Michael Leisten Augenerkrankungen homöopathisch therapiert ... · Lediglich bei Konjunktivitis von...

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Michael Leisten Augenerkrankungen homöopathisch therapiert – Teil 1 Der Sehfähigkeit kommen wichtige Funktionen im Alltag zu: Sie ermöglicht Kommunikation, hat emotional-ästhetische sowie eine Orientierungs- und Alarmierungsfunktion. Veränderungen der Sehfähigkeit durch Krankheit können somit eine große Bandbreite psychosozialer Konsequenzen nach sich ziehen. Beeinträchtigte Menschen nehmen sich eingeschränkt wahr und fühlen sich unsicher in ihrer Lebensumwelt. Zusätzlich kann sich das Risiko eines Sturzes erhöhen. Mit einer Sehbeeinträchtigung kann auch eine Steigerung der Abhängigkeit der betroffenen Person von anderen verbunden sein. So nimmt z.B. die Fähigkeit ab, Aufgaben des Alltags, wie Einkaufen und Essenszubereitung, alleine bewältigen zu können. Eine Sehbeeinträchtigung kann schließlich auch Alltagsfähigkeiten tangieren, wie Autofahren oder an Freizeitaktivitäten teilzuhaben. Für die soziale Integration und für die Kommunikation ist die Fähigkeit, z.B. Reaktionen des Gegenübers zu sehen und Mimik wahrzunehmen von zentraler Bedeutung. Entsprechend ist plausibel, dass eine Beeinträchtigung des betroffenen sensorischen Systems Kommunikationsprobleme zur Folge haben, die Rückzugstendenzen bewirken können und auch zu emotionalen Beeinträchtigungen führen können wie Einsamkeit, Beunruhigung, Angst und Depression bis hin zur Suizidgefahr. Eine hochgradige Sehstörung oder Blindheit ist ein hartes Los. Lassen Sie uns helfen. Zu Beginn meiner Praxistätigkeit traten Augenerkrankungen selten als alleinige Indikation auf, weshalb Patienten zu mir kamen. Lediglich bei Konjunktivitis von Säuglingen oder Kindern oder im Rahmen von Heuschnupfen mit Augenbeteiligung musste ich mich in die Thematik nebst entsprechenden Rubriken und Materia medica einarbeiten. Dies liegt wohl vor allem daran, dass es einen Facharzt für Augenerkrankungen gibt und dies das Patientenverständnis geprägt hat. Die Sinnesorgane scheinen etwas Eigenes zu sein, sie haben quasi mit dem Internistischen, mit dem Leib nichts zu tun (wohl aber mit dem Gesamtorganismus). Doch mit zunehmender Erfahrung und Erfolgen kam immer wieder die Frage der Patienten an mich heran: Ich habe da einen älteren Verwandten, der hat Glaukom, Katarakt oder Makuladegeneration, bzw. andere schwere Pathologien am Auge. Können Sie da auch was machen? Ja, die Frage stellte ich mir dann auch: Kann die klassische Homöopathie hier etwas bewirken? Ich sah mir die Rubriken an, überlegte, ob man mit organotropen kleinen Mitteln oder lieber mit Polychresten agieren sollte, fragte mich, was die Miasmatik zu dieser Art von Krankheit sagt usw. Dann suchte ich Literatur und stieß auf Bücher wie von Anna M. Zimmermann, Homöopathie der Augenkrankheiten und entdeckte dann das Büchlein von James Compton Burnett, Curabilitiy of Catarct with Medicines, It`s Nature, Causes, Prevention and Treatment in meiner Bibliothek und machte mich an die Arbeit, dieses zu übersetzen. Es ist mittlerweile im Laub-Verlag in dieser Übersetzung erschienen. Nach mehreren Jahren der Erarbeitung dieser Thematik soll dieser Artikel mit zwei Kasuistiken aus der Praxis meine Erfahrungen einer größeren Kollegenschaft als Forschungsgrundlage und Anregung, auch bei diesen Indikationen homöopathisch tätig zu werden, zugänglich gemacht werden. Schwere Augenerkrankungen und Miasmatik Alter wird nur zu oft in der Gesellschaft und in der Medizin gleichgesetzt mit Krankheit, gerade der Krankheiten der Sinnesorgane. Warum ist das so? Im Alter sieht man halt schlecht und man hört halt schlecht, deshalb ist man doch alt. „Was wollen Sie, Frau XY, Sie

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Michael Leisten

Augenerkrankungen homöopathisch therapiert – Teil 1 Der Sehfähigkeit kommen wichtige Funktionen im Alltag zu: Sie ermöglicht Kommunikation, hat emotional-ästhetische sowie eine Orientierungs- und Alarmierungsfunktion. Veränderungen der Sehfähigkeit durch Krankheit können somit eine große Bandbreite psychosozialer Konsequenzen nach sich ziehen. Beeinträchtigte Menschen nehmen sich eingeschränkt wahr und fühlen sich unsicher in ihrer Lebensumwelt. Zusätzlich kann sich das Risiko eines Sturzes erhöhen. Mit einer Sehbeeinträchtigung kann auch eine Steigerung der Abhängigkeit der betroffenen Person von anderen verbunden sein. So nimmt z.B. die Fähigkeit ab, Aufgaben des Alltags, wie Einkaufen und Essenszubereitung, alleine bewältigen zu können. Eine Sehbeeinträchtigung kann schließlich auch Alltagsfähigkeiten tangieren, wie Autofahren oder an Freizeitaktivitäten teilzuhaben. Für die soziale Integration und für die Kommunikation ist die Fähigkeit, z.B. Reaktionen des Gegenübers zu sehen und Mimik wahrzunehmen von zentraler Bedeutung. Entsprechend ist plausibel, dass eine Beeinträchtigung des betroffenen sensorischen Systems Kommunikationsprobleme zur Folge haben, die Rückzugstendenzen bewirken können und auch zu emotionalen Beeinträchtigungen führen können wie Einsamkeit, Beunruhigung, Angst und Depression bis hin zur Suizidgefahr. Eine hochgradige Sehstörung oder Blindheit ist ein hartes Los. Lassen Sie uns helfen. Zu Beginn meiner Praxistätigkeit traten Augenerkrankungen selten als alleinige Indikation auf, weshalb Patienten zu mir kamen. Lediglich bei Konjunktivitis von Säuglingen oder Kindern oder im Rahmen von Heuschnupfen mit Augenbeteiligung musste ich mich in die Thematik nebst entsprechenden Rubriken und Materia medica einarbeiten. Dies liegt wohl vor allem daran, dass es einen Facharzt für Augenerkrankungen gibt und dies das Patientenverständnis geprägt hat. Die Sinnesorgane scheinen etwas Eigenes zu sein, sie haben quasi mit dem Internistischen, mit dem Leib nichts zu tun (wohl aber mit dem Gesamtorganismus). Doch mit zunehmender Erfahrung und Erfolgen kam immer wieder die Frage der Patienten an mich heran: Ich habe da einen älteren Verwandten, der hat Glaukom, Katarakt oder Makuladegeneration, bzw. andere schwere Pathologien am Auge. Können Sie da auch was machen? Ja, die Frage stellte ich mir dann auch: Kann die klassische Homöopathie hier etwas bewirken? Ich sah mir die Rubriken an, überlegte, ob man mit organotropen kleinen Mitteln oder lieber mit Polychresten agieren sollte, fragte mich, was die Miasmatik zu dieser Art von Krankheit sagt usw. Dann suchte ich Literatur und stieß auf Bücher wie von Anna M. Zimmermann, Homöopathie der Augenkrankheiten und entdeckte dann das Büchlein von James Compton Burnett, Curabilitiy of Catarct with Medicines, It`s Nature, Causes, Prevention and Treatment in meiner Bibliothek und machte mich an die Arbeit, dieses zu übersetzen. Es ist mittlerweile im Laub-Verlag in dieser Übersetzung erschienen. Nach mehreren Jahren der Erarbeitung dieser Thematik soll dieser Artikel mit zwei Kasuistiken aus der Praxis meine Erfahrungen einer größeren Kollegenschaft als Forschungsgrundlage und Anregung, auch bei diesen Indikationen homöopathisch tätig zu werden, zugänglich gemacht werden.

