Migration und Heterogenität - hf.uni-koeln.de und... · ’ Migration wird als ein Phänomen...

25
im Rahmen des Seminars “Migration und Transnationalisierung” 22. April 2009 Erika Schulze Migration und Heterogenität - eine Einführung -

Transcript of Migration und Heterogenität - hf.uni-koeln.de und... · ’ Migration wird als ein Phänomen...

im Rahmen desSeminars

“Migration und Transnationalisierung”22. April 2009

Erika Schulze

Migration und Heterogenität- eine Einführung -

1. Mobilität und Migration in Vergangenheit und Gegenwart

3. Der hegemoniale Blick auf Migration

2. Die BRD und die Einwanderungsrealität - zwischen Verleugnung und Anerkennung

4. Realität Heterogenität

Gliederung

' Seit es Menschen gibt, gibt es auch Wanderungen

' Städte sind ohne physische Mobilität von Menschen kaum vorstellbar

' Städte bzw. ganze Stadtteile sind mit und durch die Migration gewachsen

Mobilität und Migration in Vergangenheit und Gegenwart

„Köln ist seit 2000 Jahren eine weltoffene Stadt, eine der ältesten inWesteuropa. Manche Armee und einige Flüchtlingsströme überquertenhier den Rhein: Germanen, Römer, Hunnen, Amerikaner. 20 Jahrelang gehörte Köln zu Frankreich. Die meisten Kölner sind eigentlichkeine „Eingeborenen“, sondern ‚Immis‘ – aus Anatolien und Aachen,Kasachstan und Kurdistan, dem Sauerland und Schlesien. So entstandeine Mischung aus vielen Völkern.“ (Schmidt-Fink).

Köln 1800 41.000 Menschen1850 95.000 Menschen1900 437.000 Menschen

Berlin 1800 72.000 Menschen1900 2.424.000 Menschen

Mobilität und Migration in Vergangenheit und Gegenwart

Ruhrgebiet 1871 536.000 EinwohnerInnen1910 3. 000 000 EinwohnerInnen

davon ca. 500. 000 Polen

Bottrop 1875 6.600 EinwohnerInnen1900 24.700 EinwohnerInnen

davon 40% Polen1915 69.000 EinwohnerInnen

mehrheitlich polnischer Herkunft

' Binnenmigration wie auch grenzüberschreitende Migration warenzentraler Bestandteil des Städtewachstums.

Mobilität und Migration in Vergangenheit und Gegenwart

' Zwischen 1954 und 1999 wanderten insgesamt 30,4 MillionenMenschen (In- und Ausländer) nach Deutschland ein

Neben bzw. nach der Einwanderung aus der DDR (bis zum Mauerbau1961) ist hier vor allem die Arbeitsmigration aus den Mittelmeerländernim Zuge der Anwerbeabkommen zu nennen. Hinzu kommen Flüchtlingeund AussiedlerInnen aus den osteuropäischen Ländern.

' In den großen Städten der alten Bundesländer habeninzwischen bis zu einem Drittel der Jugendlichen einenMigrationshintergrund.

Mobilität und Migration in Vergangenheit und Gegenwart

' Doch nicht nur verstetigte Einwanderung, ebenso einekontinuierliche Bewegung prägt die bundesrepublikanischeGesellschaft:

In den Jahren zwischen 1990 und 2002 sind fast 12,2Millionen Menschen aus dem Ausland nach Deutschlandzugewandert. In der selben Zeit haben ca. 8,5 MillionenMenschen das Land verlassen.

Mobilität und Migration in Vergangenheit und Gegenwart

' Grundsätzlich unterscheidet die Statistik zumeist zwischen“AusländerInnen” und “Deutschen” - ohne dabei die Heterogenitätder beiden Gruppen zu berücksichtigen

' zur Gruppe der “Deutschen” gehören u.a.

