Miller / Eiskalte Jahreszeit der Liebe

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Unverkäufliche Leseprobe aus: A. D. Miller A. D. Miller A. D. Miller A. D. Miller Die eiskalte Jahreszeit der Liebe Die eiskalte Jahreszeit der Liebe Die eiskalte Jahreszeit der Liebe Die eiskalte Jahreszeit der Liebe Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012

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Leseprobe zum Roman

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Ich roch sie, ehe ich sie sah.Eine Menschenmenge stand auf Gehweg und Straße,

meist Polizisten, einige redeten in ihre Handys, andererauchten, manche sahen hin, manche weg. Aus der Rich-tung, aus der ich kam, blockierten sie mir die Sicht, wes-halb ich bei den vielen Uniformen erst dachte, es ginge umeinen Verkehrsunfall oder eine Ausländerrazzia. Dannfiel mir der Geruch auf. Fast als käme man aus dem Urlaubnach Hause und hatte vergessen, vorher den Müll wegzu-bringen – ein beißender, säuerlicher Geruch, kräftig ge-nug, das normale Sommeraroma von Bier und Revolutionzu überdecken. Es war der Geruch, der sie verriet.

Aus knapp zehn Metern Entfernung sah ich den Fuß.Nur einen, so, als stiege jemand bedächtig aus einerLimousine. Ich sehe den Fuß noch heute vor mir, ein billi-ger, schwarzer Slipper, über dem Schuhrand ein bisschengraue Socke, darüber ein Streifen grünliche Haut.

Durch die Kälte sei die Leiche frisch geblieben, wurdemir erklärt. Die Männer wussten nicht, wie lang sie bereitsda lag. Vielleicht schon den ganzen Winter, spekulierteeiner der Polizisten. Man hatte einen Hammer genom-

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men, sagte er, möglicherweise auch einen Ziegelstein.Keine saubere Arbeit. Er fragte mich, ob ich auch den Restsehen wolle. Ich sagte nein, danke. Ich hatte in diesemWinter bereits mehr gesehen und erfahren, als mir liebwar.

Du sagst, ich würde nie von meiner Zeit in Moskauerzählen und davon, warum ich abgereist bin. Du hastrecht, ich bin dem ausgewichen, und bald wirst duden Grund dafür verstehen. Aber du hast immer wiedernachgehakt, und irgendwie muss ich in letzter Zeit stän-dig daran denken – ich kann es nicht lassen. Vielleicht,weil es nur noch drei Monate bis zu unserem ›großen Tag‹sind, und an den denke ich, wie an einen Tag der Abrech-nung. Mich drängt es, jemandem von Russland zu erzäh-len, selbst wenn es weh tut. Und wenn wir uns schon die-ses Versprechen geben, es vielleicht sogar halten, solltestdu auch wissen, was gewesen ist. Ich finde, dazu hast duein Recht. Außerdem dachte ich, es ist einfacher, wennich alles aufschreibe. Du musst dann an bestimmten Stel-len keine tapfere Miene ziehen, und ich muss dich dabeinicht ansehen.

Hier ist, was ich geschrieben habe. Du wolltest wissen,wie es ausging. Nun, jener Nachmittag mit dem Fuß, derwar schon fast das Ende. Das eigentliche Ende aber be-gann ein Jahr vorher, im September, in der Metro.

Als ich Steve Walsh von dem Fuß erzählte, sagte erübrigens: ›Schneeglöckchen. Dein Freund ist ein Schnee-glöckchen.‹ So nennen sie die Russen, fuhr er fort – Lei-chen, die bei Tauwetter ans Licht kommen. Betrunkene

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meist oder Obdachlose, die aufgeben und sich ins Weißlegen, aber auch Mordopfer, von den Tätern in Wehenversteckt.

Schneeglöckchen: das Übel, das schon da ist, immer daist, sehr nah; nur schafft man es irgendwie, sie nicht zusehen, diese Sünden, die der Winter verbirgt, manchmalfür immer.

