich in nachdenklicher Stimmung gingen die zwei

Menschen auseinander.

Als Freem an Sam stag abend pünktlich in der Que ens G ril l Lounge e r-

schien, wurde er von Noire und Amhurst schon erwartet. Amhurstr ichtete erneut den dunklen B lick unter dichten, schwa rzen Bra uen a ufden jungen Diplom aten — genau wie bei der allerers ten Vorstellung.

«Na», begann er das G espräch, als der Ke llner die Be stellung aufge-nom m en ha tte , «war die Re ise durch Europa von Erfolg gekrönt? M is-s ion accom plishe d?»

«Ich denke ja!» sagte Freeman ganz zufrieden und goß sich etwas

Was ser nach. «M iss ion very we ll accom plishe d.»

«Nun, das h ört m an gerne, nicht wah r No ire», m einte Am hurst leut-se lig und gönnerisch. Er s teckte sich eine m exikanische Zigarre an.

«Ein Erbstück von dem guten Jones, der nun in Frankreich fest im

Sattel sitzt.» Am h urst paffte e ine Riese nwo lke in die Luft, hinter de r ereine Weile fast verschwand, und sagte dann ganz unvermittelt:

«Doch was hören wir für Sachen von der Prager Konferenz, mein

lieber Freem an?»«Wa s für Sachen h ören Sie denn von der Prager Ko nferenz?» fragte

Freeman unbefangen.

«Nun, wir hörten, daß Sie Werbung machten für die Ideale Stei-

ners!»Freeman schwieg und wartete auf eine Fortsetzung.

«Wir haben unsere Leute, wie Sie sehen, überall, nicht wahr, mein

guter Noire?» Bei diesen Worten klopfte er dem schmal gebautenJesuiten kräftig a uf die Schulter.

No ire hüstel te geschm eiche lt und bem erkte in nasalem T on:

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«Das kann m an wo hl beh aupten! Wenn wir in der W eltgeschichte et-

was Dauerhaftes etablierten, dann dies, daß unsere Leute überall am

Werke sind!»Zwei Kellner fingen zu servieren an. Noire und Amhurst hatten

Rehpfeffer bestellt, Freeman widmete sich einem Steak aus Argenti-nien.

«Sie wissen, Freeman, so was könnte Ihrer Karriere Hindernisse

scha ffen — Steinersch e Ideen zu verbreiten!» Am hurs t drückte die Zi-gar re aus und m achte s ich ans Esse n.

«Was haben Sie an Steinerschen Ideen auszusetzen, Amhurst?»

fragte Freem an unbeküm m er t.«Sie sind zu früh gekom m en — und ...»

«... und nehmen uns die Winde aus den Segeln», schloß Noire denSatz von Amhurst mit Betonung auf dem Wörtchen uns entschieden

a b.«Sie fürchten sich vo r den Ideen Steiners?» fragte Freem an ganz ge-

lassen.«Wir fürchten uns vor nichts! Doch geben wir das Steuer nicht in

frem de Hände!»

Amhurst sprach mit Härte und Bestimmtheit.Die drei M änner aße n eine W eile schw eigend weiter .«We nn Sie we iterhin agiere n wie in Prag, m ein lieber Freem an, dann

müssen wir Sie zu den Gegnern rechnen.» Amhurst tönte wiederum

gefaßt. Die Dro h ung h atte den Cha rakter einer sch lichten M itteilung.«Zu den schlimmsten Gegnern, die wir haben», präzisierte Noire

und stach ins Fleisch, das wunschge m äß no ch «sa ignant» wa r.«We nn der Einsatz für die W ah rh eit für Sie beide Gegners cha ft be-

deutet — nun, dann muß ich wohl damit zu leben lernen, meine Her-ren.»

Freem an schöpfte so rgfält ig Gem üse nach.«Hören Sie m al, Free m an», sagte Am hurs t plötzlich jovial, «we iß Ihr

Onkel von den Weltanschauungsinteressen seines so begabten Nef-

fen?»«Das müßten Sie ihn selber fragen. Ich hatte bisher keinen Anlaß,

m ich über W eltanschauungsfragen m it ihm zu bespreche n.»Wieder aß m an schwe igend weiter .

