Mistilteinn 2011

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MISTILTEINN Beiträge zur Mistelforschung HISCIA 9 2011

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Magazin des Verein für Krebsforschung, Institut Hiscia

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MISTILTEINNBeiträge zur Mistelforschung

HISCIA

9 2011

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MISTILTEINNBeiträge zur Mistelforschung 9 2011

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Hartmut RammRudolf Steiner und das Wesen der Mistel 4

Konrad Urech«In Kälte erstarren» und «in Schönheit vergehen» – Eine Studie zur Giftwirkung der Mistel 26

Gertraud und Gerd SchorerDie Mistelin Holzschnitten der Kräuterbücher 46

Dorian Schmidt und Stephan Baumgartner

Eine Bildekräftebetrachtung der Mistel 66

Renatus Ziegler und Stephan BaumgartnerGlossar zum Artikel «Eine Bildekräfte-betrachtung der Mistel» 88

Bildnachweis und Impressum 100

Mistilteinn ist ein Publikationsorgan des Instituts Hiscia, in dem Resul-tate aus der Arbeit mit der Mistel (Viscum album L.) zur Darstellung kommen. Wissenschaftliche Untersuchungen sowie künstlerische Dar-stellungen sollen zum Verständnis der Bildeprozesse der Mistel und ihrer pharmazeutischen Verarbeitung beitragen.Der Name Mistilteinn weist auf altnordische Traditionen hin, in wel-chen der Mistel mythologisch-weltgeschichtliche Bedeutung zukommt. Ihre darin berührte Wesensgestalt gehört zu den von Rudolf Steiner erkannten Grundlagen für die Verarbeitung der Mistelpflanze zum spe-zifischen Krebsheilmittel.

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Editorial

Für das Redaktionskollegium

Mit diesem Heft kommt ein weiteres Mal die Vielfalt der Mistel und ihrer Erforschung zum Ausdruck. Hartmut Ramm gibt eine Übersicht zu Steiners Verhältnis zur Mistelpflanze und zum Wesen der Mistel, die wichtige Motive aus seinem Lebensgang aufnimmt und zu einem Gesamtbild vereinigt. So hatte Steiner vermutlich schon als junger Student Begegnungen mit der Mistel und der mit ihr verbundenen mythologischen Tradition. Auf der Grundlage seiner Studien zur Goetheschen Metamorphosenlehre und ihrer Einbettung in die kosmische Evolu-tion greift er später in seinem Leben das Thema Mistel wieder auf und entwickelt daraus in vielen Vorträgen seine bis in konkrete Einzelheiten reichenden medizinischen Ausführungen zur Mistel als spezifischem Heilmittel für die Krebserkrankung.Wie Konrad Urech und andere bereits in früheren Arbeiten verdeutlicht haben, spielt die Polarität von Prozessen in Gestalt- und Substanzbildung der Mistelpflanze eine hervorragen-de Rolle. Der sich in der Giftwirkung zeigende Gegensatz erweist sich als Grundprinzip der beiden Giftsubstanzgruppen der Mistel, der Viscotoxine und der Mistellektine, der sich auch in der räumlichen und zeitlichen Verteilung in der Mistel zeigt. Wie in der vorliegenden Arbeit nachgewiesen wird, sind auch die polaren Absterbeprozesse in der Pflanzenwelt (Holzbildung und Zerfall der Blüten) in ihrer Metamorphose in der Mistel verwandt mit der genannten Polarität: Die in der Mistel zurückgehaltenen Absterbeprozesse der Gestaltbil-dung erscheinen verwandelt auf der Ebene der Substanzbildung in den Giftprozessen.Gertraud und Gerd Schorer zeigen in ihrer Arbeit mit vielen reich kommentierten und far-benprächtigen Abbildungen, insbesondere von Holzschnitten aus Inkunabeln und frühen Drucken, wie sich die Illustration von medizinisch orientierten Kräuterbuch-Texten von einer unwichtigen, kaum erkennbaren Darstellung der Mistel zu einem eigenständigen Instrument der naturgetreuen Präsentation verwandelt hat, welche auch eine eindeutige botanische Identifizierung der Mistel ermöglicht. Die im Laufe des 17. Jahrhunderts eingesetzte Technik des Kupferstiches hat diese Tendenz weiter begünstigt.Dorian Schmidt hatte vom Institut Hiscia den Auftrag angenommen, eine Untersuchung zu den Bildeprozessen der Mistel mittels nicht-sinnlicher Erfahrungen durchzuführen. Der Artikel von Dorian Schmidt und Stephan Baumgartner skizziert auf der Grundlage methodischer Überlegungen zu Zielsetzung und Vorgehensweise einige Beobachtungsergebnisse in Wort und Bild, die einen Eindruck von der Vielfalt und der Tragweite der eingesetzten Erfahrungs-mittel wecken. Es zeigt sich, dass die selbständig – das heisst ohne Vorwissen von Steiners Erkenntnisergebnissen – von Dorian Schmidt gewonnenen Einsichten eng mit den von Stei-ner stammenden Hinweisen zur besonderen Qualität der Mistelpflanze zusammenstimmen.Zur Erläuterung der vorangehenden Darstellung der Bildekräfte-Konfiguration der Mistel dient ein von Renatus Ziegler und Stephan Baumgartner erarbeitetes Glossar. Dieses soll einige spezifische anthroposophische Termini erklären, die im Aufsatz selbst in ihrer Begrifflichkeit nicht entwickelt werden konnten.

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Hartmut Ramm

Rudolf Steiner und das Wesen der Mistel

Die Beziehung zwischen Mistel und Mensch wird in histori-schen Dokumenten auf unterschiedliche Weise charakterisiert. In der Aeneis des Vergil (70 – 19 v. Chr.) beschützt der goldene Zweig den Helden auf seinem Weg in die Unterwelt und er-möglicht Aeneas, dass der Vater ihn im Reich der Seligen über wiederholte Erdenleben und Schicksalsgestaltung belehrt [1]. Plinius (23 – 79 n. Chr.) überliefert in seiner Naturgeschichte, wie die keltischen Druiden die Mistel in den Jahrhunderten vor der Zeitenwende als die «Allesheilende» verehrt haben, die nie-mals die Erde berühren durfte [2]. Der Baldur-Mythos des Snorri Sturluson (1179 – 1241 n. Chr.) schildert die Mistel schliesslich als Instrument, mit dem die beiden Widersacher Loki und Hö-dur den Sonnengott Baldur töten [3]. Drei verschiedene Merk-male – vertiefte Erkenntnis, umfassende Heilung und ein rätsel-hafter Tod – kennzeichnen in diesen Werken die Beziehung von Mensch und Mistel. Zugleich deuten sie auf einen Wandel dieser Beziehung im Laufe der Zeit.Anfang des 20. Jahrhunderts beginnt Rudolf Steiner über die Mistel zu arbeiten. Dabei knüpft er an den Baldur-Mythos an und erläutert, wie der Tod des Baldur auch den Verlust einer alten, atavistischen Hellsichtigkeit symbolisiert. Bemerkenswert ist, dass Steiner selbst mit seiner Anthroposophie neue Wege erschliessen will, auf denen der moderne Mensch wieder Er-kenntnisse höherer Welten erlangen kann. Als höchste Erkennt-nis sieht er dabei die Einsicht in Gesetze von Reinkarnation und Karma an – und knüpft damit auch an ein Motiv an, das Vergil zweitausend Jahre zuvor mit dem goldenen Mistel-Zweig verbunden hat.Steiner greift die Mistel aufgrund seiner Erkenntnismethodik al-lerdings ganz neu und erkennt als erster ihre spezifische Heil-kraft für die Krebserkrankung [4]. Interessanterweise interpretiert

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zur gleichen Zeit der Jugendstil die Mistel künstlerisch als viel-fältiges Gestaltungsmotiv [5]; und der Münchner Botaniker Karl von Tubeuf schafft ein solides naturwissenschaftliches Erkennt-nisfundament für die geheimnisvolle Heilpflanze, indem er alle damals bekannten Aspekte in seiner umfassenden Monogra-phie der Mistel zusammenträgt [6]. In dieser Atmosphäre einer gesteigerten geistigen Aufmerksamkeit für die Mistel erarbeitet Rudolf Steiner ab 1904 mit Vorträgen zur Mistel zunächst die geisteswissenschaftlichen Grundlagen und damit ein neues Ver-ständnis für das Mistelwesen, bevor er dann im April 1920 die Mistel als spezifisches Heilmittel für die Krebserkrankung vorstellen kann [7].

Rudolf Steiner um 1891/92 (Radierung von Otto Fröhlich)

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Frühe Begegnung mit der Mistel

Manches spricht dafür, dass der 1861 geborene Rudolf Steiner der Mistel schon sehr früh in der Natur begegnet ist. Von 1872 bis 1879 besuchte er die Realschule in Wiener Neustadt und musste oft den einstündigen Heimweg nach Neudörfl zu Fuss bewältigen [8]. Wie Tubeuf in der Monographie der Mistel be-legt, ist die Region um Wiener Neustadt ausgesprochen reich an Misteln: nebst Kiefern und Tannen kam die Mistel seinerzeit dort auf vielen, teilweise auch ausgefallenen Laubbaumarten vor [9]. Und weil der junge Steiner diesen Weg auch im Winter zurücklegen musste, ist es recht wahrscheinlich, dass er schon damals in den entlaubten Kronen auf die kugelige, immergrüne Pflanze aufmerksam wurde und sich seine Gedanken zu deren geheimnisvoller Erscheinung bildete.

Diese Gedanken dürften eine fruchtbare Vertiefung erfahren haben, als Steiner von 1879 an die Wiener Technische Hoch-schule besuchte und auf der Fahrt in die Stadt einen Kräuter-sammler kennen lernte. Er selbst schreibt dazu [10]: „Er fuhr jede Woche mit demselben Eisenbahnzug nach Wien, den ich auch benützte. Er sammelte auf dem Lande Heilkräuter und verkaufte sie in Wien an Apotheken. Wir wurden Freunde. [...] Wenn man mit ihm zusammen war, konnte man tiefe Einblicke in die Geheimnisse der Natur tun. Er trug auf dem Rücken sein Bündel Heilkräuter; aber in seinem Herzen trug er die Ergebnis-se, die er aus der Geistigkeit der Natur bei seinem Sammeln gewonnen hatte.“

Der Student hatte auch Gelegenheit, den neuen Freund auf seinen Wegen in der Natur zu begleiten. So berichtet Steiner später in einem Vortrag [11], wie er den Kräutersammler Felix Koguzki in seinem Hause aufsuchte, wo er „ [...] in einem ab-gelegenen einsamen Gebirgsdörfchen mit seiner bäuerlichen Familie lebte, das Zimmer voll hatte mit mystisch-okkulter Lite-ratur, selber tief eingedrungen war in mystisch-okkulte Weis-heit. [...] Er sammelte überall in den dortigen Gegenden die verschiedensten Pflanzen und verstand es, jede einzelne Pflan-ze aus ihrem Wesen, aus ihren okkulten Untergründen heraus zu erklären. In jenem Manne waren ganz ungeheure okkulte Tiefen. Es war bedeutsam, was mit ihm besprochen werden konnte, wenn man ihn auf seinen einsamen Wanderungen be-gleitete.“

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Ganz besonders hebt Steiner die Sprache hervor, die in die-sem einfachen, aber weisen Mann aus dem Volke lebte [12]: „Dieser Mann sprach eigentlich eine Sprache, die ganz an-ders klang als die Sprache der übrigen Menschen. Wenn er von den Baumblättern sprach, wenn er von den Bäumen selbst sprach, namentlich aber wenn er von der wunderbaren Wesen-haftigkeit seiner Heilkräuter sprach, so merkte man, wie dieses Mannes Seele zusammenhing mit alledem, was den Geist der Natur gerade in jener Gegend ausmachte. ... Dieser Mann war ein Weiser auf seine eigene Art.“

Felix Koguzki

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Die Mistel gehörte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts noch immer zu den Heilpflanzen, die in keinem Haushalt fehlen durf-ten. Pfarrer Sebastian Kneipp [13] etwa legte damals allen Müttern ans Herz, „recht gute Bekanntschaft mit diesem Kraute zu machen.“ Deshalb ist die Annahme nicht abwegig, dass der Kräutersammler Felix Koguzki in dem Bündel auf seinem Rücken auch Mistelzweige mit sich führte und den jungen Steiner durch seine wunderbare Art, über die Pflanzen zu sprechen, auf ge-meinsamen Wanderungen durch die Natur auch auf die beson-deren Wesenzüge der Mistel aufmerksam gemacht hat [14].

Bewahrte Druidenweisheit

Etwa zur gleichen Zeit, als der junge Rudolf Steiner in Wien zu studieren begann, wurde publik, dass sich nahe jener Gegend, wo er Kindheit und Jugend verbrachte, ein altes Wissen über diese geheimnisvolle Heilpflanze erhalten hatte. Ein derart aus alten Zeiten heraufragendes Wissen wird oft in Form überliefer-ter Sprachgebräuche bewahrt. Bekanntes Beispiel hierfür sind die «Oberuferer Weihnachtsspiele», die der Sprachforscher Karl Julius Schröer, der an der Hochschule Steiners wichtigster Lehrer und zugleich Mentor war [15], vor dem Vergessen be-wahrt hat. Ein anderer österreichischer Sprachforscher namens Franz Ferk veröffentlichte 1877 seine Untersuchungen über «Druidismus in Noricum», die er in der Steiermark, der ehe-maligen römischen Provinz Noricum, durchgeführt hatte. Wie Schröer sammelte auch Ferk Relikte eines alten, längst nicht mehr verstandenen Wissens, die sich in der Dialektsprache der einheimischen Bevölkerung erhalten hatten.

Zahlreiche Beispiele aus Ferks Abhandlung zeugen davon, wie tief früher in jener Gegend der Mistelkult verankert gewesen sein muss. Bedeutsam aber ist vor allem ein Bericht „über das Sammeln der Misteln im Trunenorden um Bretstein“, einem ent-legenen Bergdorf. Dort wird geschildert, wie die Druiden in Noricum den Mistelkult zelebrierten [16]: “Wenn die Trunen [Druiden] Misteln sammeln gehen, so reitet der Hopatatsch, das ist der oberste unter ihnen, in schwarzem Gewande, auf einem schwarzen Rosse mit silbernem Zaum der Prozession voran. Ihm zur Seite reitet barfuss der Ceremonienmeister auf einem weissen Rosse mit goldenem Zaume. In der Hand trägt dieser eine goldene Sichel, die in einen Schlangenkopf en-det. An Ort und Stelle angelangt, reiten sie dreimal um den

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‘Mistelstrauch’. Dann kommen die niederen Trunen mit einem grossen, schneeweissen Tuche und halten es ausgebreitet un-ter demselben. Nun reitet der Ceremonienpriester zum ‘Mis-telbaum’, verrichtet daselbst ein Gebet, zieht dann ein weisses Gewand an und schneidet mit einer goldenen Sichel, deren Griff er mit einem weissen Tuch umwickeln muss, den ‘Mistel-strauch’ ab, der sodann von den unten stehenden Trunen in das grosse, weisse Tuch aufgefangen wird.”

Diese Darstellung untermauert die entsprechende Schilderung von Plinius nicht nur, sondern erweitert sie massgeblich. Denn bei Plinius ist nur von einem, dem weiss gekleideten Druiden die Rede, in Ferk’s Überlieferung dagegen von zwei Druiden, die bis in Einzelheiten – wie gold und silber, weiss und schwarz, aktiv und passiv – als Polarität charakterisiert sind [17]. Es ist sicher spekulativ, doch nicht auszuschliessen, dass der vielseitig interessierte Rudolf Steiner mit diesem uralten Wissen um die Bedeutung der Mistel in Berührung kam. Schon als ganz junger Mensch könnte er gespürt haben, was sich in der geistigen Atmosphäre jener Gegend erhalten hatte; es könnte ihm auch der Kräutersammler Felix Koguzki davon erzählt haben; nicht zuletzt kann Steiner durch seinen Mentor Karl Julius Schröer auf Franz Ferk’s Forschungsergebnisse zum Druidismus und zur Mistel aufmerksam gemacht worden sein.

Titelblatt der Publikationvon Franz Ferk

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Naturwissenschaft und Goetheanismus

Steiner dürfte während des Studiums an der Wiener Technischen Hochschule, das er im Herbst 1879 aufnahm, auch mit der na-turwissenschaftlichen Seite der Mistel vertraut gemacht worden sein. Er nahm an botanischen Übungen teil und belegte Vorle-sungen «Über wichtigere Familien der Phanerogamen» [18], und es ist anzunehmen, dass darin auch die Mistel zur Sprache kam. Denn die parasitisch lebende Pflanze zog damals durch ihre spezielle Art, im Baum ein wurzelartiges Organ zu bilden, die Aufmerksamkeit der botanischen Wissenschaft auf sich. So widmet Julius Sachs, einer der grossen Botaniker des 19. Jahr-hunderts, der Mistel breiten Raum in seinen «Vorlesungen über Pflanzenphysiologie» und stellt mit einer instruktiven Zeichnung das Haustorialsystem der Mistel in natürlicher Grösse vor [19].

Steiner hatte allerdings bereits während des akademischen Studiums die Gelegenheit, durch eine intensive Beschäftigung mit Goethe und dessen naturwissenschaftlichen Arbeiten die Entwicklung der Pflanze auch mit einem anderen Blick zu verfol-gen. Vermittelt durch seinen Mentor und Lehrer Karl Julius Schröer wurde er 1882 damit beauftragt, Goethes Naturwissenschaft-liche Schriften zu kommentieren und in Kürschner’s Deutscher National-Literatur herauszugeben. Als zentralen Gedanken darin erkannte Steiner schon damals die Idee von der Meta-morphose der Pflanze, die Goethe 1790 veröffentlicht hatte.

Zeichnung des Mistelhaus-toriums (aus [19], S. 33)

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Goethe beschreibt darin das Prinzip von «Polarität und Steige-rung», nach dem sich die Pflanzenwelt in einem Prozess dreifa-cher Ausdehnung und Zusammenziehung stufenweise aus dem Samenkorn über Blattentfaltung, Blütenbildung und Fruchtrei-fung bis in den neuen Samen entwickelt. In seinem Kommentar [20] erläutert Steiner diese „abwechselnde Ausdehnung und Zusammenziehung: Indem das entelechische, aus einem Punkte wirkende Prinzip des Pflanzenlebens ins Dasein tritt, manifestiert es sich als räumlich, die Bildungskräfte wirken im Raume. Sie erzeugen Organe von bestimmter räumlicher Form. Nun kon-zentrieren sich diese Kräfte entweder, sie streben gleichsam in einem einzigen Punkte zusammen, und dies ist das Stadium der Zusammenziehung, oder sie breiten sich aus, entfalten sich, sie trachten sich gewissermassen voneinander zu entfernen: dies ist das Stadium der Ausdehnung. Im ganzen Leben der Pflanzen wechseln drei Ausdehnungen mit drei Zusammenziehungen. Alles, was in die dem Wesen nach identischen Bildungskräfte der Pflanze Verschiedenes hineinkommt, rührt von dieser wech-selnden Ausdehnung und Zusammenziehung her.“

Goethes Idee der Metamorphose ist für Steiner ein wichtiger Ausgangspunkt, als er später die Anthroposophie entwickelt. Die Mistel lässt sich mit diesem geistigen Instrument ebenso verstehen wie ihre pharmazeutische Verarbeitung, die als prak-tische Anwendung der Anthroposophie ebenfalls aus den Prin-zipien von Polarität und Steigerung entwickelt worden ist.

Steiners schematische Darstellung zum Prinzip von Ausdehnung und Zusammenziehung [20]

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Die Mistel im Vortragswerk Rudolf Steiners

Mistel und Baldur-Mythos

Eine knappe Bemerkung Steiners zum Baldur-Mythos bildet am 30. September 1904 den Auftakt zu einer Folge von knapp 30 Betrachtungen zur Mistel [7], die sich über 20 Jahre erstrecken und wie Berichte aus der Frühphase der anthroposophischen Mistelforschung lesen: „Wir kennen die Sage Baldurs, wissen, dass Baldur die Hoffnung der Götter ist, dass er vom Gotte Loki getötet wird mit dem Mistelzweig.“ [21] Steiner deutet bei dieser ersten Mistelerwähnung ferner an, dass die mythologi-sche Mistel-Darstellung in Sturluson’s «Prosa-Edda» auch uralte Druidenweisheit enthält. Allerdings dürfte er dabei weniger auf die einseitige Darstellung von Plinius blicken, sondern vielmehr auf die beiden polar geschilderten Druiden im Mistelkult aus der Steiermark. Denn auch im Baldur-Mythos spielt die Polarität zweier unterschiedlicher Wesenheiten die zentrale Rolle: „Der listige Loki nahm die Mistel und brachte sie dem blinden Gotte Hödur, der, unwissend, was er tat, mit der Mistel den Baldur tötete.“ [22]

Steiner interpretiert diese beiden polaren Wesenheiten in den folgenden Ausführungen zur Mistel auch geisteswissenschaftlich: mit dem listigen Loki sei der dem Licht und der Verflüchtigung zu-gewandte Luzifer [23], mit dem blinden Hödur dagegen eine dem Dunkel und der Verhärtung zuneigende ahrimanische We-senheit charakterisiert. Diese Polarität im Wesenhaften bildet zugleich eine Brücke zu den in Goethes Metamorphosenlehre zentralen Begriffen von «Ausdehnung und Zusammenziehung» sowie den damit verbundenen Kräften, die er später konkreti-siert.

Die Mistel als zurückgebliebenes Wesen

In den Ausführungen zum Baldur-Mythos belebt Steiner die in mythologischen Bildern verdichtete Druidenweisheit mit geistes-wissenschaftlichen Begriffen. Er beschreibt die Mistel als „Ty-pus von einem zurückgebliebenen Lebewesen,“ [24] das einen frühen Entwicklungszustand der Pflanzenwelt nicht überschritten hat. Die Mistel habe „auf der Erde den Anschluss nicht gefun-den“ [25] und sei – wegen ihrer besonderen Eigenschaften – als eine Art „zurückgebliebenes Pflanzentier“ [26] zu verstehen. Steiner arbeitet diese Erkenntnisebene der Mistel aus, wäh-rend er gleichzeitig – als Antwort auf Ernst Haeckels im Jahr

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1900 publizierte «Welträtsel» [27] und als Erweiterung von dessen Evolutionsgedanken – über die kosmische Entwicklung der Welt und des Menschen vorträgt. Die Zusammenfassung dieser Geistesforschung veröffentlicht Steiner 1910 in dem grundlegenden Werk «Die Geheimwissenschaft im Umriss» [28], durch das die Mistel – ohne dass sie in diesem Buch erwähnt wird – dennoch auch in der geisteswissenschaftlichen Perspektive der Evolution ihren Ort zugewiesen erhält.