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EINS

Wenigstens bin ich mir sicher, was ihren Namen an-geht. Sie hieß Maria Kowalenko, Mascha für ihre Freunde,und stand, als ich sie zum ersten Mal sah, auf dem Bahn-steig am Ploschad Revoluzii, dem Revolutionsplatz. Ichkonnte ihr Gesicht kaum fünf Sekunden lang bewundern,da sie dann einen kleinen Make-up-Spiegel hervorkramteund hochhielt. Mit der anderen Hand setzte sie sich eineSonnenbrille auf, und ich weiß noch, wie ich dachte, dasssie die bestimmt gerade erst an einem Kiosk irgendwoin einer der Unterführungen gekauft hatte. Sie lehntean einer Säule fast am Ende des Bahnsteigs, drüben beiden Statuen der Athleten und Ingenieure, den großbu-sigen Landarbeiterinnen und Müttern mit muskulösenBabys im Arm. Ich schaute sie länger an, als es sich ge-hörte.

Es gibt einen Augenblick im Bahnhof Ploschad Revolu-zii, einen visuellen Effekt, zu dem es kommt, wenn manvon der Grünen Linie zur Plattform mit den Statuenwechselt. Man überquert die Gleise auf einem schmalen,erhöhten Gang und sieht auf einer Seite eine Flottillescheibenförmiger Leuchter vom Bahnsteig bis in jene

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Dunkelheit reichen, aus der die Züge kommen. Auf deranderen Seite kann man Leute den gleichen Weg nehmensehen, allerdings auf einem parallelen Gang, nahe, aberdennoch separat. Als ich an jenem Tag nach rechts blickte,sah ich die junge Frau mit der Sonnenbrille in dieselbeRichtung gehen.

Ich bestieg den Zug, um eine Station weiter zur Halte-stelle Puschkinskaja zu fahren, und stand unter den gelb-lichen Paneelen im Licht der uralten Leuchtstoffröhren,die mich jedes Mal, wenn ich mit der Metro fuhr, glaubenließen, ich sei ein Komparse in irgendeinem paranoidenSiebziger-Jahre-Film mit Donald Sutherland in der Haupt-rolle. Am Bahnhof Puschkinskaja angekommen, betratich den Fahrstuhl mit seinen phallischen Lampen, hielt,wie ich es immer tat, die schweren Glastüren der Metrofür denjenigen auf, der nach mir kam, und suchte mir mei-nen Weg durch das Labyrinth der niedrigen Gänge unterdem Puschkin-Platz. Dann hörte ich sie schreien.

Sie war etwa fünf Meter hinter mir und schrie nichtbloß; sie kämpfte mit einem hageren, Pferdeschwanz tra-genden Mann, der ihr die Handtasche stehlen wollte (ein-deutig eine gefälschte Burberry), und rief um Hilfe. DieFreundin, die überraschend an ihrer Seite aufgetauchtwar – Katja, wie sich später herausstellte –, stimmte in ihrGeschrei ein. Anfangs habe ich nur zugesehen, aber derMann holte mit der Faust aus, als wollte er zuschlagen,und hinter mir hörte ich jemanden brüllen, man solle dochendlich was unternehmen. Also lief ich zum Hageren undriss ihn am Kragen zurück.

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Er gab die Tasche auf und hieb mit den Ellbogen nachmir, traf aber nicht. Ich ließ ihn los; er verlor das Gleichge-wicht und fiel hin. Sekundenschnell war alles vorbei, undich hatte ihn nicht einmal genau zu Gesicht bekommen.Er war jung, vielleicht zehn Zentimeter kleiner als ich,und wirkte seltsam verlegen, trat mit dem Fuß zu, er-wischte mich am Schienbein, ohne mir weh zu tun, rap-pelte sich auf und rannte los, durch die Unterführung undam anderen Ende die Treppe hinauf, die zur Twerskajaführte – Moskaus Oxford Street, wenn auch mit wild inzweiter Reihe parkenden Autos, eine Prachtstraße, dievom Puschkin-Platz zum Roten Platz führt. Am unterenTreppenende standen zwei Polizisten, nur waren die vielzu beschäftigt, eine Zigarette zu rauchen und nach Aus-ländern Ausschau zu halten, die sie ärgern konnten, alsdass sie auf einen Straßenräuber geachtet hätten.

»Spasibo«, sagte Mascha. ›Danke.‹ Sie nahm die Son-nenbrille ab.