Schwere Augenerkrankungen und Miasmatik Alter wird nur zu oft in der Gesellschaft und in der Medizin gleichgesetzt mit Krankheit, gerade der Krankheiten der Sinnesorgane. Warum ist das so? Im Alter sieht man halt schlecht und man hört halt schlecht, deshalb ist man doch alt. „Was wollen Sie, Frau XY, Sie

sind halt alt, da hat man halt Krankheiten, das ist eben so.“ So hören es häufig meine Patienten beim Facharzt. Aber gibt es nicht Menschen, die trotz fortgeschrittenem Alter noch keine Brille oder noch kein Hörgerät benötigen? Ein gesunder bzw. gesundeter Organismus hat mit zunehmendem Alter vielleicht eine Schwäche in dem Bereich, aber nicht automatisch eine Krankheit. Also Alter heißt nicht automatisch Alterserkrankung der Sinnesorgane. Wenn die Augen im Alter mit der Ausformung schwerer pathologischer Veränderungen geschlagen sind, die sogar zur Erblindung führen können, greift meiner Einschätzung nach folgender Mechanismus: Die Evolution hat seit Jahrtausenden eine genaue Reihenfolge der Wichtigkeit von funktionierenden Organsystemen herausgefunden. Priorität dabei ist, möglichst lange der immanenten Krankheitstendenz (= hereditäre miasmatische Belastung, genetische Disposition) eines Organismus Einhalt zu gebieten bzw. dem Krankwerden in uns Widerstand zu leisten (= Resilienz). Ist dies mit zunehmendem Alter bzw. zunehmenden erworbenen Störungen und Belastungen und dadurch nachlassender Lebenskraft nicht mehr möglich, so wird der Krankheitstendenz ein Organbereich zugewiesen, dessen gestörte Funktion das Überleben in der jeweiligen Umwelt noch ermöglicht. Das heißt, die Sinnesorgane und somit die Augen sind in der Überlebenshierarchie sehr weit oben und werden erst dann der Krankheitstendenz geopfert, wenn es nicht mehr anders geht. Dies führt eben zu einer späten Affizierung der Augen durch Krankheit, da die Lebenskraft diese Systemeinheit schützt. Diese Erkrankungen präsentieren sich dann häufig als symptomarme Fälle (= einseitige Krankheiten, § 172), da die Einbuße der Sehkraft als pathognomonisch zu werten ist. Das einzige charakteristische Symptom der Augenerkrankung ist der zunehmende Verlust des Sehvermögens, auf dem Boden verschiedenster Grunderkrankungen Andererseits strotzen diese Patienten vor Symptomen und Beschwerden, da sich bereits viele Lokalübel und Entlastungsübel in diesem Organismus ausgeformt haben. Man sieht gerade als noch nicht so erfahrener Homöotherapeut den Wald vor lauter Bäumen nicht. Es sind solche Fälle also häufig im Vokabular der homöopathischen Krankheitslehre sogenannte inkohärente Fälle, bzw. Fälle mit mehreren unähnlichen Krankheiten, die einer sehr genauen Fallanalyse bedürfen. Wir lehren in unserer Akademie hierzu folgende Punkte:

Fallanalyse (Methner / Leisten): Bei der Fallanalyse sollten die Zeichen und Symptome des Patienten unter mindestens 6 Blickwinkeln analysiert werden:

Causa Miasmen - Impfungen a) Familie (Primärmiasmatik) - Unterdrückung b) Patient (Sekundärmiasmatik) - psychische o. mechanische Traumen c) welches Miasma z. Zt. aktiv? - Arzneikrankheit - Infektionskrankheiten - (Lebensweise, etc.)

Zeichen Klinik / Pathologie gebeugte Haltung

Röte der Wangen 0 (körperliche) Psyche Symptome a) krankhaft verändert

I) Allgemeinsymptome b) intensiv II) Lokalsymptome c) charakteristisch für ein Mittel d) Grundkonflikt / Essenz / Wahnidee etc. a) § 153: ungewöhnliche b) intensive c) charakteristisch für ein Mittel

Des Weiteren sind diese Patienten oft von schlechter Grundkonstitution, haben häufig Unterdrückungen hinter sich und sind auf viele allopathische Medikamente eingestellt, wenn sie zu uns in die Praxis kommen. Zudem besteht noch wenig Erfahrung mit der homöopathischen Behandlung und dadurch fällt ein hoher Beratungsaufwand an, damit der Patient den therapeutischen Weg durchhält und mitgeht. Hahnemann schreibt zu der Behandlung solcher Fälle im § 171 Organon: „In den unvenerischen, folglich am gewöhnlichsten, aus Psora entstandenen, chronischen Krankheiten, bedarf man zur Heilung oft mehrer, nach einander anzuwendender, antipsorischer Heilmittel, doch so, daß jedes folgende dem Befunde der, nach gebliebenen Symptomen-Gruppe gemäß, homöopathisch gewählt werde“ (S. Hahnemann, Organon der Heilkunst, 6.Auflage, S. 187). Dies ist auch meine Erfahrung, es zeigen sich mehrere Homöopathika und mit jeder passend gegebenen Arznei und deren Wirkungsphase wird die Pathologie ein Stück besser. Ich erlebe diese Art von Krankheiten oft mehrmiasmatisch, habe jedoch zunehmend Schwierigkeiten mit der Miasmenlehre und deren Vokabular, wie auch mit der Zuordnung der Symptome und Zeichen des Patienten zu einem der Miasmen. Die Prinzipien, die Hahnemann herausgefunden hat, sind zeitlos und bleiben, aber eine (Miasmen-)Lehre muss immer geprüft werden, denn sie ist zeitgebunden. Bei der Behandlung schwerer Augenerkrankungen benötigte ich bisher meist große Antipsorika, Polychreste. Es gilt auch hier, mit bewährten Mitteln und guten Rubriken sauber zu arbeiten. Burnett schreibt über den miasmatischen Hintergrund bei Augenerkrankungen wie Katarakt: „Der Ausdruck Psora bedeutet unterschiedliche Dinge für unterschiedliche Geister. In Hahnemanns historisch-pathologischen Fallstudien spielt sie eine äußerst wichtige Rolle. Ihre richtige Würdigung ist hier von größter Bedeutung und unermesslichem Rang. Psora drückt vielleicht keine absolute Wahrheit aus, aber sie ist von extremem praktischem Wert. Die Schleimhaut in ihrer Gesamtheit und die allgemeine Bedeckung muss als homolog angesehen werden; was heute auf einer ist, kann morgen auf der anderen erscheinen und umgekehrt. Metastasen von einem zum anderen sind sehr häufig. Beides sind dermoid-epitheliale Strukturen; und für mich bedeutet Psora eine konstitutionelle Krise, die sich als Disorganisation eines oder mehrerer Teile dieser homologen Strukturen manifestiert, wobei wir durchaus ein Jucken haben können, wenn er auf der Außenseite liegt. Wir haben gesehen, dass die Linse eine differenzierte Haut ist, eine dermoid-epitheliale Struktur; und daher kann Grauer Star als metastatischer oder primitiver psorischer Ausdruck aufgefasst werden. Dies ist nach meinem Verständnis die Hahnemann’sche Pathologie und Etiologie des Grauen Stars. Auf dieser Ebene ist Grauer Star mit Arzneimitteln heilbar.“

(J. Burnett, Heilbarkeit von Katarakt mit Arzneien, S. 36)

Prognose Die Prognose ist aus den oben genannten Gründen eher nicht so gut, denn die Erkrankung bleibt oft hartnäckig bestehen bzw. schreitet voran, auch brechen immer wieder mal die Patienten die Therapie ab, selbst bei passender Medikation. Es ist nicht so leicht, wie es klingt z.B. "eine Psora auszurotten“.

Fallbeispiel Augenerkrankungen Makuladegeneration

Die funktionelle Mitte der Netzhaut wird üblicherweise als Makula bezeichnet. Sie ist das innerste Drittel der Netzhautgrube und ist für die höchste Sehschärfe innerhalb der Netzhaut zuständig. In ihrer Mitte befindet sich das Sehgrübchen, die sogenannte Foveola, sie ist der empfindlichste Teil der Makula mit rund 30.000 Sehzellen (Zapfen), die über einzelne Nervenzellen direkt mit dem Gehirn verschaltet sind. Die Makula ist zuständig für das direkte Fixieren (Anblicken) eines Objektes. Dieses Fixieren ist notwendig, um mit hoher Sehschärfe feine Einzelheiten erkennen zu können. Ganz besonders trifft dies natürlich auf das Lesen zu und auf das Erkennen von Gesichtern bzw. deren Mimik. Die Funktion der Makula ist umso bedeutsamer, weil gerade über die Zusammenarbeit der beiden Makulabereiche von rechtem und linkem Auge ein stereoskopisches (räumliches) Bild im Gehirn entsteht. Das erst erlaubt uns ein recht genaues Abschätzen von Distanzen, wie es beispielsweise beim Autofahren zum Erkennen von Entfernungen und Geschwindigkeiten sehr wichtig ist. Dies macht eine Makuladegeneration auch so gefährlich für den Betroffenen.

Fall: 79-jährige Frau mit Makuladegeneration und beidseitigem Katarakt

Im Januar 2009 kommt eine 79-jährige Dame aus dem Schwäbischen durch ihre Tochter, die bei mir in Behandlung ist, zur Erstanamnese in die Praxis. Sie war Pflegerin, später im Schuhgeschäft des Mannes beschäftigt (Chemikalien), jetzt Rentnerin.