Die Mistel – eine Pflanze ohne Wurzel

In einem dritten Schritt verknüpft Steiner die mythologische und die geisteswissenschaftliche Sicht der Mistel mit der zeitgenössischen Botanik und betont, dass die Mistel in der Erde nicht „Wurzel fassen“ [29] konnte. „Sie muss deshalb in der heutigen Pflanzenwelt schmarotzen, weil sie ein zu-rückgebliebenes Wesen ist.“ [30] Im Jahr 1910 erläutert er in einem öffentlichen Vortrag über den „Geist im Pflanzen-reich“ [31], wie naturwissenschaftliche Ergebnisse diesen geisteswissenschaftlichen Befund stützen. Botaniker hatten gerade aufgedeckt, dass die Wurzelspitzen höherer Pflan-zen Stärkezellen enthalten, die als eine Art Sinnesorgan

Mistel und Mondsichel am 6. Tag nach Neumond

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die vom Erdmittelpunkt ausstrahlende Schwerkraft wahrnehmen und das Wachstum der Wurzel entsprechend geotrop orientie-ren. In vergleichenden Untersuchungen – so Steiner – konnten sie auch feststellen, „dass die Mistel nicht jene eigentümlichen Stärkezellen hat, welche die Pflanzen dahin bringen, nach dem Mittelpunkt der Erde zu zeigen.“ Der Mistel fehlt also nicht nur die Wurzel, sondern auch das Sinnesorgan für die Erde.

Mistelsenker Pflanzenwurzel

Mistel und Gift

Steiner weist darauf hin, „dass es eine grosse, weise Intuition unserer Vorfahren war, die sie dazu führte, in der Mistel be-sonders heilende Kräfte und Säfte zu suchen,“ [32] und betont bereits 1907: „Die Mistel ist auch ein bestimmtes Heilmittel, wie überhaupt Gifte Heilmittel sind.“ [33] Auf entscheidende Weise charakterisiert er die heilende Giftqualität der Mistel dann am 31. Dezember 1916 [34]: „Dass eine Schmarot-zerpflanze einen gewissen Grad von Giftwirkung ausübt, das drückt sich in so wunderbarer Weise dadurch aus, dass Bal-dur gerade durch die Mistel getötet worden ist; es bezeugt,

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dass ein Bewusstsein von der Gradation des Giftwertes in der Welt vorhanden war: dass der Saft der Mistelpflanze einen anderen Giftwert hat, als der ist, den der Mensch vertragen kann.“ Gift habe auf den Menschen eine retardierende Wir-kung, der Tumor dagegen stelle einen objektiv beschleunigten Prozess dar. Mistel und Krebs werden hier erstmals gemeinsam im selben Vortrag erwähnt, doch bezeichnet Steiner die Mistel an dieser Stelle noch nicht wörtlich als Heilmittel für den Tumor. Seine Gedankenführung legt jedoch nahe, dass die Giftwir-kung der Mistel ein Gegenmittel zum Krebs bildet.

Die junge Ärztin Ita Wegman hörte diesen Vortrag und begann im Frühjahr 1917 in ihrer Zürcher Praxis Krebspatientinnen er-folgreich mit der Mistel zu behandeln [35]. Aufgrund ihrer Vor-arbeit konnte Steiner dann im April 1920 dem ärztlichen Fach-publikum eine erprobte und bewährte Misteltherapie vorstellen.

Ita Wegman um 1917

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Mistel und Antitendenz

In dem ersten Kurs, den Steiner vor Medizinern hält, untersucht er die phänomenologischen Besonderheiten der Mistel noch genauer und betont einleitend, „dass Sie also in der Mistel-bildung eine Steigerung, verbunden mit einer Art Abtrennung von den Erdenkräften, desjenigen zu sehen haben, was sonst in der Blüten- und Samenbildung vorliegt. Es emanzipiert sich gewissermassen dasjenige, was in der Pflanze unirdisch ist, gerade in der Mistelbildung.“ [36] Zu beachten sei, dass die „ganze Art und Weise, wie die Mistel wächst und gedeiht dadurch, dass sie eben sich an anderen Pflanzen ansetzt, das ist das besonders Wichtige. Dadurch eignet sich die Mistel eben ganz besondere [...] Kräfte an, die etwa in der folgenden Weise bezeichnet werden können: sie will vermöge ihrer Kräfte alles dasjenige nicht, was die geraden Organisationskräfte, die geradlinig sich entwickelnden Organisationskräfte wollen, und sie will dasjenige, was die geradlinig sich entwickelnden Organisationskräfte nicht wollen.“ [37]

Bis in die Wortwahl knüpft Steiner hier mit dem Begriff «Or-ganisationskräfte» an seine frühen Goethe-Studien an, wo er im Aufsatz über «Die Entstehung der Metamorphosenlehre» ge-schrieben hatte [38]: „Indem die Kräfte, welche das Wesen der Pflanze organisieren, ins wirkliche Dasein treten, nehmen sie eine Reihe räumlicher Gestaltungsformen an. Es handelt sich nun um den lebendigen Begriff, welcher diese Formen rück-wärts und vorwärts verbindet. Wenn wir die Metamorphosen-lehre, wie sie uns aus dem Jahre 1790 vorliegt, betrachten, so finden wir darinnen, dass bei Goethe dieser Begriff der des wechselnden Ausdehnens und Zusammenziehens ist.“

Mistelblüte Rosenblüte

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Mit Bezug auf die eigentümliche Lebensweise der Mistel prägt Steiner den Begriff der «Antitendenz» (siehe hierzu auch den Beitrag von Konrad Urech). Diese Antitendenz äussert sich un-ter anderem auch in einem andersartigen Vegetationsrhythmus. Denn die Mistel blüht, „bevor die Bäume, auf denen sie wächst, mit ihrer Laubbildung im Frühling beginnen“, und schützt sich dann „durch das Laub der Bäume [...] vor den zu intensiv wir-kenden Sonnenstrahlen oder Lichtwirkungen des Sommers.“ Die Antitendenz der Mistel ist also nicht nur im Räumlichen, sondern auch im Zeitlichen veranlagt. Ganz generell gilt deshalb für die Antitendenz: „Die Mistel mag nicht gerne zur Erde.“ [37]

Das Karzinom als isolierte «Neubildung» im Organismus des Menschen– Rudolf Steiners Wandtafelskizze zum Vortrag am 2. April 1920(© Rudolf Steiner Nachlassverwaltung, Dornach)

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Mistel und Karzinom

Auf dieser Grundlage stellt Steiner dann im 13. Vortrag seines ersten Medizinerkurses die Mistel als Heilpflanze für das Kar-zinom vor. So wie sich im Tumor die physische Organisation mit ihren Kräften auflehnt „gegen das Hereinwirken der Aether-kräfte, so dass die Aetherkräfte sich gewissermassen stauen und halt machen und dadurch das, was wie eine Neubildung aussieht, eben entsteht, so ist es die Mistel, welche dieser Ein-sackung, die sich da gebildet hat, entgegenwirkt. Sie zieht ge-wissermassen das wiederum an die Stelle hin, wo es nicht hin will.“ Denn durch ihre Antitendenz „eignet sich die Mistel eben ganz besondere Kräfte an; sie konserviert durch den Irrsinn der in ihr wirksamen Natur diejenigen Kräfte, welche eben entge-genwirken dem gewöhnlichen Gang der Ereignisse.“ Überall könne man sehen, „dass die Mistel in sich hat dieses dem menschlichen Organismus Entgegenwirken.“ [37]

Steiner charakterisiert die Mistel, der – wie schon erwähnt – das Sinnesorgan für die Schwerkraft fehlt, auch als Heilmittel gegen eine Art Sinnesorganbildung an falscher Stelle, wie sie im Karzinom vorliegt: „Wird daher die Ich-Entwicklung zu stark, so bildet sich im menschlichen Organismus nicht bloss der Sinn in normaler Weise, sondern es entsteht eine starke Neigung, Sinne zu bilden. Und die Karzinombildung tritt auf. [...] Der Mensch wird zu stark Erde, indem er die Krebsbildung in sich hat; er bildet zu stark die Erdenkräfte in sich aus. Diesen über-triebenen Erdkräften muss man diejenigen Kräfte entgegenset-zen, die einem Zustand der Erde entsprechen, wo das Mineral-reich und die heutige Erde noch nicht da waren. [...] Ich sehe heute in der Mistel das, was nicht reine Erdenbildung hat wer-den können; es muss auf der fremden Pflanze aufsitzen, weil das Mineralreich am letzten in der Erdentwicklung entstanden ist. Und in der Mistelsubstanz haben wir das, was in der ent-sprechenden Weise verarbeitet, sich als Heilmittel gegen die Karzinom-Bildung darstellt, das die Sinnesorganbildung an fal-scher Stelle innerhalb des menschlichen Organismus austreibt.“ [39]

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Verarbeitung der Mistel

Bereits am 2. April 1920, als er die anthroposophische Mis-teltherapie begründet, unterstreicht Steiner, wie sehr „der prak-tische Heilungsprozess [...] von der Verarbeitung der Mistel-substanz“ abhängt, und betont: „Nun ist die Mistel zweifellos dasjenige, durch dessen Potenzierung man erreichen wird müs-sen das Ersetzen des Chirurgenmessers bei den Geschwulstbil-dungen. Es wird sich nur darum handeln, dass man namentlich die Mistelfrucht, aber durchaus im Zusammenhang mit anderen Kräften der Mistel selber, in der richtigen Weise wird behan-deln können, um sie zum Heilmittel zu machen.“ [37]

Unmittelbar nach dem ersten Medizinerkurs entwickelt Steiner Ende April 1920 die bis heute gültigen Grundprinzipien der an-throposophischen Mistelpharmazeutik. Die Antitendenz in der Zeit greift er auf durch die Ernte der Mistel im Hochsommer und im Tiefwinter, also in zwei polaren Jahreszeiten. Die morpho-logisch-räumliche Antitendenz der Mistel steigert er durch die Verarbeitung von Sommer- und Winterextrakt in einem Prozess, dessen Komponenten in zwei polare Raumesrichtungen – auf den Punkt in der Mitte der Erde und in die flächige Ausdehnung in der Peripherie – zielen. Steiner erläutert dazu am 3. Septem-ber 1923: „Wenn wir dasjenige, was nun im Mistelprozess wirkt, unmittelbar nehmen und dem Menschen einführen, so verändert es sich wiederum [...] zu stark. Und daher wird nun versucht, dasjenige, was im Mistelbildeprozesse lebt, mit einer sehr komplizierten Maschine zu verarbeiten, die eine zentrifu-gale und eine radiale Kraft entfaltet, mit einer ungeheuren Ge-schwindigkeit eine zentrifugale Kraft entfaltet. [...] So dass man tatsächlich dasjenige, was im Mistelprozess wirkt, umgestaltet zu einem ganz anderen Aggregatsprozess und dadurch die Tendenzen in der mistelbildenden Kraft in einer konzentrierteren Weise verwenden kann, als sie heute, wo der Mistelprozess doch ein dekadenter Prozess ist, in diesem zutage tritt.“ [40]Indem Steiner am 22. April 1924 in einer Ärztebesprechung präzisiert, man werde die Mistel „noch eigentlich steigern müs-sen in ihrer Wirkung“, deutet er wiederum bis in die Wortwahl an, wie diesem Mistelverarbeitungsprozess das von Goethe in der Metamorphosenlehre entwickelte Gesetz von «Polarität und Steigerung» zugrunde liegt.

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Notitzbuchblatt (Ausschnitt) Rudolf Steiners mit Skizzen zur Herstellung der Mistelpräparate. (© Rudolf Steiner Nachlassverwaltung, Dornach)

Daraus folgt denn auch, dass in diesem Prozess eine neue Qualität entsteht: „Ich weiss nicht, ob Sie gesehen haben, dass wir nicht etwa in einer so einfachen Weise nach der Verwen-dung von Viscum streben, sondern dass wir dazu einen Appa-rat brauchen. Erst bringen wir die Mistelsäfte in eine vertikale Bewegung und diese lassen wir durchsetzen von einer horizon-tal rotierenden Bewegung. Es handelt sich darum, dass man erreicht, dass der Mistelsaft tropft und im Tropfen durchkreist wird, sich verbindet in Horizontalkreisen wieder mit Mistelsaft, so dass bis in die kleinsten Kreise hinein eine besondere Struk-tur hervorgerufen wird. Das ist eigentlich das Heilende des Vis-cum, was da entsteht. Gewiss, es ist schon an sich ein wirksa-mes Heilmittel; aber das unbedingt spezifische Mittel entsteht erst auf diese komplizierte Art.“ [41]

Ganz im Sinne der Goethe’schen Metamorphose-Idee leitet Steiner durch polare pharmazeutische Prozesse, die auf die Antitendenz der Mistel im Zeitlichen und im Räumlichen Rück-sicht nehmen, eine Steigerung des in der Mistel veranlagten Potentials ein. Aus der «alles Heilenden» der keltischen Druiden wird ein «spezifisches Heilmittel» für die Krebserkrankung.

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Zukunft als MöglichkeitIn dem er zunächst an den Baldur-Mythos und die darin verar-beitete Druidenweisheit erinnert, holt Steiner die Mistel gleich-sam aus der Vergangenheit ab, um sie dann durch das geistige Instrument von Goethes Metamorphose-Idee und die entspre-chenden praktisch-pharmazeutischen Tätigkeiten für Zukünftiges aufzuschliessen. Das Verb «entsteht» deutet an, wie erst durch die wesensgemässe Verarbeitung eine neue Qualität zur Er-scheinung kommen kann, die der Mistel als Naturwesen noch fehlt. Die Potenzierung der Mistel, von der Steiner in diesem Zusam-menhang spricht, ist deshalb nicht im klassisch homöopathischen Kontext, sondern als Steigerung im Sinne der Goethe’schen Be-griffe von «Polarität und Steigerung» zu verstehen. Was beim klassischen Potenzieren durch das Zusammenwirken von Ver-dünnen und Schütteln als Qualitätssteigerung erreicht wird, ent-steht bei der Mistelverarbeitung durch das Aufeinandertreffen der polaren Substanzqualitäten von Sommer- und Wintersaft sowie in den polaren Prozesskomponenten des vertikal fallen-den Tropfens und des horizontal spreitenden Saftfilmes.

Mistelfrüchte im Winter

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Diese beiden Prozesse setzen die Mistelsäfte in zwei Raumes-richtungen genau denjenigen organisierenden Kräften aus, welche auf die gewöhnliche Pflanze bei der vertikal und zent-ripetal (geotrop) orientierten Wurzelbildung sowie in der hori-zontal und zentrifugal orientierten Blattentfaltung wirken [42]. Die Mistel mit ihrer Antitendenz gegenüber den geradlinigen Organisationskräften wird in der Auseinandersetzung mit die-sen zentripetal respektive zentrifugal wirkenden Kräften in ihrer geistigen Konstitution, die Steiner auch als «Mistelbildeprozess» [40] bezeichnet, gesteigert. Dieser Mistelbildeprozess wird über das, was natürlicherweise in ihm veranlagt ist, hinausge-führt und dadurch mit einem derart höheren Potential ausgestat-tet, dass die entsprechend verarbeitete Mistel im eigentlichen Sinne heilend wirken kann. Als Geistesforscher dokumentiert Steiner in den genannten Vorträgen nicht nur die stufenweise Vertiefung seiner Misteler-kenntnisse bis in pharmazeutische und therapeutische Aspekte. Vielmehr demonstriert er an der Mistel auch das Motiv der «Um-wandlung» als ein zentrales anthroposophisches Anliegen. Als er die Mistel am 29. August 1924 zum letzten Mal erwähnt [43], hat sich die «alles Heilende», die bei den keltischen Drui-den niemals die Erde berühren dürfte, gerade in der Auseinan-dersetzung mit den Kräften der Erde grundlegend verwandelt. Als Steigerung ihrer Antitendenz gegenüber den Kräften, die auf der Erde die Pflanzenwelt in Raum und Zeit organisieren, kann sie sich zu einem «unbedingt spezifischen» Krebsheilmittel entwickeln.

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Anmerkungen und Literatur

[1] Vergil: Aeneis. Reclam, Stuttgart 1992; S. 139ff. [2] C. Plinius Secundus d. Ae: Naturkunde. Buch 16: Botanik:

Waldbäume. In der Uebertragung von R. König. Artemis & Winkler, München und Zürich 1991; S. 155ff.

[3] Snorri Sturluson: Prosa-Edda. Manesse Verlag, Zürich 1997; S. 103ff. [4] Paul G. Bellmann & Willem F. Daems: Ist die Mistel ein altes

Krebsheilmittel? Sudhoff’s Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften. Band 49, Heft 4, Dezember 1965; S. 355ff.

[5] Hans Becker und Helga Schmoll gen. Eisenwerth: Mistel – Arz-neipflanze, Brauchtum, Kunstmotiv im Jugendstil. Wissenschaft-liche Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart 1986.

[6] Karl von Tubeuf: Monographie der Mistel. München 1923. [7] Hartmut Ramm: Rudolf Steiners Mistelforschung 1904 – 1924.

Rundbrief der Sektion für anthroposophische Medizin, Goethe-anum, Weihnachten 2004; S. 18 – 21.

[8] Rudolf Steiner: Mein Lebensgang; Kap.II. GA 28. Dornach 1925; S. 19.

[9] Karl von Tubeuf: Monographie der Mistel. München 1923; S. 343f.[10] Rudolf Steiner: Mein Lebensgang; Kap.II. GA 28. Dornach

1925; S. 38f.[11] Rudolf Steiner: Skizze eines Lebensabrisses. Vortrag vom 4.

Februar 1913. in: Briefe von Rudolf Steiner. Dornach 1948; S. 1– 60.

[12] Rudolf Steiner: Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen. Stuttgart, 2. Juni 1919; GA 192, 10. Vortrag.

[13] Sebastian Kneipp: Wasser-Kur. 29. Aufl., Kempten 1891; S. 144.[14] Siehe hierzu auch: Emil Bock: Rudolf Steiner – Studien zu

seinem Lebensgang und Lebenswerk, 3. erw. Aufl., Stuttgart 1990. Peter Selg: Rudolf Steiner und Felix Koguzki. Ita Weg-man Institut, Arlesheim 2009.

[15] Rudolf Steiner: Ansprachen zu den Weihnachtspielen aus al-tem Volkstum. GA 274.

[16] Franz Ferk: Über Druidismus in Noricum (mit Rücksicht auf die Stellung der Geschichtsforschung zur Keltenfrage). Graz 1877; S. 46.

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[17] Hartmut Ramm: Zum Mistelkult der keltischen Druiden. Mistilt-einn 4/2003; S. 4 –15.

[18] Walter Beck: Rudolf Steiner – Das Jahr der Entscheidung. Dor-nach 1984; S. 47.

[19] Julius Sachs: Vorlesungen über Pflanzenphysiologie. Leipzig 1882; S. 33f.

[20] Rudolf Steiner, Einleitung. In: Goethes Naturwissenschaftliche Schriften. 1. Band. Herausgegeben von Rudolf Steiner. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig.

S. LXIV.[21] Rudolf Steiner: Die Tempellegende und die Goldene Legende

– Die Mysterien der Druiden und Drotten. Berlin, 30. 9. 1904; GA 93, 3. Vortrag.

[22] Rudolf Steiner: Die Theosophie des Rosenkreuzers. München, 3. Juni 1907; GA 99, 10. Vortrag.

[23] Rudolf Steiner: Die Mission einzelner Volksseelen. Kristiania, 15. Juni 1910; GA 121, 9. Vortrag.

[24] Rudolf Steiner: Kosmogonie. Paris, 27. Mai 1906; GA 94.[25] Rudolf Steiner: Grundelemente der Esoterik. Berlin, 26. Okto-

ber 1905; GA 93a, 24. Vortrag.[26] Rudolf Steiner: Bewusstsein – Leben – Form. Berlin, 22. Okto-

ber 1904; GA 89, 3. Vortrag.[27] Ernst Haeckel: Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien

über Monistische Philosophie. Bonn: E. Strauß 1899.[28] Rudolf Steiner: Die Geheimwissenschaft im Umriss. 30. Aufl.,

Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1989; GA 13.[29] Rudolf Steiner: Bewusstsein – Leben – Form. Berlin, 31. Okto-

ber 1904; GA 89, 6. Vortrag.[30] Rudolf Steiner: Die Apokalypse des Johannes. Nürnberg, 22.

Juni 1908; GA 104, 5. Vortrag.[31] Rudolf Steiner: Antworten der Geisteswissenschaft auf die

grossen Fragen des Daseins. Berlin, 8. Dezember 1910; GA 60, 6. Vortrag.

[32] Rudolf Steiner: Welt, Erde und Mensch. Stuttgart, 8. August 1908; GA 105, 5. Vortrag.

[33] Rudolf Steiner: Die Theosophie des Rosenkreuzers. München, 3. Juni 1907; GA 99, 10. Vortrag.

[34] Rudolf Steiner: Zeitgeschichtliche Betrachtungen. (I). Dornach, 31. Dezember 1916; GA 173, 13. Vortrag.

[35] Willem F. Daems: ITA WEGMAN – Zürcher Zeit 1906 –1920. Dornach, 1986.

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[36] Rudolf Steiner: Geisteswissenschaft und Medizin. Dornach, 25. März 1920; GA 312, 5. Vortrag

[37] Rudolf Steiner: Geisteswissenschaft und Medizin. Dornach, 2. April 1920; GA 312, 13. Vortrag.

[38] Rudolf Steiner, Die Entstehung der Metamorphosenlehre. In: Goethes Naturwissenschaftliche Schriften. 1. Band. Herausge-geben von Rudolf Steiner. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig. S. XXXIII.

[39] Rudolf Steiner: Anthroposophische Menschenerkenntnis und Medizin. Arnheim, 24. Juli 1924; GA 319, 9. Vortrag.

[40] Rudolf Steiner: Anthroposophische Menschenerkenntnis und Medizin. London, 3. September 1923; GA 319, 3. Vortrag.

[41] Rudolf Steiner: Physiologisch-Therapeutisches – Besprechung mit praktizierenden Ärzten. Dornach, 22. April 1924; GA 314 / Ergänzungen.

[42] Siehe dazu ausführlicher: Hartmut Ramm, Die Mistel und ihre pharmazeutische Verarbeitung vor dem Hintergrund des Plane-tarischen. Der Merkurstab (6) 1993; S. 541– 552.

[43] Rudolf Steiner: Anthroposophische Menschenerkenntnis und Medizin. London, 29. August 1924; GA 319.