Sie trug enge Jeans, braune, kniehohe Lederstiefel undeine weiße Bluse, an der ein Knopf mehr als unbedingtnötig geöffnet war. Darüber hatte sie einen dieser ko-mischen Herbstmäntel der Breschnew-Ära an, wie sieoft von Russinnen getragen werden, die nicht viel Geldhaben. Von nahem sehen sie aus, als wären sie aus Tep-pichresten oder Strandhandtüchern zusammengestop-pelt, oben herum ein Katzenfellkragen, von weitem abererinnern junge Frauen in solchen Mänteln an die Venus-fallen aus einem Spionagethriller des Kalten Krieges. Ma-scha hatte eine grade, knochige Nase, blasse Haut sowie

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langes, goldbraunes Haar und hätte mit einem bisschenmehr Glück durchaus in einem überteuerten Restaurantnamens Ducal Palace oder Hunting Lodge sitzen, schwar-zen Kaviar löffeln und nachsichtig einem Nickelkrösusoder Ölmagnaten zulächeln können. Vielleicht macht siedas heute auch, aber irgendwie habe ich da so meineZweifel.

»Oi, spasibo«, sagte ihre Freundin und drückte die Fin-ger meiner rechten Hand. Ihre Haut war warm, der Griffleicht. Ich schätzte die mit der Sonnenbrille auf Anfangzwanzig, vielleicht dreiundzwanzig; ihre Freundin wirktejünger, höchstens neunzehn, wenn überhaupt. Sie trugweiße Stiefel, einen pinkfarbenen Minirock aus Kunst-leder und eine dazu passende Jacke, hatte eine kleineStupsnase, glattes, blondes Haar und dieses freimütige,einladende Lächeln russischer junger Frauen, ein Lächeln,das meist mit direktem Blickkontakt einhergeht, eineswie bei dem Jesukind, das wir mal gesehen haben – erin-nerst du dich? – in dieser Kirche in dem Dorf an der Küstevon Rimini; ein altes, weises Lächeln im kindlichen Ge-sicht, ein Lächeln, das sagt: Ich weiß, wer du bist; ich weiß,was du willst; und ich weiß das schon seit meiner Geburt.

»Nitschewo«, antwortete ich. (Nichts zu danken.) Undsetzte dann auf Russisch hinzu. »Alles in Ordnung?«

»Wso normalno«, sagte die Sonnenbrillenfrau.»Charascho« (gut).Wir lächelten uns an. Die penetrante, ganzjährige

Wärme der Metro ließ meine Brille beschlagen. Ich weißnoch, dass aus einem der CD-Kioske Folkmusik dudelte,

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hingeraspelt von einem dieser betrunkenen russischenSänger, die sich anhören, als hätten sie bereits im Mutter-leib mit dem Rauchen angefangen.

In einem parallelen Universum, einem anderen Leben,ist dies das Ende der Geschichte. Wir verabschieden uns,ich fahre am Nachmittag zurück in meine Wohnung undgehe am nächsten Tag wieder ins Anwaltsbüro. In je-nem Leben bin ich womöglich noch da, noch in Moskau,habe eine andere Stelle gefunden, bin geblieben, nie nachHause zurückgekehrt, habe dich nie kennengelernt. Diebeiden Frauen wären weitergegangen, hätten was oderwen auch immer kennengelernt, nur nicht mich. In miraber brannte dieses Gefühl, wie es jeder kennt, der etwasRiskantes unbeschadet übersteht, ein Hochgefühl, weilman Gutes getan hat. Eine edle Tat an einem brutalen Ort.Ich war ein kleiner Held; sie ließen es mich sein, und dafürwar ich dankbar.

Die Jüngere lächelte noch, die Ältere aber sah mich nuran. Sie überragte ihre Freundin, war eins fünfundsiebzigoder eins achtundsiebzig und mit Stöckelschuhen sogroß, dass sich ihre Augen mit meinen auf einer Höhe be-fanden. Es waren schöne, grüne Augen. Irgendwer mussteirgendwas sagen, und sie sagte auf Englisch: »Wo kom-men Sie her?«

»Aus London«, antwortete ich. Ursprünglich kommeich nicht direkt aus London, wie Du ja weißt, aber jeden-falls ungefähr. Auf Russisch fragte ich dann: »Und Sie?Woher kommen Sie?«

»Wir leben jetzt in Moskau«, erwiderte sie. Ich hatte

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mich an dieses Sprachenspiel schon gewöhnt. Die russi-schen jungen Frauen sagen gern, sie wollen ihr Englischverbessern. Manchmal aber wollen sie einem auch das Ge-fühl vermitteln, man gäbe den Ton an, sei zwar in ihremLand, aber sicher in der eigenen Sprache.

