Mittwoch, 7. September 2016 Eßlinger Zeitung · (Sonate g-Moll BWV 1001, Partita E-Dur BWV 1006,...

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KULTUR Mittwoch, 7. September 2016 8 BLICKPUNKT MUSIKFEST STUTTGART Reichtum und Abrechnung Bach-Kantaten in der Stiftskirche mit der Gaechinger Cantorey und Hans-Christoph Rademann – Premiere der Silbermann-Truhenorgel Von Martin Mezger Stuttgart – Der gottesfürchtige pro- testantische Erwerbsethiker lässt sich gern die Nichtigkeit der von ihm gescheffelten Reichtümer vor- singen. Nur: Damit der „betörten Welt“ in Johann Sebastian Bachs eindringlicher Klangrede (hier aus der Kantate BWV 94) ihr „Reich- tum, Gut und Geld“ als „Betrug und falscher Schein“ um die musi- kalisch entzückten Ohren geschla- gen werden kann, braucht es eben doch wieder – Reichtum. Das war zu Zeiten des Leipziger Thomas- kantors, der sich schon mal recht ruppig über karge Mittel beklagte, nicht anders als heute, wo Hans- Christoph Rademanns glücklich zum Originalklang konvertierte Bachakademie den Aufbruch zu neuen Horizonten nur mittels wohl- habender Sponsoren meistern kann. Der Nachbau der Silber- mann-Truhenorgel etwa, ganzer Stolz der Bachakademiker, ver- dankt sich dem Mäzenatentum des Unternehmer-Ehepaars Wirtz. „Den Mammon klüglich anwenden“ Seine Konzertpremiere feierte das kostbare Instrument gestern Mittag in der Stiftskirche mit drei Bach-Kantaten, alle getreu dem diesjährigen Musikfest-Motto vom Reichtum handelnd und damit von der gottgefälligen Läuterung des „eitlen“ zum „klüglich anzuwen- denden“ Mammon. Für letzteren stand das Konzert selbst, denn reich sind Bachs kompositorisch predi- gende Mittel sowieso, und das künstlerische Vermögen der Inter- preten ist es nicht minder. Die Gae- chinger Cantorey – unterm barocki- sierenden Namen firmieren fürder- hin Chor wie Originalklang-Or- chester – erwies sich instrumenta- lerseits als handverlesenes Ensem- ble, das etliche nicht nur dem Na- men nach bestens klingende Grö- ßen in seinen Reihen zählt. Ein Ba- rockorchester solcher Güte ist eben kein unter der Knute des Takt- stocks zusammengeschweißter „Klangkörper“, sondern eine har- monische Interaktion kundiger In- dividualisten. Als Dirigent muss Rademann nicht permanent fordern und formen, sondern setzt die inter- pretatorischen Impulse, und prompt folgen prägnante Basslinien, wun- derbare Holzbläser-Soli, differen- ziert aufgefächerte Streichersätze: ein Bach-Klang der präzisen Nuan- cen und der scharfen Fokussierung. So gleich in der kantig punktierten Titelarie der Kantate „Tue Rech- nung! Donnerwort“ (BWV 168), welche in buchhalterischer Meta- phorik den säumigen Seelen Gottes Abrechnung vor die Sündernase hält. Bass-Solist Andreas Wolf gab dem „Donnerwort“ Markanz und den rollenden Triolen-Koloraturen grollende Autorität. In der Kantate „Was frag ich nach der Welt“ (BWV 94) verkehrt Bach in typisch barocker Dialektik die weltverleugnende Botschaft ins klingende Gegenteil: Schmei- chelnde Flötengirlanden tändeln um weltlichen Tand, tänzerische Rhythmen ums „Blendwerk“. Wie der Flötist Georges Barthel zusam- men mit dem exzellenten Altisten Terry Wey und seinem glutvoll- runden Timbre in den Figurationen der „Betörte Welt“-Arie die klang- bildlichen Münzen des Mammon kullern ließ, wurde an flinkfingriger Bravour und lichter Schönheit des Tons allenfalls getoppt von seinem hochvirtuosen Flötensolo in der Te- norarie der Kantate „Herr Jesu Christ, du höchstes Gut“ (BWV 113). Sebastian Kohlhepp sang die Tenorparts mit expressiver Kraft, der manchmal eine Dosis Ge- schmeidigkeit fehlte. Dorothee Mields konnte ihren astral-klaren Sopran nur in kürzeren Passagen leuchten lassen, auch der Chor hat in diesen drei Kantaten fast nur ak- kordisch-schlichte Auftritte: Zu vernehmen war gleichwohl eine