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HERMANN HESSE Mit der Reife wird man immer jünger insel taschenbuch

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HERMANN HESSEMit der Reife wird man

immer jünger

insel taschenbuch

Hesse gehört zu den Autoren, die das Glück hatten, alt zu werden undalle Lebensstufen auf charakteristische Weise erfahren und darstellenzu können. Zu den schönsten dieser Schilderungen gehören seineBetrachtungen über das Alter, über die Lebensjahre, in denen Wirk-lichkeit und Umwelt eine spielerische Surrealität gewinnen, in denendie Erinnerung an die Vergangenheit im Verhältnis zur Gegenwart anRealität zunimmt. Diese Zeit des Übergangs fördert als Ausgleich zuden wachsenden körperlichen Gebrechen »den Schatz an Bildern zu-tage, die man nach einem langen Leben im Gedächtnis trägt und de-nen man sich mit dem Schwinden der Aktivität mit ganz anderer Teil-nahme zuwendet als je zuvor. Menschengestalten, die nicht mehr aufder Erde sind, leben in uns weiter, leisten uns Gesellschaft und blickenuns aus lebenden Augen an.«

Hermann Hesse, geboren am 2. Juli 1877 in Calw/Württemberg, alsSohn eines baltendeutschen Missionars und der Tochter eines würt-tembergischen Indologen, 1946 ausgezeichnet mit dem Nobelpreis fürLiteratur, ist am 9. August 1962 in seiner Wahlheimat Montagnola beiLugano gestorben.

Hermann HesseMit der Reife wird man immer jünger

ebook insel

Hermann Hesse

Mit der Reife wird manimmer jünger

Betrachtungen und Gedichte über das AlterZusammengestellt und mit einem

Nachwort versehen von Volker MichelsInsel Verlag

Um einige Texte erweiterte Ausgabe der Edition von 1990Erste Auflage 2002

, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1990 und 2002Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Hinweise zu dieser Ausgabe am Schluß des BandesVertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Umschlag: Michael Hagemann

BN 978-3-458- 3 -www.suhrkamp.de

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ebook Insel Verlag Berlin

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2010

Mit der Reife wird manimmer jünger

Gang im Frühling

Jetzt stehen wieder die kleinen klaren Tränen an den har-zigen Blattknospen, und erste Pfauenaugen tun im Sonnen-licht ihr edles Samtkleid auf und zu, die Knaben spielenmit Kreiseln und Steinkugeln. Die Karwoche ist da, voll undübervoll von Klängen und beladen mit Erinnerungen, angrelle Ostereierfarben, an Jesus im Garten Gethsemane, anJesus auf Golgatha, an die Matthäuspassion, an frühe Be-geisterungen, erste Verliebtheiten, erste Jünglingsmelancho-lien. Anemonen nicken im Moos, Butterblumen glänzen fettam Rand der Wiesenbäche.

Einsamer Wanderer, unterscheide ich nicht zwischen denTrieben und Zwängen meines Innern und dem Konzert desWachstums, das mich mit tausend Stimmen von außen um-gibt. Ich komme aus der Stadt, ich bin nach sehr langer Zeitwieder einmal unter Menschen gewesen, in einer Eisenbahngesessen, habe Bilder und Plastiken gesehen, habe wunder-bare neue Lieder von Othmar Schoeck gehört. Jetzt weht derfrohe leichte Wind mir übers Gesicht, wie er über die nicken-den Anemonen weht, und indem er Schwärme von Erinne-rungen in mir aufweht wie Staubwirbel, klingt mir Mah-nung an Schmerz und Vergänglichkeit aus dem Blut insBewußtsein. Stein am Weg, du bist stärker als ich! Baum inder Wiese, du wirst mich überdauern, und vielleicht sogardu, kleiner Himbeerstrauch, und vielleicht sogar du, rosigbehauchte Anemone.

Einen Atemzug lang spüre ich, tiefer als je, die Flüchtig-keit meiner Form und fühle mich hinübergezogen zur Ver-wandlung, zum Stein, zur Erde, zum Himbeerstrauch, zurBaumwurzel. An die Zeichen des Vergehens klammert sichmein Durst, an Erde und Wasser und verwelktes Laub. Mor-

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gen, übermorgen, bald, bald bin ich du, bin ich Laub, bin ichErde, bin ich Wurzel, schreibe nicht mehr Worte auf Papier,rieche nicht mehr am prächtigen Goldlack, trage nicht mehrdie Rechnung des Zahnarztes in der Tasche, werde nichtmehr von gefährlichen Beamten um den Heimatschein ge-quält, schwimme Wolke im Blau, fließe Welle im Bache,knospe Blatt am Strauch, bin in Vergessen, bin in tausend-mal ersehnte Wandlung getaucht.