Wieder Lächeln. Pause.»Tak, spasibo«, sagte die Freundin. (Also, danke schön.)Keiner von uns rührte sich. Dann sagte Mascha: »Wo-

hin gehen Sie?«»Nach Hause«, antwortete ich. »Und Sie?«»Wir gehen nur spazieren.«»Poguliaem«, sagte ich. (Gehen wir.)Und das taten wir.

*

Es war Mitte September, jene Zeit des Jahres, die auchdie Russen ›Altweibersommer‹ nennen – ein bittersüßerHauch samtiger Wärme, der meist aufkommt, wenn dieBäuerinnen ihre Ernte eingebracht haben und sich in Moskau die letzte Gelegenheit bietet, unter freiem Him-mel auf den Plätzen und am Bulwar zu trinken (jenerherrlichen alten Straße um den Kreml mit Rasenflächenzwischen den Fahrspuren, kleinen Parks, Bänken sowieStatuen berühmter Schriftsteller und vergessener Revo-lutionäre). Es ist die schönste Jahreszeit für einen Besuch;allerdings bin ich mir nicht sicher, ob wir beide je hinfah-ren werden. Die Stände vor den Metrostationen bietenbereits ihre Kunstfellhandschuhe aus China feil, doch ste-

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hen auf dem Roten Platz noch Touristen in langen Reihenan, um durch Lenins Mausoleum, dieses Monstrositäten-kabinett, geführt zu werden. An den warmen Nachmitta-gen trägt die Hälfte der Frauen in der Stadt immer noch sogut wie nichts.

Wir gingen die glatten, schmalen Stufen der Treppeaus dem Metrotunnel nach oben zum Platz und kamen vordem armenischen Supermarkt nach draußen, überquer-ten die Straße, auf der sich der Verkehr staute, und eil-ten zum breiten Gehweg mitten auf dem Bulwar. AmHimmel hing nur eine Wolke, zudem die flauschigeRauchfahne irgendeines Fabrikschornsteins oder inner-städtischen Kraftwerks, kaum sichtbar vor dem früh-abendlichen Blau. Es war schön. Die Luft roch nach billi-gem Benzin, Grillfleisch und Lust.

Die Ältere fragte auf Englisch: »Was ist Ihre Arbeit inMoskau? Oder ist das ein Geheimnis?«

»Ich bin Anwalt«, erwiderte ich auf Russisch.Sie unterhielten sich rasch miteinander, für mich zu

schnell und zu leise, um sie verstehen zu können.Dann sagte die Jüngere: »Wie viele Jahre Sie sind schon

in Moskau?«»Vier«, antwortete ich, »fast vier Jahre.«»Gefällt es Ihnen?«, fragte die Sonnenbrillenfrau. »Ge-

fällt Ihnen Moskau?«Ich sagte, dass mir die Stadt sehr gut gefiele, was sie

meiner Meinung nach auch hören wollte. Wie mir nichtentgangen war, besaßen die meisten Russen so etwas wieeinen reflexhaften Nationalstolz, auch wenn ihnen nichts

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lieber wäre, als so schnell wie möglich verschwindenund nach Los Angeles oder an die Côte d’Azur ziehen zukönnen.