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Schließlich räumte man die Teller ab. Der Nachtisch kam. Freeman

war gerade im Begriff, das erste Stück von einem Zimt-Sorbet zu neh-

men, als Noire auf einmal anfing, Freeman, der ihm gegenüber saß,

eingehend zu mustern. Dann fragte er ganz unverblümt:

«Nun, Herr Freeman, sind Sie etwa auch ein Schüler des Herrn Ru-

dolf Steiner — ich meine, einer seiner ersten Schüler? Vom Anfang des

Jahrhunderts?»

«Das müssen Sie entscheiden, Monsieur Noire!» Freeman führte

ungestört den nächsten Bissen an den Mund.

«Dann hätten Sie von uns zuviel erfahren, Freeman!» Noire wurde

bleich, die Stimme kalt.

Das Schweigen, das nun folgte, war von Furcht und Haß durchzogen.

Schließlich sagte Freeman freundlich:«Wir haben uns für heute wohl gesagt, was wir zu sagen hatten? Ich

werde noch an einem andern Ort erwartet. Die Herren werden mich

entschuldigen.»

Er winkte einem Ober, zahlte seine Rechnung und erhob sich lang-

sam. Vor dem Gehen beugte er sich nochmals zu den beiden Herren

und sagte leise, doch betont:

«Sitzen wir nicht alle in demselben Boot? Wollen wir nicht alle

sicher in den Hafen laufen? Ist es also nicht das Beste, daß sich alleReisenden vertragen lernen? Nur Eisberge aus Furcht und Machtbe-

streben könnten uns bedrohen. Auf Wiedersehen, Amhurst, auf Wie-

dersehen, Noire!»

Harold Freeman suchte anderntags das Harrod's auf und kaufte ein

paar Souvenirs für Fiona. Auf dem Rückweg zur Kabine traf er auf

dem Promenadendeck auf Schweizerer und Madame Jones, die eben

miteinander ins Gespräch gekommen waren. Freeman lud sie beide

ein, zu einem Abschiedsdrink zu ihm zu kommen.

Bis zehn Uhr abends saß das Trio munter plaudernd am offenen

Fenster und genoß die milde, salzgewürzte Frühlingsluft.

Als Schweizerer und Madame Jones schon im Begriffe waren, auf-

zubrechen, klopfte jemand an die Tür. Draußen stand ein junger Ste-

ward, mit einem vollen Glas auf kostbarem Tablett.

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«Ein Abschiedsdrink für unsere Sun-Deck-Gäste, Mr. Freeman —

spendiert von Captain Hawkes.»

Der Steward reichte Freeman ein Glas Fruchtsaft.

«Der Captain kennt die Trinkgewohnheiten der Gäste, Mr. Free-

man», erklärte er.Freeman ließ dem Captain danken, schloß die Türe hinter sich und

ging, das volle Glas in seiner Rechten, auf die beiden Gäste zu.

Mit ernster, fester Stimme sagte:

«Auf diese Weise wollte man den großen Lehrer Rudolf Steiner ab-

murksen! Am Neujahrstag 1924.»

Die beiden Gäste schienen nicht recht zu begreifen, was er damit sa-

gen wollte. Freeman zeigte auf das Glas in seiner Rechten. «Ein Ab-

schiedsdrink vom Captain, wurde mir gesagt. Das erste stimmt — daszweite ist gelogen.»

Madame Jones und Schweizerer machten fragende Gesichter.

«Ein Erdenabschied wäre es geworden, hätte ich von diesem Saft ge-

trunken, meine lieben Freunde! Er besteht aus purem Gift!»