Zehnmal und hundertmal noch wirst du mich wieder ein-fangen, bezaubern und einkerkern,Welt der Worte,Welt derMeinungen, Welt der Menschen, Welt der gesteigerten Lustund der fiebernden Angst. Tausendmal wirst du mich ent-zücken und erschrecken, mit Liedern am Flügel gesungen,mit Zeitungen, mit Telegrammen, mit Todesnachrichten,mit Anmeldeformularen und all deinem tollen Kram, duWelt voll Lust und Angst, holde Oper voll melodischen Un-sinns! Aber niemals mehr, gebe es Gott, wirst du mir ganzverloren gehen, Andacht der Vergänglichkeit, Passionsmu-sik der Wandlung, Bereitschaft zum Sterben, Wille zur Wie-dergeburt. Immer wird Ostern wiederkehren, immer wiederwird Lust zu Angst, Angst zu Erlösung werden, wird ohneTrauer mich das Lied der Vergänglichkeit auf meinen Wegenbegleiten, voll Ja, voll Bereitschaft, voll Hoffnung.

(1920)

Aufhorchen

Ein Klang so zart, ein Hauch so neuGeht durch den grauen Tag,Wie Vogelflügelflattern scheu,Wie Frühlingsduft so zag.

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Aus Lebens Morgenstunden herErinnerungen wehn,Wie Silberschauer überm MeerAufzittern und vergehn.

Vom Heut zum Gestern scheint es weit,Zum lang Vergessenen nah,Die Vorwelt liegt und Märchenzeit,Ein offener Garten, da.

Vielleicht ist heut mein Urahn wach,Der tausend Jahr geruhtUnd nun mit meiner Stimme sprach,Sich wärmt in meinem Blut.

Vielleicht ein Bote draußen stehtUnd tritt gleich bei mir ein;Vielleicht, noch eh der Tag vergeht,Werd ich zu Hause sein.

Sommers Ende

Es war ein schöner, glänzender Hochsommer hier im Südender Alpen, und seit zwei Wochen habe ich jeden Tag jeneheimliche Angst um sein Ende gespürt, die ich als Beigabeund geheime stärkste Würze alles Schönen kenne. Vor allemfürchtete ich jedes leiseste Anzeichen eines Gewitters, dennvon der Mitte des August an kann jedes Gewitter leicht aus-arten, kann tagelang dauern, und dann ist es zu Ende mitdem Sommer, selbst wenn das Wetter sich wieder erholt. Ge-rade hier im Süden ist es beinah die Regel, daß dem Hoch-

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sommer durch ein solches Gewitter das Genick gebrochenwird, daß er rasch, lodernd und zuckend erlöschen und ster-ben muß. Dann, wenn die tagelangen wilden Zuckungeneines solchen Gewitters am Himmel vorüber sind, wenn dietausend Blitze, die unendlichen Donnerkonzerte, das wil-de rasende Sichergießen der lauen Regenströme verrauschtund vergangen sind, blickt eines Morgens oder Nachmittagsaus dem verkochenden Gewölk ein kühler, sanfter Himmel,von seligster Farbe, alles voll Herbst, und die Schatten in derLandschaft sind ein wenig schärfer und schwärzer, haben anFarbe verloren und an Umriß gewonnen, so wie ein Fünf-zigjähriger, der gestern noch rüstig und frisch aussah, nacheiner Krankheit, nach einem Leid, nach einer Enttäuschungplötzlich das Gesicht voll kleiner Fäden und in allen Faltendie kleinen Zeichen der Verwitterung sitzen hat. Furchtbarist solch letztes Sommergewitter, und grauenvoll der Todes-kampf des Sommers, sein wilder Widerwille gegen das Ster-benmüssen, seine tolle schmerzliche Wut, sein Umsichschla-gen und Bäumen, das doch alles vergeblich ist und nacheinigem Toben hilflos erlöschen muß.