»Und was arbeiten Sie?«, fragte ich auf Russisch.»Ich arbeite in einem Geschäft. Für Handys.«»Wo ist das?«»Auf der anderen Flussseite«, sagte sie. »Nicht weit von

Tretjakow-Galerie.« Nach einigen wortlosen Schrittensetzte sie noch hinzu: »Sie sprechen schönes Russisch.«

Sie übertrieb. Ich sprach besser Russisch als die meis-ten Teppiche einsackenden Banker und wichtigtueri-schen Berater der Stadt, die pseudovornehmen Eng-länder, großmäuligen Amerikaner und betrügerischenSkandinavier, die der Schwarzgoldrausch nach Moskaugeführt hatte und die es meist fertigbrachten, sich mitkaum zwanzig Wörtern vom Büro zum abgeschottetenApartment zu bewegen, vom Spesenbordell und Edel-restaurant zum Flughafen. Ich sprach ganz gut Russisch,doch verriet mich mein Akzent, sobald ich auch nur denMund aufmachte. Mascha und Katja dürften mich schonals Ausländer eingeordnet haben, noch ehe ich die ersteSilbe über die Lippen gebracht hatte. Ich schätze, ich warleicht zu erkennen. Es war Sonntag, und ich befand michauf dem Heimweg von einem langweiligen Treffen mitAuslandsengländern bei einem einsamen Buchhalter. Ichweiß noch, dass ich fast neue Jeans trug, Wildlederschuheund einen dunklen Pullover mit V-Ausschnitt, darunterein Hemd von Marks & Spencer. So zog man sich in Mos-kau nicht an. Wer das nötige Kleingeld besaß, zeigte sich

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in Filmstarhemd und italienischen Schuhen, wer aber keinGeld hatte, und das waren die meisten, trug ausrangiertenArmeebestand oder billige weißrussische Schuhe zu un-auffälligen Hosen.

Mascha dagegen sprach authentisch schönes Englisch,auch wenn es mit der Grammatik manchmal haperte.Manche Russinnen versteigen sich zu einem übervor-nehmen Gequieke, sobald sie Englisch reden, MaschasStimme dagegen wurde tiefer, sank im Ton fast herab zueinem Knurren mit hungrig gerollten Rs. Sie klang, alswäre sie nächtelang auf Partys gewesen. Oder im Krieg.

Wir gingen zu den Bierzelten, die am ersten warmenMaitag für den Sommer aufgestellt werden, da es dann dieganze Stadt nach draußen drängt und einfach alles passie-ren kann. Im Oktober, wenn der Altweibersommer vor-über ist, werden sie wieder abgebaut.

»Sagen Sie, bitte«, forderte mich die Jüngere auf.»Meine Freundin behauptet, in England da gibt es zwei …«

Sie brach ab, um sich rasch mit ihrer Gefährtin auf Rus-sisch zu unterhalten. Ich verstand nur ›heiß‹, ›kalt‹ und›Wasser‹.

»Wie heißt das noch?«, fragte dann die Ältere, »woWasser rauskommt? In Badezimmer.«

»Hahn?«»Ja, Hahn«, fuhr die Jüngere fort. »Meine Freundin be-

hauptet, in England gibt es zwei Hahne. Deshalb heißesWasser verbrennt manchmal die Hand.«

»Da, eta prawda«, antwortete ich. (Ja, das stimmt). Wirfolgten einem Weg auf dem Bulwar, vorbei an einigen

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Wippen und wackligen Rutschen. Eine dicke Babuschkaverkaufte Äpfel.

»Und stimmt es«, fragte sie dann, »dass in London im-mer dichter Nebel ist?«

»Njet«, sagte ich. »Vor hundert Jahren vielleicht, aberheute nicht mehr.«

Sie blickte zu Boden. Mascha, die Frau mit der Sonnen-brille, lächelte. Wenn ich zurückdenke und mich frage,was mir an diesem ersten Nachmittag an ihr gefiel, dannwar da außer diesem schlanken, gazellenhaften Leib, derStimme und den Augen vor allem ihre Ironie. Sie wirkte,als wisse sie bereits, wie es enden würde, und wollte esmich ebenfalls wissen lassen. Vielleicht kommt mir dasheute nur so vor, aber ich glaube, auf gewisse Weise ent-schuldigte sie sich bereits. Ich glaube, für sie ließ sich derMensch von seinen Taten trennen, so als könnte man Ge-schehenes einfach begraben und vergessen, als gehörtedie eigene Vergangenheit jemand anderem.

Wir kamen zu der Kreuzung, von der meine Straße ab-zweigte. Ich hatte dieses trunkene Gefühl, das mich – eheich dich kennenlernte – jedes Mal in Anwesenheit schönerFrauen überkam, halb nervös, halb leichtsinnig, fast, alswürde ich schauspielern, als führte ich das Leben eines an-deren und müsste, solange ich konnte, das Beste darausmachen.