Schweizerer wollte auf der Stelle «Alarm» schlagen, um die Sache

aufzuklären. Freeman winkte mit Bestimmtheit ab: «Sie wollen doch

nicht ebenfalls in Lebensgefahr geraten? — Was hinter dem spendablen

Captain steht, werde ich beim zweiten Frühstück offenbaren, nach der

Ankunft in Manhattan. Ich schlage vor, im Vienna. Keine Widerrede,

bitte! Sie sind beide nochmals meine Gäste. — Bis morgen also und noch

eine gute Nacht!»

In ernster Stimmung suchten Schweizerer und Madame Jones ihre

Kabinen auf.

Vorabend der Ankunft, 29.3.1998, 23 Uhr 10

Liebe Fiona!

Bin soeben einem G i ftanschlag entgangen. Getarnt als Absch iedsdrink , spen-

diert vom Captain, um 22 Uhr von einem netten, ahnungslosen Steward

überbracht. Ein dunkelroter Fruchtsaft. Madame Jones und Schweizerer

w aren noch bei mir . Ich war schon im B egrif f, das Glas zum M und zu führen ,

als ich eine scharfe Stimme hörte, die laut sagte: «Keinen Schluck!» Es war

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nicht Schweizerer und auch nicht M adame Jones, die riefen. Sie hörten selberkeinen Laut. Du weißt also, wer mich gerettet hat — der Schaffner aus demZug, dem Jacques und ich begegnen durften. Nun weißt Du, wer mich

schützte.Noire und A mhurst sehen jetzt entsetzt, daß ich aus dem nächsten Um -

kreis unseres M eisters komme. Weiter werden sie nicht kommen. Zu sehr istihr okkulter Blick von F urcht und H aß um nebelt. Sie wußten schon von mei-ner Pra ger Rede, in der ich offen auf den M eister hinwies und a uch den letz-ten Erdenn am en nan nte, den er trug. «Les jeux son t faits!» Nun halten siemich für gefährlich. Sie sagten mir ja auf der Hinfahrt manches, wa s man eben

nur verrät, wenn man glaubt, ganz unter sich zu sein. Habe ich den beidenetwas vorgemacht? Ich ließ sie doch nur reden! Einzelheiten nachher.

Nun w ill ich endlich W egeners K uvert erbrechen! Lies und hör m it mir,was es enthält:

«Lieber NN (Ihren diesmaligen Erdenna men kenne ich zum Z ei tpunkt , woich dieses schreibe, ja noch nicht) — das beigelegte Schriftstück kam vor einemJahr in meine Hände. D er Ü berbringer, den ich noch nicht nennen darf, sagte

mir, ich solle es im rechten Au genblicke weiterleiten. Ich würde scho n erken-nen, wann der rechte Augenblick dazu gekommen sei. Daß es jetzt in Ihren

Händ en ruht, mein lieber NN, das beweist, daß dieser A ugenblick tatsächlicheingetreten war. — Ich freue mich auf unser Wiedersehen noch im Sommerdieses Jahres. In Taos, wie Sie bereits selber wissen. Wir werden dafür sorgen,daß d er große, unverbrüchliche Vertrag gehalten wird. Was auf dem H imm-lischen Ko nzil im Au fgange des 13 . Jahrhunderts mit G eisteslettern feierlichbesiegelt wurde, da s wird nu n erfüllt. Das drit te, wichtige Jahrtausen d zubeginnen, dazu werd en wir uns alle treffen. Wir 48 , oder wie ich lieber sage:wir Vier mal Zwölf. Alle werden wir uns wiedersehen! U nd unser aller Mei-ster wird dann unser neues W irken kraftvoll weihen. Als wa hrer «unbeweg-ter Bew eger» w ird er uns die G eisteskraft verleihen, die uns neu vereinenwird. Diese Einheit, die auch F rucht von schmerzerfüllter Zwietracht ist — siewird uns diesmal unbesieglich ma chen.

In alter-neuer We ggenossenschaftIhre treue Alexanderseele.»

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Da s beigefügte Schriftstück, F iona — Du w irst es wohl nicht glauben können

— , ist der Brief, der mir vor meiner Abfahrt in der Neujahrsna cht im Traum er-schienen war. G eschrieben am 2 0. Januar 195 1, in meinem Heim in B eaufort

Gardens.