- zugewanderte Kinder und Jugendliche aus Aussiedlerfamilien-Kinder aus binationalen Familien (mit einem deutschen Elternteil)- aus Migrantenfamilien mit deutscher Staatsangerhörigkeit durchEinbürgerung

- Kinder mit Migrationshintergrund mit deutscher Staatsbürgerschaftnach Zuwanderungsgesetz von 2000

- Kinder und Jugendliche aus dänischer und sorbischer Minderheit

Zur Terminologie und ihren Problemen

' zur Gruppe der “AusländerInnen” gehören u.a.

- Kinder und Jugendliche aus Arbeitsmigrantenfamilien, die ihreStaatsangerhörigkeit beibehalten haben

- Flüchtlingskinder mit ganz unterschiedlichem Aufenthaltsstatus- Kinder und Jugendliche aus Familien deren Eltern alsHochqualifizierte vorübergehend in der BRD sind

- Kinder von Diplomaten und ausländischen Streitkräften

“Der Pass erlaubt keinen Rückschluss auf pädagogisch relevanteSachverhalte: weder auf die Erstsprache bzw. auf die sprachliche

Sozialisation und die Sprachkompetenz von Kindern undJugendlichen in der Erstsprache und/oder in Deutsch, noch auf deren

sozio-kulturellen Hintergrund, die religiöse oder weltanschaulicheOrientierung oder generell auf Migrationserfahrungen. Dem Pass

lässt sich nicht entnehmen, wie lange die Familie in derBundesrepublik lebt und wie bzw. wo sie ihre Zukunft plant”

(Marianne Krüger-Potratz 2005)

Zur Terminologie und ihren Problemen

Der Mikrozensus ist einestatistische Erhebung, bei

der nach bestimmtenZufallskriterien

ausgewählte Haushalte(1% aller Haushalte derBRD) beteiligt sind. Die

Anzahl der Haushalte wirdso gewählt, dass dieRepräsentativität der

Ergebnisse statistischgesichert ist. Der

Mikrozensus dient dazu,die im Rahmen von

umfassendenVolkszählungen

erhobenen Daten inkurzen Zeitabständen mit

überschaubaremorganisatorischem

Aufwand zu überprüfenund gegebenenfalls zu

korrigieren.

' Die Statistik versucht dieserHeterogenität in den letzten Jahrendurch den Wechsel von einemAusländer- zu einem Migrationskonzeptgerecht zu werden.

' Nach den Schulleistungsstudien IGLUund PISA wurde dies zuletzt an demMikrozensus 2005 sichtbar.

' Durch letzteren liegen nun für die BRDerstmals repräsentative Daten zu denMerkmalen: Staatsangehörigkeit,Geburtsort, Zugzugsjahr, Einbürgerungvor - sowie jeweils diese Daten zu denEltern und Großeltern.

Zur Terminologie und ihren Problemen

Doch entgegen dieser Tatsachen ist die herrschende Sicht auf die Städtehäufig von anderen Blickwinkeln geprägt:

' Migration wird als ein Phänomen betrachtet, das neu ist und die Städte wie auch die Alteingesessenen überfordert

' Es wird so getan, als habe es “vorher” eine verbindliche undeinheitliche Kultur gegeben, die nun gestört und in Fragegestellt wird.

' Damit verbunden wird so getan, als entstehe nun für dieAlteingesessenen eine Fremdheit, die bis dahin unbekannt war.

.

Mobilität und Migration in Vergangenheit und Gegenwart

Gesellschaftliche Transformationsprozesse haben das Leben nachhaltig verändert

� wachsende funktionale Ausdifferenzierung

� Individualisierung � Pluralisierung der Lebensformen � Globalisierung und Transnationalisierung

Ein Blick in das städtische Leben macht diese Veränderungen im Alltag sichtbar

Gesellschaftliche Transformationen

Gesellschaftliche Transformationen

„Was die moderne Gesellschaft an Stilen undLebensformen, an Milieus und biographischen

Diskontinuitäten erlaubt, hätte unser Land auchohne Einwanderer zu einer ‚multikulturellen‘

Gesellschaft werden lassen."