Spontanbericht der Patientin: Vor vier Jahren begann es, dass sie auf beiden Augen schlecht gesehen hat, undeutlich. Durch die Universitätsklinik wurde mittels Kontrastmitteluntersuchung die Diagnose Makuladegeneration (trocken) gestellt. Der Befund sei erschwert durch den beidseitigen Katarakt. Deshalb wurde der Patientin zur Katarakt-Operation geraten, die dann auch rechts durchgeführt wurde. Seitdem sieht sie auf dem rechten Auge neblig, verschwommen, sieht helle Blitze rechts außen. Die Menschen haben dunkle Gesichter, sie sieht auch die Buchstaben in der Zeitung manchmal falsch. Die angeratene Operation des Katarakts des linken Auges lehnt sie wegen der schlechten Erfahrung der letzten OP ab.

Die Patientin war in dieser Phase der Anamnese höchst erregt, jammerte und weinte. Sie weinte wegen der Verschlimmerung durch den Eingriff, dass durch die Operation genau das

Gegenteil eingetreten ist. Sie sagte: „Ich kann es nicht annehmen, dass ich nichts mehr sehen können soll, wie mir die Ärzte vorsagen“.

Hinzu kam in letzter Zeit ein sich erhöhender Augeninnendruck (beginnendes Glaukom). Die Untersuchung würde aber von der Kasse bei ihr nicht mehr bezahlt.

Drei Wochen nach der Operation hatte sie eine große Aufregung wegen ihres Mannes, der eine akute Einblutung ins linke Auge erlitt. Da hatte sie einen kurzen Bewusstseinsausfall in der Apotheke, mit einem Linksdrall sei sie gefallen.

Ebenfalls seit der Zeit schmerzt die rechte Schläfe. Es ist eine leichte Gefäßerweiterung festzustellen (s. Foto), die aber nicht in direkter Verbindung mit den Schmerzen steht. Zahnschmerzen bestehen ebenso seitdem im rechten Oberkiefer.

Untersuchung, Aspekt und Eindruck:

Die Patientin ist adipös und hat deutlichen Haarausfall (s. Foto). In der Erregung hatte sie ein hochrotes Gesicht. Sie ist weinerlich, redselig und schweift im Erzählen immer wieder ab.

Die Untersuchung ergibt eine ziehende Einatmung, strohige Haare, juckende Verrucae seborroicae seit vielen Jahren auf dem Rücken (wurden entfernt, kamen wieder und jucken seitdem nicht mehr), vier gestielte Wärzchen links am Hals.

Gelenkter Bericht: Das Blickfeld rechts ist mittig dunkel, aber am Rande sieht sie noch scharf, die Blitze erscheinen bis zu ca. 15 Mal am Tag1. Der Schläfenschmerz ist stechend. Auf dem linken Auge sieht sie nicht verschwommen, sondern eher unscharf. Das rechte Auge sondert außen Tränenflüssigkeit ab, an manchen Tagen juckt es im rechten Auge (ca. alle 3-4 Tage). Sie sieht rechts Worte beim Lesen doppelt nebeneinander stehen. In letzter Zeit hat sie vermehrt Kopfschmerzen von der Stirn in den Nacken sich erstreckend (wohl durch die Augenanstrengung beim Lesen), seit vier Jahren bekommt sie häufig Herpes labialis an den Lippen. Die Zahnschmerzen gibt sie an mit einer Intensität von 3-4 auf der 0-10er Schmerzskala an.

Allgemeinsymptome:

Sie sei klug (der Lehrer hätte sie in der Schule früher aufgefordert, ihre Mitschüler zu unterrichten). Ansonsten sei sie fröhlich und gesellig gewesen, ziehe sich aber immer mehr zurück. In letzter Zeit bekomme sie häufiger Streit mit ihrem Mann, da er sich nicht auf ihre Erkrankung einstellen würde („Na, lies doch selbst!“).

Sie ist eher warm (1), brauchte sonst weniger Schlaf, mittlerweile mehr (1), schwitzt eher schnell.

Kopf-zu-Fuß-Befragung: Gerstenkörner selten (1)

Hypertonie (170/100 mmHg)

1 An dieser Stelle möchte ich die Kollegen dafür sensibilisieren, dass Sie versuchen, alle möglichen Phänomene des Patienten in der aktuellen Krankheitsdynamik zu objektivieren, d.h. wie oft bzw. wie stark usw. treten diese Beschwerden auf, da gerade in der prozesshaften Besserung einer chronischen Beschwerde die Patienten häufig in der Folgeanamnese auf die Frage wie es denn ginge, antworten: nicht besser, wobei es nur zu oft doch schon schleichend besser, aber eben noch nicht weg ist. Das könnte hier zum Beispiel sein, dass die Patientin irgendwann nur noch 7 x täglich die Blitze sieht, was für eine deutliche Wirkung des Medikaments spräche, obwohl die Beschwerde noch nicht verschwunden ist. Achten Sie auf die Objektivierung der Kontrollkriterien!

Schon mal als junge Frau Schwindel gehabt (1)

Kropf-Operation im 68. LJ

Seit einem Bandscheibenvorfall ist der komplette linke Vorderfuß taub, bis zum Fußrücken, der Fuß kann nicht gut angehoben werden. Dadurch ist sie einmal „hängengeblieben“ und hingefallen mit Sehnenanriss der rechten Schulter, der heute noch Probleme macht.

Schlaf ist in letzter Zeit schlecht. Auf Nachfrage: Kann nicht einschlafen durch die Gedanken, Sorgen und den Kummer.

Stumme Nierenzyste links bekannt

Pockenimpfung u.a.: nichts bekannt

Keine großen Wechseljahresbeschwerden

Zeitchronologie: Ca. 4. LJ: Masern

10. LJ: Tragischer Tod der Mutter durch Falschbehandlung der Dorfschwester (wurde von Arzt angezeigt) -> akute Otitis -> Überwärmungsbad -> Meningitis (†)

19. LJ: Tonsillektomie

20. LJ: Appendektomie (wohl Reizung)

24. LJ: Geburt des einzigen Kindes, Mutter hatte bei der Entbindung einen tetanischen Krampf, Arzt spritzte Kalzium (Notfall-Situation)

54. LJ: schlimm von Hund (Dogge) gebissen worden, gerettet vom eigenen Hund

65. LJ: schleichende Hypertonie

68. LJ: Struma-OP

69. LJ: Bandscheibenprolaps, linksseitig

78. LJ: beginnendes Glaukom, beidseitig

79. LJ: Katarakt-OP mit Verschlechterung des Sehbefundes

Psyche:

Wache Person, redet viel, kontaktfreudig, macht sich Sorgen um die einzige Tochter, da schwierige berufliche Situation und keine Beziehung mit 49 Jahren.

Als Kind von Bruder bei Knecht Ruprecht in den Sack gesteckt, vorher hatte sie sich versteckt, weil sie Angst hatte. Später viele Nächte davon geträumt.

Erworbene Furcht vor Hunden. Sehr nahe den Tränen seit der Operation, traurig und erregt.

Objektiv (mein Eindruck):

Aufgewühlt, in emotional schwieriger Lage, da sie die Stütze von Tochter und Mann ist. Erregte Röte im Gesicht, wenn sie die Tränen zuließ. Klug (schätzt mich und meine Kompetenz ein).

Aktuelle Medikamente: Aprovel® 150 mg (Angiotensin-II-Rezeptorantagonist) (Hypertonie)

L-Thyroxin® 100 mg

Ocuvite (Fettsäuren, Vitamine usw. zur diätischen Behandlung bei degenerativen Augenerkrankungen)

Lipopharm® (Hypercholesterinämie)

Erkrankungen der Familie: Mutter und deren zwei Schwestern hatten Augenprobleme

Tod der Mutter durch Meningitis

Vater: Rippenfellentzündung, Bluthochdruck, Gallensteine, Schlaganfall (†)

Kontrollkriterien: · Aufgewühlt, weinerlich, voller Kummer · Schlechter Schlaf durch Gedankenandrang · Blickfeld rechts ist mittig dunkel · Blitzesehen bis zu ca. 15 Mal am Tag · Schläfenschmerz stechend · Auf dem linken Auge sieht sie unscharf · Tränenfluss rechtes Auge · Jucken im rechten Auge (alle 3-4 Tage) · Sieht rechts Worte beim Lesen doppelt nebeneinander stehen · In letzter Zeit vermehrt Kopfschmerzen von Stirn in den Nacken erstreckend · Herpes labialis an den Lippen · Zahnschmerzen

(Bilder mit Genehmigung der Patientin)

Analyse, Repertorisation und Verordnung Wie so einen Fall angehen? Man sieht manchmal schwerlich den Wald vor lauter Bäumen. Den Blick in den Gantenbein oder in andere miasmatische Zuordnungswerke verkneife ich mir bei so komplexen Indikationen mittlerweile, denn ich weiß, dass hier jedes Miasma aufgeführt ist als möglicher Motor dieses Krankheitsprozesses. Vor noch nicht allzu langer Zeit hätte ich wohl hier von einem tuberkulinischen Fall gesprochen, wenn ich die miasmatischen Symptome aufaddiert hätte. Mittlerweile und momentan spreche ich hier am ehesten von Psora, da ich hier von einer komplexen, wohl doch eher vererbten Krankheitsdisposition auszugehen habe und da Noxen als erworbene Ursache eigentlich auszuschließen sind. Zudem sind die „Antipsorika“ eben tief und systemisch wirkende Homöopathika und ich benötige reale, geprüfte Mittel, wenn ich hier eine Chance haben will.