Mit einer Handbewegung sagte ich: »Da drüben wohneich.« Und dann hörte ich mich sagen: »Darf ich Sie aufeinen Tee einladen?«

Ich weiß, du denkst, wie lächerlich, dass ich es auf diese

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Tour überhaupt versucht habe. Aber vor ein paar Jahrenhätte es noch klappen können, damals, als man Ausländerin Moskau noch exotisch fand und einen Anwalt für einenMenschen mit durchaus akzeptablem Einkommen hielt.Ganz bestimmt, es hätte geklappt.

Sie lehnte ab.»Doch wenn Sie Interesse haben«, sagte sie, »dürfen

Sie uns anrufen.« Sie schaute zu ihrer Freundin hinüber,die einen Stift aus ihrer linken Brusttasche zog und ihreNummer auf die Rückseite eines Busfahrscheins schrieb.Sie hielt ihn mir hin; ich nahm ihn.

»Ich heiße Mascha«, sagte sie. »Das hier ist Katja, meineSchwester.«

»Ich bin Nick.«Katja in ihrem rosafarbenen Rock schmiegte sich an

mich und gab mir einen Kuss auf die Wange. Sie lächeltejenes andere Lächeln, ein asiatisches Lächeln, das nichtsbedeutet. Gemeinsam spazierten sie über den Bulwar da-von, und ich sah ihnen länger nach, als es sich gehörte.

*

Auf dem Bulwar wimmelte es von Trinkern, Pennernund küssenden Liebespaaren. Teenager scharten sich imSchneidersitz um Gitarrenspieler. Es war noch so warm,dass man alle Fenster im Restaurant an der Ecke meinerStraße aufgerissen hatte, um frische Luft zu den Mini-garchen und Mittelklassehuren hineinwehen zu lassen,die sich hier gern im Sommer trafen. Ich musste auf der

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Straße gehen, da eine fantasielose Reihe schwarzer Mer-cedeskarossen und Hummer-Geländewagen die Bürger-steige zuparkte. Ich bog in meine Straße ein und ging ander senffarbenen Kirche vorbei zu meiner Wohnung.

Ich schätze, es könnte auch ein anderer Tag gewesensein – irgendwie scheint das Bild nur zu der Begegnung inder Metro zu gehören, weshalb ich beides in Gedankenzusammenbringe –, meiner Erinnerung zufolge aber fielmir der alte Schiguli am selben Abend zum ersten Mal auf.Er stand auf meiner Straßenseite, eingepfercht zwischenzwei BMWs wie ein Gespenst aus Russlands Vergangen-heit oder wie die Antwort auf jene einfache Rätselfrage,die wissen will, was nicht dazugehört. Mich erinnerte eran die Kinderzeichnung eines Autos: eine Kiste auf Rä-dern, obenauf eine weitere, kleinere Kiste, in die das Kindvielleicht noch ein Streichholzmännchen am Steuer malte,dazu komische, kugelige Scheinwerfer, in die es in seinemÜbermut noch runde Pupillen setzte, um sie wie Augenaussehen zu lassen. Auf die Gelegenheit, so ein Auto kau-fen zu können, hatten die meisten Bewohner Moskaus ihrhalbes Leben lang gewartet, zumindest wurde einem dasständig erzählt, hatten gespart, sich danach gesehnt undihre Namen auf Wartelisten gesetzt, nur um dann festzu-stellen – als die Mauer fiel, sie auf den FernsehgerätenAmerika empfingen und ihre Landsleute mit den besse-ren Kontakten plötzlich die neusten Importmodelle fuh-ren –, dass selbst ihre Träume schäbig gewesen waren.Ohne weiteres ließ sich das zwar nicht mehr sagen, dochwar dieser hier vermutlich einmal von rostroter Farbe ge-

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wesen. Wie bei einem Panzer nach der Schlacht klebtenDreck und Öl an seiner Karosse – eine dunkle Kruste, die,war man ehrlich, wie das eigene Innere aussah, vielleichtauch wie die eigene Seele, wenn man erst einige Jahre inMoskau lebte.

