Mit der Menschwerdung hat die Barmherzigkeit ein Gesicht … · Inkarnation“ (Paul Evdokimov)!...

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Liebe Brüder,der Herr schenke Euch Frieden!

Während ich Euch diesen Brief schrei-be, wird gerade das Jubeljahr der Barm-herzigkeit eröffnet; wie Papst Franziskus in der Ankündigungsbulle dargelegt hat, ist dies eine Zeit, in der „wir aufgerufen sind, in ganz besonderer Weise den Blick auf die Barmherzigkeit zu richten und dabei selbst zum wirkungsvollen Zeichen des Handelns des Vaters zu werden“ (Misericordiae vul-tus, 3).

Können wir den Blick dieser Barmherzig-keit ertragen, während uns so viel sinnlose Gewalt, so viele Zeichen des Terrors und Todes bedrängen und bedrücken und durch unsere Augen in die Vorstellungskraft, un-sere Gefühlswelt und unseren Verstand dringen? Natürlich ist all dies nicht gerade dienlich, in uns einen Blick voller Mitgefühl reifen zu lassen. Wir müssen unsere Herzen aufrütteln, um auf neue Weise die Zeichen der Barmherzigkeit wahr- und annehmen zu können, die in vielerlei Hinsicht auf uns zukommt, gerade in dieser Zeit und in die-ser Welt, die offensichtlich fremd gegen-über der Barmherzigkeit ist, aber dennoch danach dürstet.

In der Weihnachtsnacht besingen wir die Barmherzigkeit des Vaters, die unter uns erschienen ist und sich im Fleisch unserer Zerbrechlichkeit geoffenbart hat: Dieses zerbrechliche Fleisch hat der Herr Jesus von der Jungfrau Maria angenommen, und dadurch ist er unser Bruder geworden und hat uns die Barmherzigkeit gebracht (vgl. LM 9,3).

Das schwache Fleisch jenes Kindes ist dasselbe, das durch die Straßen von Palästi-na läuft, das die Armen und Kranken strei-chelt und sich zu den Sündern hinneigt; es hat keine Angst, sich mit Zärtlichkeit von Kindern und Frauen berühren zu lassen.

Dieses Fleisch ist jenes, das „alle Leiden der Menschheit durchschritten hat“ (hl. Basilius der Große, Homilie über die Demut, 6), bis hin zum Tod am Kreuz. Wahrlich, wir feiern mit Weihnachten das wirkliche „Pascha der Inkarnation“ (Paul Evdokimov)!

Das zerbrechliche Fleisch eines jeden Mannes, einer jeden Frau und eines jeden Kindes, ob nun alt oder jung, wurde durch den Kontakt mit der Barmherzigkeit an-gerührt und geformt, welche die Züge des Antlitzes des Jesus von Nazareth trägt, der für uns geboren wurde. In unserem Fleisch ist daher das Geheimnis einer Liebe bereits eingeschrieben, die alles gibt, verzeiht und stets eine Tür der Barmherzigkeit für dieje-nigen öffnet, ja sogar aufreißt, die sie auf-nehmen.

Wir haben keine Wahl, Brüder! Die Barm-herzigkeit ist die DNA der menschlichen Person und damit des Gläubigen. Sie steht nicht exklusiv für die Christen, weil sie nicht nur eine Tugend unter den anderen oder ir-gendeine menschliche Haltung ist. Sie ist vielmehr die innerste Mitte dessen, was es bedeutet, menschlich zu sein. Wir könnten sagen, dass das Bild, das der Schöpfer von Anfang an in uns eingeprägt hat, durch die Barmherzigkeit gezeichnet wurde. Denn wir wurden durch und in Liebe erschaffen, wie auch das gesamte „gemeinsame Haus“, das die Schöpfung ist und das uns zur Bewah-rung anvertraut wurde.