Eine klinische Rubrik „Makuladegeneration“ gibt es nicht und wäre eh kaum hilfreich, da wir auf die Phänomene achten, nicht auf die Klinik. Als „Kunstgriff“ wäre es möglich, eine kombinierte Rubrik zu schaffen und diese evtl. als Kontrollmoment zum Schluss der Repertorisation darunter zu legen um die (begrenzten) klinischen Erfahrungen der Altvorderen mit einzubeziehen. Dies wurde hier aber von mir bei meinem Falleinstieg nicht in Erwägung gezogen. Bei Katarakt und Glaukom mache ich dies ganz gern, da die Rubriken durch ihre Anzahl der Mittel in der Repertorisation eh sich nur als Kontrollrubrik auswirken. Ich habe hier die drei Rubriken die mit der Makula etwas zu tun haben über die Möglichkeit in Radar eine kompinierte Rubrik zu erstellen.

1 1234 1 Auge - Atrophie - Chorioidea 3 2 1234 1 Auge - Atrophie - Chorioidea - Stellen; an einzelnen 25 3 1234 1 Auge - Entzündung - Chorioidea 46

nux-v. phos. kali-i. aur. crot-h. gels. lach. sil. sulph. verat-v.

3/4 3/4 2/5 2/3 2/3 2/3 2/3 2/3 2/3 2/3

1 1 1 - - - - - - - -

2 1 2 3 1 2 1 2 1 1 2

3 2 1 2 2 1 2 1 2 2 1

1 1234 1 Auge - Entzündung - Chorioidea usw... 61 bry. kali-i. ars. aur. bell. calc-f. carbn-s. cedr. coloc. crot-h.

1/3 1/3 1/2 1/2 1/2 1/2 1/2 1/2 1/2 1/2

1 3 3 2 2 2 2 2 2 2 2 Meine Überlegungen kreisten eher darum, ob ich mit der letzten Causa „Folge von Operation“ und den seitdem bestehenden Symptomen beginnen sollte, denn es wäre ja der letzte miasmatische Moment und die Patientin benutzte in der Anamnese diese Worte, auf die ich sehr hellhörig bin, wenn es darum geht eine Causa im Fall zu entdecken: „Seitdem …“2. Hier ist es zwar so, dass sie sagt, seit der OP sei der Augenbefund schlechter. Doch ich denke, der Befund ist zwar neu verschlechtert, aber eben nicht ganz neu, wie es bei einer Causa der Fall sein sollte. Aber ob durch die OP ausgelöst oder nicht ist hier nicht ganz so entscheidend, denn von Ursachen im üblichen Sinne des Wortes in der Homöopathie zu sprechen, ist streng genommen von vorneherein falsch. In der Homöopathie interessiert der Begriff der Causa bzw. die Frage nach dem Weshalb ausschließlich im Sinne von Auslöser. Äußere Ursachen nenne ich Gelegenheitsursachen. Zu ihnen zählen Verletzungen, Quetschungen, Verrenkungen, Vergiftungen, Arzneikrankheiten etc. Es sei hier darauf hingewiesen, dass man einen großen Fehler begeht, wenn man der Causa mehr Wert beimisst als dem Effekt! Dasjenige Mittel, das der Causa des Falles entspricht, darf selbstverständlich den wichtigeren Modalitäten der Krankheit nicht widersprechen. Letztlich ist es nicht ausschlaggebend, ob eine sensationelle Ursache vorliegt, sondern vielmehr, ob ihre Effekte bereits in den Arzneimittelprüfungen erhoben beziehungsweise bei klinischen Anwendungen erfahren wurden.

2 Viele unähnliche Zustände konnte ich schon richtig zuordnen und ein passenderes Simile finden durch das Achten auf die Formulierungen der Patienten, wenn sie auf meine Frage nach dem Warum der Krankheit antworteten mit: „Seitdem, dadurch, ist bis heute“ etc.

Aus all diesen Überlegungen lasse ich also die Rubrik „Folge von Operation“ weg und arbeite mit der Strategie Hahnemanns, der Totalität der aktuellen Symptome. Eine weitere Überlegung für den Fallbeginn entstand aus der aktuellen Verfassung der Patientin. Sie weinte, war verzweifelt und voller Kummer über ihr schwindendes Augenlicht und den sich daraus ergebenden Verlust von Autonomie und Lebensqualität. Eine solche Situation ist selbst nach all den Jahren meiner Praxistätigkeit immer noch etwas, das mich trifft, berührt und (auch wenn ich weiß, dass ich es zulassen, ja, aushalten muss) nach wie vor nicht einfach. „Herr Leisten, Sie helfen mir doch? Sie sind meine letzte Hoffnung“ usw. Dies berührt mich an den tiefen Schichten meines Antriebs, warum ich klassisch homöopathisch arbeitender Therapeut geworden bin und weckt in mir den Reflex, helfen zu wollen, sprich schnell ein Kummermittel zu geben, wie zum Beispiel Ignatia.

1 1234 1 Gemüt - Beschwerden durch - Kummer 94 2 1234 1 Gemüt - Weinen - Erzählen; beim - Krankheit; von der eigenen 19 3 1234 1 Gemüt - Verzweiflung 249

ign. nat-m. puls. sep. graph. staph. bry. carc. kali-c. nit-ac.

3/8 3/8 3/7 3/7 3/6 3/6 3/4 3/4 3/4 3/4

1 4 4 2 2 2 3 2 1 1 1

2 1 1 3 3 2 1 1 1 2 1

3 3 3 2 2 2 2 1 2 1 2

Da ich viele schwerkranke Patienten behandle und betreue, habe ich oft erlebt, dass der zuletzt aufgrund der Krankheit und deren Entwicklung entstandene Kummer oft als allerletztes obenauf liegt und eben gut auf ein darauf verschriebenes Mittel in einer Gabe C 30 anspricht und die Patienten wieder gefasster und emotional ausgeglichener werden. Hahnemann ist der Auffassung, dass „Gram und Verdruß" „die häufigste Aufregung der schlummernden Psora zu chronischer Krankheit, so wie die häufigste Verschlimmerung schon vorhandener chronischer Uebel im Menschen-Leben" darstellt (CK, S. 140). „Ununterbrochener Kummer oder Aergerniß" führt „zum Ausbruche aller erdenklichen chronischen Leiden". Hahnemann vertritt mit diesem Standpunkt einen systemischen Ansatz. Solange sich das kranke System nicht ändert, glaubt er nicht an die Heilungschance eines Systemelementes. Ich widerstand diesem Vorhaben jedoch, im Wissen, dass ich eben aufgrund von allzu großer Empathie eine Übertragung bei mir erlebte und ich in der Phase der Mittelfindung in der notwendigen Distanz des Therapeuten bleiben musste. Später habe ich durch Sprache und Geste mein Mitgefühl (kein Mitleid!) und mein Verständnis ausgedrückt. Wie sich später zeigte, war es richtig, kein Kummermittel akut zu geben, denn die systemische Verordnung deckte es ab. Also nahm ich die aktuelle Verfassung des Geistes- und Gemütsbereichs der Patientin im Sinne Hahnemanns als den wichtigen, aber nicht wie nach Kent den „allerwichtigsten“ Quell von Symptomen in meine Repertorisation mit auf. Insgesamt sei noch Folgendes zu unserem Fall zu sagen: Als zusätzliche Causa und zugleich erworbenes Trauma, das irgendwann vielleicht als „Luxus-Problem“, wenn alles viel besser ist, beseitigt werden kann, ist die erworbene Furcht vor Hunden anzusehen. Da dies aber nicht als krankheitsunterhaltend anzusehen ist, ist es zur Mittelwahl momentan zu ignorieren. Die historische Episode mit den Kissen und den Brüdern (Erstickungsangst) hat das Unterbewußtsein in den Nächten wohl auf- und verarbeitet. Falls es doch noch ein Thema sein sollte für die Patientin, wird es sich uns

erfahrungsgemäß im Rahmen der zunehmenden Gesundung der Patientin erneut zeigen. Von den miasmatischen Momenten, die ich in der Praxis als wirklich relevant und auch als krankheitsunterhaltend oder –verstärkend erlebe, sehe ich hier aktuell nichts. Es ist eben kein Strang erworbener Sykose mit Genitalmykose nach Beginn der Geschlechtsphase, mit Zystitis und Verruca filiformis bzw. Verruca vulgaris usw. feststellbar. Auch eine Amalganose oder Vakzinose wurde sowohl über zeitliche Vergleiche der Impftermine und die Frage nach evtl. Reaktionen weitgehend ausgeschlossen. Wir haben kein § 153er Symptom, wobei die Blitze mir gut gefallen. Wir haben aber Hauptbeschwerden (Auge, sehen) und Nebenbeschwerden (Gemüt, Kopfschmerzen) sowie ein Zeichen (Röte im Gesicht bei Erregung). Also wenden wir uns den Symptomen der aktuellen Totalität zu:

1 1234 1 Sehen - Blitze 31 2 1234 1 Sehen - Verschwommen 117 3 1234 1 Sehen - Nebelig 199 4 1234 1 Kopf - Schmerz - stechend 206 5 1234 1 Schlaf - Schlaflosigkeit - Gedanken - Gedankenandrang, durch 130 6 1234 1 Gesicht - Farbe - rot - Erregung, bei 33 7 1234 1 Gemüt - Verzweiflung 249 8 1234 1 Gemüt - Weinen - Erzählen; beim - Krankheit; von der eigenen 19

puls. sep. sil. sulph. nat-m. kali-c. ign. phos. bell. dulc.

7/18 7/13 7/11 6/14 6/13 6/12 6/10 6/10 6/9 6/9

1 2 1 2 2 - 2 - 2 2 -

2 - - 1 - 3 - - 1 1 1

3 3 2 2 3 2 2 2 3 2 2

4 3 2 2 3 2 3 2 2 2 1

5 3 2 2 2 2 2 1 - 1 1

6 2 1 - 1 - - 1 1 - -

7 2 2 1 3 3 1 3 1 1 3

8 3 3 1 - 1 2 1 - - 1 Abgebildet sind als erstes die Rubriken der Hauptbeschwerde (Blitze, verschwommen sehen, neblig), dann die Rubriken der Nebenbeschwerden, die hochwertig zählen (Kopfschmerz stechend, Schlaflosigkeit durch Gedankenandrang, Gesichtsfarbe rot) und dann die ausschlaggebenden Gemütssymptome (Verzweiflung, Weinen).

Materia Medica – Diskussion: Es zeigt sich für mich bis zum 8. Mittel ein sinnvolles Angebot der Repertorisation: Phosphorus hat lediglich den Gedankenandrang nicht, was angesichts dessen, dass dies bei Kranken häufig vorkommt, nicht so schwer wiegt. Ausschlaggebender hingegen finde ich, dass es im letzten Symptom nicht vorkommt. Allerdings ist aus meiner Erfahrung heraus Phos. aber ein immer zu bedenkendes Polychrest bei Augenerkrankungen, zumal, wenn wir die klinischen Rubriken der zwei weiteren Augen-Grunderkrankungen (Katarakt, Glaukom)

uns dazu vorstellen würden. Aber wenn ich an die Organregionen im Sinne Bogers denke, fehlt mir der Bezug zum Blut, zum Knochen. Denke ich an das Charakteristische der nordamerikanischen Materia medica, fehlt mir das Bluten, fehlen die Atemwegserkrankungen und auch die Neigung zu Ängsten, Befürchtungen usw. Burnett weist darauf hin, dass Phos. bei Augenerkrankungen ein Sehen von einem Lichthof um die Kerze herum hat, schwarze Flecken sieht bzw. eine Aversion gegen Licht hat, was die Patientin nicht schildert. Nein, Phos. will ich nicht aus den Augen verlieren im wahrsten Sinn des Wortes, aber zu diesem Zeitpunkt nicht auswählen. Ignatia würde sich ja von der emotionalen Verfassung der Patientin aufdrängen, wie ausgeführt, aber schauen wir genauer hin: Ignatia hat sowohl in der Prüfung als auch am Krankenbett kein Blitze-Sehen hervorgebracht oder geheilt. Also keinen Bezug zu dem Symptom, das ich so wichtig für mich angesetzt habe. Zudem habe ich keine seufzende, hysterische Patientin vor mir. Nein, das ist mir zu wenig. Kalium carbonicum lässt mich immer vorsichtig sein, denn es ist eines der Mittel, das ich nicht so gut verstehe, aber das ist mir bewusst und ich weiß, dass ich dies wohl eher zu selten verschreibe. Also gehe ich hier noch sorgsamer damit um, um es nicht zu früh zu verwerfen und schaue immer genauer hin. Also: Kali-c. finden wir bei dem verschwommenen Sehen nicht, aber die Rubrik weist 117 Mittel auf (ist also eigentlich von der Gewichtung her nur eine Kontrollrubrik) und in der Rubrik des Blitze-Sehens ist es zweiwertig. Dass es die Röte des Gesichts bei Erregung in der Repertorisation nicht abdeckt, will auch nicht viel heißen, denn bei Gesicht - Farbe - rot ist es einwertig aufgeführt. Ich schaue in die Materia medica, um größere Sicherheit zu erlangen: Bei Hering finde ich bei Augen zwar das neblige Sehen, aber mehr durch die bekannte und in der Praxis wirklich erlebbare Ödembildung um die Augen. Nein, die Wirkrichtung ist hier eher eine andere. Zudem bestätigt die Beschäftigung mit von der Lippe (Grundzüge und charakteristische Symptome der homöopathischen Materia Medica), dass hier nicht Rückenschmerzen, Trockenheit der Haut oder Schreck bei Berührung usw. das Charakteristische dieser Krankheitslage ausmachen. Burnett hat wohl bei Kali carb schwache Sicht erlebt, Tränen, Helle Funken, blaue oder grüne Flecken vor den Augen, aber das liegt nicht an. Natrium muriaticum habe ich oft schon über die Windempfindlichkeit mit Tränenfluss, durch Absonderungen aus dem Auge sowie bei Augenschmerzen gut zuordnen können. Insgesamt erlebe ich bei Nat-m. als Konstitutionsmittel häufig einen Hintergrund von Allergie, Heuschnupfen oder auch Schilddrüsen-Erkrankungen. Den stillen Kummer nach einer großen emotionalen Verletzung, wie wir es immer wieder in der Praxis erfolgreich zuordnen können, liegt hier ebenfalls nicht vor. Nein, Nat-m. ziehe ich nicht in Erwägung zu diesem Zeitpunkt. Auch Burnetts Erfahrungen decken sich nicht, denn er schreibt bei Nat-m.: „Unstetes Sehen; Gegenstände werden undeutlich. Düstere Sicht, als ob man durch Gaze oder Federn schaut; Gegenstände scheinen mit einem dünnen Schleier verdeckt. Sieht nur die Hälfte eines Gegenstandes. Feuriges Zickzack erscheint rund um alle Dinge. Beim Lesen oder Schreiben versagen die Augen. Schmerzen in und über den Augen, die mit der Sonne kommen und gehen. Tränenfluss an frischer Luft.“ Sulfur findet man bei dem verschwommenen Sehen nicht, was mich etwas verwundert, da Sulfur ja quasi in jeder Rubrik vorkommt. Dafür 2–wertig bei dem Blitze-Sehen und, dass es ein großes Antipsorikum ist, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Auch, dass wir es in der Rubrik „Weinen bei Erregung“ nicht finden, wäre mir nicht so wichtig, wenn wesentliche bzw. charakteristische Symptome wie Brennen der Augen, Schweiß, übelriechende Absonderungen bzw. eine Haut-Geschichte vorliegen würden - dem ist aber nicht so. Nachdem es ein Hauptmittel von Unterdrückung und Folge von Impfung ist, läuft es bei mir als Option unterschwellig immer mit. Auch Burnetts Symptom für Sulfur und Auge zeigt den anderen Schwerpunkt dieser Störung an: Brennendes, schmerzendes Gefühl in den Augen – verdunkelte Sicht – ätzende Tränen. Sulfur ist gerade wohl nicht indiziert. Silicea als multimiasmatisches Mittel: Es fehlen wohl die Leitsymptome (eitrige Absonderungen, Fußschweiß etc.), aber trotzdem deckt es alles Wichtige ab und ist für mich hier durchaus in Erwägung zu ziehen. Zumal Burnett aus seiner Erfahrung über Silicea und