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Konrad Urech

«In Kälte erstarren» und «in Schönheit vergehen»

Polare Absterbeprozesse der Pflanzen und ihre Meta-morphose in der Mistel (Viscum album L.) — eine Studie zur Giftwirkung der Mistel

EinführungBei der Grundlegung der Misteltherapie hat Steiner (1920) die Antitendenz der Mistel als Ausdruck ihrer wirksamen Kräfte hervorgehoben. Die Gestaltentwicklung und auch die Prozesse pharmakologisch wichtiger Substanzen der Mis-tel sind geprägt von einem solchen Prinzip der Antitendenz. Sowohl die Antitendenz in der Gestaltbildung als auch dieje-nige in den Substanzen sind polar gegliedert (Urech 1992, Ramm 1993, Urech 2002). Eine differenzierte Untersuchung dieser Polaritäten der Mistel zeigte, dass ein enger Zusam-menhang zwischen Gestalt- und Substanzbildung besteht.

Absterbevorgänge der Pflanzen prägen in eindrücklicher Weise den jahreszeitlichen Wechsel in der Natur. Die vorliegende Untersuchung der dabei auftretenden Seneszenzerscheinungen zeigt, dass diese als zentripetal verdichtende und zentrifugal auflösende Prozesse polar gegliedert und Ausdruck der einseitig und übermässig wirkenden Kräfte einer von Goethe und Steiner beschriebenen zwei-gliedrigen Kräfteorganisation der Pflanzen sind. Diese polaren Prozesse der Seneszenz, die sich am anschaulichsten in der Holz- und Blütenbildung zeigen, sind in der Mistel zurückgehalten. Dies führt zur Jugendlichkeit der Mistel, die sich nicht dem jahreszeitlichen Wechsel einfügt. Absterbeprozesse sind in der Mistel aber in Form von giftig wirkenden Substanzen konzentriert. Diese Giftprozesse sind ebenfalls polar gegliedert in zentripetal verdichtende Prozesse der Mistellektine und zentrifugal auflösende Prozesse der Viscotoxine und zeigen damit in ihren Gesten eine enge Verwandtschaft mit den polaren Absterbeprozessen der Pflanzen. Nicht nur diese Verwandtschaft, sondern auch das räumliche und zeitliche Auftreten der beiden Giftprozesse in der Mistel deuten darauf hin, dass die in der Mistel zurückgehaltenen Absterbeprozesse der Gestaltentwicklung metamorphosiert auf der Ebene der Substanzbildung als Giftprozesse in Erscheinung treten. Ein kompensatorischer Umgang der Pflanzen mit Gestalt- und Substanzbildung soll mit dem vorliegenden Beitrag einem Verständnis näher gebracht werden.

MISTILTEINN 9 2011

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Abb. 1: Blattfall der Mistel. Abgeworfene Blätter der Mistel (V. album auf Salix caprea) im Park der Lukas Klinik am 15. August 2010.

In kompensatorischer Art scheinen Bildeprozesse der Mistel, die aus der Gestaltbildung herausgehalten werden, Eingang in die Bildung der pharmakologisch wichtigen Misteltoxine zu fin-den (Urech und Ramm 1997). In der hier vorliegenden Studie soll diese Entdeckung eines kompensatorischen Umgangs der Mistel mit den Bildekräften in Gestalt und Substanz im Hinblick auf die Absterbeprozesse der Pflanzen untersucht werden.

Zurückgehaltene Seneszenz der Mistel

Blatt

Die Mistel ist eine der allergrünsten Pflanzen, so das Urteil des grossen Mistelforschers Tubeuf (1923). Im Sommer heben sich die Misteln durch ihr dichtes Grün wie dunkle Nester vom grünen Laub des Wirtsbaumes ab. Im Winter verraten sie sich durch ihr frühlingshaft wirkendes, erfrischendes Grün vor dem Hintergrund der dunkeln, kahlen Äste und Stämme der Laubholzwirte. Gewöhnlich bleiben die Blätter der Mistel nach ihrer Bildung im Frühling bis zum nachfolgenden Jahr am Busch. Der Blattfall der Mistel beginnt bereits im Juli und kann sich bis in den Oktober hin-ein fortsetzen. Die Blätter fallen in grünem, frischem Zustand ohne ein Anzeichen von Verfärbung und Eintrocknung ab (Abb. 1).

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Die gefallenen Blätter enthalten grosse Mengen von Proteinen. Mistellektine sind noch in bedeutenden Konzentrationen vor-handen (Urech et al. 2004), und das stickstoffreiche Chloro-phyll bleibt offensichtlich kaum angetastet. Die Mistel scheint auf die Rückmobilisierung dieser wertvollen Substanzen nicht angewiesen zu sein. Wohl lässt die Mistel die Blätter durch Ausbildung von Trenngeweben aktiv zu Boden fallen. Die Pro-zesse der Blattseneszenz, die zum herbstlichen Absterben füh-ren, sind aber unterdrückt. Die Jugendlichkeit der Blätter bleibt bis zuletzt erhalten. Eindrücklich zeigt sich diese Jugendlichkeit auch in der Wachstumspotenz, wenn in Ausnahmefällen die alte Blattgeneration noch ein oder sogar zwei weitere Jahre am Busch verbleibt. Dann können diese Blätter jeweils im Frühling zu riesigen Organen (Abb. 2) heranwachsen.

Abb. 2: Drei Blattgenerationen von V. album ssp. album (auf Ulmus sp., Oktober 2010). Im Oktober ist der Blattfall der Mistel, der bereits im Juli beginnt, üblicherwei-se abgeschlossen, sodass nur noch die jüngsten, endständigen Blätter am Busch verbleiben. Der hier abgebildete Misteltrieb zeigt, dass in Ausnahme-fällen bis zu drei Generationen von Blättern am Busch bleiben können und dabei ihr Wachstumspotential beibehalten (Generation 2010: 0.25 g/Blatt; 2009: 0.82 g/Blatt; 2008: 1.7 g/Blatt)

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Stängel

Die Stängel einer Mistelpflanze sind über mehrere Jahre bis ins Innerste grün (Abb. 3). Wohl sind verholzte Strukturen der Was-serleitgefässe und Stützgewebe vorhanden. Diese sind aber eingebettet in chlorophyllhaltiges Parenchymgewebe. Die An-ordnung der Leitbahnen im Stängel entspricht dem Prinzip einer Kabelstruktur (Abb. 4), die dem Stängel die für die Mistel ty-pische schlangenartige Flexibilität verleiht. Erst im langfristigen Verlaufe des Stängelwachstums schliesst sich das Stützgewebe zum geschlossenen Zylinder, der schliesslich auch einer Sklero-tisierung unterliegt. Jahrringe als Ausdruck des jahreszeitlichen Wechsels zwischen Ausdehnung und Zusammenziehung, zwi-schen Leben und Sterben treten im «Mistelholz» meist nicht in Erscheinung (Tubeuf 1923).

Abb. 3: Blattgrün im Gewebe von quergeschnittenen Mistelstängeln verschiedenen Alters im Vergleich mit dem Wirtsbaum.Probenahme und Präparation der Querschnitte der 1–5-jährigen Stängel von V. album und des 1-jährigen Stängels des Wirtsbaumes (Malus domestica, Arlesheim) erfolgten im November. Bei der Mistel bleibt grün-gefärbtes Parenchymgewebe über mehrere Jahre bis ins Innerste der Stängel erhalten, im Gegensatz zum Wirtsbaum, der Chlorophyll im Zentralzylinder schon im ersten Jahr der Holzbildung ausschliesst.Fotos: Christoph Jäggy, Hartmut Ramm

22:1 16:1 12:1 9:1 6:1 10:1

1-Jährig 2-jährig 3-jährig 4-jährig 5-jährig Wirtsbaum (Mali)

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Abb. 4: Querschnitt durch einen einjährigen Stängel von V. album. Leitgefässe sind kabelartig in jugendliches Parenchymgewebe (blau einge-färbt) eingebettet (aus: Zeller 1983).

Jugendlichkeit zeigt sich nicht nur in der stark verzögerten Ver-holzung der grünen Stängel, sondern auch in den den Stängel umhüllenden Geweben des Rindenparenchyms. Auch in den ältesten, dicksten Stängeln (es wurden Alter von bis zu 30 Jah-ren beobachtet) bleibt das Rindenparenchym grün durchsetzt von Chlorophyll. Zudem wird das Rindengewebe nicht borken-artig und rissig, sondern bleibt auch im höchsten Alter von einer glatten Epidermis nach aussen abgeschlossen. Die Fähigkeit der Epidermis zu wachsen, durch Zellteilung sich flächig auszu-dehnen, bleibt also über die ganze Lebenszeit erhalten.

Blüten

Die Blüten der Mistel sind unscheinbar klein und gelblich-grün. Kelch- und Kronblätter sind nicht ausgebildet. Sie erscheinen verwachsen zu kleinen sogenannten Perigonschuppen. Ver-welken einer Blütenkrone kann deshalb nicht auffällig in Er-scheinung treten. Andeutungen einer Blütenseneszenz können in weiblichen Blüten im Abfallen der winzigen Perigonschüpp-chen beobachtet werden. Die männliche Blüte wird nach der Blütezeit als Ganzes abgeworfen.

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Frucht

Das Wachstum der Mistelfrucht verläuft mit einer erstaunlichen Konstanz der Gewichtszunahme vom ersten Anschwellen des Fruchtknotens Ende April bis zur Vollreife im Dezember. Dieser Aufbauprozess ist begleitet von Reifeprozessen, die zum Ab-bau des Chlorophylls und zum Hervortreten der weissen Farbe führen (Urech et al. 2005). Nach der Vollreife im Dezember verbleiben die Beeren auf dem Mistelbusch, bis sie von Vögeln gefressen werden oder im Laufe des nächsten Jahres zu Boden fallen. Häufig können im Sommer noch Beeren des vorigen Jahres beobachtet werden. In Abbildung 5 sind Beeren abge-bildet, die noch nach mehr als 1,5 Jahren am Mistelbusch fest-sitzen. Dabei zeigt sich das erstaunliche Phänomen, dass die Beeren ohne Anzeichen von Zerfall über mehr als ein ganzes Jahr in einer Art «Reifestarre» verharren können. Die Mistelfrucht entzieht sich auch nach Überschreiten der Reife jeglichen Ab-sterbeprozessen.

«Same»

Eine Sonderstellung im Pflanzenreich nimmt die Samenbildung in der Mistelfrucht ein. Der als «Scheinsame» bezeichnete Kern der Mistelfrucht entsteht nicht in einer sog. Samenanlage (Ovu-lum), die von einem Integument umgeben ist, sondern der sog. Embryosack liegt nackt im verschleimenden Gewebe, das aus der vegetativen Achse der Blüte mitgebildet ist (Steindl 1935). Der reife Mistelsame liegt deshalb ohne Samenschale unge-schützt im Fruchtgewebe (Abb. 6). Alle seine Gewebe (Embryo und Endosperm) sind durch und durch grün. Er hat einen Was-sergehalt, der mit demjenigen der Blätter vergleichbar ist. Die samentypische Ausbildung zum Dauerorgan durch Einhüllung, Verfestigung und Austrocknung hat als Prozess keinen Eingang in die Bildung des Mistelsamens gefunden.

Die Farberscheinung des Grüns sei als Bild für die Hemmung der Mistel, die Seneszenz in der Gestaltbildung auszuleben, angeführt. Als eine der allergrünsten Pflanzen bildet und erhält die Mistel das jugendliche Grün in fast allen ihren Organen. Grün als die Farbe, die das Gleichgewicht hält zwischen Gelb und Blau, die Farbe, in der das Auge das Gleichgewicht findet zwischen dem Ausstrahlenden, dem Geblendetsein im Gelb und dem Einhüllenden und Festgehaltenwerden im Blau.

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Abb. 5: Zwei Generationen von Beeren auf V. album ssp. album (18. Okto-ber 2004). Die zwei mittleren, weissen Beeren reiften im Vorjahr 2003 und enthalten noch lebende, ausgekeimte Samen, deren Hypokotylspitzen von Innen an die Beerenhaut drücken. Die beiden gelb-grünlich gefärbten Beeren stehen noch im Wachstum des laufenden Jahres 2004.

Abb. 6: Querschnitt durch Beere und „Same“ von V. album ssp. album im Oktober. Der Mistelsame (zwei grüne Em-bryonen im grünen Endosperm) liegt ohne Samenschale nackt im Schleimgewebe der Mistelfrucht.

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Polarität der Absterbeprozesse in gewöhnlichen Pflanzen

Seneszenz der Blätter

In der Seneszenz der Blätter und dem herbstlichen Blattfall tritt das Absterben in der Pflanzenwelt in eindrücklicher Weise in Erscheinung. Die Seneszenz der Blätter ist begleitet von einem intensiven Abbau von wertvollen Blattsubstanzen, die zum Rücktransport in die zentralen Speichergewebe mobilisiert wer-den. Auflösungsprozesse durch aktiv gebildete Hydrolasen und schliesslich der Zerfall der Vakuole, des lytischen Kompartiments der Zellen (Matile 1997), führen zu einem an Nährstoffen ver-armten Blatt, welches abgestossen wird und hauptsächlich aus ausgetrockneten Polysaccharidstrukturen besteht.

Die Phase der Substanzmobilisierung und der entsprechenden Prozesse der Auflösung ist im typischen Fall begleitet vom fas-zinierenden Stoffwechsel der Blattpigmente. Das neutrale Grün des Chlorophylls verschwindet und lässt leuchtend gelb-orange gefärbte Pigmente der Carotine (Tetraterpene) zur Erscheinung kommen. Neu gebildete Anthocyane ergeben rote Färbungen. Dieser das Absterben einleitende Vorgang äussert sich als ein in die Umgebung hinausstrahlendes Aufleuchten, das durchaus mit einem Blühvorgang verglichen werden kann. Ihm folgt das eigentliche Absterben, eine Phase der Abdunkelung, des Braun- und Grauwerdens, der Austrocknung und Sklerotisierung, wäh-rend welcher die Pflanze die Blätter zur Erde fallen lässt.

Die Blattseneszenz ist also geprägt von zwei auffallend unter-schiedlichen Prozessen, die im zeitlichen Ablauf aufeinander folgen: ein ausstrahlender, zentrifugaler, dem Licht, der Umge-bung zugewandter Prozess der Farbentwicklung, der Mobilisie-rung und Auflösung und ein zentripetaler Prozess der Abdunke-lung, Sklerotisierung und Erdenschwere.

Holzbildung

Dieser in die Kälte und Dunkelheit des Winters führende zentri-petale Erstarrungsprozess der Blätter erweckt eine Empfindung wie beim Anblick der nackten Baumgerüste im winterlichen Wald. Man kann dabei aufmerksam werden auf die versteck-ten Absterbeprozesse, die der Holzbildung zu Grunde liegen.

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Die Holzbildung geht von der meristematischen Schicht des Kambiums aus. Das Kambium bildet nach innen zum zentralen Holzzylinder hin Zellen, die zu wasserleitenden Holztracheen und -tracheiden differenzieren und schliesslich die grosse Mas-se des toten Holzes ausmachen. Diese Differenzierung der em-bryonalen Kambiumzellen zu den ausgewachsenen wasserlei-tenden Holzgefässen ist begleitet von einem Absterbeprozess, der eine grosse Ähnlichkeit mit dem programmierten Zelltod, der Apoptose, aufweist. Im Verlaufe dieser Differenzierung er-folgen intensiver Aufbau und Verholzung der Zellwände, bevor die Zellen in den Tod geführt werden, um als abgestorbene Zellen den Wassertransport zu bewerkstelligen.

An der Peripherie des Holzzylinders befindet sich also eine Zone, in der ein konstanter Absterbeprozess stattfindet. Die Kambiumaktivität erreicht ihr Maximum meist erst nach Mitte Juni und reicht bis in den Herbst hinein, wo im Spätholz beson-ders verdickte Zellwände die Jahresringe markieren (Cuny et al. 2010). Die Hauptaktivität des Aufbaus der Holzmasse liegt also in der zweiten Hälfte des Jahres.

Dieser ins Absterben führende Prozess der Holzbildung wird in der Ausbildung des sog. Kernholzes noch weitergeführt, in-dem die letzten lebenden Zellen (Markzellen) und auch die wasserführenden (bereits abgestorbenen) Gefässe funktionsun-fähig werden. Während des Vorganges der Verkernung gibt das Holz Wasser und in den Markstrahlen gespeicherte Stoffe ab und durchsetzt das Gewebe mit organischen Stoffen wie Öle, Gummi, Harze, Gerbstoffe und Farbstoffe. Auch das an-organische Kalziumkarbonat kann eingelagert werden. Resultat davon ist ein Holz mit grosser Dichte und Beständigkeit.

Seneszenz der Blüten

Die Beständigkeit des Holzes steht in denkbar grösstem Ge-gensatz zu den vergänglichen Organen der Blütenkrone. Dies zeigt sich am deutlichsten bei den Eintagesblüten, die in kurzer Zeit aufblühen und nach wenigen Stunden bereits verwelken. Während dieser Phase der Seneszenz, die am Höhepunkt der Blüte einsetzt und bis zum Verwelken führt, zeigt sich die Um-gebungsorientierung der Blütenkrone. Im Verströmen von Farbe und Duft, in ihrer Ausgestaltung lebt sie ganz im Bezug zur Umwelt.

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Der Prozess der Seneszenz der Blüten ist begleitet von einer intensiven Atmung. Kohlensäure und viel Wärme werden frei-gesetzt. Das Absterben der Blütenblätter wird nicht wie beim Holz durch einen Apoptose-ähnlichen Prozess erreicht, sondern durch einen innerlichen Auflösungsprozess, an dem Vesikel des endoplasmatischen Retikulums und die Vakuole beteiligt sind (Rogers 2006). Die Blütenblätter werden gewöhnlich schlaff, fallen zu Boden und zersetzen sich schnell und vollständig. Die Absterbeprozesse der Blüte zeigen sich also als zentrifugaler, von einer «Verbrennung» begleiteter Auflösungsprozess.

Polarität der Todesprozesse in Blütenkrone und Holzbildung

Die Holzablagerungen im pflanzlichen Organismus sind also Resultat eines zentripetal verdichtenden Prozesses. In Dunkel-heit und «Kühle» (keine exotherme Reaktion, Molisch und Do-bat 1979) des Pflanzenkörpers wird der aus der Luft durch die Assimilation verinnerlichte Kohlenstoff in grossen Massen abgelagert und als Resultat eines Absterbeprozesses in die Dauerhaftigkeit geführt. Dieser Massebildungsprozess der Skle-rotisierung und Konservierung ist Grundlage für die Tatsache, dass Pflanzen nicht nur die grössten Lebewesen der Erde bil-den können, sondern auch zu denjenigen mit der grössten Le-bensdauer gehören (z.B. Pinus aristata 4600 Jahre, Sequoia gigantea 4000 Jahre). Die Holzstrukturen können auch nach dem Tode der Pflanze über viele tausend Jahre erhalten bleiben und als «Archiv der Vergangenheit» von der Dendrochronologie benutzt werden.

Der vom Moment des Aufblühens meist rasch in den Tod füh-rende Prozess der Blütenblätter ist ein zentrifugal auflösender Prozess, durch den Kohlenstoff aus dem gebundenen Zustand organischer Verbindungen in den gasförmigen Zustand über-geführt wird. Die intensiv aufflammende Gebärde des Verströ-mens lebt ganz in der Gegenwart, ohne Tendenz, etwas davon für die Vergangenheit zu konservieren. Mit den von Thomas Göbel geprägten Ausdrücken «In Schönheit vergehen» und «In Kälte erstarren» (mündl. Mitteilung von Rolf Dorka) sind das in Licht und Wärme verlaufende Absterben der sich auflösenden Blütenkrone und der aus dem Wässrigen in die verdichtete Er-densubstanz führende Todesprozess der Holzbildung treffend charakterisiert. Damit offenbaren sich die beiden Absterbepro-zesse als Polarität (Abb. 7).

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Im Bereich der Blätter ist unschwer zu erkennen, dass beide po-lar zueinander stehenden Todesprozesse im zeitlichen Ablauf der Seneszenz zur Erscheinung kommen. Unter Freisetzung von Kohlensäure, intensiver Entwicklung von Wärme (Molisch und Dobat 1979) und inneren Auflösungsprozessen entsteht eine dem Licht zugewandte Farbigkeit. Dieser Vorgang ist gefolgt von Prozessen der Abdunkelung, der Vertrocknung, Sklerotisie-rung und der Erdenschwere. Die Gesten dieser beiden Abster-beprozesse im Blatt zeigen durchaus Verwandtschaft mit den Todesprozessen von Blütenkrone und Holzbildung. Was bei Blüte und Holz räumlich getrennt voneinander abläuft, scheint im Blatt im selben Organ aber zeitlich gestaffelt zu erscheinen.

Abb. 7: Seneszenz der Blüte und Holzbildung als polare Todesprozesse der Pflanzen.

Die Vergänglichkeit der Blüte ist eindrücklich in der Mohnblüte (Papaver rhoeas) zu erleben, die bereits kurz nach dem Aufblühen ihre Kronblätter erschlafft zu Boden fallen lässt.

Das Holz der Eibe (Taxus baccata) ist sehr hart und dauerhaft. Die Verkernung des Holzes als letzte Stu-fe des konservierenden, verfestigenden Prozesses zeigt sich in der zentralen Dunkelfärbung.

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Absterbeprozesse der Pflanzen bei Goethe, Steiner und Wegman

Im Jahre 1831, ein Jahr vor seinem Tod, hat Goethe über Spi-raltendenz und Vertikaltendenz der Vegetation geschrieben (Goethe 1831). In dieser als Vorarbeit angelegten Schrift hat er sich allerdings nur aphoristisch und vorsichtig über diese bei-den Tendenzen als Urphänomene geäussert. Ihre Beschreibung sei hier angeführt, weil darin Hinweise auf die Absterbepro-zesse der Pflanzen gefunden werden können (Zitate im Kasten «Spiraltendenz und Vertikaltendenz»).