Dem Weg der Barmherzigkeit zu fol-gen bedeutet vernunftgemäß zu leben, das heißt, den tieferen Sinn unseres Daseins in der Welt zu erkennen, indem wir uns gegen-seitig als Brüder erweisen, in Gemeinschaft mit allen Geschöpfen.

Wenn Barmherzigkeit wirklich so viel mit unserem Menschsein zu tun hat, das sich auf den Weg begibt, dann ist sie mit der Menschwerdung der fruchtbare Ort allen

Mit der Menschwerdung hat die Barmherzigkeit ein Gesicht erhalten

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menschlichen Suchens nach dem Geheim-nis. In der Tat, wo die Gnade der Mensch-werdung in unserer Wirklichkeit als Ge-schöpfe überströmt, macht sie uns wahrhaft menschlich! Und dies erscheint uns nicht wenig! Hier erfüllt sich die einzige Berufung des Menschen (vgl. GS 19): „an der göttli-chen Natur Anteil zu erhalten“ (2 Petr 1,4), und zu erkennen, dass „er, der Sohn Gottes, sich in seiner Menschwerdung gewisserma-ßen mit jedem Menschen vereinigt hat“ (GS 22).

Von diesem Standpunkt aus können wir die unaufhörliche Bewegung erkennen, wel-che den Weg von so vielen Männern, Frau-en und Völkern erfüllt, die berufen sind, eine einzige Familie zu werden: die Barm-herzigkeit baut den tiefen Geist auf, der in so vielen Sprachen, Kulturen und im un-terschiedlichen religiösen Suchen erstrahlt. Die dunklen Mächte des Bösen, die in un-serer Zeit mit ungewöhnlicher Kraft hervor-zubrechen scheinen, so dass sie uns sogar lähmen, und die mit Gewalt auch „un-sere Mutter Erde“ berühren, übertö-nen scheinbar mit ihrem Lärm auch das Gute, das in den tiefen Furchen der Menschheit erwächst. All dies ist beängstigend! Dennoch kann man sagen, dass sie nicht die letzte Wirklichkeit sind: denn dem Bösen „bleibt nur noch eine kurze Frist“ (Offb 12,12).

Weihnachten ist nicht bloß ein liebliches Fest, das uns betäubt und uns die Tragödie, die sich in der Geschichte entfaltet, nicht spüren lässt. Gerade die Anwesenheit des schwachen und armen Kindes, das für den Tod am Kreuz bestimmt ist, offenbart, dass „die ge-heime Macht der Gesetz-widrigkeit schon am Werk ist; nur muss erst der beseitigt werden, der sie bis jetzt noch zurückhält“ (2 Thess 2,7). Die Identität dessen, der Ihn zurückhält, bleibt geheimnisvoll, aber wir können versuchen zu verstehen, dass jede Verzögerung und jedes Zurückhalten der Barmherzigkeit der Verzögerung der An-kunft des Herrn Beihilfe leistet, da sie den

Raum des Lebens und damit der Erlösung verkleinert, die Christus uns geschenkt hat.

An Weihnachten „ist die Gnade Gottes erschienen, um alle Menschen zu retten“ (Tit 2,11). Die Barmherzigkeit, die der Ge-schmack, das Licht und die Wärme jener Gnade ist, ist die Wirklichkeit, welche die Neuheit des neuen Lebens in Christus of-fenbart, das entscheidende Merkmal der Jünger Jesu.

„Der Tragebalken, der das Leben der Kir-che stützt, ist die Barmherzigkeit. Ihr ge-samtes pastorales Handeln sollte umgeben sein von der Zärtlichkeit, mit der sie sich an die Gläubigen wendet; ihre Verkündigung und ihr Zeugnis gegenüber der Welt kön-nen nicht ohne Barmherzigkeit geschehen. Die Glaubwürdigkeit der Kirche führt über den Weg der barmherzigen und mitleiden-den Liebe“ (Misericordiae vultus, 10).