Augen schreibt: Beim Lesen laufen die Buchstaben ineinander oder verblassen. Das ist zwar nicht identisch mit dem geschilderten Doppeltsehen der Patientin, aber das Sehen beim Lesen ist auch bei Silicea in Bewegung. Sepia: Dass dieses Mittel hier in der Repertorisation so weit nach vorne kommt, überrascht mich. Die Erfahrung lehrte mich, dass ich dort, wo ich überrascht wurde, genauer hinschauen sollte. Aber in diesem Fall haben wir eigentlich keine hormonellen Beschwerden, keine Unterleibsdysregulation, auch nicht in Schwangerschaft, Wochenbett oder Stillzeit. Zwar ist Sepia auch bekannt für das Weinen beim Erzählen, aber die leichte Gekränktheit, die Reizbarkeit und vieles Charakteristische von Sepia fehlt mir. Nein, hier bleibe ich bei meinem mich wundern. Pulsatilla kommt mir fast zu leicht vor. Burnett schreibt über Puls. am Auge: Tränen an frischer Luft. Flackern von Feuer vor den Augen. Trockenheit von Augen und Lidern, besser nach Anwendung von Kühlung oder Baden. Schleimig-eitrige Absonderung aus den Augen. Verklebung der Lider am Morgen. Dies ist zwar nicht vorhanden, aber ist in der Repertorisation bei dem Blitzesehen zweiwertig vorhanden, jedoch bei dem verschwommenen Sehen nicht, aber es deckt den Rest der Repertorisation ab. Ich schaue dann noch bei Glaukom und Katarakt nach und da ist es jeweils zweiwertig zu finden. Selbst die Autoren der Einträge sind für mich seriös und verlässlich (Bönninghausen, Boger u.a.). Als Krönung deckt es mir den emotionalen Sachverhalt der Patientin mit ihrem Kummer und ihrem Weinen. So habe ich mich für Pulsatilla entschieden und es wie folgt verordnet:

Verordnung am 18. Januar 2009 -> Pulsatilla C 1000 (Finke)

Weiterer Verlauf Bereits am Tag der Mitteleinnahme hellte sich das rechte Auge auf. Es kamen drei Tage lang keine Blitze, das Gemüt beruhigte sich, der Schlaf wurde besser und bereits auf der Heimfahrt von der Praxis wich die Röte aus dem Gesicht. Nach einer Woche bekam ich folgenden Brief:

Ich habe daraufhin die Patientin angerufen und sie berichtete, dass das Sehen immer noch etwas heller sei rechts, emotional ginge es ihr aber wesentlich besser und die Blitze kamen deutlich seltener. Schön war, dass mit der Hauptbeschwerde der Augen gleichzeitig eine weitere Beschwerde der Patientin (Kälteempfindung der Zehen links) besser wurde, die ich zuvor nicht als Ausdruck der aktiven Krankheit angesehen habe und deshalb nicht mitrepertorisierte. Dies ist ein gutes Zeichen und sagt uns in der Regel, dass wir ein wichtiges Mittel mit großer Ähnlichkeit und systemischer Wirkung gefunden haben. Ich wies die Patientin an sich zu melden, wenn die Beschwerden wieder schlechter werden sollten. Dies war dann 9 Tage später der Fall.

Verordnung am 28.2.2009 -> Pulsatilla Q 1 (Zinsser), 1 x 3 Tr. morgens in Wasser Ich nutze gerne zu Beginn der Therapie die Promptheit und Kraft der C–Potenz, um Klarheit zu bekommen, ob ich das aktuelle Simillimum verordnet habe. Wenn dies ausgewirkt hat, stelle ich aber meist auf Q–Potenzen um. Sie wirken meist sanfter, so dass in der Regel keine Erstverschlimmerungen zu erwarten sind, lediglich Überdosierungen können auftreten. Bei Q-Potenzen tritt die Verschlimmerung erst gegen Ende der natürlichen Krankheit auf, also zu einem Zeitpunkt, wenn die Lebenskraft des Patienten schon beinahe völlig von der krankmachenden Störung befreit ist. Daher benötigt der aufmerksame Homöopath, sobald er der Verschlimmerung gewahr wird, nur wenig Zeit und Anstrengung, der Lebenskraft dabei zu helfen, in ihrer Nachwirkung eine perfekte Homöostase herzustellen. Ein weiterer Vorteil liegt in der psychologischen Dimension der Einnahme. Durch die regelmäßige Einnahme einer Q–Potenz fühlt der Patient sich „in Therapie“ und er darf aktiv was dazu tun und arbeitet an seiner Gesundung mit.

Follow-Up vom 27.03.09 Es geht deutlich besser, die Patientin fühlt sich emotional viel stabiler, ist ruhiger, zuversichtlicher, der Schlaf ist besser, sie denkt aber schon noch nach. Das neblige Sehen ist nicht mehr vorhanden und die Verdunklung rechts ist heller geworden, aber noch nicht in Ordnung. Links sieht sie besser, die Blitze kamen viel seltener, aber an manchen Tagen schon noch 1-3 Mal. Die Zahnschmerzen sind weniger, das rechte Auge tränt noch immer, der Schläfenschmerz ist selten, noch stechend (mehr bei schneller Bewegung des Kopfes). Nach dem Jucken im Auge befragt sagt sie, dass sie es vergessen hätte, nein, es war nicht mehr. Die Kopfschmerzen sind schon noch da, aber nicht mehr so häufig. Einmal hatte sie noch Herpes labialis.

Beurteilung Der Fall läuft gut, die Kontrollkriterien bessern sich.

Verordnung -> Pulsatilla als Q-Potenz weiter

Follow-Up vom 25.05.09 Alles ist viel besser, aber es stagniert seit einer Weile. Das mit dem Doppeltsehen der Worte nebeneinander ist verschwunden, die Zahnschmerzen sind noch manchmal, aber dann nicht mehr so schlimm. Die Sehfeldeinschränkung ist evtl. besser, aber noch vorhanden. Zwei Mal hatte sie noch einen Herpes in der Zeit. Die Augen sind stärker gerötet, morgens sind gelbe Absonderungen in den Augen und sie hat seit einiger Zeit mit Husten zu tun. Wenn der Husten stärker ist, gehen Tropfen von Urin ab.

Analyse und Repertorisation Ich repertorisierte hier die neuen Beschwerden, um zu schauen, ob Puls. noch indiziert ist oder ein Folgemittel sich zeigt.

1 1234 1 Auge - Glaukom 69

2 1234 1 Auge - Katarakt 101

3 1234 1 Auge - Entzündung - Chorioidea 46

4 1234 1 Gesicht - Hautausschläge - Herpes - Lippen - um die 74

5 1234 1 Blase - Urinieren - unwillkürlich - Husten; agg. beim 71

6 1234 1 Auge - Absonderungen - gelb 53

puls. sep. rhus-t. caust. sulph. sil. ars. thuj. calc. phos.

12/5 12/4 11/6 11/5 10/6 10/5 8/6 8/5 8/4 8/4

1 2 - 2 1 1 1 1 1 1 2

2 2 4 1 4 3 3 1 - 3 2

3 1 - 2 - 2 2 2 2 - 1

4 - 3 3 1 1 1 2 1 - -

5 4 3 1 4 1 - 1 2 2 3

6 3 2 2 1 2 3 1 2 2 -

Pulsatilla kommt ganz weit nach vorne, d. h. das Mittel ist wohl immer noch indiziert, die neuen Symptome werte ich als Prüfungssymptome, die wir von Pulsatilla kennen - d.h. die Patientin ist überdosiert. Es steht also wohl kein Mittelwechsel an. Ob dem wirklich so ist, sehen wir erfahrungsgemäß aber erst dann, wenn nach Weglassen des Medikaments, also durch ein Innehalten der Therapie, sich die neuen Symptome relativ schnell wieder beruhigen, verschwinden und es der Patientin wieder gut geht. Die Patientin wurde von mir angehalten, Pulsatilla in den nächsten Tagen nicht mehr einzunehmen und jede Woche anzurufen, wie sich ihr Befinden entwickelt. Am 02.06.09 kam ein Anruf der Patientin: Das mit dem unwillkürlichen Urin und der morgendlichen Absonderung aus den Augen ist besser. Ich wies sie an, mit reduzierter Tropfenzahl weiter zu verfahren, d.h. Pulsatilla, 1 Tr. täglich und alle vier Wochen telefonische Rückmeldung, sofern nicht etwas Ungewöhnliches oder eine Verschlechterung der Beschwerden eintritt.