Spiraltendenz und VertikaltendenzZweigliedrige Organisation der Pflanzen bei J. W. von Goethe

„Hat man den Begriff der Metamorphose vollkommen gefasst, so achtet man ferner, um die Ausbildung der Pflanze näher zu erkennen, zuerst auf die vertikale Tendenz. Diese ist anzusehen wie ein geistiger Stab, welcher das Dasein begründet und dieses auf lange Zeit zu erhalten fähig ist. Dieses Lebensprinzip [...] ist dasjenige, welches bei den Bäumen das Holz macht, was die Einjährigen, Zweijährigen aufrecht erhält [...]. Sodann haben wir die Spiralrichtung zu beobachten, welche sich um jene herumschlingt. Das vertikal aufsteigende System bewirkt bei vegetabilischer Bildung das Bestehende, seiner Zeit Solideszierende, Verharrende. Das Spiralsystem ist das Fortbildende, Vermehrende, Ernährende [...]. Im Über-masse fortwirkend, ist es sehr bald hinfällig, dem Verderben ausgesetzt [...].“„Die Vertikaltendenz äussert sich von den ersten Anfängen des Keimens an; sie ist es, wo-durch die Pflanze in der Erde wurzelt und zugleich sich in die Höhe hebt.“Als Wirkung der Vertikaltendenz beschreibt Goethe auch die dekussierte, kreuzgegegenstän-dige Stellung der Blätter, die sich bei vielen Pflanzen unter dem Einfluss der Spiraltendenz in der weiteren Entwicklung des Sprosses in eine spiralige Anordnung auflöst.„Die Bildung der Blüte ist nur so möglich, dass das in sich Feindliche der Vertikaltendenz be-siegt wird. So dass alles sinnlich-reizvolle, alles für die Ernährung wichtige am Pflanzenleibe als ein Geschenk der hauptsächlich an seinem oberen Pole wirksam werdenden Spiralten-denz aufzufassen ist.“ (Goethe 1831)

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Goethe deutet für jedes dieser beiden Lebensprinzipien der Pflanzen an, was geschieht, wenn sie im Übermass wirken. Das Vertikalprinzip führt zur Erstarrung und das Spiralprinzip zum «hinfällig» werden, d.h. zum Zerfall, zur Auflösung der Strukturen. Wir finden also die beiden oben charakterisierten polaren in den Tod führenden Prozesse in der zweigliedrigen Organisation der Pflanzen bei Goethe wieder. Sie sind bei ihm nicht einfach Ausdruck dafür, dass die Lebenskräfte sich zurückgezogen haben, sondern die Folge der zwei übermässig und einseitig wirkenden Lebensprinzipien der Pflanzen. Sie sind also Ausdruck der vorherrschenden Wirkung der «solideszieren-den» Kräfte der Wurzelbildung, die auch in der Sprossachse wirken, und der Wirkung der Bildebewegungen, die nament-lich zur Peripherie hin wirkende Lebensprozesse sind.

Steiner und Wegman (1925) stellen in ihrer Schrift «Grundle-gendes für eine Erweiterung der Heilkunst» ebenfalls die Zwei-gliedrigkeit der Pflanzen dar: „Die Pflanzengestalt und Pflan-zenorganisation ist ein ausschliessliches Ergebnis der beiden Kräftebereiche: des aus der Erde ausstrahlenden und des in sie einstrahlenden [...]. Das Pflanzenwesen zerfällt dadurch in zwei Glieder. Das eine zielt nach dem Leben hin, es steht ganz im Bereich des Umkreises; es sind die sprossenden, Wachs-tum-, Blüten-tragenden Organe. Das andere zielt nach dem Leblosen, es verbleibt im Bereich der ausstrahlenden Kräfte, es umfasst alles, was das Wachstum verhärtet, dem Leben Stütze gibt usw. [Zu dem Stütze-Gebenden zählt Steiner das Wurzel-, Stamm- und Samenhafte (Steiner 1922)]. Zwischen diesen beiden Gliedern entzündet sich und erlöscht das Leben; und das Sterben der Pflanzen ist nur das Überhandnehmen der Wirkungen der ausstrahlenden gegenüber den einstrahlenden Kräften.“

Ausstrahlende Kräfte sind in der Nomenklatur Goethes die Ver-tikalkräfte. Das «Spiralprinzip» Goethes entspricht bei Steiner dem «einstrahlenden Kräftebereich», der dazu führt, dass Le-ben sich entfaltet. Von diesen aus der Peripherie einstrahlenden Kräften schildert Steiner Folgendes: „Sie müssten das Stoffliche des Erdenbereichs völlig gestaltlos auflösen, zerreissen [...].“ (Steiner und Wegman 1925). Damit ist auch bei Steiner und Wegman die Pflanze in die Polarität von Verhärtung und Auflö-sung hineingestellt.

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Die Prozesse der Wurzelbildung und die Prozesse der spira-ligen Sprossentfaltung sind bei der Mistel weitgehend unter-drückt (Ramm 1993). Ebenso sind die polaren Absterbepro-zesse in der Gestaltentwicklung der Mistel zurückgehalten, wie es oben ausführlich dargestellt wurde. Das Zurückdrängen der Absterbeprozesse und damit die «Jugendlichkeit» der Mistel ste-hen offenbar in direktem Zusammenhang damit, dass in der Mistel die zwei grundlegenden polaren Entwicklungsprozesse der gewöhnlichen Pflanzen, die Wurzelbildung und die spirali-ge Sprossentfaltung, zurückgehalten sind.

Polare Absterbeprozesse in der Giftwirkung der Mistel

Absterbeprozesse in der Gestaltbildung der Pflanzen treten in der Natur offen in Erscheinung, die potentiellen Absterbe-prozesse der Giftsubstanzen hingegen bleiben zunächst ver-borgen. Die Mistel ist nicht ohne weiteres als Giftpflanze zu erkennen, ist sie doch bekannt als beliebte und bekömmliche Nahrung für Vieh und Wild. Ihre Giftwirkung trat erst bei den ersten experimentellen, pharmakologischen Untersuchungen mit parenteraler Applikation (Injektion) von konzentrierten Mistelex-trakten in Tieren in Erscheinung (erste Erwähnung in der Litera-tur: Gaspard 1827). 1

Heute sind die giftig wirkenden Substanzen der Mistel gut un-tersucht. Es handelt sich um zwei Gruppen von Eiweissverbin-dungen: die Viscotoxine und die Mistellektine. Viscotoxine sind kleine, basische Eiweisssubstanzen mit einem hohen Schwefel-gehalt. Der Biosyntheseweg verläuft über ein grosses Vorläufer-molekül, aus dem das Viscotoxin als «Spaltprodukt» herausge-schnitten wird (Schrader u. Apel 1991). Die Mistellektine sind grosse, komplexe Eiweissverbindungen, bestehend aus einer Reihe von Komponenten: A-Kette, B-Kette und 3 Polysaccha-ridketten, die zum Mistellektinmolekül zusammengefügt werden (Voelter et al. 2001) und schliesslich als Dimer (beim Mistel-lektin I) ein Produkt der Zusammenfügung, der «Vermassung» darstellen.

1 Es sei darauf hingewiesen, dass in der klinischen Anwendung zur Mistelthe-rapie Extraktmengen zum Einsatz kommen, die weit ausserhalb der toxischen Dosisbereiche liegen. Die Misteltherapie zeichnet sich nachgewiesener-massen durch eine sehr grosse Verträglichkeit und Sicherheit aus.

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In frühen Untersuchungen wurde gezeigt, dass letale Dosen von Viscotoxinen unmittelbar, in Minutenfrist zum Tod von Tieren führten (Zipf 1950), während bei Injektion von entsprechend hohen Dosen von Mistellektin die Tiere zunächst unbeeinflusst blieben und erst nach Tagesfrist die Symptome der Vergiftung in Erscheinung traten (Grossrau u. Franz 1990). Eine Sofortwir-kung, die gewissermassen wie ein Blitz einschlägt, und eine zeitlich ausgedehnte, auf langsamen Stoffwechselvorgängen beruhende Wirkung stehen in der Pharmakologie der Mistelto-xine einander gegenüber.

Im Zelltest wirken die Viscotoxine an der Peripherie der Zellen. Sie führen, indem sie die Zellmembran durchlässig machen, zur Ausdehnung der Zellen und schliesslich zum zentrifugalen Ausfliessen, zur Nekrose. Dieser Auflösungsprozess erfolgt so-fort nach Zugabe der Substanz, ist stark wärmeabhängig und wird durch die Anwesenheit von Kalzium blockiert. Mit die-ser pharmakologischen Wirkung und ihrem Molekülbau sind die Viscotoxine ganz eng verwandt mit den Cardiotoxinen im Schlangengift, namentlich der Kobra.

Die Mistellektine hingegen führen bei gewaschenen roten Blutzellen durch Bindung an die Zuckerstrukturen der Zellober-fläche zur Agglutination, zur Immobilisierung der Zellen und gleichzeitig zu einer Stabilisierung der Zellmembran. In wach-senden Zellen werden die an die Zelloberfläche gebundenen Mistellektine durch Endozytose aufgenommen. Danach gelangt die A-Kette an die Ribosomen und zerstört dank ihrer RNAse-Ak-tivität die ribosomale RNA. Damit wird die Proteinbildung der Zelle blockiert und der programmierte Zelltod, die Apoptose, ausgelöst. Mehrere Stunden vergehen, bis die Zellen mit einer Verlangsamung und schliesslich einer Blockade der Zellteilung reagieren. Die Apoptose ist begleitet von einem Schrumpfen der Zellen und einer Ablösung von Membranbläschen. Dabei bleiben die Membranen als Abgrenzung der Zellen gegen aus-sen strikt erhalten. Dieser zentripetale Prozess der Wachstums-hemmung, der Immobilisierung und Verdichtung ist angewiesen auf die Anwesenheit von Kalzium. Interessanterweise ist die Zuckerbindungsaktivität der Mistellektine bei Kälte (4°C) um fast das Fünffache grösser als bei 37°C (Urech et al. 2006).

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Diese Charakteristika der pharmakologischen Prozesse zeigen, dass Viscotoxin und Mistellektin einander polar gegenüberste-hen. Viscotoxine sind begleitet von schnellen, zentrifugalen, Peripherie- und Wärme-orientierten, durch Kalzium gehemmten Auflösungsprozessen, während Mistellektine langsame, zen-tripetale, verdichtende, strukturerhaltende, immobilisierende, Kalzium-abhängige, «kalte» Prozesse auslösen.

Die an den Prozessen der Giftwirkung abgelesene Polarität er-weist sich als ein Grundprinzip der beiden Giftsubstanzgrup-pen der Mistel, das sich auch in der räumlichen und zeitlichen Verteilung in der Mistel zeigt. Der zentrifugale, peripherieori-entierte Charakter der Viscotoxine bestätigt sich, indem sie im Zentrum der Mistel, im Senker, weitgehend fehlen, in einem kontinuierlichen Gradienten von innen nach aussen zunehmend konzentriert auftreten und in den Blättern und generativen Kurz-trieben ihre höchsten Konzentrationen erreichen. Polar dazu weisen die Mistellektine in einer zentripetalen Geste zum Zen-trum der Mistel. Sie sind wenig konzentriert in den Blättern, steigern ihre Konzentrationen in den Stängeln zunehmenden Alters und weisen durchgehend hohe Gehalte in den Senkern auf (Abb. 8).

generative KurztriebeBlätter

1- jährige Stängel2- jährige Stängel3- jährige Stängel4- jährige Stängel5- jährige Stängel6- jährige Stängel

Senker6- jährige Stängel5- jährige Stängel4- jährige Stängel3- jährige Stängel2- jährige Stängel1- jährige Stängel

Blättergenerative Kurztriebe

0 2 4 6 Viscotoxin [mg/g TS] Mistellektin [mg/g TS]

Viscotoxin Mistellektin

8 6 4 2 0

Abb. 8: Konzentrationen (mg/g Trockensubstanz) der Mistellektine und Viscotoxine in den Organen eines Busches von V. album ssp. album auf Malus domestica Zur Veranschaulichung der Substanzverteilung im Mistelbusch wurden die Messwerte entsprechend der Anord-nung der Organe (Senker, 1-, 2-, 3-, 4-, 5- und 6-jährige Stängel, Blätter und blütentragende Kurztriebe) im Mistelbusch dargestellt (nach: Urech et al. 2009).

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Ihrem Wesen entsprechend verhalten sich die beiden Misteltoxine im Jahreslauf. Mit einem maximalen Gehalt im Juni erweisen sich die Viscotoxine als Sommersubstanzen und dieMistellektine mit einem Maximum im Dezember als Wintersubstanzen (Abb. 9).

Konzentration von Viscotoxin in den Blättern

A

Konzentration von Mistellektin in den Blättern

B

Abb. 9: Konzentration der Mistellektine und Viscotoxine im Lebenszyklus der Blätter (mg/g Trockensub-stanz) von V. album ssp. album auf Malus domestica (nach: Urech et al. 2004).

Giftwirkungen der Mistel als metamorphosierte Absterbe-prozesse gewöhnlicher Pflanzen

Die Giftwirkung der Mistel ist also in allen untersuchten Lebens-bereichen polar gegliedert. Polar gegliedert zeigen sich uns auch die Absterbeprozesse der Pflanzen. Bei der Gegenüber-stellung der Polarität in der Giftwirkung der Mistel und derjeni-gen der Absterbeprozesse in den gewöhnlichen Pflanzen wird deutlich, dass die Prozessgesten der polaren Prozesse in den beiden Gebieten durchaus verwandt sind. Die bei der Holzbil-dung in Dunkelheit und Kühle ablaufenden zentripetalen Prozes-se der Massebildung, Verdichtung, Sklerotisierung und Konser-vierung finden eine enge Verwandtschaft mit den im «dunkeln» Stoffwechsel der Zellen ablaufenden, zentripetalen, kalkabhän-gigen Prozessen der Verdichtung, Vermassung, Immobilisierung und Strukturerhaltung der Mistellektine. Ebenso zeigen die in die Umgebung hinausstrahlenden, lichtorientierten, zentrifuga-len Auflösungsprozesse in der Seneszenz und im Absterben der Blüte enge Verwandtschaft mit den an der Peripherie wirksa-men, in die Peripherie hinausweisenden, «kalkfliehenden», zen-trifugalen Auflösungsprozessen der Viscotoxine.

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In der Gestaltbildung der Mistel selber sind, wie gezeigt wurde, beide für die Pflanzenwelt typischen polaren Absterbeprozesse weitgehend unterdrückt. Dies entspricht der oft beschriebenen Jugendlichkeit der Mistel (Tubeuf 1923, Grohmann 1945). Die Tod bringenden Prozesse sind möglichst aus der Gestaltbildung herausgehalten. In der Giftwirkung der Mistel aber treten ver-wandte Prozesse auf. Das Absterbepotential der Gestalt scheint sich in verwandelter Form in den Giftprozessen zu zeigen.

Ein solch kompensatorisches Prinzip von Bildeprozessen ist zunächst allein durch die Verwandtschaft der charakterisierten polaren Prozesse in so unterschiedlichen Bereichen wie Ge-stalt und Substanz angedeutet. Aber auch die zeitliche und räumliche Charakterisierung legen einen solchen kompensatori-schen Zusammenhang von Gestalt- und Substanzbildung nahe. Die Bildung der Viscotoxine findet ausschliesslich in der ersten Jahreshälfte statt. Ihre Bildung begleitet die allgemeine Blüte-zeit in der Natur und hört mit der Sommersonnenwende auf dem Höhepunkt der Viscotoxinanhäufung im Juni ganz auf. Das Zentrum der Viscotoxinbildung befindet sich in den generativen Kurztrieben an dem Ort, wo bei gewöhnlichen Pflanzen die kurzlebigen, in die Seneszenz führenden Blühprozesse anset-zen. Die Mistellektine hingegen erreichen ihr Maximum im De-zember beim tiefsten Stand der Sonne. Sie werden zum über-wiegenden Teil erst in der zweiten Jahreshälfte gebildet. Ihre Bildezeit deckt sich also mit der Zeit der Hauptaktivität von Auf-bau, Verholzung und Absterben der grossen Holzmasse (Cuny et al. 2010) in der übrigen Natur. Ihr Bildezentrum liegt in den Stängeln und im Senker, in denen die Verholzung möglichst zurückgehalten ist. Die Mistel, die weder Blütenseneszenz noch Verholzung ausgeprägt zur Erscheinung bringt, scheint diese den Jahreszeiten entsprechenden Prozesse in den Giftsubstanz-bildung der Viscotoxine und Lektine zur Erscheinung zu bringen.

Zusammenfassend sei das kompensatorische Prinzip, das wir bereits früher in der Mistel entdeckt haben (Urech und Ramm 1997) unter dem Aspekt der Absterbeprozesse der Pflanzen und mit Einbezug der Nomenklatur von Goethe folgendermas-sen charakterisiert: Die Vertikaltendenz der stützenden Kräfte, die in die Sklerotisierung, in den Erstarrungstod führen und sich den Spiralkräften entgegenstellen kann, ist ein Prozess, der in der Mistel als Mistellektinbildung erscheint. Die Spiral-tendenz, die in der zentrifugalen Ausdehnung lebt und in der

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Blütenbildung in übersteigerter Wirksamkeit zur Auflösung führt, ist in der Mistel in die Viscotoxinbildung eingebunden. So erscheinen die polaren pharmakologischen Prozesse der Giftsubstanzen der Mistel als aus der Naturnotwendigkeit der Gestaltentwicklung herausgehaltene polare Absterbeprozesse.

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Gertraud und Gerd Schorer

Die Mistel in Holzschnitten der Kräuterbücher Botanische Buchillustrationen von den ersten Drucken bis ins 17. Jahrhundert

Die Misteln ins gemein / erweichen / wärmen / heylen /In bösem Leid thut man nach EychenMistel eylen. (Aus: Joachim Becher, Parnassus medicinalis illustratus. Ulm 1662)

Schriften pflanzenkundlichen Inhalts waren im Altertum und bis weit ins Mittelalter hinein nur selten mit Abbildungen der be-sprochenen Pflanzen versehen. Eine Sonderstellung nimmt der sog. Wiener Dioskorides ein (entstanden um 512), eine Hand-schrift mit hervorragenden Illustrationen zur Arzneimittellehre des Dioskorides («De materia medica» aus dem 1. Jh.n.Chr.). Dioskorides war der wichtigste Mediziner und Pharmakologe der Antike, dessen tief greifende Wirkung noch über die Zeit des Humanismus und der Renaissance hinaus reichte. Ab dem 13./14. Jahrhundert setzte eine verbesserte Art der Bebilde-rung ein. Die Bedeutung einer naturgetreuen, exakten Wieder-gabe der Pflanzen im Bild wurde aber erst wirklich von den Arzt-Botanikern des 16. Jahrhunderts erkannt. Die vorliegende Abhandlung beschäftigt sich mit Mistel-Abbildungen in den pharmako-botanischen Werken von der Inkunabelzeit bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts. Dies sind alles Holzschnitte, al-lerdings von sehr unterschiedlicher Qualität.In der naturkundlichen Literatur des Mittelalters interessierten die Pflanzen nicht wegen ihrer botanischen Eigenschaften, sondern in erster Linie wegen ihrer Heilkräfte. Die Kräuterbü-cher dieser Zeit sind also medizinische Werke. Das wirkliche Aussehen der Pflanze war dabei schlichtweg unwichtig. Man verstand die Pflanzen als Zeichen und Gabe Gottes. Dem- entsprechend sind die Abbildungen „zeichenhaft reduzierte

MISTILTEINN 9 2011

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Lehr- und Sinnbilder“ (Isphording 2008), typisierende Sche-mata: die gesamte Pflanze wird in sehr groben Umrissen ver-einfacht dargestellt, meist streng symmetrisch zweidimensional, gegliedert in Wurzeln, Spross mit Blättern, Blüten. Das gilt auch für die Mistelabbildung im Hortus sanitatis von 1491 (Abb. 1), die man als heutiger Betrachter wohl kaum als Mistel anspre-chen würde. Mit einigem guten Willen kann man gerade so erkennen, dass hier eine Pflanze mit Beeren auf einem Baum aufwächst. Der Hortus sanitatis gehört zusammen mit dem sog. Herbarius Moguntinus von 1484 und dem Gart der Gesund-heit von 1485 zu den drei wichtigsten Frühdrucken (Inkuna-beln) pflanzenkundlicher Bücher, die sowohl inhaltlich als auch im Bildmaterial noch dem Mittelalter verpflichtet sind und sozu-sagen Höhepunkt und Abschluss der mittelalterlichen Kräuterbü-cher bilden. Auch die Wissenschaftler der frühen Neuzeit beriefen sich nach wie vor auf das Wirken und den Willen Gottes, ihre Werke dienten zu Lob und Ehre des Schöpfers. Sowohl in den Vorwor-ten bzw. Dedikationstexten der Kräuterbücher als auch in den Titelseiten kommt dies zum Ausdruck. Das hinderte aber nicht, die antiken Götter der Heilkunde auf den programmatischen Titelbildern (16./17.Jh.) zu «zitieren» wie auch Szenen aus der antiken Mythologie darzustellen. Während die genannten Frühdrucke sehr wohl auch Dioskorides als Quelle benutzten, stellen sie doch weitestgehend Kompendien älterer mittelalter-licher Werke dar, wobei Texte und Bilder immer wieder tradiert wurden. Erst im Laufe des 16. Jahrhunderts beschäftigte man sich ernsthaft mit den Pflanzen selbst, so dass sich allmählich die Botanik als eigenständige (Natur-)Wissenschaft entwickelte. Mit dem Humanismus beginnt die neue Ära. Am Anfang stehen die philologisch bereinigten Texte (Übersetzungen, Kommen-tare) der für die Pflanzenkunde maßgeblichen antiken Autoren. Ab 1530 bis zum Ende des 16. Jahrhunderts (mit Nachdrucken bzw. Neubearbeitungen bis ins 17. Jh. hinein) basieren die Kräuterbücher weitgehend auf der Arzneimittellehre des Dios-korides; sie bringen den Text, kommentieren und erweitern ihn durch eigene Beobachtungen und Hinzufügen weiterer Pflan-zen. Beim vergleichenden Studium von Text und Natur erkannte man nun, dass die antiken Beschreibungen und Namen der Pflanzen nicht einfach auf die heimische Flora übertragbar sind.

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Daher musste die eigene, unmittelbare Naturbeobachtung die bisherige Texttradierung ergänzen bzw. ersetzen. Die na-turalistische Pflanzenabbildung wurde ab jetzt ein wichtiges, unverzichtbares, eigenständiges Mittel zur Beschreibung und Identifizierung der Pflanzen und darüber hinaus Grundlage er-ster systematischer Einteilungsbemühungen. Die so genannten «Väter der Botanik», Otto Brunfels, Hieronymus Bock und Le-onhart Fuchs waren die ersten, die dies erkannten und in ihren Kräuterbüchern umsetzten.Die Mistel-Abbildung bei Fuchs 1542 (Abb.2) macht deutlich, welch ein gewaltiger Fortschritt im Vergleich zum Hortus vor-liegt, und welchen eigenständigen Wert die Abbildung zusätz-lich zum Text bietet: in klaren Umrisslinien wird die Pflanze in ihrem Habitus als kugeliger Busch erfasst, sogar eine gewisse Räumlichkeit wird durch teilweise Überschneidungen von Linien erreicht, die Verzweigung ist naturalistisch dargestellt, die Form der Blätter korrekt, deren Parallelnervatur angedeutet, die Bee-ren richtig platziert, die Knospen allerdings nicht detailliert wie-dergegeben. Der Druck war für die Kolorierung vorgesehen; wobei die richtige Farbwiedergabe ja nicht nur ein ästhetisches Merkmal ist! Viscum album ist immergrün und trägt weiße Bee-ren! Dieser Holzschnitt wurde richtungweisend für alle weiteren Mistel-Abbildungen der Kräuterbuchliteratur des 16./17. Jh., oft kopiert, nachgeschnitten oder als Grundlage für eigene Bilder benutzt. Hier wird deutlich, was eine gute botanische Illustration schon in der Zeit des Holzschnitts leisten kann. Die Abbildung soll alle wesentlichen Merkmale der Pflanze wie-dergeben; für die wissenschaftliche, allgemeingültige Aussage müssen Besonderheiten, Anomalien, Zustand des Individuums der Vorlage erkannt und vom Zeichner fortgelassen werden. In den typisierenden Zeichnungen bei Fuchs ist das hervorragend gelöst. An diesem Beispiel wird auch besonders deutlich, wie wichtig eine gute Zusammenarbeit von Künstler(n) und Fach-Wissenschaftler ist. Letzterer muss die sachliche Richtigkeit ein-fordern und überwachen.

