Mitte der zwanziger Jahre entdeckte Alfred Polgar auf …€¦ · Mitte der zwanziger Jahre...

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Mitte der zwanziger Jahre entdeckte Alfred Polgar auf einerWiener Varieté-Bühne eine junge Dame von »seltsamer,

fesselnder Schönheit« – es war Marlene Dietrich, der spätere»Blaue Engel« und Weltstar. Die beiden freundeten sich an,schrieben sich Briefe. Und noch bevor Polgar 1938 vor den

Nazis fliehen musste, widmete er der Diva ein kleineBiographie von großer Zartheit und gedanklicher Schärfe: ein

Buch über Sex-Appeal, über plötzlichen Ruhm, Hollywoodund die Zusammenarbeit mit Josef von Sternberg sowie über

die Erfahrung des inneren wie äußeren Exils. Einjahrzehntelang verschollenes Manuskript, das von Ulrich

Weinzierl in New York wiederentdeckt wurde – und von einerder größten Ikonen ihrer Zeit erzählt.

Alfred Polgar, 1873 in Wien geboren, war Kritiker undeiner der »feinsten Schriftsteller seiner Generation« (Kurt

Tucholsky). 1938 floh Polgar über Frankreich und Portugal indie USA, wo er als Drehbuchautor in Hollywood arbeitete. Er

starb 1955 in Zürich.

Ulrich Weinzierl, 1954 in Wien geboren, war von Mitteder 1980er Jahre bis 2013 Feuilleton-Korrespondent der FAZ

und später der Welt. Gemeinsam mit Marcel Reich-Ranicki hater die Werke von Alfred Polgar herausgegeben.

Alfred Polgar

MARLENEBild einer

berühmten Zeitgenossin

Herausgegeben und mit einem Nachwortvon Ulrich Weinzierl

Verlagsgruppe Random House FSC® N001967

1. AuflageGenehmigte Taschenbuchausgabe Dezember 2016,

btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Paul Zsolnay VerlagWien, Lizenzausgabe mit Genehmigung

des Paul Zsolnay Verlages WienUmschlaggestaltung: semper smile, München,

nach einem Entwurf von Lübbeke Naumann Thoben, Köln;unter Verwendung eines Fotos von William Walling

© Deutsche Kinemathek, Marlene Dietrich Collection BerlinDruck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck

cb · Herstellung: scPrinted in Germany

ISBN 978-3-442-71433-9

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MARLENE

Bild einerberühmten Zeitgenossin

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DIE ZWEITE VON LINKS

Mitte der zwanziger Jahre unseres glorreichen Jahr-hunderts wurde auf der Bühne der Wiener Kammer-spiele ein amerikanischer Reißer, ein Thriller, vorge-stellt, in dem unsanfte Begebenheiten, durch rauhenHumor kontrastiert, sich häuften. Vergnügen zarte-rer Art brachten zwischendurch fünf, mit bestem Ge-schmack entkleidete, junge Damen auf die Szene, allesehr hübsch und anmutig. Das Stück hieß »Broadway«,und die fünf stellten die Broadway-Girls dar. Wie sichdas für Girls ziemt, tanzten sie überaus parallel: zehnBeine und ein Takt. Sie sangen auch. Und zuweilenmischten sie sich sogar solistisch ins Spiel. Gangster,deren ganz gefährliche auf der Bühne sich tummelten,planten eine Mordtat, aber Dank der Geistesgegenwartund Entschlossenheit eines der fünf Mädchen wurdesie verhindert. Es war die zweite von links, die, im kri-tischen Augenblick, den Revolver hob und die Kanailleniederschoss. Sie schoss von einer Treppe herab, die imHintergrund sich wendelte, sie blieb dort stehen, als dieTat getan war, und sah auf das Opfer mit einem Blick, indem Uninteressiertheit, kindliche Neugier, Müdigkeitund Gefühl schicksalhaften Unvermögens zu verste-hen (wie es aus dem Tier-Auge trauert) sich mengten.