Follow-Up vom 29.09.09 Der Augenarzt war überrascht, dass die Patientin besser sieht und der Augeninnendruck sei gesunken. Der Schlaf ist nach wie vor gut, das rechte Sehfeld wird heller und besser. Sie hatte eigentlich jetzt keine Kopfschmerzen mehr, keine Blitze mehr, links sieht sie noch nicht ganz scharf. Die Schläfe ist noch empfindlich irgendwie, aber schmerzt nicht. Sie hat morgendliches Niesen seit einiger Zeit und Tränenfluss morgens, es geht relativ schnell nach dem Erwachen los und mittags ist es verschwunden. Herpes war wohl ein oder zwei Mal, aber nicht mehr so häufig wie früher. Haarausfall ist ein Thema zurzeit. Zahnschmerzen hatte sie keine mehr.

Verordnung -> Pulsatilla Q 6

Weiterer Verlauf Wir hatten vereinbart, dass sie sich in einem viertel Jahr nach vorherigem Arztbesuch wieder meldet. Aber es kam anders. Bereits am 14.10.09 kam in der Telefonsprechzeit ein Anruf: Sie habe seit zwei Tagen neue Beschwerden: Die Augen brennen, sind stark gerötet und tränen schnell, Wind verschlechtert, morgens eitrig verklebt, Niesen nach wie vor und Tränenfluss morgens. Sie schwitzt vermehrt und der Achselschweiß riecht. Diagnose meinerseits: akute Konjunktivitis. Ich hielt die Patientin an, mit Pulsatilla (von dem ich meinte, dass es noch aktuell indiziert sei) wie folgt zu verfahren: 150 ml Wasser in ein Glas geben und 8 Tr. des homöopathischen Medikaments hinein, davon alle 1-2 Stunden nippen. Die Beschwerden sollten recht schnell in der darauf folgenden Zeit besser werden. Sie sollte sich abends wieder melden. Abends war es leider nicht besser und ich wusste, ich muss hier neu repertorisieren. Also nahm ich die aktuell aktiven Symptome und setzte sie zum Schluss über die kombinierten klinischen Rubriken (Glaukom etc.) in Verbindung zu den Grunderkrankungen. Auch den Haarausfall, der sich unter Puls. nicht besserte, wurde von mir mit einbezogen.

1 1234 1 Auge - Tränenfluß - Wind agg. 19

2 1234 1 Brust - Schweiß - Achselhöhlen 80

3 1234 1 Auge - Entzündung - Bindehaut 148

4 1234 1 Auge - Absonderungen - eitrig 72

5 1234 1 Auge - Absonderungen - gelb 53

6 1234 1 Auge - Tränenfluß - morgens 43

7 1234 1 Nase - Niesen - morgens 75

8 1234 1 Kopf - Haare - Haarausfall 176

9 1234 1 Auge - Katarakt und Glaukom und Chorioidea 157

Sulph. calc. sep. puls. sil. lyc. thuj. merc. nat-m. rhus-t.

23/9 19/9 19/8 18/7 16/7 15/8 14/7 13/7 12/7 12/7

1 1 1 1 3 2 1 2 - 2 1

2 3 2 3 - 3 1 2 - 2 -

3 3 3 - 2 - 2 2 2 - 3

4 2 3 2 3 1 3 - 3 1 2

5 2 2 2 3 3 2 2 2 - 2

6 3 2 2 3 - - - 1 1 1

7 3 1 2 2 1 1 1 1 2 -

8 3 2 3 - 3 3 3 2 3 1

9 3 3 4 2 3 2 2 2 1 2

Analyse Bis auf Calcium carbonicum ringt es sich wieder um dieselben Mittel. Sind die Beschwerden ein akutes interkurrentes Phänomen (dann gilt es abzuwarten oder mit einem kleinen a-miasmatischen Mittel wie z. B. Galphima oder Euphrasia zu agieren) oder ist eben ein Folgemittel indiziert? Ich ließ Pulsatilla, nachdem es trotz intensiver Einnahme nicht zog, absetzten und wartete. Nach zwei Tagen rief die Patientin an und bestätigte die Beschwerden. Trotz anamnestischer Nachfrage war keine Veränderung im Leben, kein anderes Medikament oder sonst etwas geschehen. Geht man davon aus, dass wir in den Fall hineingekommen sind, und dass der Gesundungsprozess angeregt ist, kann es nur zu gut sein, dass sich jetzt ein anderes Mittel zeigt. Sulfur steht an erster Stelle. Wieder sind charakteristische Symptome von Sulfur nicht so offensichtlich. Natürlich ist es so: wenn man Sulfur sucht, dann findet man Sulfur – die Unterdrückungen durch Medikamente und Operationen, auch eine gewisse Schmuddeligkeit der Patientin, bei Bönninghausen steht es fünfwertig als Folgemittel auf Pulsatilla und die aktive Symptomatik deckt es eh schon am besten ab (Repertorisation), auch in der Klinik (kombinierte Rubrik) kommt es vor.

Verordnung am 14.10.09 -> Sulfur C 200 (Finke), eine Gabe.

Hier wollte ich mit einer ausreichenden C–Potenz intervenieren, wo ich sicher sein kann, dass ich binnen Stunden was merken sollte und auch schon einige tiefere, chronischere Sphären berühre. Die Patientin sollte sich täglich melden. Am nächsten Tag sind die Beschwerden prompt besser, das Auge schmerzt nicht mehr so, das Brennen ist besser, die nächsten Tage lässt die Rötung nach und auch der Tränenfluss. Es geht ihr fünf Tage lang sehr gut, wie schon lange nicht mehr. Ich sagte ihr, sie solle es auswirken lassen und sich melden, wenn die Beschwerden wiederkommen. An dieser Stelle muss ich warten, Geduld haben und schauen, was die Dynamis mir über aufkommende Beschwerden zeigen will. Nach einer Woche kommen das morgendliche Niesen und der Tränenfluss wieder. Der Schweiß, der zunächst unter Sulfur besser war, wieder schlechter.

Verordnung am 22.10.09 -> Sulfur Q 1 (Zinsser), 1 x täglich 3 Tr. morgens

n Follow-Up vom 20.11.09 Keine Konjunktivitis mehr, Niesen morgens nur noch vereinzelt, kein ungewöhnlicher Achselschweiß, Sehen links fast nicht mehr verschwommen, fast kein morgendliches Tränen mehr, die Schläfe ist ganz in Ordnung, es sind keine Blitze mehr gesehen worden. Das rechte Sehfeld sei auf jeden Fall vergrößert. Sie traut sich wieder mehr unter Leute und es geht ihr recht gut. Der Blutdruck sei recht stabil, manchmal schon fast zu niedrig.

Verordnung -> Sulfur als Q–Potenz weiter

Telefonische Zwischenmeldung am 15.01.10 Vom Hausarzt wurde eine Blasenentzündung diagnostiziert. Nach den Symptomen befragt, schildert die Patientin folgendes: Sie hat seit zwei Tagen gemerkt, „dass da was nicht in Ordnung ist“. Gestern dann Brennen und häufiger Harndrang. Es brennt während dem Urinieren. Der Urin stinkt sehr, in der Harnröhrenöffnung ist ein stechender Schmerz. Auf die Frage, was sonst noch sei oder war, sagt die Patientin, dass der Herpes wieder vor ein paar Tagen da war, aber er diesmal an der Nase war und das habe sie sehr selten.

1 1234 1 Harnröhre - Schmerz - brennend 180 2 1234 1 Blase - Urinieren - Harndrang - häufig 233 3 1234 1 Harnröhre - Schmerz - stechend 102 4 1234 1 Urin - Geruch - übelriechend 137 5 1234 1 Harnröhre - Schmerz - Urinieren - beim - agg. - brennend 197 6 1234 1 Gesicht - Hautausschläge - Herpes - Nase 29

sulph. calc. nit-ac. sep. lyc. nat-c. nat-m. ph-ac. merc. nux-v.

6/16 6/14 6/13 6/13 6/12 6/12 6/10 6/10 5/12 5/12

1 3 2 2 2 2 2 1 2 3 3

2 3 2 2 2 3 2 3 2 3 3

3 3 2 1 2 2 1 1 2 2 1

4 3 3 3 3 2 2 1 2 2 2

5 3 3 3 2 2 3 2 1 2 3

6 1 2 2 2 1 2 2 1 - -

Analyse Sulfur erhält die Patientin gerade, also fragte ich sie, ob sie in letzter Zeit sonst kleine Veränderungen im gesamten Organismus wahrgenommen hat, was sie aber verneinte. Häufig zeigt sich meiner Erfahrung nach eine Über- oder Unterdosierung schleichend an anderen funktionellen Reaktionen wie Träume, Schlaf, Schweiß usw. – dem war aber wohl nicht so, also keine Überdosierung, aber da die Beschwerden trotz Einnahme von Sulfur bestehen, gehe ich davon aus, dass es aktuell nicht indiziert ist. Also setzt die Patientin das Homöopathikum ab, da Sulfur die Beschwerden, die es auch im Arzneimittelbild hat, nicht verhindern konnte. Calc-c. ist für mich im Erwachsenenalter ein schwierig zu erkennendes homöopathisches Medikament. So leicht ich dessen Indikation bei Kindern erkenne, so versteckt ist es für mich in der Erwachsenenphase. Wir haben hier keine Charakteristika wie Kältegefühl innerer Teile, Drüsen- oder Knochengeschichten, arthritisches Reißen und Gichtknoten usw. Acidum nitricum und Sepia sind für mich interessanter. Aufgrund der Repertorisation sind sie quasi nicht zu differenzieren. Das Charakteristische von beiden fehlt eigentlich, wie ich es von Sepia schon oben erwähnt habe. Auch Acidum nitricum zeigt sich, wenn es hier indiziert ist, nicht offen. Wo sind die Fisteln, der Haut-Schleimhaut-Übergang, die Warzen usw.? Ich lege die klinische kombinierte Rubrik noch mal unter die Repertorisation: siehe die letzte Rubrik der Repertorisation. Dort kommt Sepia auf die 4–Wertigkeit und Acidum nitricum auf die 2–Wertigkeit.