Abb.1: Ortus Sanitatis (Hortus Sanitatis). Erschienen bei Jacob Meydenbach in Mainz, 23. Juni 1491. Inkunabel mit zweispaltigem Druck. Mistel: Kapitel 496 mit kleinem Holzschnitt im lateinischen Text im Abschnitt «Tractatus de herbis».Bild: WLB Stuttgart (Inc.fol.8944)Dies ist die erste gedruckte Abbildung einer Mistel – sie ist aber kaum als solche erkennbar! Wenig verän-derte Nachschnitte gab es in mehreren späteren Hortus-sanitatis-Ausgaben aus Strassburg (ab 1497 bei Johann Prüss und Renatus Beck). In keinem weiteren Inkunabel-Druck ist ein Mistel-Holzschnitt zu finden.

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Künstlerische Möglichkeiten des Holzschnitts, die Darstellung zu verbessern, kamen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhun-derts zur Anwendung wie Schraffuren für Schattierung und Andeutung von Dreidimensionalität, z.B. in den ganzseitigen Mistel-Holzschnitten bei Mattioli ab 1562 (Abb.8). Mit Fort-schritt der Forschungsmethode und des Wissensstands wurde die Darstellung botanischer Details notwendig. Dies kommt bei den hier vorgestellten Mistel-Abbildungen erst einmal vor, nämlich bei Camerarius 1586 (Abb.11). Er war auch der erste, der in seinem Emblem-Buch die neue Drucktech-nik des Kupferstichs für Pflanzenabbildungen verwendete (für die Mistel: vgl. Mistilteinn 2006/7, S.31), die ja zur Wieder-gabe feiner Einzelheiten viel besser geeignet ist. Im 17. Jahr-hundert wurde der Holzschnitt allmählich durch den Kupferstich abgelöst.Die Holzschnitte der botanischen Buchillustration nahmen also insgesamt von den ersten gedruckten Kräuterbüchern Ende des 15. bis zum 17. Jahrhundert eine beachtliche Entwicklung – aufgrund des naturphilosophischen Verständnisses der Zeit: vom naturfernen Schema mit Symbolwert zur naturalistisch ex-akten Pflanzenabbildung mit botanischem Aussagewert. Beson-ders groß war der Entwicklungssprung zu Beginn der frühen Neuzeit, während es danach nur kleinere Fortschritte gab. Anhand der folgenden Auswahl von Holzschnitten mit Mistel-Darstellungen lässt sich dies nachvollziehen.

Nutz der gemalten kreütterbücher(Aus der Vorrede von Hieronymus Bock in seinem Kreüterbuch, 1551)

So dienen aber die gemalte Kreütter bücher endtlich dahin / wann man die natürliche Gewächs nit alle mal wie sie auffwachsen / bei handt hat / od’die selben nit allmal frisch bekommen kan/ als dann dienen uns die Rechte Contrafeite gemalte bücher der Gewächs vast wol / darauß mag man sich wol in vilen erkundigen.

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Abb. 2: Leonhart Fuchs: De historia stirpium commentarii insignes etc., Basel (Isingrin) 1542.Mistel: ganzseitige Tafel auf S.329, Grösse des Holzschnitts ca. 20 x 20 cm.Bild: WLB Stuttgart (Nat.G.fol.160)Leonhart Fuchs war lange Jahre Professor der Medizin an der Universität Tübingen. Dies ist seine erste Kräuterbuch-Ausgabe mit lateinischem Text. 1543 erschien die deutsche Ausgabe «New Kreüterbuch» für eine Laien-Leserschaft, später folgten Übersetzungen in andere Sprachen, alle mit demselben richtungwei-senden Holzschnitt. Die sog. Kräuterbuchhandschrift des Leonhart Fuchs (Österr.Nat.Bibl. Wien, Codex 11 120) enthält ein entsprechendes Aquarell, das Heinrich Füllmaurer zugeschrieben wird. Der Holzschnitt diente als Vorlage/Vorbild für die Mistel-Abbildung in vielen späteren Kräuterbüchern anderer Autoren, die bei unterschiedlichen Verlegern erschienen sind.

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Abb.3: Leonhart Fuchs: Läbliche abbildung und contrafaytung allerkreüter so der hochglert herr Leonhart Fuchs der artzney Doctor / inn dem ersten theyl seins neüwen Kreüterbuchs hat begriffen / in ein kleinere form auff das aller artlichest gezogen / [...] Basel (Isingrin) 1545. Mistel: auf Seite 187. Grösse des Holzschnitts ca.6,5 x 8,7 cm. Bild: WLB Stuttgart (HBF 1955)Diese «Taschenbuch-Ausgabe» enthält nur Abbildungen und Pflanzennamen – geeignet zum Mitnehmen auf Exkursionen. Der kleine Holzschnitt der Mistel ist sehr ähnlich wie in der großen Ausgabe der Fuchsschen Kräuterbücher, gespiegelt und seitlich etwas gestaucht. Der «Kleine Fuchs» erschien in mehre-ren Sprachen, z.T. mit den Original-Holzschnitten, z.T. mit nachgeschnittenen Kopien, diese auch nochmals verkleinert. Außerdem wurde er auch von an-deren Autoren verwendet, z.B. Rembert Dodoens (Cruydeboek, Antwerpen ab 1552) und William Turner (A New Herball, 2nd pt, Köln 1562). Ähnliche «Bestimmungsbücher» in kleinem Format und ohne ausführliche Texte gab es später beispielsweise auch von Eucharius Rösslin Frankfurt 1546 (siehe Abb. 5) und 1552, Matthias de Lobel Antwerpen 1581 und 1591, Jacob Theodor Tabernaemontanus Frankfurt 1590.

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Abb. 4: Hieronymus Bock (Tragus): De stirpium, maxime earum quae in Germania nostra nascuntur [...] Commentatorium libri tres [...] Strassburg (Wendel Rihel) 1552.Mistel: in Liber III, S.949, Grösse des Holzschnitts (Zeichnung David Kandel) ca. 12 x 9 cm. Bild: eigenes Blatt (ganze Seite)Hieronymus Bock war Theologe und Arzt in der Pfalz und widmete seine bo-tanischen Studien vor allem der heimischen Flora. Die vorliegende Abbildung der Mistel stammt aus der ersten lateinischen Ausgabe seines Kräuterbuchs. Die erste bebilderte deutsche Ausgabe (Kreüterbuch, Darinn Underscheid/ Würckung und Namen der Kreüter so in Deutschen Landen wachsen/...) war 1546 ebenfalls in Strassburg erschienen und enthielt schon denselben Holzschnitt. Dieser orientiert sich stark an der Fuchsschen Abbildung, bringt aber schon einen Trag-Ast und weist auf die Bedeutung der Vögel für die Verbreitung hin.Das Buch ist auch für den Laien gut zugänglich. Es enthält z.B. heimische (Nutz-)Pflanzen und volkskundliche Bemerkungen (Bräuche und Aberglauben). Bei ihm gibt es erste Ordnungsversuche nach botanischen Gesichtspunkten.

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Abb. 5: Anonym, der Autor war Eucharius Rößlin (nicht wie oft ange-nommen Adam Lonitzer): Herbarum, arborum, fruticum, frumentorum ac leguminum. Animalium praeterea terrestrium volatilium & aquatilium. [...] imagines ad vivum depictae, [...] Kreutter / Bäume / Gesteude / und Frücht / Deßgleichen Gethier / zam unnd wild im Lufft / Wasser und Erd-trich lebende [...] Frankfurt / Main (Christian Egenolff) 1546. Mistel: zusammen mit Esche, Edelkastanie und Wildrose auf S. 54, Blattgrös-se ca. 14 x 19 cm, Bild: eigenes Blatt (ganze Seite)

Dies ist wieder eines der textlosen «Taschenbücher», mit 2 oder 4 Abbil-dungen pro Blatt. Weitere Ausgaben davon (mit anderer Bildzusammenstel-lung) erschienen 1552 und 1562. Der (neu geschaffene) Holzschnitt ist eine grobe Vereinfachung der Fuchsschen Mistel. Er erscheint im selben Jahr mit deutschem Text in Rößlins «Kraüterbuch», das in der Nachfolge des «Gart der Gesundheit» von 1485 zu sehen ist, sowie später in vielen Ausgaben von Adam Lonitzer (siehe folgende Abb. 6); auch in der lateinischen Dioscorides-Ausgabe von J. Ruellius und W. Ryff, Frankfurt 1549 (in diesem Buch gleich zweimal: in den Kapiteln Eiche und Mistel!)

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Abb. 6: Adam Lonitzer (Adamus Lonicerus): Kreüterbuch, Künstliche Conterfeytunge der Bäume, Stau-den, Hecken, Kräuter, Getreyde, Gewürtze [...] Frankfurt / Main (Christian Egenolffs Erben) 1587. Mistel: im Cap.116, Grösse des Holzschnitts 7,5 x 8 cm.Bild: eigenes Blatt (Ausschnitt)Adam Lonitzer war als Stadtarzt und als Herausgeber von Kräuterbüchern in Frankfurt Nachfolger von Eucharius Rößlin. Er übernahm die Herausgabe des deutschen Kräuterbuchs 1557, dieses wurde zu einem weit verbreiteten Volksbuch und erschien in 27 Auflagen bis 1783. Der einfache Holzschnitt der Mistel war schon in den Büchern Rößlins, mindestens ab 1546, vorhanden (siehe Abb.5) und wurde unverändert bis ins 18. Jahrhundert verwendet.

Abb. 7: Pier Andrea Mattioli: Les Commentaires sur les six livres de Pedacius Dioscoride Anaza-rbéen [...] Lyon (Rigaud) 1605.Mistel: p.310, Chap.87, mit kleinem Holzschnitt: 36 x 58 mmBild: eigenes Blatt (Ausschnitt)Der streitbare italienische Arzt Mattioli gab den wohl einflussreichsten Kommentar zum Text des Diosco-rides heraus. Die vielen, ständig erweiterten Ausgaben machten dieses Werk zum erfolgreichsten italie-nischen Kräuterbuch des 16 .Jahrhunderts. Es erschien – auch in Übersetzungen in viele Sprachen – bis ins 18. Jahrhundert. Das nebenstehende Beispiel stammt aus einer späten französischen Ausgabe des Kräuterbuchs von Mattioli. Der hier verwendete Holzschnitt der Mistel ist den kleinen Holzschnitten der Ausgaben von Valgrisi in Venedig (dort erschienen ab 1554, ca. 6,5 x 10 cm) nachgeschnitten – noch kleiner als diese, gespiegelt und gröber. Das Kapitel der Mistel wurde im Laufe der Zeit mit mindestens sechs verschiedenen Holzschnitten illustriert (vgl. auch Abb. 8 und 11).

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Abb.8: Pier Andrea Mattioli: I Discorsi ne i sei libri della materia medicinale di Pedacio Dioscoride Anazarbeo. Venedig (Valgrisi) 1568. Mistel: p.851, grosser Holzschnitt: ca. 15,5 x 21,5 cm Bild: eigenes Blatt (Ausschnitt; unter dem Holzschnitt folgt auf dieser Seite noch Text)Beispiel aus einer der italienischen Ausgaben des Kräuterbuchs von Mattioli, die mit diesem Holzschnitt in 7 Auflagen zwischen 1565 und 1604 erschienen. Zuerst war der Holzschnitt enthalten in einer tschechischen und einer deutschen Ausgabe, Prag 1562 und 1563. Der Entwurf stammt entweder von Giorgio Liberale oder von Wolfgang Meyerpeck. Dies ist einer der sog. «großen Valgrisi-Holzschnitte», immer noch stark beeinflusst vom Fuchsschen Holzschnitt, aber mit vielen Schraffuren und Schattierungen versehen und in rechteckige Form gestaucht (wobei die Kugelgestalt der Mistel verloren geht!).

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Abb. 9: Henri Louis Duhamel Du Monceau: Traité des arbres et arbustes qui se cultivent en France en pleine terre. Paris (Guérin & Delatour) 1755. 2 Bände.Mistel: Tome 2, ganzseitige Holzschnitt-Tafel Pl. 104 (äußerer Rahmen 17x23cm) Bild: eigenes BlattDiese Abbildung der Mistel wurde gedruckt mit dem fast 200 Jahre alten und inzwischen beschädigten Druckstock des «grossen Valgrisi-Holzschnitts», der zuerst in den Prager Mattioli-Ausgaben verwendet wurde (ab 1562; siehe Abb. 8). Er wurde aber um 180° gedreht und einige Teile fehlen nun, sie sind offenbar aus dem alten Druckstock ausgebrochen. Inzwischen ist die Zeit des Holzschnitts längst abgelau-fen! Entsprechend gibt es neben dem Holzschnitt der Mistel zusätzlich eine Kupferstich-Vignette am Beginn des Mistel-Kapitels mit Detailzeichnungen von Blüten, Beeren, Samen.

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Abb. 10: Matthias de Lobel (L’Obel, Lobelius): Plantarum seu stirpium Historia. Cui annexum est adver-sariorum volumen. Antwerpen (Plantin) 1576. Mistel: im 1.Teil auf S. 361 mit Holzschnitt, ca. 7 x 13 cm (im 2. Teil erscheint ein «Viscum indicum», dies ist aber eine Orchidee) Bild: eigenes Blatt (Ausschnitt)Lobelius gehört zu einer Dreiergruppe von niederländischen Ärzten und Botanikern (Dodonaeus, Clusius, Lobelius), die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entscheidende Beiträge für die Entwicklung der Botanik zur eigenständigen Wissenschaft lieferten (Anfänge der Klassifikation nach morphologischen Merk-malen; Vorformen von Regional-Floren). In den Pflanzenbüchern von Lobelius findet sich ab 1576 dieser eigenständige Mistel-Holzschnitt. Dessen Besonderheit besteht in der Darstellung der Eiche als Wirts-Baum. Die Abbildung erscheint wieder in anderen Lobelius-Ausgaben (z.B. im Kryudtboeck, Antwerpen 1581 und im Tafelband ohne Text «Plantarum seu stirpium icones», Antwerpen 1581 und 1591), bei Rembert Dodoens (Antwerpen ab 1583; in früheren Büchern verwendete dieser den «kleinen Fuchs» wie in Abb. 3), John Gerard (London, ab 2. Auflage 1633), Simon Paulli (Flora Danica, Kopenhagen 1648).

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Abb.11: Joachim Camerarius: Kreutterbuch deß Hochgelehrten unnd weitberühmten Herrn D. Petri Andreae Matthioli, [...] gemehret und verfertigt durch Joachimum Camerarium. Frankfurt a.M. (Feyera-bend) 1586. (Weitere Auflagen 1590, 1598, 1600, 1611, 1626.)Mistel: Cap.68, mit zwei Holzschnitten, jeweils ca. 7 x 12 cm Bild: eigenes Blatt (Ausschnitt)Von Joachim Camerarius d. J., Stadtarzt und Botaniker in Nürnberg, stammt diese neue Bearbeitung des Kräuterbuchs von Mattioli in deutscher Sprache. Sie enthält nebeneinander zwei Mistel-Holzschnitte, die frü-hesten mit vergrößerten Detail-Darstellungen. Joachim Camerarius hat viele Bilder aus dem Nachlass Conrad Gessners verwendet. Wir haben aber keinen Hinweis, dass das auch für die Mistelholzschnitte gilt; unter den heute bekannten bzw. erhaltenen Zeichnungen Gessners gibt es leider keine Mistel. Wiederverwendet wurden beide Holzschnitte in den Mattioli-Bearbeitungen von Bernhard Verzascha, Basel 1678 (vgl. Abb. bei K.Urech in Mistilteinn 2003/4, S. 18) und Theodor Zwinger, Basel 1690, sowie in Castore Durante, Hortulus sanitatis, bearb. von Peter Uffenbach, Frankfurt 1609 und Johann Joachim Becher, Parnassus Medicinalis Illustratus, Ulm 1662.

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Abb.12: Jacob Theodor Tabernaemontanus, Kaspar Bauhin: Neuw vollkommentlich Kreuterbuch mit schönen unnd künstlichen Figuren / aller Gewächs der Bäumen / Stauden und Kräutern so in Teut-schen und Welschen Landen etc. wachsen [...]. Frankfurt a.M. (Paul Jacob für Joh. Dreutelius) 1625Mistel: im 3. Buch, 23. Cap. «Von Mispel», 2 Holzschnitte «Mispel Viscum» und «Indianisch Mispel Vis-cum Indicum» (wir wissen heute, dass das letztere, hier nicht abgebildete, eine Orchidee ist!), Grösse des Holzschnitts «Mispel Viscum» 7,3 x 12,0 cm Bild (Ausschnitt): WLB Stuttgart (Nat.G.fol.581)Der Apotheker und Arzt Jakob Theodor aus Bergzabern in der Pfalz, genannt Tabernaemontanus, veröffent-lichte ab 1588 ein umfangreiches Übersichtswerk, fortgeführt von Nicolaus Braun und später bearbeitet von Kaspar und Hieronymus Bauhin. Dieses bildet den Abschluss der hier vorgestellten Art mit Holzschnit-ten ausgestatteter Kräuterbuch-Literatur. Der Holzschnitt der Mistel erscheint erstmals 1590 in dem kleinen querformatigen Atlasband «Eicones plantarum...» (Frankfurt 1590). Er wurde in vielen Auflagen dieses Kräuterbuchs übernommen (bis 1731), auch von Kaspar Bauhin in dessen Bearbeitung des Mattioli (Frank-furt 1598), sowie in der 1. Auflage von John Gerard’s Herball (London 1597).

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Literatur-AuswahlAnderson, F.J. (1977): An Illustrated History of the Herbals. New York.Arber, A. (1953): Herbals. Their Origin and Evolution. A chapter in the history of

botany 1470-1670. New ed., Cambridge (Reprint 1986).Blunt, W., Stearn, W.T. (1994): The Art of Botanical Illustration. Mineola, N.Y.Brinkhus, G., Pachnicke, C. (Bearb.; 2001): Leonhart Fuchs (1501-1566). Medizi-

ner und Botaniker. Tübingen (Begleitbuch zur Ausstellung im Stadtmuseum).Dilg, P. (2007): Zum Wandel der Pflanzenkunde in der frühen Neuzeit. In: Lebens-

wissen. Eine Einführung in die Geschichte der Biologie. Hrsg. E. Höxter-mann & H.H.Hilger, Rangsdorf, S. 74-99.

Dressendörfer, W. (2003): Blüten, Kräuter und Essenzen. Heilkunst alter Kräuterbü-cher. Ostfildern.

Großkinksky, M. et al. (Katalogredaktion; 2009): Die Entdeckung der Pflanzenwelt. Botanische Drucke vom 15. bis 19. Jahrhundert aus der Universitätsbiblio-thek Johann Christian Senckenberg. Ausstellungskatalog Museum Giersch, Frankfurt am Main.

Heilmann, K.E. (1966): Kräuterbücher in Bild und Geschichte. München 1966.Hoppe, B. (1998): Botanik und Zoologie in der Zeit der Renaissance und des Hu-

manismus. In: Geschichte der Biologie. Hrsg. Ilse Jahn, 3.Aufl., Jena 1998. Korrigierte Sonderausgabe Hamburg 2004, S. 161-195.

Isphording, E. (2008): Kräuter und Blumen. Kommentiertes Bestandsverzeichnis der botanischen Bücher bis 1850 in der Bibliothek des Germanischen Natio-nalmuseums Nürnberg. Nürnberg. Hinweis: Hier finden sich viele weitere Literaturangaben.

Keil, G. (1982): «GART», «HERBARIUS», «HORTUS». Anmerkungen zu den ältes-ten Kräuterbuch-Inkunabeln. In: Festschrift zum 70.Geburtstag von Willem F. Daems. Hrsg. G.Keil (Würzburger medizinhistorische Forschung, Band 24), Pattensen, S. 589-635.

Lack, H. W. (2001): Ein Garten Eden. Meisterwerke der botanischen Illustration. Ausst.-Kat. Österreichische Nationalbibliothek Wien. Köln.

Müller-Jahnke, W.-D. (1995): Die Pflanzenabbildungen im Mittelalter und in der frü-hen Neuzeit. In: Inter Folia Fructus. Gedenkschrift für Rudolf Schmitz, Hrsg. P. Dilg, Frankfurt/Eschborn, S. 47-64.

Nissen, C. (1966): Die botanische Buchillustration. Ihre Geschichte und Bibliogra-phie. 2.Aufl. Stuttgart.

Pfister, A. (1963 und 1965): Die Pflanze und das Buch. In: Librarium 6, S. 147-184 und 8, S. 151-193.

DanksagungWir danken den Mitarbeiterinnen der Abt. Alte und Wertvolle Drucke der Württem-bergischen Landesbibliothek Stuttgart für ihre stets freundliche Unterstützung.

Bildnachweis siehe bei den einzelnen Abbildungen.

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Dorian Schmidt und Stephan Baumgartner

Eine Bildekräftebetrachtung der Mistel

Einleitung und Zielsetzung

Die Basis der Anthroposophischen Medizin ist die Anthropo-sophie als Geisteswissenschaft, welche von Steiner Anfangs des letzten Jahrhunderts als Ergänzung der Naturwissenschaft begründet und entwickelt wurde [Steiner 1904, 1910]. Ein Kernelement der Anthroposophie ist dabei die Integration von nicht-sinnlichen Erfahrungen in die Wissenschaft. Nicht-sinn-liche Erfahrungen sind ein Sammelbegriff für Erfahrungen, die nicht mit den bekannten physisch-leiblichen Sinnen (wie Sehen, Riechen, Hören, etc.) gewonnen werden, sondern mit anderen Wahrnehmungsorganen, welche dem Menschen normalerwei-se ohne bewusste Ausbildung und Schulung nicht zur Verfügung stehen [Steiner 1904, 1910, 1918]. So kann der normale Mensch mit einem Blindgeborenen verglichen werden, dem ein Sinnesorgan fehlt und dem daher die Welt völlig anders erscheint als einem sehenden Menschen. In der gleichen Si-tuation befindet sich der Mensch beispielsweise auch gegen-über dem allergrössten Teil des konventionell physikalischen Spektrums elektromagnetischer Wellen: so haben wir in der Regel weder eine bewusste Wahrnehmung von Radio- oder Mikrowellen noch eine solche von Ultraviolett-, Röntgen- oder Gammastrahlung.