D ieser Brief enthält den Satz ganz w örtlich: «Im übrigen gedenke ichmeine No tizen am Ende des Jahrhunderts selbst abzuholen.»

Nun ist der Traum zur Wirklichkeit geworden! M it dem Un terschied, daßdie Notizen mich abholen.

D u erinnerst Dich, ich glaubte, ich hätte diesen Brief an meine erste F raugerichtet. Es war ein Irrtum: Ich schrieb ihn an die Toch ter, die ich da malshatte. An d iesem Irrtum siehst Du, daß m an sich bei der Erklärung geistigerErfahrungen gerade insofern recht täuschen kann, als irgendwie Persönliches

im Spiele ist. Ist dieser p artielle Irrtum nicht sehr lehrre ich?F iona! Hä ltst Du es für möglich? Nun ist der Kreis geschlossen, die Vor-

bereitungen getroffen. Im Innern bin ich ruhig und warm und do ch so tief be-wegt.

Nun folgt der letzte kurze Schlaf auf dieser Reise. De n Schluß des ange-fangenen Berichtes morgen in der Frühe. H.

Das Horn der Queen Elizabeth erschallte dreimal mächtig durch die

Dämmerung. Das Meer war ruhig, der Himmel streifenweise zart be-

wölkt. Langsam glitt der Riesendampfer der noch fernen Stadtsilhou-

ette von Manhattan zu — den Sonnenball im Rücken, der sich eben

stumm und doch für Geistesohren laut und dröhnend feuerrot aus

M eeres t iefen ho b.Haro ld Freem an saß am offenen Fenster der Kabine und so g die fr i-

sche M eer luft e in. Das W orld Trade Ce nter nahm Konturen an.Zur linken Ha nd zog still die Freihe itsstatue vo r dem Blick vorüber.

Die ersten Sonnenstrahlen schienen ihre Fackel zu entzünden. Bald

würde auch das Zackenhaupt erleuchtet werden müssen.

Das Frühstück wurde serviert. Freeman glaubte, der Kaffee sei

heute ganz besonders gut. Und auch das Spiegelei, die Brötchenschm eckten ihm vorzüglich. Er aß recht schnell, doch oh ne Has t.

Dann setzte er sich an den kleinen Schreibtisch und beendete den

Briefbericht für Fiona .

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M ontag, den 30. M ärz 1998 , 07 Uhr 05

Fiona!

30 . Mä rz — der letztmalige Todestag des großen M eisters. An diesem Tag be-ginnt ein neues Leben für uns be ide, oder besser: für uns dreie. Ich erlebte

letzte Nacht die Seele dessen, der als unser Sohn geboren werden w ird! Wiefreue ich mich auf das Leben, das wir nun zu dritt in Kü rze führen dürfen.

Ich träumte auch von jener Seele, die den M eister letztes M al um mehr alszwan zig Jahre überlebte. Sie publizierte seinen Nachlaß . Auch sie wird selbst-verständlich mit in Taos sein.

Eben glitt die F reiheitsstatue links am S chiff vorüber, von den ersten S onnen-

strahlen angeleuchtet. Wieder mußte ich an ihren Schöpfer denken, A ugusteBa rtholdi aus dem Elsaß, der die Statue ursprüng lich am Suezkanal zu er-richten hoffte. Veräußerlichtes dekadentes Angeloi-Geschehen steht hinter die-sem F reiheitsbild A merikas. (Von ferne sieht die Fackel mit dem H alter übri-gens gerade w ie ein R iesen-Soft-Ice aus!) Erneut s tand mir das B ild derinnerlichen F reiheitsfackel vor der Seele, wie w ir es ja aus den M oltke-Auf-zeichnungen kennen: der wahre G enius des deutschen Volkes mit der erhobe-nen G eistes-Freiheits-Fa ckel. Diese innere F reiheitsfackel aus d em wahren

Deu tschtum muß der äußerlichen «Tatfreiheit» Amerikas verbunden werd en.Dies wird eine von den Taten sein, die wir 48 zu vollbringen haben — im Geistvon Emerson un d G rimm, von Tennyson und Joach im und aller, die sich ih-nen angeschlossen ha ben. So ist der W ille unseres M eisters, den nun d ie Lei-besaugen bald zum zweiten M ale schauen dürfen.