Zweifler könnten sagen: Heute, äußerst hinterher,

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lässt sich derlei leicht in den Blick der jungen Dame –die inzwischen zu hohem Ruhm gelangt ist – hinein-deuten, aus einem späteren Wissen eine frühe Ahnungkonstruieren. (Es entbehrt nicht der Komik, wenn La-vater, der große Physiognomiker des 18. Jahrhunderts,aus dem Gesicht des jungen Caesar soldatische undimperiale Geniezeichen herausliest.) Vielleicht aberwird, dass einige schon damals, zur »Broadway«-Zeit,von Art und Wesen des Girls, das den Gangster nie-derschoss, wunderlich angerührt wurden, glaubhafterdurch den Umstand, dass diese Links-Zweite des Da-menquintetts auch von seltsamer, fesselnder Schönheitwar. Von einer Schönheit, die den Eindruck weckte, alswäre da dem Künstlerwillen der Schöpfung, der sie ge-formt hatte, eine ganz besondere Absicht zugrunde ge-legen.

Dieses merkwürdige Antlitz lockte stärker noch alsmit dem, was es verriet, mit dem, was es verschwieg,mit Helligkeit und Schatten, die wie Widerschein undStörung eines sehr fernen Lichts über das Gesichthingingen, mit Zeichen schicksalhafter Bestimmung,von der die Trägerin selbst nichts zu wissen oder nichtswissen zu wollen schien. »Ich kann den Blick nichtvon euch wenden, ich muss euch anschaun immerdar«,wie, wenn ich nicht irre, Freiligrath dichtete, bei demauch ein anderes gutes Dietrich-Motto zu finden wäre:»O lieb, so lang du lieben kannst!«

Diese unbekannte, rätselhafte Schönheit, vollendet

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schön auch an Gestalt, die da im Theaterstück, eine un-ter vielen, ohne Lust noch Unlust an der Sache, ge-treulich vorspielte, was ihr vorzuspielen geheißen war,erledigte ihren Part mit einer Art selbstbewussterTüchtigkeit. Sie trug, in des Wortes rechtem wie über-tragenem Sinn: den Kopf hoch. So, als setze sie wenigEhrgeiz darein, zu gefallen, aufzufallen – oder als er-scheine es ihr selbstverständlich, dass sie gefallen, auf-fallen müsse.

Sie schoss auf den Mordbuben, aber ihre Seele wardabei nicht im Spiel, nur ihre Hand. Es schoss, nichtsie. Sie war an der Affäre kaum mehr und anders betei-ligt als der Revolver. Sie diente als Instrument zur Voll-bringung einer Tat, mit der ihr Ich nichts zu schaffenhatte. Der Strom von Energie, der durch den Körperder Frau floss und die Aktion auslöste, hatte nicht imWillen der Täterin seinen Ursprung. Sie gehorchte ei-nem Entschluss, den nicht sie gefasst hatte, sondern derüber sie gefasst worden war.

Diese Passivität im Augenblick schicksalsschwererAktivität, diese seltsame Ruhe im Affekt – vertieft nochdurch ein nur andeutendes Mienenspiel und den um-schleierten Klang einer mit Ton sparenden Stimme –wurde von manchen schon damals, als der Stern derDietrich noch unterm Horizont stand und sie nur einGirl unter Girls war, als Originalitäts-Zeichen emp-funden und erkannt. Marlene wird selbst nicht wissen,dass bereits zu jener Zeit ihres ersten künstlerischen

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Anfangs eine kleine Dietrich-Gemeinde in Wien be-stand (ihr Präsident war der bedeutende Psychoanaly-tiker und Sprachforscher A. J. Storfer und ihr Mitgliedich), die von dem erstaunlichen Broadway-Mädchenschwärmte und seine Besonderheit zu deuten suchte.Bei uns hatte das Phänomen Dietrich schon Namenund Inhalt, ehe es noch recht Gestalt angenommen unddurch Leistung offenkundig geworden war. Nominaante res, sagen die Scholastiker: Die Begriffe sind vorden Dingen da.