Ein Kernelement der Anthroposophischen Medizin besteht in der Integration nicht-sinnlicher Erfah-rungen in Diagnose und Therapie. Ziel der vorliegenden Untersuchung war, grundlegende Bildepro-zesse der Mistel (Viscum album L.) im lebendigen und seelisch-geistigen Bereich zu identifizieren und zu beschreiben. Die erzielten Resultate bekräftigen die Sonderrolle der Mistel im Pflanzenreich auch für den Bereich der Bildekräfte. Eine Ausdehnung der Untersuchungen auf die pharmazeutische Verarbei-tung der Mistel erschiene uns interessant.

MISTILTEINN 9 2011

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Steiner hat in verschiedenen Werken darauf hingewiesen, dass sich der Mensch durch eine entsprechende Schulung verschiedene «schlummernde» Wahrnehmungsorgane qua-si «erwecken» kann, was dann auf verschiedenen Ebenen zu «übersinnlichen» Erfahrungen führen kann [Steiner 1904, 1910, 1918]. Nach Steiner können sich solche übersinnlichen (nicht-sinnlichen) Erfahrungen auf drei fundamental unterschied-liche Sphären des Daseins beziehen: auf eine lebendige, eine seelische und eine geistige Welt [Steiner 1904]. Der über-sinnlichen Wahrnehmung offenbaren sich diese drei Welten zusätzlich zur bekannten physisch-sinnlich wahrnehmbaren ma-teriellen Welt. In der lebendigen Welt (auch ätherische Welt genannt) zeigen sich die Lebensprozesse von Pflanzen, Tieren und Menschen als dynamisch strukturierte, wirksam tätige Kraft-gebilde. Diese «Ätherkräfte» formen, gestalten und erhalten die sinnlich sichtbare Form von Lebewesen. In der seelischen Welt (auch astrale Welt genannt) sind die Seelenregungen beseelter Wesen (Tiere und Menschen) zu beobachten. Gefühle, Vorstel-lungen, Willensimpulse, Instinkte etc. zeigen sich der hellsich-tigen Wahrnehmung nicht nur als subjektive Zustände innerhalb der jeweiligen Wesen, sondern auch als «objektiv» existierend und als reale Kräfte zwischen all diesen Wesen wirksam. In der geistigen Welt schliesslich sind die Gesetzmässigkeiten der physisch-sinnlichen, ätherischen und seelischen Welt auf-zufinden. Dem Denken des wissenschaftlich tätigen Menschen offenbaren sich die Inhalte der geistigen Welt in abstrakter «he-rabgelähmter» Form [Steiner 1917]; der übersinnlichen Wahr-nehmung zeigen sie zusätzlich noch ihre kraftvoll-tätige Seite in wesenhafter Begegnung. Als Vermittler zwischen der physisch-sinnlichen, der ätherischen und der seelischen Welt einerseits und der geistigen Welt andererseits tritt das menschliche Ich auf [Steiner 1904].Ein Mensch, der mit übersinnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten begabt ist, wird dann wissenschaftlich tätig, wenn er von ei-ner reinen Phänomenologie zu einer Aufdeckung der gesetz-mässigen Struktur und Zusammenhänge vorstossen kann und so seine Beobachtungen begrifflich zu fassen vermag, d.h. in ihren ideellen Bezügen aufklären und in einen weiteren Kontext stellen kann. Zudem sind die Methoden, mit denen die Beo-bachtungen erlangt wurden, genau zu beschreiben und kritisch zu reflektieren.

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Trotz grosser Bemühungen Steiners und anderer Pioniere [At-teshlis 2000; Pogacnik 2007] befindet sich die übersinnliche Wissenschaft noch in ihren allerersten Anfängen. So ist insbe-sondere die Frage der Objektivität bzw. die intersubjektive Ver-gleichbarkeit der erzielten Resultate wissenschaftlich noch nicht genügend geklärt, ebenso wenig die Frage des Verhältnisses verschiedener methodischer Ansätze und Vorgehensweisen un-tereinander [Steiner 1918, 1920c; Atteshlis 2000; Pogacnik 2007; Schmidt 2010; Strube 2010]. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen scheint aber deutlich zu werden, dass der Aus-gangspunkt der Untersuchungen (allgemeine Fragestellung, angewandte Methodik, Fokussierung der Untersuchung etc.) einen grossen Einfluss auf die Auswahl des sich offenbarenden Inhalts hat [Schmidt 2010]. Von daher sind auch die weiter unten dargestellten Untersuchungen zur Mistel (Viscum album L.) als vorsichtige Schritte in der Etablierung einer neuen Wis-senschaftsrichtung zu sehen, deren Aussagekraft derzeit noch provisorischen Charakter haben muss.Steiner hatte aufgrund übersinnlicher Forschung die Mistel als potentielle Heilpflanze zur Behandlung der Karzinomerkran-kung empfohlen [Steiner 1920b]. So betont Steiner nach einer detaillierten Untersuchung des Verhältnisses von Mistelpflanze und Wirtsbaum: „Ätherisches zieht sich von dem Baum aus in die Mistel hinein. Dieses innerlich durchschaut, sagt uns – die Mistel in entsprechender Weise nun so verarbeitet, dass sie dieses dem Baum entrissene Ätherische wirklich auf den Menschen übertragen kann, was unter gewissen Umständen durch Injektionen geschieht –, dieses sagt uns: Die Mistel über-nimmt als äussere Substanz dasjenige, was wuchernde Äther-substanz beim Karzinom ist, verstärkt – dadurch, dass sie die physische Substanz zurückdrängt –, verstärkt sie die Wirkung des astralischen Leibes und bringt dadurch den Tumor des Kar-zinoms zum Aufbröckeln, zum In-sich-Zerfallen. So dass, wenn wir die Mistelsubstanz in den menschlichen Organismus hinein-bringen, wir tatsächlich die Äthersubstanz des Baumes in den Menschen hineinbringen, und die Äthersubstanz des Baumes also, auf dem Wege durch den Mistelträger in den Menschen übergeführt, wirkt verstärkend auf den astralischen Leib des Menschen“ [Steiner 1924b, S. 232].Dieses Zitat zeigt, dass sich die anthroposophische Mistelthe-rapie auf Prozesse im ätherisch-astralen Bereich abstützt. Das

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von Steiner intendierte Wirkprinzip, welches einer Behandlung mit Mistelextrakten zugrunde gelegt werden soll, ist jedoch nur in den Grundzügen überliefert und harrt einer weiteren Ausdif-ferenzierung.Aus diesem Grund ist es sinnvoll, das Verhältnis von Mistel und Wirt auf ätherisch-astraler Ebene aktuell zu untersuchen, auch um eine Grundlage für die Beantwortung von weiteren Fragen zu schaffen, wie etwa, ob die von Steiner in der Therapie inten-dierten Prozesse auch wirklich stattfinden, zumal sie ja kritisch von der Verarbeitung abzuhängen scheinen (s.o.). Ziel der vorliegenden Studie war deshalb eine übersinnliche Untersuchung der Mistelpflanze durch eine entsprechend qua-lifizierte Person (D.S.). Da es sich dabei seit Steiner um die erste uns bekannte Studie handelt, welche sich in der ange-sprochenen Art und Weise mit der Mistel auseinandersetzt, hat-te sie zwangsläufig einen offenen und explorativen Charakter. Leitfragen waren etwa: Was für ätherische und astrale Bilde-prozesse lassen sich bei der Mistel beobachten? Wie ist das Verhältnis von Wirtsbaum- und Mistel-Ätherischem? Inwiefern unterscheidet sich die Mistel von anderen Pflanzen? Kann die von Steiner behauptete Eignung als Krebsheilmittel ansatzweise nachvollzogen werden?

Vorgehensweise

Da die angewandte Methode der Bildekräfte-Betrachtung im wissenschaftlichen Kontext neu und ungewohnt ist, sei ihrer Dar-stellung hier etwas mehr Platz eingeräumt. Es kann dennoch nur auf einige wenige wesentliche Grundzüge eingegangen wer-den. Eine ausführliche Darstellung der eingesetzten Methode findet sich in einer kürzlich publizierten Schrift [Schmidt 2010].Das Kernstück der Methodik ist der vom Ich aus bewusst gehal-tene Zustand der Gedankenruhe zugunsten einer gerichteten Vertiefung der Wahrnehmungsvorgänge. Dazu werden die all-gemeinen und alltäglichen Denkvorgänge, die aus dem Verbin-den von Begriffen und Wahrnehmungen bestehen, gedrosselt bis zum zeitweiligen Stillstand, was unter geeigneten Bedin-gungen zu einer intensiven Vertiefung der Wahrnehmungssei-te führt. Die Art der Vertiefung der Wahrnehmung führt über die sinnliche Wahrnehmung hinaus in einen reich gegliederten übersinnlichen Bereich.

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Unter dem Begriff der Gedankenruhe wird bei dieser Methodik ein vom Bewusstsein voll umgriffener, durchlichteter Gedanken-bildungsraum ohne jeglichen Inhalt verstanden. Entscheidende Voraussetzung hierfür ist, dass das Bewusstsein immer anwe-send bleibt, während der Einfluss des Wollens auf das Denken gelenkt wird. Kann das Bewusstsein sich lange und stark genug halten, wird es bemerken, wie dieser entleerte Denkraum, der sonst so viel inhaltsvolles Denkleben gewohnt ist, einen Sog für neue lebendige Bewusstseinsinhalte entwickelt. Dieser Sog bewirkt eine neue Art von Wahrnehmung: insbesondere der innere Sehsinn, aber auch der innere Hörsinn und andere in-nere Sinne bekommen eine Art Überwachheit, sie dehnen ihr Streben nach Inhaltlichem über die gewohnten Sinneseindrücke und Erinnerungsinhalte, die sie im Augenblick ja nicht erhalten können, hin aus. Das, was weiter oben ein Vertiefen der Wahr-nehmung genannt wurde, kann hier genauer als ein Weiten, Dehnen oder Strecken beschrieben werden. Und dieses Stre-ben und Suchen geht nach dem, was Denkinhalte eigentlich auch sonst immer sind: nach Ätherkraft. Das Denken wird unter diesen Umständen zu einem Wahrnehmungsorgan für das Le-bendige, für Ätherkräfte. Was in den Denkraum zur Wahrnehmung eintritt, kann in ganz verschiedenen Formen dort erscheinen, auch wenn es sich im-mer um die gleiche Ätherkraft handelt. Die Ätherkräfte können als reine Kraftimpulse erlebt werden oder auch als leuchtende, strahlende, innerlich sich bewegende Bilder oder Folgen von Bildern. Solche Bilder aus der Wahrnehmung von Ätherkräften werden «Imaginationen» genannt, im Gegensatz zu normalen Vorstellungen (Erinnerungen, Phantasievorstellungen etc.). Für eine systematische Erforschung der ätherischen Welt ist es von entscheidender Bedeutung, dass man das neu entwickelte Wahrnehmungsorgan für Ätherkräfte mit bewusstem Willen lenken lernt, das heisst, dass man es neben dem Öffnen und Schliessen auch ausrichten, fokussieren, konzentrieren und auch wieder weiten kann. Sollen die Ätherkräfte in der Aussenwelt, der menschlichen Umgebung, wahrgenommen werden, sind folgende Schritte vorzunehmen. Der Ausgangspunkt liegt vorzugsweise in der Sinneswelt. Dabei kann es sich um ein Lebewesen handeln, ein Stück Gestein, einen Bach oder in unserem spezifischen Fall um eine Mistelpflanze. Das, was daran von Interesse ist, wird genau betrachtet, in den Blick genommen. Die Betrachtung

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kann weitläufig sein, etwa eine Landschaft oder eine Vogel-gezwitscher-Kulisse, sie kann aber auch sehr fokussiert, kon-zentriert sein – der Stiel oder die Rippe eines Blattes, eine be-stimmte stehende Welle innerhalb eines Bachlaufes. Wichtig ist, dass man sich in die gewählte Erscheinung intensiv vertieft, so weit, bis man von ihr in einer Weise berührt wird, die über das rein Sinnfällige, das rein Faktische hinausgeht. Zarte, mitunter aber auch eindrucksvoll starke Bewegungsein-drücke zeigen die beginnende Wahrnehmung von Ätherkräften an. Wahrnehmbar werden Bewegungen wie Strömen, Strah-len, Verdichten, Spreiten, Einhüllen und vieles andere mehr. Können die Eindrücke eine bestimmte Dichte ereichen, fangen sie an zu leuchten, Imaginationen entstehen. Dazu kommen weitere Eindrücke: die Bewegungen haben Kraft – gezielte, ge-richtete, formende Kraft. Jede Bewegung kann unmittelbar als kraftgeladen wahrgenommen werden, wir erleben ihr Schaf-fen, ihr «Fleissig-Sein». Das Kraftvolle in den lebendigen Strö-men ist zunächst kaum, bei Vertiefung der Beobachtung immer stärker wahrzunehmen und kann bei intensiver Zuwendung so eindrücklich werden, dass man sich vor einer zu starken Beein-flussung der eigenen Lebenskräfte schützen muss.Die kraftenden, formenden Bewegungen haben zudem einen für jede Bewegung typischen «Charakter». Dieser setzt sich zu-sammen aus seiner Bewegungsform und seiner «Stimmung», in die diese Bewegung getaucht ist. Beides zusammen könnte man als «Geste» bezeichnen. Die Bewegungsformen sind oft leicht zu erkennen und zu übermitteln, die Stimmungen sind hingegen nicht leicht zu benennen und auch in der Beobach-tung bisweilen sehr schwer zu ergründen. Hier zeigt sich die extreme Beschränktheit des menschlichen Fassungsvermögens für solche Erfahrungen. Nur durch oft wiederholte Zuwendung und liebevolle Hingabe bilden sich beim Beobachter neue seelische Haltungsformen aus, mit denen er die vielen unge-wohnten Charaktere aufnehmen und begreifen kann. Eine entscheidende Frage ist nun, wie diese verschiedenen neu-artigen Wahrnehmungen anderen Menschen mitgeteilt werden können. Aufgrund der Tatsache, dass es sich um eine völlig neue, eigentlich unbeschreibbare Welt handelt, ergeben sich hier beträchtliche Schwierigkeiten. In der schriftlichen Vermitt-lung hat sich hierfür derzeit die Erstellung flächiger (zweidimensi-onaler) gezeichneter oder gemalter Bilder der Kräfteströmungen als sinnvoller und fruchtbarer Weg erwiesen [Schmidt 2010].

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Diese Bilder zeigen eine charakteristische Auswahl von Bilde-kräften, die um die Pflanzen herum wirken, welche aber auf eine Ebene zusammengeschoben gezeichnet werden. Eine Auswahl muss getroffen werden, damit dieses Übereinander-schichten nicht ein völlig unüberschaubares Bild ergibt. Neben der unmittelbaren Beobachtung von Mistelpflanzen in freier Natur wurden auch Extrakte junger Mistelblätter (zum Teil zur D1 potenziert) mithilfe der Technik der «Kapillardynamoly-se» untersucht. Bei dieser Methode steigt die Probeflüssigkeit in einer Schale an einem Zylinder aus Chromatographiepa-pier (Schleicher & Schüll 2043a) auf. Gegenüber der direkten Betrachtung einer Probe hat diese Methode den besonderen Vorteil, dass sich die Lebenskräfte der Probe verstärkt entfalten und so der Beobachtung leichter zugänglich sind, denn sobald sich die Flüssigkeit der Probe in den Kapillaren des Filterpapiers bewegt, offenbaren sich die an diese Flüssigkeit gebundenen ätherischen Kräfte, oder die in ihr enthaltenen Stoffe ziehen die ihnen zugehörigen Ätherkräfte an oder beides. Solange die Flüssigkeit in den Kapillaren aufsteigt, entfaltet sich um die Ka-pillaren herum ein ätherisches Feld. Im Falle eines Papierzylin-ders von 5 Zentimetern Durchmesser und 15 Zentimetern Höhe kann das entstandene Feld eine Ausdehnung entfalten, die nur etwas grösser ist als der Papierzylinder selber, vielleicht sogar nur einen Teil von ihm umfasst. Das Feld kann aber auch aus-wachsen zu einer raumgreifenden Grösse, das heisst, es durch-strahlt oder durchkraftet den Raum um den Papierzylinder bis zu einer Entfernung von ein bis zwei Metern in jede Richtung. Form und Ausrichtung dieses Feldes hängen wesentlich vom Inhalt dieses Feldes ab, sie sind zusammen mit seiner inneren Strukturierung der ganze Inhalt des ätherischen Webens und damit der eigentliche Gegenstand der Beobachtung. Zweck-mässigerweise ist erst ab einer Steighöhe von zwei Zentimetern übersinnlich zu beobachten, da zuvor eine intensive Auseinan-dersetzung der sich etablieren wollenden Ätherstrukturen mit den vorhandenen Kräften der Umgebung stattfindet. Dann lässt sich im Bereich von 2 –12 Zentimetern Steighöhe eine je nach Probe sehr verschieden intensive und vielfältige, gleitende Me-tamorphose von Bildekräftegestaltungen beobachten, die sich um den Zylinder herum auslebt. Es sind zu Beginn mehr die schwereren, dichteren Elemente (Erd- und chemischer Äther), später mehr die leichteren und weniger dichten Elemente, aber auch die komplexeren Strukturen erkennbar.

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Beobachtungsergebnisse

Die Untersuchungen der Mistelpflanze sind mit Schwierigkeiten verbunden. Schon ihre physische Erscheinung weist auf eine besondere Stellung im Pflanzenreich hin [Ramm 2000, 2001, 2002]. Im übersinnlichen Erleben setzen sich die Eigenarten der Mistelpflanze in dem Masse fort, dass eine Beobachtung der Misteldynamik sehr anstrengend wird: die Mistelpflanze entrückt den Beobachter in eine Sonderwelt, die mit der ge-wohnten ätherischen Welt, die an die Sinneswelt gebunden ist, nicht zu vergleichen ist. Die Welt der Mistel ist eine stark seelisch geprägte Welt, die ohne die beteiligten Wesenheiten kaum zu beschreiben ist.Die Misteldynamik soll daher in dreifacher Weise dargestellt werden: zunächst auf rein ätherischer Ebene, dann mit den be-teiligten Wesenheiten. Als drittes soll die Wirkung beschrieben werden, welche die Beobachtung der Misteldynamik auf den Beobachter hat.

Die Misteldynamik auf ätherischer Ebene

Das Kräfte-Bild der Mistel zerfällt in zwei Teile. Der erste Teil be-trifft die Kräfte im Zusammenhang mit Blättern und Blattansätzen sowie Blüten- und Frucht-Stand. Der zweite Teil betrifft die Kräfte in Zusammenhang mit Stängel und Senker.In der Blattgestaltung des jungen wachsenden Blattes, im Le-ben des ausgewachsenen Blattes und in den Bildeprozessen des Blüten- bzw. Fruchtstandes (Blüten- und Fruchtstand bilden mit dem Blattwerk einen untrennbaren organischen Zusammen-hang) treffen mehrere Bildekräfte-Arten zusammen (Abb. 1 und 2):

• IntensivesWebendesWasseräthersdurchziehtdieebenendunkelgrünen Blattspreiten.• AufstrebendesWasser-Licht-Luftwebenumspieltdieaufrechtstrebenden jungen hellgrünen Blätter.• FeineLichtbahnenleitendasStrebwachstumderjungenBlät-ter, ziehen sie vom Wirtsbaum weg.• SchalenartigereineFormkräftebiegendieBlätterzueinemEigenraum zusammen.• DrehendeWirbelkräftebisherunbekannterNaturverdrehendie Blattspreiten. Vielleicht gehört die Drehbewegung zur inne-ren Bewegungsnatur des Wasseräthers.

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• DiezueinemrundenRaumgebogenenundzusammenge-drehten Blätter üben einen Sog zu einer besonderen Art des wässrigen Äthers aus, die das Vermögen hat, feste Formen aller Art aufzulösen. Diese Kräfte sind auch bei aktiven Hydrolasen anzutreffen, z.B. Pepsin in der Verdauung. • Der gebildete Innenraum füllt sichmit einer eigenen Stim-mung, die derjenigen einer Vollmondnacht verwandt ist.

Abb. 1: Bildekräfteprozesse an jungen, wachsenden Trieben und Blättern (Auswahl):

(1) Intensives Weben des Wasseräthers durchzieht die ebenen dunkelgrünen Blattspreiten.(2) Aufstrebendes Wasser-Licht-Luftweben umspielt die aufrecht strebenden jungen hellgrünen Blätter.(3) Feine Lichtbahnen leiten das Strebwachstum der jungen Blätter, ziehen sie vom Wirtsbaum weg.(4) Strenge Lichtbahnen leiten das Strebwachstum der jungen Stängel.(Zeichnung: Dorian Schmidt)

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Abb. 2: Bildekräfteprozesse im Bereich eines ausgewachsenen Blattpaares (Auswahl):

(1) Das Weben des Wasseräthers wird vom bodennahen Wasseräther angezogen und durchzieht die dunkelgrünen Blattspreiten.(2) Schalenartige reine Formkräfte biegen die Blätter zu einem Eigenraum zusammen.(3) Aufsteigendes Wasser-Licht-Luftweben durchzieht den Innenraum, der von Blättern umgrenzt wird.(4) Wirbelkräfte verdrehen die Blattspreiten. (5) Die zu einem runden Raum gebogenen und zusammengedrehten Blätter üben einen Sog zu einer besonderen Art eines wässrig schwingenden Äthers aus, der das Vermögen hat, feste Formen aller Art aufzulösen. (6) Der gebildete Innenraum füllt sich mit einer eigenen Stimmung, die man «mondig» nennen kann.(7) Der astrale Umraum des Mistelbusches, der in seiner ganzen Tiefe bis zum Sternenhimmel reicht.(8) In der Mistel angereicherte Fixstern-Kräfte. (Zeichnung: Dorian Schmidt)

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Abb. 3: Bildekräfteprozesse in der Gestaltung von Stängel und Senker (Auswahl):(1) Schalenförmige Mondenkraft, die Richtung Wirtsbaumholz gerichtet ist und statt einer hinge-benden oder schützenden Art eine kraftvoll gerichtet pressende, verdichtende Tätigkeit ausübt. (2) Entlang der Stängelachse treten seitlich verdichtende axial ausgerichtete Verdichtungskräfte auf.(3) Spiralförmige Kräfteströme winden sich entlang der Achse Richtung Wirtsbaum.(4) Gerüstartige Kräfte der «Kohlenstoff-Gestik» (Rhomben-Formen) ziehen vom Blattansatz zum Ansatz am Wirtsbaum-Holz nach unten. (Zeichnung: Dorian Schmidt)

In der Gestaltung von Stängel und Senker wurden recht anders-artige Bildekräfteprozesse beobachtet (Abb. 3):• Schalenbildende Mondenkräfte kommen allgemein inzwei Hauptformen vor: die eine ist empfangend nach oben oder seitlich geöffnet, die andere umschliesst einen durch-seelten Innenraum. Hier im Stängelbereich tritt eine weitere, eine schalenförmige Mondenkraft auf, die aber ungewohnter-weise nach «unten» (in Richtung Wirtsbaum) gerichtet ist und statt einer hingebenden oder schützenden Art eine kraftvoll gerichtet pressende, verdichtende Tätigkeit ausübt. Die Kraft ist so stark, dass man sie als zwingend bezeichnen kann.