Der hl. Franziskus sagt uns, dass Barmherzigkeit das Herz der Nach-

folge Jesu als Brüder ist: „Es darf keinen Bruder auf der Welt ge-ben, mag er auch gesündigt haben, soviel er nur sündigen

konnte, der deine Augen ge-sehen hat und dann von

dir fortgehen müsste ohne dein Erbarmen, wenn er Erbarmen sucht. Und sollte er nicht Erbarmen suchen, dann frage du ihn, ob er Erbarmen will“ (Min 9-10).

Während wir über die Übel in der Welt besorgt

sind, sollen wir nicht den Blick von dem abwenden,

der in uns und unter uns wohnt! Werden wir in dem

Maße Minderbrüder, dass die Barmherzigkeit wächst und sie vie-

le unserer Entzweiungen und Wunden heilt, unsere Sünden und unsere Verschlossen-heit gegenüber der Liebe des Vaters, unse-ren Mangel an Achtung und gegenseitigem Wohlwollen, unsere zaghafte Antwort auf das Geschenk der Berufung, unsere Be-quemlichkeit und unsere Aneignung von

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Gütern, die uns entstellen.

Schreiten wir als Brüder und Mindere in unserer Zeit im Zeichen der Barmherzigkeit voran. Nur auf diesem Weg werden wir Dem begegnen, „der für uns geboren ist am Weg und in eine Krippe gelegt worden ist, weil er keinen Platz in der Herberge hatte“ (Off, Ps 15,7), jenem Fremden und Pilger, der abgelehnt und ausgegrenzt wurde wie viele Außenseiter der Geschichte, die auch heu-te viele unserer Länder, Strände und Mee-re überströmen, die Mauern und Barrieren überspringen, die aufs Neue zu Sklaven und Flüchtlingen gemacht werden, und die ster-ben ohne Hoffnung auf eine mögliche Zu-kunft.

Nur auf diesem Weg können wir einen neuen Impuls erhalten, den viele Brüder unter uns suchen und ersehnen, um neuer-lich Kraft und Licht unserer evangelischen Lebensweise als Minderbrüder zu verleihen.

Dies ist der Weg, der unsere Menschlich-keit wachsen lässt sowie uns zu Zärtlichkeit und Tränen, zur Nähe zu den Kleinen und zur Bekehrung in der Nächstenliebe befä-higt.

Dies ist der Weg, der die Freude des Evan-geliums durch das Lebenszeugnis anstek-kend sein lässt, ohne Zank und Streit, und indem wir jedem menschlichen Geschöpf Gottes untertan sind (vgl. NbR 16,6).

Dies ist der Weg, gepflastert durch die Barmherzigkeit, den ich Euch allen, liebe Mitbrüder, wünsche, ein „unangenehmes“ Weihnachtsfest: Da es voll dieser Barmher-zigkeit ist, die unsere Gewohnheiten um-wälzt, verleiht es unseren Schritten Kraft, um den anderen zu begegnen, und belebt unsere Ermüdungserscheinungen und un-ser Misstrauen.

Dies ist der Weg der Barmherzigkeit, den wir mit den Männern und Frauen, den Klei-nen und Großen, den Reichen und Armen, den jungen und älteren Menschen und den Familien unserer Zeit beschreiten wollen.

Mit dem hl. Franziskus singen wir freu-dig in die Welt hinaus, dass „an jenem Tag der Herr sein Erbarmen entboten hat und in der Nacht sein Lobgesang erklang“ (Off, Ps 15,5).

Frohe Weihnachten!

Rom, am 8. Dezember 2015Hochfest Mariä Empfängnisund Öffnung der Heiligen Pforte

Brüderlich grüßt Euch Euer Minister und Diener,

Fr. Michael A. Perry, OFMGeneralminister

www.ofm.orgImmagine: Carlo Bertagnin, OFM (Convento San Francesco, Palestrina, Roma)Prot. 106137