G esetzt den F all, unser Roman cier hätte sich ans W erk gemacht und nichtschon w ieder aufgegeben: Der Schluß der R eise dürfte ihm nicht wenig Kopf-

zerbrechen machen. Die ganze Reise müß te ja, von ihrem Ende her betrachtet,wie eine kurze Episode w irken. Wie ein Vorspiel neuer W irklichkeiten. Alles«Wissen», das auf dieser R eise und in all den B riefen, die wir tauschten, aus-gebreitet wurde, m üßte sich mit einem M al zusammenrollen wie ein Stück Pa-pyrus — um der w ahren Vita nova Platz zu machen, das mit diesem Tag be-ginnt.

Sind wir denn P apierfiguren? So llte der Vertrag, zu dessen unverbrüchli-

cher Erfüllung w ir erneut gekomm en sind, aus toten Buchstaben bestehen?

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Aus schwarz auf w eiß gedruckten Paragraphen? Nie und nimmer. Ganz imG egenteil: Nun w ird die W elt erleben (und da und do rt ein M ensch verste-hen): D ieser unverbrüchliche Vertrag fußt nicht auf Druckerschwärze, auf P a-

pier, er fußt auf Sternen und P lanetenbahnen. Er hat 48 Paragraphen (u nd ein

Vielfaches an Unterparagraph en) — und diese Paragraphen sind wir selbst mitunserem ganzen W esen, mit unserem ganzen Wirkensstreben. M it diesem hei-ligen Bestreben werden w ir das nächste riesige Jahrtausend in die W ege leiten.Un d zwar in Wege, die begehbar sind. Denn d ie alten Wege end eten im Ab-grund. Wie werden w ir zu Werke gehen? M enschenwürdig, geistgerecht und

weltenzielbewußt.Es kann beginnen!

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Inhalt

I. Ein Neujah rserlebnis in New Y o rk

 

II.Über den Atlantik5III.Freunde in der A lten We lt1

Paris 63, Chartres 103, Nochm als Paris 131,Brüssel 139, Colmar-Odilienberg 176, Basel 204,

Stuttgart 236, Wien 259, Prag 267, We im ar 292,Londo n 318

IV.«Das dritte Jahrtausend zu beginnen ... »29

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«... Und das ist das Ergebnis, welches sich mir aus der Nacht

heraus ergab: Es müßten jetzt Versuche unternommen werden,

in künstlerischer Weise auf die große Prophetie, in deren Zeichen

wir längst stehen und die sich jetzt verwirklicht, hinzudeuten.

Vielleicht romanhaft, Fiona, könnte über «uns» und unser neues

Wirken am Ende des Jahrhunderts etwas Licht verbreitet werden.

Romanhaft zeigen, wie wir nun den unverbrüchlichen Vertrag

erfühlen — es wäre des Versuches wert.

Stell Dir vor, Fiona, jemand würde diese Reise nach Europa, die

Begegnungen, von denen ich Dir schrieb und weiter schreiben

werde, die Berichte, die ich schicke, überhaupt die Briefe, die

wir tauschen usw. usw. romanhaft darzustellen suchen — er hätte

einfach sozusagen diese «Eingebung». Wir werden in den näch-

sten Jahren vielleicht sehen, ob sich jemand fand, um eine solche

künstlerische Möglichkeit auch zu verwirklichen. Es ist ja leider

nicht gerade sehr wahrscheinlich!

Es käme gar nicht darauf an, ob in einer solchen Darstellung auch

alles völlig «realistisch» abläuft, sondern, ob sie so gehalten wäre,

daß etwas von dem Wesen, das uns eignet, und dem Streben,

das uns trägt, darinnen lebt und atmen kann.

Das wäre das Entscheidende! »

Harold Freeman an Fiona