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Der ganzen Art nach kann das Ergebnis dieser Verdichtung nichts Kristallines sein, weil alles lichthaft-Kantige fehlt. Es müsste als Verdichtung im wässrigen Umraum zu Hornbildung kommen oder ähnlichem, vielleicht auch Holzigem.• EntlangderStängelachse tretenseitlichverdichtendeaxialausgerichtete Kräfte auf. Solche erscheinen auch an der Bruch-weide und bilden dort die normalerweise in die Breite expan-dierenden Blattspreiten zu schmalen Blattleisten um.• SpiralförmigeKräfteströmewindensichentlangderAchseinRichtung Wirtsbaum.• GerüstartigeKräfteder«Kohlenstoff-Gestik»ziehenvomBlatt-ansatz zum Ansatz am Wirtsbaum-Holz.

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Die Misteldynamik auf wesenhafter (astraler) Ebene

Die stark astral geprägte Atmosphäre des Mistelbusches und sei-ner Umgebung lässt bei der Beobachtung sofort Wesenhaftes in Erscheinung treten. Abgesehen von den vielen, man möchte sa-gen, namenlosen Elementarwesen, die helfenderweise die oben genannten Ätherströme bewohnen und beleben – Undinen, Syl-phen, Elfen und andere – spielen in der Misteldynamik, soweit bisher beobachtet, vier höhere Wesenheiten eine unmittelbare Rolle.Mit dem beobachtenden Erfassen der Mistelbusch-Atmosphäre öffnet sich gleich ein Tor zu einer anderen Sphäre, völlig an-ders als die im irdischen Bereich gewohnte. Der Hintergrund ist schwarzblau wie der Nachthimmel. Die darauf erscheinende Ge-stalt hat ein königliches Aussehen mit Kennzeichen von Würde, Alter und auch seelisch-geistigem Reichtum. Ihre Haltung ist frontal stehend und ruhig. Auf ihrem Haupt glänzt ein leuchtendes, stern-helles, kronenartiges Gebilde. Sie ist verantwortlich für die dunkle astrale Hülle, die den Mistelbusch umgibt und ihn dadurch der irdischen Atmosphäre entzieht, völlig fremd macht. Es wird sofort die (idealerweise) runde Gestalt des Busches klar, denn diese as-tralen Kräfte lassen den Busch schweben wie einen Wassertrop-fen im Nebel. Die Aufmerksamkeit dieses Wesens ist aber auf ein anderes Wesen gerichtet, welches sich wie gegenteilig zu ihm zeigt: kindlich jung, weisslich hell, mit geringer Kontur, fliessend schwebend, suchend, zum Erleben strebend. Dieses kindliche Wesen nimmt teil an dem, was im Mistelbusch innerhalb der zum Kreis oder Kelch zusammengebogenen Blätter passiert.Der Wirtsbaum ist ebenfalls von einem Wesen bewohnt, dem betreffenden Baumwesen, welches sich wohlwollend und interes-siert der Mistelpflanze zuneigt.Als vierte Wesenheit erscheint hinter einem Wall (als imaginatives Bild der Grenze zur geistigen Welt) ein helles Wesen, aus einer hellen Welt hervorschauend. Dieses neigt sich den anderen drei Wesenheiten zu und verbindet ihre Taten miteinander. Sein Haupt-charakter ist liebevolle Anteilnahme. Es scheint, als sei die Liebe spendende Zuwendung dieses Wesens letzten Endes Ursache für das wohlwollende und interessierte Zuneigen des Wirtsbaum-wesens zu seiner Mistelpflanze, genauer zu dessen kindlichem Bewohner. Diese liebevolle Zuwendung kann als Gegensatz zu der menschlichen Empfindung bzw. Befürchtung betrachtet wer-den, dass der Mistelbewuchs eines Baumes diesen auch zu Fall bringen kann.

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Beschreibung der Wirkung der Untersuchung auf den Beobachter

Zum Verständnis der folgenden Beschreibung sind methodische Eigenheiten der Beobachtung im Übersinnlichen zu beachten. Steiner schreibt in seinen aphoristischen Ausführungen «Die Schwelle der geistigen Welt» zum Prozess der übersinnlichen Be-obachtung: „Man muss in dem Erlebnis untertauchen, man muss eins mit ihm werden können; man muss dies bis zu einem solchen Grade können, dass man sich ausserhalb seiner eigenen We-senheit erschaut und in der anderen Wesenheit drinnen fühlt. Es findet eine Verwandlung der eigenen Wesenheit in die andere statt, mit welcher man das Erlebnis hat. Wenn man diese Ver-wandlungsfähigkeit nicht hat, so kann man in den übersinnlichen Welten nichts Wahrhaftiges erleben. Denn alles Erleben beruht darauf, dass man sich zum Bewusstsein bringt: jetzt bist du in «dieser bestimmten Art» verwandelt, also bist du lebensvoll mit einem Wesen zusammen, das durch seine Natur die deinige in «dieser» Weise umwandelt. Dieses Sich-Umwandeln, dieses Ein-fühlen in andere Wesenheiten ist das Leben in den übersinnlichen Welten“ [Steiner 1913, S. 142].Für den Fall der Beobachtung des Mistelbusches kann diese Ver-wandlung folgendermassen aussehen.Wird vom Beobachter die besondere Atmosphäre um den Mi-stelbusch erfasst und erscheint in einiger Entfernung davon in einer der Erde völlig fremden Sphäre das oben beschriebene königliche Wesen, so färbt die Kraft dieses Wesens nicht nur die Atmosphäre des Mistelbusches durch, sondern auch die des Beobachters. Im Gegensatz zu den Wirkungen der meisten Bil-dekräfte aus dem irdischen Bereich hat dies ganz ungewöhnliche Folgen. Diese zu beschreiben ist nicht möglich ohne gleichzeitige Einsichten in allgemein menschenkundliche Verhältnisse. Der Mensch steht ununterbrochen in Auseinandersetzung mit den irdischen Verhältnissen, die geprägt sind von der Existenz der Mi-neralien und den Gesetzen der Physik. Namentlich steht er in der Konfrontation mit deren Widerstandskraft und Schwere, so zum Beispiel im Falle der eigenen leiblichen Schwere, die der Aufrichtekraft entgegensteht, oder im Falle der Bearbeitung von Werkstücken oder eines landwirtschaftlichen Bodens. Im Physisch-Sinnlichen wird der Erfolg menschlichen Handelns bestimmt durch Überwindung mechanisch-physikalischer Gegebenheiten, so z.B. der Trägheit im Fall des Einübens eines Klavierstückes gegen die Trägheiten der Gliedmassen und der Tasten.

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Eine weitere Einsicht ist die, dass der Mensch fortwährend an diesem Überwinden einen seelischen Gewinn hat, unabhängig davon, ob sein menschliches Gefühl diese Arbeit als leid- oder lustvoll empfindet, ob er es mag oder nicht mag, für sinnvoll hält oder nicht. Es trägt in jedem Falle – auch in den schmerzlichsten Umständen – dazu bei, dem Menschen eine seelisch „feste“ Konstitution zu verschaffen, die mit einem «Ich»-Gefühl verbunden ist. Kurz, es verschafft ihm diese Auseinandersetzung mit den ir-dischen Verhältnissen – wenn auch manchmal ganz unbewusst – ein wachsendes Persönlichkeitsgefühl mit einer unterlegten Ich-Präsenz.Diese Bildung eines Persönlichkeitsgefühls durch die Auseinan-dersetzung mit den physischen Gegebenheiten wird dann richtig deutlich und auch aus den unbewussteren Bereichen hervorge-hoben, wenn es unter dem Einfluss astraler Wirkung der könig-lichen Wesenheit der Mistel temporär weichen muss. Nach der Erfahrung des Erstautors geschieht hierbei das sonst kaum zu Er-lebende, dass alle Verdienste, die sich der Mensch durch den Aufenthalt auf Erden erworben hat, abfliessen müssen unter die-sem Einfluss. Der astrale Einfluss ist so geartet, dass alle seelisch-geistigen Stützkräfte zur Etablierung eines Ich-Gefühls oder einer Ich-Empfindung wie zerfließen und hinfällig werden. Damit wird gleichzeitig jedes menschliche Erfolgsstreben getilgt. Am deutlichsten ist diese Veränderung im Willensbereich zu spü-ren, durch eine Grund-Entspannung des Muskelsystems.Anstelle des quasikristallinen inneren Stützgewebes aus den Erfah-rungen an der irdisch festen Sinneswelt erhält der Ätherleib des Menschen eine Art Mantel aus dunkelblauen, hüllenden, ruhig strömenden Kräften des wässrigen Äthers. Der Vergleich mit dem Anlegen eines schweren Bademantels in Zusammenhang mit der Situation eines entspannenden Erholungsbades ist möglich.Das scharf beobachtende und urteilende Denken wird stark ge-dämpft, wenn nicht gar beseitigt zu Gunsten einer ruhigen wa-chen Aufmerksamkeit, mehr eines schlichten Daseins.Subjektiv kann die Veränderung als Gewinn betrachtet werden, wenn ein solch entspannter Zustand erwünscht ist. Andernfalls kann das Vergehen der Ich-Empfindung als ein äußerst herber Verlust empfunden werden. Nach den Erfahrungen des Erstautors ist dieser Verlust als temporär zu betrachten; dies minderte jedoch nicht die Erlebnisintensität während der geschilderten Verwand-lung in der Mistelsphäre.

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Diskussion

Die Mistel unterscheidet sich deutlich und in mannigfacher Hin-sicht von allen anderen bis dato vom Erstautor übersinnlich unter-suchten Pflanzen. Auffällig ist bei der Mistel insbesondere, dass sie in einer Art «Sonderwelt» lebt, welche stark seelisch geprägt ist. Dies wurde in dieser Art bisher bei keiner anderen Pflanze beobachtet. Die starke seelische (astrale) Prägung rückt die Mistel weg von der typischen Pflanze, in ein Zwischenreich zwischen Pflanze und Tier. Diese Grundcharakterisierung ist im Einklang mit Untersuchungsresultaten von Steiner: „Nun gibt es heute sehr merkwürdige Pflanzen, die nicht in einem mineralischen Boden gedeihen, zum Beispiel die Mistel. Sie ist deshalb so merkwür-dig, weil sie sich als Pflanze für den hellseherischen Blick sehr von den anderen Pflanzen unterscheidet. Sie zeigt nämlich etwas von einem Astralleib, der, wie bei dem Tierleibe, in die Mistel hinein-geht“ [Steiner 1908, S. 107]. Das weiter oben geschilderte Zerfallen des ätherischen Kräfte-Bildes in zwei Teile (Blätter/Blüten/Früchte einerseits und Stän-gel/Senker andererseits) ist ebenfalls untypisch, wenn nicht sogar anomal, da gemäss der Erfahrung des Erstautors bei Pflanzen normalerweise die ätherischen Bildekräfte von Blattansatz, Blüten- und Fruchtständen und Wurzelsystem äusserst harmonisch und Pflanzenart-typisch miteinander in Beziehung gesetzt werden. Bei der Mistel hingegen sondern sich die Bildeprozesse von Blatt, Blüte und Frucht deutlich von denjenigen von Stängel und Senker ab. Auch zu dieser Beobachtung findet sich eine Entsprechung bei Steiner: „Beachten Sie […] die Mistelbildung. Da haben Sie dasjenige, was sonst noch mit der Pflanze organisch verbunden bleibt, das Aufsitzen der blüten- und samentragenden Organe auf dem Stamm, wie eine äussere Absonderung, wie einen Vorgang für sich. So dass Sie also in der Mistelbildung eine Steigerung, verbunden mit einer Art Abtrennung von den Erdenkräften, des-jenigen zu sehen haben, was sonst in der Blüten- und Samen-bildung vorliegt. Es emanzipiert sich gewissermassen dasjenige, was in der Pflanze unirdisch ist, gerade in der Mistelbildung. So dass wir das von der Erde Aufstrebende, das sich in Wechselwir-kung stellt mit dem Ausserirdischen, allmählich in der Blüten- und Samenbildung sich von der Erde absondern sehen und in der Mistelbildung zu einer ganz besonders stark sich individualisie-renden Emanzipation kommen sehen“ [Steiner 1920a, S. 111].

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Blüten- und Fruchtstand der Mistel bilden mit dem Blattwerk einen untrennbaren organischen Zusammenhang. Da alles an der Mistel in diesen starken Astralraum eingebettet ist und solch eine Astrali-sierung sonst nur der Blüte zusteht (und – mit Einschränkung – auch der Frucht), ist eigentlich die ganze Mistel ein Blütengebilde, aber auch wiederum ein ziemlich schwermütiges, dem intensiv dichten Wässrigen verhaftetes Blütengebilde. Dies wiederum macht das eigenartige Aussehen und Verhalten der Blätter verständlicher. Passend zu den dominant wässrigen Bildekräfteprozessen wurden im Elementarwesenbereich in erster Linie Undinen und Sylphen als frei Tätige beobachtet, Gnome und Salamander hingegen keine. Auch für diese Beobachtung findet sich eine Entsprechung bei Steiner in einem Notizbucheintrag zum Vortrag vom 3.11.1923: „Die Mistel hat Verwandtschaft zu den Undinen; sie meidet die Gnomen – sie vertreibt sie – ihr Saft dringt zum Wurzelwesen so, dass er die Gnomen vertreibt und zum Blütenwesen so, dass er die Feuergeister vertreibt = er wirkt als lichtdurchdrungenes chemisches Element“ [Groddeck 1972]. In einer unabhängigen Untersuchung rhythmischer Formveränderungen von Mistelbeeren während des Reifungsprozesses wurde die Polarität wässrig-luftig zu feurig-irdisch interessanterweise ebenfalls aufgefunden [Baum-gartner und Flückiger 2004].Zur aktuell vom Erstautor beobachteten Differenzierung des as-tralen Bereiches in ein Zusammenwirken von vier Wesen findet sich unseres Wissens keine direkte Entsprechung bei Steiner. Ge-mäss den vorliegenden eigenen Beobachtungen scheinen diese vier Wesen gemeinsam verantwortlich zu sein für das sehr spe-zielle Geschehen des Mistelbildeprozesses. Aufgrund des neuar-tigen Charakters dieser Wesensbegegnungen ist es aber noch nicht möglich, Auftreten und Wirksamkeit dieser vier Wesen in einen grösseren Zusammenhang zu stellen. In der Untersuchung der Mistelwirkung auf den Beobachter war insbesondere die Begegnung mit dem «königlichen Wesen», welches für die dunkle astrale Hülle verantwortlich zu sein scheint, welche die Mistel umgibt und sie dadurch der irdischen Atmo-sphäre entzieht, von entscheidender Bedeutung. Das Eintauchen in die fremdartige Sphäre der Mistel führte dazu, dass alle durch die Auseinandersetzung mit den irdischen Verhältnissen gewon-nenen seelisch-geistigen Stützkräfte zur Etablierung eines Ich-Ge-fühls oder einer Ich-Empfindung quasi zerflossen, was zu einem regelrechten Vergehen der Ich-Empfindung führte. Diese Wirkung konnte direkt mit der Kraft des «königlichen Wesens» in Zusam-

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menhang gebracht werden, welche der Mistel ihre erdenfremde Existenz in der ihr eigenen Sphäre ermöglicht.Gemäss der anthroposophischen Auffassung ist das Auftreten einer an den Leib gebundenen Ich-Empfindung innerhalb der ir-dischen Naturreiche ein für den Menschen spezifisches Phäno-men, welches sich im Laufe der Evolution erst in jüngerer Zeit ausgebildet hat. Insofern kann der durch die Wesensbegegnung mit der Mistel hervorgerufene geschilderte Verlust der Ich-Empfin-dung als Indiz für einen Prozess gesehen werden, welcher den Menschen quasi in frühere Zustände der Evolution zurückversetzt. Dieser auf den ersten Blick eher ungewöhnliche Prozess ist inte-ressanterweise ein zentrales Element der von Steiner intendierten Wirksamkeit der Misteltherapie. Im Vortrag vom 3.9.1923 führt er dazu Folgendes aus: „Wir finden, indem wir den Mistelbil-dungsprozess verfolgen, einen Prozess einer sehr frühen Erdperio-de. Bringen wir diesen Prozess in den menschlichen Organismus hinein, namentlich durch Injektion unmittelbar in den Zirkulations-prozess, dann versetzen wir den Menschen in ein früheres Sta-dium seines Wesens auf Erden, seiner Evolution“ [Steiner 1923, S. 75]. Der therapeutische Wert dieser partiellen Zurückversetzung in frühere Evolutionszustände kann gemäss Steiner in einem wei-teren Kontext begründet werden. Gemäss anthroposophischer Auffassung entsteht ein Karzinom dadurch, dass der Nerven-Sinnes-Prozess zu stark in den Stoffwechselprozess eingreift. Hier-durch entsteht die Tendenz, an falscher Stelle im Organismus ein Sinnesorgan bilden zu wollen, was sich dann physisch als Karzi-nom-Bildung manifestiert [Steiner 1924a]. Gemäss Steiner ist die von der Ich-Organisation durchdrungene Sinnesorganbildung ein evolutiv vergleichsweise später Prozess. Durch partielle Zurückver-setzung des Menschen in frühere Evolutionszustände (vermöge der therapeutischen Anwendung der Mistelbildeprozesse) kann so den fehlgeleiteten Sinnesorganbildungen entgegengewirkt werden: „ […] dann versetzen wir den Menschen in ein früheres Stadium seines Wesens auf Erden, seiner Evolution, und wir ar-beiten entgegen auf diese Weise diesen Prozessen, die die spä-testen Prozesse sind“ [Steiner 1923, S. 75].Es kann abschliessend festgehalten werden, dass die in der vorliegenden Untersuchung bestimmten grundlegenden Bilde-prozesse und Wesenszüge der Mistel (Viscum album L.) in ih-ren wesentlichen Elementen den früheren Beobachtungen von Steiner entsprechen. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen,

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dass letztere dem derzeitigen Untersucher (D.S.) zum Zeitpunkt der Studie nicht bekannt waren. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die vorliegenden Untersuchungen nur als erste Schritte auf einem längeren Weg gesehen werden dürfen; ihr anfänglicher Charakter kann nicht genug betont werden. Trotzdem ist es unseres Erachtens für die weitere Entwicklung der Anthroposophischen Medizin von gros-ser Bedeutung, die konkrete übersinnliche Forschung weiterzuent-wickeln und in Forschung und Entwicklung mit einzubeziehen. Neben der Absicherung grundlegender Ergebnisse durch andere Wissenschaftler erscheint es uns für die Zukunft wichtig, den Ver-arbeitungsprozess der Mistel bis hin zum injizierbaren Präparat genau zu verfolgen und zu charakterisieren. Als weiteres rele-vantes Ziel erscheint es uns, auch die Wirksamkeit von Mistelprä-paraten in der Therapie übersinnlich zu untersuchen.

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ÄtherartenIn der > ätherischen Welt können Konfigurationen grundle-gender Kräfte (Bildekräfte, Bildeprozesse, Ätherarten) und darin selbständig arbeitende Wesenheiten unterschieden und in sich gegliedert werden. In Zusammenhang mit den vier klassischen Elementen (Erde, Wasser, Luft und Feuer) bzw. Aggregatszuständen (fest, flüssig, gas- und plasma-förmig) lassen sich die Ätherarten in vier Bereiche gliedern: – Lebensäther mit seiner Grundlage im Erd- oder Mineral- läther;– Wasseräther mit seiner Erhöhung als Klang- oder Che- mischer Äther;– Luftäther mit seiner Erhöhung als Lichtäther;– Wärmeäther. Entsprechend können die darin arbeitenden Wesenheiten (> Elementarwesen) untergliedert werden.