Es hat dann noch Jahre gedauert, bis die Filmereiden Dietrich-Typ, den Erdgeist-Typ (der nichts mitSalonschlange, Vamp oder dergleichen zu tun hat), denTyp der Frau, »deren Blick uns mit einmal trifft wie einRuf, wie ein Schicksal, und die zu staunen scheint überdas, was sie anrichtet« (Franz Hessel) entdeckte undseine einmalige, vollkommene Verkörperung durchMarlene sich nutzbar machte.

Der Dietrich-Gemeinde sind inzwischen ein paarMillionen Mitglieder zugewachsen. Es gehören ihr allean, die Schönheit als Glück und Verhängnis, Liebe alsunentrinnbares Fatum zu erfühlen und zu verstehen imStande sind.

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MARLENE

Marlene ist ein melodischer, anmutiger Name. Er passtgut zu Erscheinung, Art und Persönlichkeit der Frau,die ihn berühmt gemacht hat. Seinem Klang verknüp-fen sich heute so bestimmte Vorstellungen und Bilder,dass ihn zu nennen ohne jene heraufzubeschwören,kaum möglich scheint. Das ist der Ruhm! Zwischeneinem Namen (sei es nun der richtige oder ein erfun-dener) und dem, der sich ihn »gemacht« hat, stellt sichganz natürlich eine Art Beziehung her wie zwischenMünze und Prägung: Im Fall Dietrich ist wunderli-cherweise der Vorname Bild-Träger der Person, die ihnführt. Die Marlene, könnte man sagen, wurde viel be-rühmter und populärer als die Dietrich. »Marlenesque«heißen in Film-Amerika und den umliegenden Erdtei-len die Eigenheiten (oft kopiert, nie erreicht) der Diva,und wenn die Zeitungen von und zu ihr per »Marlene«sprechen, ist das nicht nur Ausdruck jener unablehn-baren Vertraulichkeit, die sich Journalisten den Opfernihres Interesses gegenüber herauszunehmen pflegen.»Marlene«: Da ist die Linse sofort richtig eingestellt,und das Objekt, mit vielen leicht erinnerten Details,klar ins Blickfeld gerückt. Wer an Vorbestimmungglaubt und dass auch im sogenannten Spiel des Zufallsverborgener Sinn stecke, wird schon im Taufnamen derDietrich eine charakteristische Linie ihres filmischenSchaffens, eine Schicksalslinie geradezu, vorgezeichnet

UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Alfred Polgar, Ulrich Weinzierl

MarleneBild einer berühmten ZeitgenossinHerausgegeben und mit einem Nachwort von Ulrich Weinzierl

Taschenbuch, Broschur, 160 Seiten, 11,8 x 18,7 cm13 s/w AbbildungenISBN: 978-3-442-71433-9

btb

Erscheinungstermin: November 2016

Bereits Mitte der zwanziger Jahre, noch war sie nicht der spätere »Blaue Engel« und Weltstar,gehörte der Schriftsteller und Kritiker Alfred Polgar zu den Bewunderern Marlene Dietrichs. Siefreundeten sich an, verkehrten gemeinsam im Berliner »Hotel Eden«, schrieben sich Briefe.Noch bevor Polgar 1938 vor den Nazis fliehen musste, widmete er der Diva ein wunderbarzartes Buch, das ihre besondere Aura wie kaum ein zweites einfängt. Ihr Sexappeal, das fürPolgar weniger Offenbarung ist als Geheimnis. Wir erfahren von der Zusammenarbeit mitJosef von Sternberg, den ersten Jahren in Hollywood und was sie – kurz vor Kriegsausbruch– über die Zukunft denkt. Jetzt, mehr als 75 Jahre nach seiner Entstehung, erscheint daslang verschollene Manuskript. Und bringt eine der größten Ikonen ihrer Zeit noch einmal zumLeuchten.