(Armin Nassehi 2000)

Das Staatverständnis der BRD prägt den Umgang mit denEinwanderInnen und ihren Nachkommen auf eine sehr spezifische Weise:

' Bis 2000 prägte das Abstammungsrecht (jus sanguinis) dasStaatsbürgerschaftsrecht - deutsch war, wer zumindest eindeutsches Elternteil hatte

' Erst mit der Reformation des Staatsbürgerschaftsrechtes wirddem Geburtsortprinzip (jus soli) mehr Gewicht beigemessen -nicht mehr allein die Herkunft, sondern ebenso der Geburtsortist bedeutsam für die Staatsangehörigkeit

Das Staatsverständnis und seine Folgen

Im Rahmen der Neueinschulungen können interessierte Eltern denUnterricht in einer Kölner Grundschule besuchen. Die "Probestunde"endet mit einem Erzählkreis. Nach einem gemeinsamen Lied stellensich die Kinder nacheinander vor, der Ablauf ist ritualisiert: „Ich heißeAnnette, bin acht Jahre alt, gehe in die zweite Klasse und komme ausKöln", beginnt die erste Schülerin. Es folgt Peter, sieben Jahre, der inder ersten Klasse ist und sich ebenfalls aus Köln stammendbeschreibt. Die SchülerInnen fahren fort: „Ich heiße Paolo, bin achtJahre alt, gehe in die zweite Klasse und komme aus Italien", gefolgtvon Hikmet: „Ich bin sechs Jahre alt, gehe in die erste Klasse undkomme aus der Türkei." In dieser Weise stellen sich auch die anderenSchülerinnen und Schüler vor. Gegen Ende spricht Elvira. Sie stelltsich so vor: „Ich heiße Elvira, bin acht Jahre alt, gehe in die zweiteKlasse und komme aus Schleiden." Erläuternd beugt sich der Lehrerzu mir herüber: „Sie ist nun schon seit zwei Jahren in Köln und sagtimmer noch, sie kommt aus der Eifel."

Das Staatsverständnis und seine Folgen

... im Spiegel der Familien- und Jugendsoziologie

Diese Transformationsprozesse werden in densoziologischen Disziplinen reflektiert

� Familiensoziologie

Bedeutungsverlust der bürgerlichen KleinfamiliePluralisierung der FamilienformenWandel der Geschlechter- und Generationenbeziehungen

� Jugendsoziologie

Auflösung der Eindeutigkeit der JugendphasePluralisierung und Globalisierung der JugendszenenVirtualisierung jugendlicher Welten

Der hegemoniale Blick auf Migration

Es hat den Anschein, als seien Migrantinnen und Migranten keine Akteure innerhalb des gesellschaftlichen Wandels– oder zumindest nur Akteure, die sich in einem nachholendenModernisierungsprozess befinden.

„Manche Mütter wollen ihre Kinder gerne zu Hausebehalten. Manche Kinder sind lange krank. Manche

sind ganz unregelmäßig da. Manche verbringenzwischendurch lange Zeiten in der Heimat ihrer

Eltern, eine besonders schwierige Sache. Die kleinen Jungs müssen wir dann

erst mal wieder von ihren Pascha-Allüren runterholen. Das bedeutet

erneute Kämpfe ums Abräumen des Frühstückstisches."

(Leiterin einer Kindertagesstätte,

in Kölner StadtAnzeiger November 2005)

“Die Russlanddeutschen leben in ihren Vierteln in Cloppenburg fast untersich. Wer will, könnte in seiner Freizeit auch ganz ohne Kontakt zuEinheimischen auskommen und sich abschotten: Im Kaufhaus ‘Planeta'bietet Inhaber Waldemar Dauderich Lebensmittel aus der Heimat an,Bücher in kyrillischer Schrift und Videos oder Kleidung aus Russland. Undim ‘Café Mokau' können neben Wodka auch Pelmini, kleine Teigtaschenverzehrt werden. 15 Stück kosten vier Euro. Den ‘Assorti-Teller' miteingelegten Tomaten, Krautsalat, Gurken und Paprika gibt es ebenfalls fürvier Euro. Ärzte, Anwälte, Makler runden das Versorgungsangebot in derParallelgesellschaft der Spätaussiedler ab." (Spiegel online 1.4.2005)“

Der hegemoniale Blick auf Migration

Der hegemoniale Blick auf Migration

1. Vereinheitlichung und Homogenisierung

„Meine Mutter beispielsweise ist Tscherkessin und kommt aus demKaukasus. Ihre Sippe entkam nur knapp der Deportation nach Sibirien; das

geschah in der Zeit, als Stalin mit eisernem Besen fegte und auch das kleineTscherkessenvölkchen seiner Zwangsumsiedlungspolitik zum Opfer fiel.