1 1234 1 Harnröhre - Schmerz - brennend 180 2 1234 1 Blase - Urinieren - Harndrang - häufig 233 3 1234 1 Harnröhre - Schmerz - stechend 102 4 1234 1 Urin - Geruch - übelriechend 137 5 1234 1 Harnröhre - Schmerz - Urinieren - beim - agg. - brennend 197 6 1234 1 Gesicht - Hautausschläge - Herpes - Nase 29 7 1234 1 Auge - Katarakt usw... 157

sulph. calc. sep. nit-ac. lyc. nat-c. nat-m. merc. nux-v. thuj.

7/19 7/17 7/17 7/15 7/14 7/13 7/11 6/14 6/14 6/14

1 3 2 2 2 2 2 1 3 3 3

2 3 2 2 2 3 2 3 3 3 3

3 3 2 2 1 2 1 1 2 1 2

4 3 3 3 3 2 2 1 2 2 1

5 3 3 2 3 2 3 2 2 3 3

6 1 2 2 2 1 2 2 - - -

7 3 3 4 2 2 1 1 2 2 2

Mehr Bezug zur Grunderkrankung hat wohl Sepia. Ich schaue, wie oben erwähnt, schon mal gern auch auf die Folgeerfahrungen eines Clemens von Bönninghausen. Sepia folgt 5–wertig auf Sulfur, Acidum nitricum nur 1-wertig. Genauso schaue ich gern auf die Polarität, aber dies ist hier nicht möglich. Aber die Erarbeitung lässt mich zu Sepia tendieren und so verordne ich der Patientin:

Verordnung -> Sepia C 30, Wasserglas-Methode (siehe oben) bis Mittag, dann wieder Rückmeldung. Hier nehme ich gern die C 30, weil ich sie gerade in meinen ersten Jahren als zuverlässige Potenz bei hoch akuten Beschwerden erlebt habe.

Anruf um 13.00 Uhr desselben Tages Es wurde nicht besser, die Schmerzen ziehen jetzt die Harnröhre hoch. Weitere Symptome sind, dass der Harndrang immer prompter ist und sie sich beeilen muss, damit nicht ein paar Tropfen in die Hose gehen. Der Urin stinkt immer mehr, obwohl sie sehr viel trinke. Ich repertorisiere nach und rufe die Patientin an, sie möge nun Acidum nitricum nehmen und sicherheitshalber zum Hausarzt gehen. Sie hat kein Acidum nitricum C 30 zuhause, auf Nachfrage können wir es von einer Freundin aktivieren.

1 1234 1 Urin - Geruch - übelriechend 137

2 1234 1 Harnröhre - Schmerz - brennend 180

3 1234 1 Blase - Entzündung 129

4 1234 1 Allgemeines - Sykose 185

5 1234 1 Gesicht - Hautausschläge - Herpes - Nase 29

6 1234 1 Blase - Urinieren - Harndrang - plötzlich - beeilen um zu urinieren, sonst geht Urin ab; muß sich

68

sep. nit-ac. sulph. calc. lyc. apis nux-v. puls. thuj. ph-ac.

16/6 15/6 14/6 12/6 12/6 11/5 11/5 11/5 11/5 10/6

1 3 3 3 3 2 3 2 2 1 2

2 2 2 3 2 2 2 3 2 3 2

3 3 2 2 2 3 3 2 3 1 1

4 3 3 2 2 2 2 1 1 4 1

5 2 2 1 2 1 - - - - 1

6 3 3 3 1 2 1 3 3 2 3

Verordnung -> Nit-ac. C 30, Wasserglasmethode

Anruf abends

In der abendlichen Telefonsprechstunde ruft sie an und erzählt: Es wurde so nach einer ½ Stunde langsam besser, aber der Arzt hat noch starken Bakterienbefall und Eiweiß im Urin festgestellt und ein Antibiotikum verordnet. Sie habe es noch nicht genommen, da es mit der Wasserglaseinnahme von Acidum nitricum zusehends besser wurde. Wir vereinbarten, noch mit dem Antibiotikum zu warten und am nächsten Morgen wieder miteinander zu telefonieren. Alles war viel besser und die Einnahme konnte entzerrt werden. Jetzt konnte sie sich auch erinnern, dass sie das schon mal als junges Mädchen so hatte, da war es 2–3 Mal hintereinander, aber dann nie mehr.

Analyse und weiterer Verlauf Es war die ganze Zeit der Harnwegssymptomatik Acidum nitricum indiziert. Je weiter die Krankheitssymptomatik fortschritt, umso mehr hat sich dann auch das charakteristischere Bild von Acidum nitricum gezeigt: Übelriechender Urin (wie Pferdeurin - wobei ich nicht weiß, wie dieser riecht), auch erlebe ich den Herpes an der Nase häufig bei Acidum nitricum. Interessant war die Erfahrung mit den geweckten Erinnerungen. Ob bewusst oder unbewusst, viele Frauen verneinen immer erst mal Pilze und Blasenentzündungen und erst auf die explizite Frage danach kommt eine zögerliche Bestätigung: „wohl schon mal, aber das ist schon ewig her und das schon lange nicht mehr gehabt“. Ja, wenn das der erworbenen Sykose (siehe Rubrik in der zweiten Repertorisation der Beschwerde) nicht egal wäre. Sie agiert und interveniert im Organismus und sorgt eben für spezifische Stoffwechselstörungen. Nach Thuja beschreibt ja Hahnemann (in Bd. I der Chronischen Krankheiten auf S. 106) Acidum nitricum als wichtigstes Folgemittel zur Ausmerzung der Sykose. Hier liegt nach meinem Verständnis ein interkurrentes Krankheitsmoment in diesem Fall vor. Die Patientin erhielt jetzt eine C 200 von Acidum nitricum und ich hielt sie an, sonst nichts weiteres einzunehmen. Wir telefonierten jede Woche. Nach ca. vier Wochen zeigte sich erneut das morgendliche Niesen und der Tränenfluss. Nun war deutlich, dass Sulfur wieder indiziert ist und Acidum nitricum ein interkurrentes Mittel darstellte.

Verordnung -> Sulfur weiter als Q-Potenz

Weiterer Verlauf Jetzt vor kurzem für diesen Artikel habe ich die Patientin angerufen: Es geht ihr so weit gut, das mit dem Auge, meine sie wird schleichend immer besser und neue Haarstoppeln kommen langsam vermehrt. Der Alltag ist ganz gut zu schaffen. Der Fall wird weiter dokumentiert und der weitere Verlauf zu gegebener Zeit dargestellt.

Fazit Der vorliegende Fall ist ein Beispiel dafür, dass die – zumeist als prognostisch ungünstig geltenden - schweren Augenerkrankungen auch im vorangeschrittenen Zustand bei gelingender homöopathischer Verordnung eine positive Entwicklung nehmen können. Aber es ist ein langer Weg - sowohl für den Patienten, als auch für den Therapeuten. An das Gedicht von Erich Kästner anknüpfend ist es, wie ich finde, ein lohnender Weg, denn den Therapeuten lehrt er das Hinsehen und dem Patienten kann er unter Umständen das Sehen zurückbringen, zumindest teilweise.

Michael Leisten Laub 12 97357 Prichsenstadt / Laub [email protected] www.homoeopathie-hof.de Dipl. Rel. Päd. (FH), Heilpraktiker, klassischer Homöopath. Seit über 14 Jahren in eigener Praxis in Laub tätig. Leiter der Akademie der Klassischen Homöopathie, deren Ausbildungsgang für klassische Homöopathie durch die SHZ und BKHD akkreditiert ist. Autor verschiedener Bücher zur klassischen Homöopathie, Supervisor (SHZ) und als Therapeut sowohl durch BKHD als auch SHZ zertifiziert.