Dieses Jahr scheint der Hochsommer nicht jenes wilde,dramatische Ende zu nehmen (obwohl es noch immer mög-lich ist), er scheint diesmal den sanften, langsamen Alterstodsterben zu wollen. Nichts ist für diese Tage so charakteri-stisch, bei keinem andern Anzeichen empfinde ich diesebesondere, unendlich schöne Art von Sommer-Ende so in-nig wie am späten Abend bei der Heimkehr von einem Gangoder von einem ländlichen Abendmahl: Brot, Käse undWein in einem der schattigen Waldkeller. Das Eigene an die-sen Abenden ist die Verteilung der Wärme, das stille lang-same Zunehmen der Kühle, des nächtlichen Taues und dasstille, unendlich biegsame Fliehen und Sichwehren des Som-

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mers. In tausend feinen Wellen macht dieser Kampf sichspürbar, wenn man zwei oder drei Stunden nach Sonnenun-tergang unterwegs ist. Dann sitzt in jedem dichten Walde, injedem Gebüsch, in jedem Hohlweg die Tageswärme nochgesammelt und verkrochen, hält sich die ganze Nacht hin-durch zäh am Leben, sucht jeden Hohlraum, jeden Wind-schutz auf. An der Abendseite der Hügel sind zu diesenStunden die Wälder lauter große Wärmespeicher, rundumbenagt von der Nachtkühle, und jede Bodensenkung, jederBachlauf nicht bloß, nein, auch jede Art und Dichtigkeit derBewaldung drückt sich dem Wandernden genau und unend-lich deutlich in den Abstufungen der Wärme aus. Genau sowie ein Skiläufer beim Durchfahren eines Berggeländes dieganze Bildung des Landes, jede Hebung und Senkung, jedeLängs- und Seitenrippe der Gebirgsstruktur rein sinnlich inseinen wiegenden Knien spüren kann, so daß er nach einigerÜbung aus diesem Knie-Gefühl das gesamte Bild eines Berg-hanges während der Abfahrt ablesen kann, so lese ich hier inder tiefen Dunkelheit der mondlosen Nacht aus den zartenWärmewellen das Bild der Landschaft ab. Ich trete in einenWald, schon nach drei Schritten von einer rasch zuneh-menden Wärmeflut wie von einem sanft glühenden Ofenempfangen, ich finde diese Wärme mit der Dichtigkeit desWaldes anschwellen und abnehmen; jeder leere Bachlauf,der zwar längst kein Wasser mehr, aber doch in der Erdenoch einen Rest von Feuchtigkeit bewahrt hat, kündigt sichdurch ausstrahlende Kühle an. Zu jeder Jahreszeit sind jadie Temperaturen verschiedener Punkte eines Geländesverschieden, aber nur in diesen Tagen des Übergangs vomHochsommer zum Frühherbst spürt man sie so stark unddeutlich. Wie im Winter das Rosenrot der kahlen Berge, wieim Frühling die strotzende Feuchtigkeit von Luft und Pflan-

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zenwuchs, wie beim ersten Sommerbeginn das nächtlicheSchwärmen der Glühwürmer, so gehört gegen das Ende desSommers dies merkwürdige nächtliche Gehen durch diewechselnden Wärmewogen zu den sinnlichen Erlebnissen,die am stärksten auf Stimmung und Lebensgefühl wirken.

Wie doch gestern nacht, als ich vom Waldkeller nachHause ging, dort bei der Mündung des Hohlweges gegenden Friedhof von Sant’ Abbondio mir die feuchte Kühleder Wiesen und des Seetals entgegenschlug! Wie die wohligeWaldwärme zurückblieb und sich scheu unter den Akazien,Kastanien und Erlen verkroch!Wie der Wald sich gegen denHerbst, wie der Sommer sich gegen das Sterbenmüssenwehrte! So wehrt sich der Mensch in den Jahren, wo seinSommer sinkt, gegen das Welken und Sterben, gegen dieeindringende Kühle des Weltraums, gegen die eindringendeKühle im eigenen Blut. Und mit erneuter Innigkeit gibt ersich den kleinen Spielen und Klängen des Lebens hin, dentausend holden Schönheiten seiner Oberfläche, den zärt-lichen Farbenschauern, den huschenden Wolkenschatten,klammert sich lächelnd und angstvoll an das Vergänglich-ste, sieht seinem Sterben zu, schöpft Angst und schöpftTrost daraus, und lernt schaudernd die Kunst des Sterben-könnens. Hier liegt die Grenze zwischen Jugend und Alter.Mancher hat sie schon mit vierzig Jahren oder früher über-schritten, mancher spürt sie erst spät in den Fünfzigern oderSechzigern. Aber es ist immer dasselbe: statt der Lebens-kunst beginnt jene andere Kunst uns zu interessieren, stattder Bildung und Verfeinerung unserer Persönlichkeit be-ginnt deren Abbau und Auflösung uns zu beschäftigen, undplötzlich, beinah von einem Tag auf den andern, empfindenwir uns als alt, empfinden wir die Gedanken, Interessen undGefühle der Jugend als fremd. Diese Tage des Übergangs

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sind es, in welchen solche kleine zarte Schauspiele wie dasVerglühen und Hinsterben eines Sommers uns ergreifen undbewegen können, uns das Herz mit Staunen und Schaudernerfüllen, uns zittern und lächeln machen.