Nicht vielen gelang die Flucht an die türkische Schwarzmeerküste, und diees doch schafften, wurden über Nacht türkische Staatsbürger. Mein Vater

wiederum gehörte der dritten Generation der Balkanflüchtlinge an, die sichnach der Weltkriegsniederlage und dem Zusammenbruch des Osmanischen

Reiches in das türkische Kernland aufgemacht hatten. Ich bin imanatolischen Bolu geboren, meine achtzehn Monate jüngere Schwester ist

gebürtige Berlinerin. Kann man vor solch immensen Zeitzäsuren undbiographischen Brüchen noch von einer einzigen Identität sprechen, die alle

Altersklassen in der Geschlechterfolge in Haft nimmt? IrreguläreLebensläufe aus Zusammenbruchsszenen sind das wahre Gesicht der

Einwanderung."

(Feridun Zaimoglu 2001, S. 10)

Der hegemoniale Blick auf Migration

1. Vereinheitlichung und Homogenisierung

2. Einforderung einer eindeutigen Zugehörigkeit

3. Verweigerung der Zugehörigkeit

Multiple Verortungen

„Okay, also mein Name ist Sacharija. Ich wohne hierin der Gernsheimer Straße in Ostheim und lebe seit17 Jahren in Köln. Bin in Belgien geboren, Brüsselum genau zu sein. Und meine Familie kommt aus derTürkei. Bin aber kein Türke, sondern Aramäer. Undja, seitdem sind wir hier. ((lacht)) Noch was?" (Sacharija P.)

„War noch nie auf dem Fernsehturm, noch nie aufdem Kölner Dom, hab Höhenangst. Da betrachte ich

mir das immer aus der Ferne. Und ich fühl mich alsKölner, also trotz, und also als Kölner, speziell als

Nippeser. Man kennt hier allmählich alle Leute. AlleNationen. Das kommt mit der Zeit"

(Tarik K.)

Veralltäglichte Transnationalität

Der Begriff der Transnationalität als weiter Begriff bezieht sich auf

"alle Vergemeinschaftungsformen, Solidaritäten, Zusammengehörigkeitsgefühle,Arbeitszusammenhänge, Austausch- und Kommunikationsbeziehungen undLebenspraxen, welche die Grenzen von Nationalstaaten überschreiten."

(Mau 2007: 39)

Blickt man in den Alltag der Jugendlichen, sosieht man vielfache Momente einer solchen

veralltäglichen Transnationalität.

Veralltäglichte Transnationalität

„Arabesk ist eine Hybridform der urbanenMusik, die in den späten sechziger Jahren

in der Türkei, als Reflektion der erstenErfahrung seitens der Eltern mit der

Auswanderung aufkam. Sie erzählt vonund vertont die beschwerlichen

Erfahrungen der Migration und urbanenRassentrennung in der Disapora. (...) Um

es anders zu sagen, sind Arabesk undHipHop die symbolischen Ausdrücke des

Dialogs zwischen der ‘Vergangenheit' undder ‘Zukunft', zwischen ‘Erinnerung' und

‘Verlangen', zwischen ‘dort' und ‘hier',zwischen dem ‘Lokalen' und dem

‘Globalen'."

(Kaya 2003: 255)

Veralltäglichte Transnationalität

Abschließende Überlegungen

„"Der deutschen Soziologie jedenfalls täte es gut, wenn sieden Mut hätte, mehr nach vorne zu schauen und nach

möglichen Pfaden der Zukunft, statt - zum wievielten Mal? -die sogenannten Ausländer nach ihren sogenannten

Traditionen zu fragen."

(Beck-Gernsheim 2004: S. 29)