Wie so typisch für russische Gehwege ging das Pflastervor dem Haus unmerklich in die Straße über. Ich lief anFriedhof und Schiguli vorbei, tippte den Sicherheitscodein die Gegensprechanlage und betrat das Gebäude.

Ich wohnte in einer dieser Moskauer Mietskaser-nen, ehemals prächtige Villen, die von zum Untergangverurteilten Kaufleuten kurz vor der Revolution gebautworden waren. Wie die Stadt selbst, hatte das Haus in-zwischen aber so viel mitgemacht, dass es längst wie meh-rere, irgendwie zusammengeklatschte Bauwerke aussah.Außen hatte man einen hässlichen Fahrstuhl angebrachtund oben ein fünftes Stockwerk aufgesetzt, nur das guss-eiserne, schnörkelige Originalgeländer der Treppe gab esnoch. Die Türen zu den einzelnen Wohnungen warenmeist aus axthiebresistentem Stahl, aufgehübscht miteiner Art Lederpolster – eine Mode, die einen glaubenlassen konnte, das vornehmere Moskau sei eine Irren-anstalt mit niedriger Sicherheitsstufe. Im dritten Stockdrangen der Gestank von Katzenstreu und das Gekreischrussischer Symphoniker im akuten Nervenzusammen-bruch aus den Zimmern meines Nachbarn Oleg Nikolae-witsch. Im vierten Stock entriegelte ich die drei Schlössermeiner gepolsterten Tür, betrat die Wohnung, ging in dieKüche, setzte mich an meinen kleinen Junggesellentisch

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und nahm den Busfahrschein mit Maschas Telefonnum-mer aus der Brieftasche.

In England hatte ich vor unserer Beziehung nur ein ein-ziges Verhältnis mit einer Frau, das man ernsthaft nennenkönnte – mit Natalie –; ich glaube, du weißt über sie Be-scheid. Wir kannten uns vom College. Vor jener bierseli-gen Geburtstagsparty irgendwo in Shoreditch hätten wirallerdings wohl beide nicht geglaubt, dass wir füreinanderin Frage kämen. Und ich fürchte, nachdem es mit uns ein-mal angefangen hatte, fehlte es uns beiden an der nötigenEnergie, die Sache wieder zu beenden, weshalb Nataliesechs oder sieben Monate später in meine alte Bleibe zog,obwohl ich mich explizit weder dafür noch dagegen aus-gesprochen hatte. Und als sie dann wieder auszog, weilsie Zeit zum Nachdenken brauchte und fand, ich solltemir ebenfalls Gedanken machen, war ich zwar nicht ge-rade erleichtert, aber auch nicht am Boden zerstört. Nochehe ich nach Moskau ging, hatten wir uns wieder aus denAugen verloren.

Es hatte für mich ein paar Russinnen gegeben, die rich-tige Freundinnen zu werden schienen, doch hatte keineBeziehung länger als einen Sommer gedauert. Eine ver-zweifelte an mir, weil ich nicht hatte und wollte, wassie wollte und erwartete: ein Auto, den dazu passendenChauffeur und einen dieser dämlichen kleinen Hunde,die man neuerdings durch die Designerläden in denKopfsteinpflastergassen beim Kreml schleift. Dann warda eine, ich glaube sie hieß Dana, die nach der drittenÜbernachtung bei mir begann, Kleinigkeiten im Kleider-

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schrank sowie im Schränkchen über dem Waschbeckenim Badezimmer zu verstecken: einen Schal, eine leere Par-fümflasche, Zettel, auf denen auf Russisch stand, dass siemich liebte. Ich habe Steve Walsh danach gefragt (du er-innerst dich an Steve, den ewig lüsternen Auslandskor-respondenten? Du bist mal mitgekommen, als ich michmit ihm in Soho traf und hast ihn nicht gemocht). Er sagte,sie markiere ihr Territorium, damit andere Frauen, dieich vielleicht mit nach Haus brachte, wussten, sie kamenzu spät. In jenem September damals musste man in Mos-kau genau aufpassen, mit wem man ausging – wegen Aids,aber auch, weil Ausländer, die in Clubs verkehrten,Frauen kennenlernten, den Drink auf dem Tisch stehen-ließen, wenn sie pinkeln gingen, um dann ohne Brief-tasche auf der Rückbank eines Taxis aufzuwachen, das sieihres Wissens nie bestellt hatten, oder mit dem Gesichtnach unten in einer Pfütze oder – auch das kam ein-, zwei-mal vor – die, war die Dosis falsch kalkuliert, überhauptnicht mehr aufwachten.