Schon hat auch der Wald das Grün von gestern nichtmehr, und die Rebenblätter beginnen gelber zu scheinen, un-ter ihnen werden die Beeren schon blau und purpurn. Unddie Berge haben gegen Abend das Violett, und der Himmeldie smaragdenen Töne, die zum Herbst hinüberführen. Wasdann? Dann wird es wieder zu Ende sein mit den Abendenim Grotto, und zu Ende mit den Badenachmittagen am Seevon Agno, und zu Ende mit dem Draußensitzen und Ma-len unter den Kastanienbäumen. Wohl dem, der dann eineHeimkehr zu geliebter und sinnvoller Arbeit, zu geliebtenMenschen, zu irgendeiner Heimat hat! Wer das nicht hat,wem diese Illusionen zerbrochen sind, der kriecht alsdannvor der beginnenden Kälte ins Bett oder flieht auf Reisen,und sieht als Wanderer hier und dort den Menschen zu, wel-che Heimat haben, welche Gemeinschaft haben, welche anihre Berufe und Tätigkeiten glauben, sieht ihnen zu, wie siearbeiten, sich anstrengenund mühen, und wie über all ihremguten Glauben und all ihrer Anstrengung langsam und un-gesehen sich die Wolke des nächsten Krieges, des nächstenUmsturzes, des nächsten Untergangs zusammenzieht, nurden Müßiggängern, nur den Ungläubigen und Enttäuschtensichtbar – den Altgewordenen, die an Stelle des verlornenOptimismus ihre kleine, zärtliche Altersvorliebe für bittereWahrheiten gesetzt haben. Wir Alten sehen zu, wie untermFahnenschwenken der Optimisten jeden Tag die Welt voll-kommener wird, wie jede Nation sich immer göttlicher,immer fehlerloser, immer berechtigter zu Gewalt und fro-hem Angriff fühlt, wie in der Kunst, im Sport, in der Wissen-

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schaft die neuen Moden und neuen Sterne auftauchen, dieNamen glänzen, die Superlative aus den Zeitungen trop-fen, und wie das alles glüht von Leben, von Wärme, vonBegeisterung, von heftigem Lebenswillen, von berauschtemNichtsterbenwollen. Woge um Woge glüht auf wie die Wär-mewogen im Tessiner Sommerwald. Ewig und gewaltig istdas Schauspiel des Lebens, ohne Inhalt zwar, aber ewige Be-wegung, ewige Abwehr gegen den Tod.

Manche gute Dinge stehen uns noch bevor, ehe es wiederin den Winter hinein geht. Die bläulichen Trauben werdenweich und süß werden, die jungen Burschen werden bei derErnte singen, und die jungen Mädchen in ihren farbigenKopftüchern werden wie schöne Feldblumen im vergilben-den Reblaub stehen. Manche gute Dinge stehen uns nochbevor, und manches, was uns heute noch bitter scheint, wirduns einst süß munden, wenn wir erst die Kunst des Sterbensbesser werden gelernt haben. Einstweilen warten wir nochauf das Reifwerden der Trauben, auf das Fallen der Kasta-nien, und hoffen, den nächsten Vollmond noch zu genießen,und werden zwar zusehends alt, sehen aber den Tod dochnoch recht weit in der Ferne stehen. Wie ein Dichter gesagthat:

Herrlich ist für alte LeuteOfen und Burgunder rot,Und zuletzt ein sanfter Tod –Aber später, noch nicht heute!

(1926)

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Altwerden

All der Tand, den Jugend schätzt,Auch von mir ward er verehrt,Locken, Schlipse, Helm und Schwert,Und die Weiblein nicht zuletzt.

Aber nun erst seh ich klar,Da für mich, den alten Knaben,Nichts von allem mehr zu haben.Aber nun erst seh ich klar,Wie dies Streben weise war.

Zwar vergehen Band und LockenUnd der ganze Zauber bald;Aber was ich sonst gewonnen,Weisheit, Tugend, warme Socken,Ach, auch das ist bald zerronnen,Und auf Erden wird es kalt.

Herrlich ist für alte LeuteOfen und Burgunder rotUnd zuletzt ein sanfter Tod –Aber später, noch nicht heute!

»Jugend« ist das in uns, was Kind bleibt, und je mehr dessenist, desto reicher können wir auch im kühlbewußten Lebensein.