Ätherkraft > Ätherische Welt

Ätherleib > Gliederung der menschlichen Organisation

Ätherische Kraft > Ätherische Welt

Ätherische WeltIn der ätherischen (lebendigen) Welt fasst Steiner alle die der > übersinnlichen Wahrnehmung zugänglichen Lebenskräfte als Grundlage jedes Lebensprozesses zu-sammen. In ihrer Gesamtheit bilden sie das Ätherische, welches in die > Lebenskräfte einzelner Organismen und

Renatus Ziegler und Stephan Baumgartner

Glossar zum Artikel «Eine Bildekräftebetrachtung der Mistel»

MISTILTEINN 9 2011

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in die einzelnen > Ätherarten gegliedert werden kann. Darüber hinaus wird das Ätherische von den > Ele-mentarwesen bearbeitet. Durch die Anwendung des Begriffspaares Form und Stoff kann das Ätherische in eine Stoffseite (Ätherkraft, Äthersubstanz) und Form-seite (Gesetzmässigkeiten, Ausdruck der Lebens-formen, komplexe „Ätherleiber“) differenziert werden. Steiner [1904, 1910]

Ätherisches > Ätherische Welt

Äthersubstanz > Ätherische Welt

Astralleib > Gliederung der menschlichen Organisation

Astrale Welt > Gliederung der Welt

Astralischer Leib > Astralleib

Bildekräfte > Ätherarten

Bildekräftearten > Ätherarten

Bildeprozess > Ätherarten

Chemischer Äther > Ätherarten

ElementarwesenIn der > ätherischen Welt findet das übersinnliche Be-wusstsein neben allgemeinen Ätherkräften (> Ätherarten) teilweise selbständige Wesenheiten mit astralen Bewusst-seinszentren (Elementarwesen) der mannigfaltigsten Art. Diese Wesenheiten stammen ihrem Kern nach aus der > geistigen Welt und sind sinnlich unsichtbare Kraftwe-senheiten, die unter anderem als Werkmeister des Pflan-zenwachstums wirken. Ihre Tätigkeitsbereiche stehen in Zusammenhang mit den vier klassischen Elementen (Erde, Wasser, Luft und Feuer) bzw. Aggregatszustän-den (fest, flüssig, gas- und plasmaförmig). Entsprechend können Elementarwesen nach ihren Tätigkeitsbereichen in vier grosse Gruppen gegliedert werden: Erd-Elemen-tarwesen (Gnome), Wasser-Elementarwesen (Undinen), Luft-Elementarwesen (Sylphen) und Feuer-Elementarwesen (Salamander, Feuergeister). Steiner [1904, 1913]

Feuergeist > Elementarwesen

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Funktionale Dreigliederung des MenschenDie funktionale Dreigliederung des Menschen betrifft in er-ster Linie eine funktionelle Gliederung des physisch-leben-digen Leibes im Hinblick auf die konstitutionellen und physi-ologischen Ermöglichungsgrundlagen seelischer Prozesse, die von Steiner so genannten körperlichen Gegenstücke zum seelischen Erleben. Es handelt sich nicht um eine ana-tomisch orientierte Gliederung in voneinander räumlich oder zeitlich abgrenzbare Bereiche, sondern um eine funk-tionelle Gliederung gleichzeitiger Prozesse: an jeder Stelle des menschlichen Leibes sind immer alle drei Prozesse prä-sent und können nur durch die jeweiligen Prozessqualitäten und nicht allein durch den Ort oder Zeitpunkt des Gesche-hens bestimmt werden. So spielen sich etwa in jedem Nerv sowohl Stoffwechsel- als auch rhythmische Prozesse ab.Die Nerven-Sinnes-Organisation umfasst alle Sinnes- und Nervenprozesse, die insbesondere im Kopf- und Rücken-marksbereich und in den verschiedenen Sinnesorganen selbst konzentriert sind. In dieser Organisation finden sich die leiblichen Ermöglichungsbedingungen seelischer Be-wusstseinsprozesse, oder in Steiners Worten, die leiblichen Gegenstücke für das wachbewusste sinnesgebundene Vor-stellen.Die Stoffwechsel-Gliedmassen-Organisation umfasst vor allem die im unteren Menschen konzentrierten Stoffwechsel- und Fortpflanzungsprozesse sowie die konkreten Prozesse im Bereich der Gliedmassen. In dieser Organisation finden sich die leiblichen Grundlagen seelischer Willensprozesse, die sich direkt in Gliedmassenbewegungen manifestieren. Relativ zum wachen Normalbewusstsein (Tagesbewusstsein) sind für den Menschen diejenigen seelischen-nichtsinnlichen Prozesse, für welche die Stoffwechsel-Gliedmassen-Organi-sation das leibliche Gegenstück bildet, im Schlafbewusst-sein. Mit anderen Worten: diese Prozesse sind im Gegen-satz zu den entsprechenden Ziel- oder Motivbildungen dem gewöhnlichen (das heisst: unentwickelten, nicht > übersinn-lich wahrnehmenden) Wachbewusstsein nicht zugänglichDie rhythmische Organisation hat ihren Schwerpunkt im mittleren Menschen, im Herz und in der Lunge, um-fasst jedoch alle rhythmischen Prozesse, welche sich im menschlichen Leib abspielen und zwischen der Nerven- Sinnes-Organisation und der Stoffwechsel-Gliedmassen-

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Organisation vermitteln. In dieser Organisation finden sich die leiblichen Gegenstücke des Fühlens und Empfindens (Affekte, Leidenschaften etc.). Relativ zum wachen Nor-malbewusstsein (Tagesbewusstsein) sind für den Menschen diejenigen seelischen Prozesse, für welche die rhythmische Organisation das leibliche Gegenstück bildet, im Traumbe-wusstsein. Steiner [1917]

Geistige Welt > Gliederung der Welt

Gliederung der menschlichen OrganisationDie Glieder der menschlichen Gesamtorganisation sind Teilaspekte des real im Hier und Jetzt existierenden Gesamt-menschen, die sich durch entsprechende Wahrnehmungs-arten (das heisst Perspektiven der sinnlichen und seelisch-geistigen Anschauung) erschliessen. Der Mensch setzt sich nicht in erster Linie aus diesen Gliedern zusammen, sondern diese Glieder werden sinnlich oder seelisch-geistig sichtbar, wenn der Mensch mit einer entsprechenden Perspektive auf der Grundlage sinnlicher und/oder seelisch-geistiger Or-gane untersucht wird. Diese Glieder sind Erkenntnis- und Handlungsinstrumente des sich ihrer bedienenden und sie durch seine seelisch-geistige Entwicklung zugleich verwan-delnden Ich-Individuums.Die Grundgliederung der menschlichen Organisation ist diejenige in Leib, Seele und Geist. Der physische Leib er-möglicht dem Mensch ein gegenwärtiges Erleben seiner physischen Umwelt; die Seele ermöglicht ihm, sich mit diesen Dingen mit seinem eigenen Dasein (durch Gefühle, Willensimpulse und Gedanken/Vorstellungen) zu verbin-den, die entsprechenden Eindrücke zu bewahren; im Geist offenbart sich ihm durch tätiges Denken, was die Dinge für sich selbst bewahren, insbesondere die sie spezifisch kenn-zeichnenden Gesetzmässigkeiten (wie zum Beispiel das Gesetz der Rose im Verhältnis zur einzelnen Rose). Wird diese Gliederung weiter differenziert, so ergeben sich für Leib und Seele die folgenden Komponenten.Der physische Leib erschliesst sich in Struktur und Funktion der sinnlichen Anschauung und deren gedanklicher Verar-beitung. Er vermittelt durch die Sinne eine Anschauung der physischen Welt und ermöglicht dem Menschen eine Reali-sierung seiner Willensimpulse in dieser Welt. Pflanzen und Tiere besitzen ebenfalls einen physischen Leib.

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Der Lebens- oder Bildekräfteleib, auch Ätherleib (> Leib) genannt, umfasst die den lebendigen Organismus gestal-tenden Kräfte und Gesetzmässigkeiten. Es handelt sich beim Ätherleib nicht um eine einfache vitale Energie, welche rein physikalische Gesetze (Kausalität, Energieer-haltung) suspendiert oder ausser Kraft setzt, sondern um eine umfassende Gestaltungskraft, in welcher physikalisch-chemische Vorgänge in Lebensvorgänge integriert und me-tamorphosiert sind. Am lebendigen Organismus erschei-nen (in vivo) weder rein physikalisch-chemische Vorgänge noch rein ätherisch-lebendige. Damit solches der Fall sein kann, bedürfte es einer Veränderung des Organismus, der mit dessen Lebendigkeit nicht vereinbar ist: die Trennung von physischem Leib und Ätherleib hätte den Tod des Le-bewesens zur Folge. Pflanzen und Tiere besitzen ebenfalls einen ätherischen Leib.Der Seelenleib gemeinsam mit der Empfindungsseele, zu-sammen Astralleib genannt, ermöglichen unter anderem ein Bewusstsein des Daseins sinnlicher Wahrnehmungen. Der Astralleib umfasst auch die elementaren Triebe und Be-gierden, welche Menschen mit Tieren gemeinsam haben.Die Verstandes- und Gemütsseele, oder Seele im engeren Sinne (> seelische Dreigliederung) umfasst die durch den Menschen unmittelbar an die Erfahrungen herange-brachten und über dieselbe hinausgehenden und ihn mit diesen verbindenden Gefühle, Willensimpulse und Ge-danken. Vermöge der Verstandes- oder Gemütsseele ist der Mensch geprägt durch sein sozio-kulturelles Umfeld, insbesondere aber durch die ebenfalls durch sie vermit-telten Erinnerungen.Die Bewusstseinsseele ist die durch die selbständige Su-che nach Wahrheit und nach dem Guten geprägte See-le. Sie orientiert sich nicht an den vergänglichen und sich wandelnden sinnlichen und seelischen Ereignisströmen, sondern an umfassenden Bildeprinzipien und kosmischen Gesetzmässigkeiten. Sie veranlagt die Selbständigkeit des Menschen und ermöglicht ihm dadurch die Mitgestaltung seiner sozialen und natürlichen Umgebung.Ich oder Ich-Organisation ist im hier gegebenen Kontext eine zusammenfassende Bezeichnung für die Verstandes- oder Gemütsseele auf dem Wege zur Bewusstseinsseele mit ihrem anfänglichen Ich-Erleben.

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Sie ist der für die gegenwärtige Zeit primäre Ort des Wir-kens des Ich-Individuums (Wesenskern) des Menschen im Gesamtmenschen. Dieses Ich-Individuum muss von der gegenwärtigen Stätte seines Wirkens, das heisst von der Ich-Organisation, deutlich unterschieden werden.Steiner [1904, 1910]

Gliederung der WeltDie physische Welt umfasst die mittels der leiblichen Sinne und den direkt aus Erfahrungen mit denselben erschliess-baren Tatsachen und Prozesse, wie zum Beispiel die Un-tersuchung der nicht sinnlich wahrnehmbaren Elektrizität und Magnetismus anhand der Phänomene des Elektroma-gnetismus. Die physische Welt wird in erster Linie ausser-halb des Leibes erlebt. Der Leib selbst kann jedoch auch sinnlich erfahren werden.Die > ätherische Welt der Lebensprozesse schliesst sich unmittelbar an die physisch-sinnliche Welt an und bildet den Übergang zur astralen Welt.Die astrale Welt offenbart sich teilweise im gewöhnlichen menschlichen Erleben in Gefühlen, Willensimpulsen und Gedanken oder Vorstellungen (> Seelische Dreigliede-rung). Die astrale Aussenwelt kann nur durch eine Aktivie-rung einer > übersinnlichen Wahrnehmung wahrgenom-men werden. Die Hauptkräfte derselben sind Anziehung und Abstossung (Sympathie und Antipathie). Astrale > We-sen haben keinen > physischen Leib und gegebenenfalls auch keinen lebendigen (> ätherischen) Leib; je nach der Art dieser Wesen haben sie einen > Leib aus der geistigen Welt.Einige zentrale Aspekte der geistigen Welt kommen im ak-tiven und individuellen menschlichen Denken (im Kontrast zum Vorstellen und Gedanken haben) zum Ausdruck. Dort erlebt der Mensch sowohl unabhängig von ihm seiende Ideen als auch sein eigenes tätiges Wesen. Die geistige Aussenwelt umfasst dann im selben Sinne eigentätige We-sen wie das sich unmittelbar als tätig erlebende Menschen-wesen, nur ohne physischen Leib (und gegebenenfalls auch ohne lebendigen und astralen Leib). Diese geistigen We-sen sind dem menschlichen Bewusstsein in ihrer kraftenden Tätigkeit nur vermittels > übersinnlicher Wahrnehmung zu-gänglich. Die für das tätige menschlichen Denkbewusstsein anschaubaren Ideen erscheinen in diesem ohne ihnen selbst

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zugehörige Aktivität (jedoch mit passivem Eigensein, (> Herablähmung). In der geistigen Welt sind es jedoch wirksame Gestaltungskräfte.Steiner [1904, 1910]

Gnom > Elementarwesen

HerabgelähmtSowohl Wahrnehmungen wie Gedanken des gewöhn-lichen wachen Alltagsbewusstseins umfassen keine unmit-telbar erfahrbaren Kräfte, die mit der Genese und der Konstitution des erlebten Wahrnehmungs- oder Denkin-halts direkt zusammenhängen. Falls, wie bei fixen oder einen sonstwie verfolgenden Ideen oder Vorstellungen, solche Erlebnisse mit Kräften verknüpft sind, stammen die-se aus der eigenen Seele und geben keine Auskunft über die Welt. Dieser Mangel an Eigenaktivität betrifft sogar die durch individuell-tätiges Denken in logischer oder ma-thematischer Form hervorgebrachten, der geistigen Welt zugehörigen Ideen: sie sind ihrem Inhalt nach zwar keine Produkte dieses Denkens (wohl aber der Erscheinungs-form nach: sie müssen ja tätig gedacht und entwickelt werden), werden aber auch nicht als wirksame Entitäten (Wesen) erlebt, welche durch sich selbst irgendetwas zur Erscheinung bringen könnten. Diese Herablähmung hat ihre leibliche Grundlage, oder ihr leibliches Gegenstück, in der eigentlichen Nerventätigkeit (> funktionelle Dreig-liederung des Menschen).Dieser im Denken und in der Sinneswahrnehmen entbehr-te unmittelbare Zugang zu den die Welt konstituierenden Kräften (im Sinne von Wirkursachen oder Universalien) ist nach Steiner eine Bewusstseinstatsache der gegenwär-tigen Zeit; sie ist allerdings nur von vorübergehendem Charakter. Das menschliche Bewusstsein wurde und wird zu seinem eigenen Schutz, insbesondere zur Ausbildung eines starken Selbstbewusstsein – das andernfalls im Er-leben geistiger Kräfte untergehen würde –, von diesen Kräften ferngehalten durch eine Gestaltung der mensch-lichen Organisation, die eine Lähmung dieser Kräfte für das Bewusstsein bewirkt (Herablähmung der wirksamen Kräfte), ohne an den Weltverhältnissen selbst etwas zu ändern. Sie betrifft also nur die bewusste Form dieser Erlebnisse, nicht aber deren Inhalt. Durch individuelle Bewusstseinsentwicklung kann nach geeigneter Stärkung

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des Selbstbewusstseins diese Hürde durch > übersinn-liche Wahrnehmung und Erkenntnis überwunden und so ein direkter Zugang zu den die Welt konstituierenden Kräften und Wesenheiten erarbeitet werden. Steiner [1917]

IchDas in diesem Kontext gemeinte Ich ist das seelische Subjekt, das die Erlebnisse des > Ich-Gefühls umfasst. Es muss zunächst von dem eigentlichen individuellen We-senszentrum des Menschen (Ich-Individuum) unterschie-den werden, das sich nur durch eine > übersinnliche Wahrnehmung, insbesondere über eine mit Bewusstsein gestaltete aktuelle Tätigkeit des denkenden Menschen erfassen lässt (> Gliederung der menschlichen Organi-sation).Steiner [1904, 1910]

Ich-Empfindung > Ich-Gefühl

Ich-GefühlMit Ich-Gefühl (oder allgemeiner: Ich-Erleben) ist das alle Erlebnisse des gewöhnlichen Alltagsbewusstseins ohne eigenes Zutun begleitende Erlebnis gemeint, dass ich bei all dem, was ich erlebe, erleide und tue, mit dabei bin: es sind meine Gefühle, meine Erinnerungen, meine Wünsche, meine Gedanken, meine Vorstellungen, meine Stimmungen, meine Sinneserlebnisse etc. Dies gilt insbe-sondere für alle seelischen Erlebnisse (> Seelische Drei-gliederung) und alle Sinneserlebnisse. Dieses Ich-Gefühl muss deutlich abgegrenzt werden von Ich-Erfahrungen oder -Anschauungen, die unmittelbar mit einem aktiv be-tätigten Denken verbunden sind, die also nicht einfach nur als Begleiterscheinungen des gewöhnlichen Den-kerlebens auftauchen, sondern im Rahmen individueller Eigentätigkeit.Steiner [1904, 1910]

Ich-Organisation > Gliederung der menschlichen Organisation

Lebendige Welt > Ätherische Welt

Lebensäther > Ätherarten

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LebenskraftIm Bereich der Anorganik sind der Physik verschie-dene Grundkräfte bekannt und in ihren Gesetzmässig-keiten beschrieben, durch welche Objekte, welche der > physischen Welt angehören, miteinander in Wech-selwirkung treten können (z.B. Schwerkraft, Elektrizität, Magnetismus). Für den Bereich des Organischen bildete Steiner das Konzept einer Lebenskraft, welche von ihm als artbildende Kraft verstanden wird: die Form eines le-benden Wesens ist durch die Art bestimmt, zu der es gehört; die Art bestimmt die Zusammenfügung der Stoffe, aus denen ein Lebewesen besteht, die aber gleichzeitig fortwährend ausgetauscht werden. Insofern ist die Form eines Lebewesens dem Stoffwechsel übergeordnet. Die Lebenskraft selbst nimmt der Mensch durch die gewöhn-lichen Sinne nicht wahr; die Existenz einer Lebenskraft kann in diesem Fall anhand ihrer sich bis ins Sinnliche erstreckenden Erscheinungen (Äusserungen) nur logisch postuliert oder gefolgert werden. Laut Steiner ist dies für einen Menschen, der mit > übersinnlicher Wahrnehmung begabt ist, anders: dieser kann in jeder Pflanze, in jedem Tier neben der physischen Gestalt noch eine lebenerfüllte nichtsinnliche Gestalt unmittelbar wahrnehmen (> Äther-leib). Steiner [1904, 1910]

Lebensleib, lebendiger Leib > Gliederung der menschlichen Organisation

LeibLeib ist eine Gliederungseinheit der menschlichen Orga-nisation (> Gliederung der menschlichen Organisation). Gemeint ist eine stofflich-substanzielle und funktionelle Abgliederung eines spezifischen Teils der menschlichen Organisation, zum Beispiel des Ätherleibes, von der ätherischen Umgebung durch spezifische gesetzmässig geordnete Kräftekonfigurationen. Ganz entsprechend be-steht der mineralisch-physische Leib aus denselben Sub-stanzen wie die physische Aussenwelt, unterliegt jedoch anderen Ordnungsprinzipien.Steiner [1904]

Nerven-Sinnes-Prozess > Funktionale Dreigliederung des Menschen

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Persönlichkeitsgefühl > Ich-GefühlPhysischer Leib > Gliederung der menschlichen OrganisationPhysische Welt > Gliederung der WeltSalamander > ElementarwesenSeelische Dreigliederung

Seelischen Erlebnissen gemeinsam ist eine begleitende und in bestimmten Grenzen erhaltende Funktion gegen-über den kommenden und gehenden (fluktuierenden) Sinneserlebnissen. Durch seelische Erlebnisse wird das Subjekt in verschiedener Weise unmittelbar mit seinen sinnlichen Erlebnissen verknüpft, sie geben diesen Er-lebnissen eine gewisse Dauer, die sich gegebenenfalls in langfristigen Stimmungen, Gefühlslagen, Vorstellungs-komplexen, Erinnerungsräume und in Wunschträumen niederschlagen kann.Die seelische Dreigliederung betrifft die seelischen Grunderlebnisse des Fühlens als eines real erlebbaren Bezuges eines besonderen Wahrnehmungsinhaltes auf das menschliche Subjekt (Sympathie, Antipathie, Freude, Abscheu etc.), des Wollens im Sinne einer Motivbildung als eines Bezuges des Subjekts auf einen spezifischen Teilbereich der wahrgenommene Welt (Begehren, Wün-schen etc.) sowie der Gedanken (Vorstellungen, Erinne-rungen, Einfälle) als gegenseitige Vermittlungen zwischen verschiedenen Bereichen der Gegenstandswelt und dem Subjekt.Steiner [1904, 1910]

Seelische Welt > Astrale WeltStoffwechselprozess > Funktionale Dreigliederung des Men-schenSylphe > ElementarwesenUndine > ElementarwesenÜbersinnliche Wahrnehmung

Übersinnliche (nicht-sinnliche) Wahrnehmungen sind ein Sammelbegriff für Wahrnehmungen, die nicht mit den be-kannten physisch-leiblichen Sinnen (wie Sehen, Riechen, Hören, etc.) gewonnen werden, sondern mit anderen Wahrnehmungsorganen, welche dem Menschen norma-lerweise ohne bewusste Ausbildung und Schulung nicht

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zur Verfügung stehen. Steiner hat in verschiedenen Wer-ken darauf hingewiesen, dass sich der Mensch durch eine entsprechende Schulung verschiedene «schlum-mernde» Wahrnehmungsorgane «erwecken» kann, was dann auf verschiedenen Ebenen zu «übersinnlichen» Er-fahrungen führen kann. Nach Steiner können sich solche übersinnlichen (nicht-sinnlichen) Erfahrungen auf drei fun-damental unterschiedliche Sphären des Daseins bezie-hen: auf eine ätherische, eine astrale und eine geistige Welt (> Gliederung der Welt).Steiner [1904, 1904/05, 1910]

Wasseräther > Ätherarten

Wärmeäther > Ätherarten

Wässriger Äther > Wasseräther

WesenDas Wesen im Verhältnis zu seinen Erscheinungen um-fasst diejenigen Bestimmungen (Ideen, Gesetze, Struk-turen) und Kräfte, welche dem Zustandekommen und der Persistenz dieser Erscheinungen zugrunde liegen. Wird ein Wesen mit einer eigenständigen Wirksamkeit verbun-den erlebt, so spricht man von einer > Wesenheit. We-sen wird je nach Kontext manchmal auch synonym mit > Wesenheit verwendet.

wesenhaftWerden Erscheinungen oder Prozesse im Hinblick auf das Wirken einer > Wesenheit angeschaut (und nicht bloss in ihrer Verbindung mit anderen Prozessen und Er-scheinungen), so zeigen sie sich gegebenenfalls als we-senhaft. Mit anderen Worten: Der Einbezug der Perspek-tive von Wesenheiten offenbart Prozesse in der Natur als wesenhaft.

WesenheitEine Wesenheit ist ein aus sich heraus wirkendes und konkret gestaltendes Kraftzentrum mit zumindest see-lischen (astralen) und geistigen Qualitäten.

Wille, Willensbereich > Seelische Dreigliederung

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Literatur

Steiner R. [1904] Theosophie. Dornach, Rudolf Steiner Verlag, GA 9, 32. Auflage 2003Steiner R. [1904/05] Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? Dornach, Rudolf Steiner Verlag, GA 10, 24. Aufla- ge 1993Steiner R. [1910] Die Geheimwissenschaft im Umriss. Dornach, Rudolf Steiner Verlag, GA 13, 30. Auflage 1989Steiner R. [1913] Die Schwelle der geistigen Welt. Dornach, Rudolf Steiner Verlag, GA 17, 8. Auflage 2009Steiner R. [1917] Von Seelenrätseln. Dornach, Rudolf Steiner Verlag, GA 21, 5. Auflage 1983

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Impressum

Copyright 2011, Verein für Krebsforschung, CH – 4144 Arlesheim www.vfk.ch

ISSN 1660 –1173

Jahrgang 9

Auflage 1000

Redaktion Stephan Baumgartner, Andreas Heertsch, Christoph Jäggy, Hartmut Ramm, Gerhard Schaller, Konrad Urech, Renatus Ziegler

Download www.mistilteinn.ch

Gestaltung Christoph Jäggy

Druck und Verlag Kooperative Dürnau

Bildnachweis

Umschlag: http://www.anthroposophie.net (13.12.2010)

S. 5, 7: http://www.anthroposophie.net (13.12.2010)

S. 15: http://wiki.anthroposophie.net/Ita_Wegman (13.12.2010)

S. 36: http://payer.de/tropenarchitektur/troparch041. htm (13.12.2010)

S. 13, 14, 16, 21, 32 unten: Foto Hartmut Ramm

S. 27, 28: Foto Konrad Urech

S. 29: Foto Christoph Jäggy Präparation Hartmut Ramm

S. 32 oben, 75, 77, 79: Foto Jürg Buess