Ich habe für mich nie gefunden, was Leute wie meinBruder hatten oder was meine Schwester zu habenglaubte, bis sie es nicht mehr hatte, das, worauf du und ichuns jetzt einlassen: der Vertrag, die Abmachung, auf im-mer und alle Zeit derselbe Körper – und dafür, im Aus-tausch, der Beistand, die Kosenamen und nachts dasÜber-den-Kopf-Streicheln, wenn einem nach Weinen zu-mute ist. Ehrlich, ich habe immer geglaubt, ich wollte dasnicht, niemals, dachte, ich könnte einer dieser Leute sein,die ohne glücklicher sind. Vielleicht haben meine Eltern

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mich davon abgebracht – zu jung angefangen, ein Kindnach dem anderen, ohne richtig drüber nachzudenken,und bald vergessen, was ihnen an dem Ganzen einmal ge-fallen hatte. Damals kam es mir vor, als säßen Mum undDad bloß noch ihre Zeit ab, zwei alte Köter, eingesperrtim selben Zwinger, doch zu müde, um noch zu kämpfen.Zu Hause sahen sie ständig fern, damit sie nicht miteinan-der reden mussten. Ich bin mir sicher, die wenigen Male,die sie zum Essen ausgingen, waren sie eines dieser pein-lichen Paare, die sich gegenseitig stumm etwas vorkauen.

Als ich aber Mascha an jenem Tag im September ken-nenlernte, war ich irgendwie davon überzeugt, sie könntees sein, jene ›Eine‹, nach der ich suchte. Allein, die wildeHoffnung war wunderbar. Sicher, zwischen uns gab esetwas Körperliches, doch auch mehr als das. Vielleichtwar es einfach der richtige Augenblick, denn ich meinte,gleich beim ersten Mal zu sehen, wie ihr Haar offen übereinen Bademantel aus Frottee fiel, während sie Kaffeemachte, wie sie im Flugzeug schlafend den Kopf an michlehnte. Ich schätze, wäre ich sehr unverblümt, könnte ichsagen, ich hatte mich verliebt.

Durch die offenen Fenster drang der Duft der Pappelnin die Küche, zusammen mit dem Lärm von Sirenen, demGeräusch von zersplitterndem Glas. Etwas in mir wollte,dass sie meine Zukunft war, und etwas anderes in mirwollte, dass ich tat, was ich hätte tun sollen, und den Bus-fahrschein mit Maschas Telefonnummer aus dem Fensterin die rosige, vielversprechende Abendluft warf.

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ZWEI

Ich rief sie am nächsten Tag an. In Russland hält mannicht viel von telefonischer Zurückhaltung, vorgetäusch-tem Warten oder sonst irgendwelchen Ablenkungs-manövern, von diesem ganzen Kriegsspiel der Bezie-hungsanbahnung, das wir beide in London durchexerzierthaben – außerdem, fürchte ich, konnte ich gar nicht an-ders. Ich ließ mich zu ihrem Anrufbeantworter durch-stellen und gab meine Handynummer sowie die Nummerim Büro an.

Drei Wochen hörte ich nichts von ihr, und fast wärees mir gelungen, nicht mehr an sie zu denken. Aber auchnur fast. Es half, dass ich – wie in Moskau damals alle An-wälte aus dem Westen – ziemlich viel zu tun hatte. In Sibi-rien quoll das schwarze Gold aus dem Boden, und zu-gleich rollte eine wahre Geldflut über uns hinweg. Einneuer Schlag russischer Konglomerate zerfleischte sichgegenseitig, und ausländische Banken liehen ihnen dieMilliarden, die sie brauchten, um einander aufzukaufen.In unserem Büro trafen sich Banker mit russischen Ge-schäftsleuten, um ihre Bedingungen auszuhandeln: dieBanker mit geweißtem Lächeln und Doppelmanschetten,