(Aus einem Brief von 1912 an Wilhelm Einsle)

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Wie lang war es in der Kinderzeit von einem Geburtstag biszum anderen! Im Älterwerden geht das immer schneller.

(Aus einem Brief vom Dezember 1960 an seinen Sohn Bruno)

Im Alter spürt man oft den Widerspruch, daß zwar die Jahreungeheuer schnell, die Tage oder Stunden aber oft so lang-sam hingehen.

(Aus einem Brief vom Dezember 1949 an Otto Korradi)

Man wird so schnell alt, wenn man mit dem Kurs der Weltuneins ist.

(Aus einem Brief vom 21. 10. 1929 an Carlo Isenberg)

Im Älterwerden liebt man den Herbst immer mehr, wäh-rend man den Frühling fürchtet.

(Aus einem Brief vom 26. 10. 1929 an Elsy Bodmer)

Es ist mit dem Altwerden wie Goethe von der Einsamkeitsagt: wer sich ihr ergibt, ist bald allein. Und wer sich demAltwerden ergibt, ist schnell alt. Jeden Abend steht das graueGespenst am Bett. Aber ich werde vorher noch einige Maleum mich schlagen, und einige Feuerwerke loslassen.

(Aus einem Brief vom Januar 1920 an Anni Bodmer)

Die Großeltern, die Alten, die schon selbst wieder mit demKindwerden beschäftigt sind, nehmen die Kinder nichternst, so wenig als sie sich selber ernst nehmen. Pathos ist

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eine schöne Sache und jungen Menschen steht es oft wun-dervoll. Für ältere Leute eignet sich besser der Humor, dasLächeln, das Nichternstnehmen, das Verwandeln der Weltin ein Bild, das Betrachten der Dinge als seien sie flüchtigeAbendwolkenspiele.

(Aus der Betrachtung »Abendwolken«, 1926)

Spätsommer

Noch schenkt der späte Sommer Tag um TagVoll süßer Wärme. Über BlumendoldenSchwebt da und dort mit müdem FlügelschlagEin Schmetterling und funkelt sammetgolden.

Die Abende und Morgen atmen feuchtVon dünnen Nebeln, deren Naß noch lau.Vom Maulbeerbaum mit plötzlichem GeleuchtWeht gelb und groß ein Blatt ins sanfte Blau.

Eidechse rastet auf besonntem Stein,Im Blätterschatten Trauben sich verstecken.Bezaubert scheint die Welt, gebannt zu seinIn Schlaf, in Traum, und warnt dich, sie zu wecken.

So wiegt sich manchmal viele Takte langMusik, zu goldener Ewigkeit erstarrt,Bis sie erwachend sich dem Bann entrangZurück zu Werdemut und Gegenwart.

Wir Alten stehen erntend am SpalierUnd wärmen uns die sommerbraunen Hände.

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Noch lacht der Tag, noch ist er nicht zu Ende,Noch hält und schmeichelt uns das Heut und Hier.

Von der alten Zeit

In meiner Heimat wohnt ein alter Gymnasialprofessor, ei-ner von den guten, der schreibt mir alle Jahre einmal einenBrief. Er wohnt in seinem Einsiedlerhäuschen und Gartenstill und nachdenklich dahin, und wenn in der Stadt jemandbegraben wird, so ist es meist ein früherer Schüler von ihm.Dieser alte Herr hat mir kürzlich wieder geschrieben. Undobwohl ich selbst einer ganz anderen Meinung bin und ihmin meiner Antwort kräftig widersprochen habe, scheint mirseine Betrachtung über die alte und neue Zeit doch lesens-wert, so daß ich dieses Stück aus seinem Brief hier mitteile.Es heißt:

». . . Es will mir nämlich vorkommen, die heutige Welt seivon der, die zu meinen jungen Zeiten noch bestand und galt,durch eine größere Kluft getrennt, als sonst Generationenvoneinander getrennt sind.Wissenkann ich es nicht, und dieGeschichtschreibung scheint zu lehren, meine Ansicht seiein Irrtum, dem jedes alternde Geschlecht verfalle. Denn derFluß der Entwicklungen ist ein stetiger, und zu allen Zeitensind die Väter von den Söhnen überwunden und nicht mehrverstanden worden. Dennoch kann ich mein Gefühl nichtändern, es sei – wenigstens in unserem Volk und Land – inden letzten Jahrzehnten alles viel gründlicher anders gewor-den und als habe unsere Geschichte eine viel raschere Gang-art angenommen als in früheren Zeiten.

Soll ich bekennen, was mir an diesem Umschwung desZeitgeistes als das Wesentlichste erscheint? Da ist, um es

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