Fülle an luminosem Wohlklang, nicht auf schlanke Kleinstbesetzung getrimmt, sondern beste deutsche Chortradition mit authentischem Musizieren verbindend. Beim Schlusskonzert am Sonntag mit Händels „L’Allegro“-Oratorium wird man ausgiebigere Cantorey- Töne hören. Gleiches gilt für das „Starinstrument“ des Konzerts, die Silbermann-Orgel: Gespielt von von Michaela Hasselt zeigte sie be- reits in der Continuo-Rolle Charak- ter, gab feinen Ton wie kräftigen Laut, naturgemäß nicht im wum- mernden Hammond-Sound, son- dern in souveräner Noblesse. Am Sonntag darf sie in einem Hän- del’schen Orgelkonzert glänzen. Präzis nuanciert, scharf fokussiert: Hans-Christoph Rademann interpretiert Bach-Kantaten mit der Gaechinger Cantorey. Foto: Holger Schneider Spurensuche mit Belegen Andreas Staier spielt auf dem Cembalo Musik von Johann Sebastian Bach und seinen französischen Vorbildern Von Martin Mezger Stuttgart – Johann Sebastian Bach ist, abgesehen von einer frühen Tour nach Norddeutschland und ei- ner sehr späten nach Berlin, nie aus seinem mitteldeutschen Umfeld he- rausgekommen. Um so begieriger hat er alle Musik, die ihm in die Finger kam, aufgesogen. So auch Werke der französischen Claveci- nisten von Jean-Henry d’Anglebert bis zum großen François Couperin. Dem prägenden Einfluss dieser französischen Cembalo-Schule für Bachs eigenen Stil spürte Andreas Staier mit dokumentarischer Prä- zision nach. Für sein Konzert im Weißen Saal des Neuen Schlosses hat der Cembalist ein Programm zusammengepuzzelt aus Stücken, die Bach gekannt haben muss. Folge war im ersten Teil ein klein- teiliges Potpourri aus Minutencock- tails und Bach’schen Reflexen: eine Spurensuche mit Belegen. Aber trefflich angerichtet (abgesehen vom störenden Außenlärm). Gelassen, fast rhapsodisch eröff- nete Staier eine Suite d’Angleberts, dem typisch französischen Charak- ter dieser musikalischen Prosodie ebenso angemessen wie in den fol- genden Sätzen der federnde Schwung der „Notes inégales“, der eleganten Lang-kurz-Spielweise. Verglichen mit dieser genüsslich schweifenden, in wuchernden Ver- zierungen schwelgenden Musik wirkte Bachs a-Moll-Fantasie BWV 904 mit ihren sequenzierenden Spannungssteigerungen freilich konsequent durchgestaltet. An zwei höchst gegensätzliche Fugen d‘Angleberts über das glei- che Thema mag sich Bach bei der Konzeption seiner „Kunst der Fuge“ erinnert haben. Staier ließ deshalb zwei Sätze aus diesem gro- ßen Zyklus folgen, sinnigerweise auch den mit seiner punktierten Rhythmik ausdrücklich dem fran- zösischen Stil verpflichteten Con- trapunctus VI. Exzellent durch- leuchtete er mit seinem kantabel und resonanzreich klingenden Ins- trument, dem Nachbau eines Cem- balos des Bach-Zeitgenossen Mi- chael Mietke, die polyphonen Ver- flechtungen des Themas und seiner Umkehrung. Deplatziert dagegen Nicolas de Grignys Orgel- „Dialogue“, der eben nur auf der Orgel wirkt, auch wenn Staier den Dialogcharakter sehr wohl regist- rierte. Brillant wiederum eine Folge von Couperins genialen Charakter- stücken, gespielt mit Temperament und glänzenden Esprit. Was erst recht für Bachs D-Dur-Partita (BWV 828) gilt, die Staier in ihrer kompositorischen wie spieltechni- schen Virtuosität, ihrer sinnieren- den Tiefe und ihrem geistreichen Elan überragend interpretierte. HEUTE BEIM MUSIKFEST 10 Uhr, Fruchtkasten: Die Orgel – Exponat barocker Klangvorstellun- gen. 12 Uhr, Musikpavillon am Schlossplatz: Stuttgart singt. Vokal- ensemble Ebersbach, Leitung: Wolf- gang Proksch. 13 Uhr, Stiftskirche: Johann Se- bastian Bach: Werke für Violine solo (Sonate g-Moll BWV 1001, Partita E- Dur BWV 1006, Partita d-Moll BWV 1004). Thomas Zehetmair, Violine. 15 Uhr, Hospitalhof: Musikfest- Café. Henning Bey im Gespräch mit Thomas Zehetmair. 19 Uhr, Theaterhaus: Golden Twenties. Tora Augestad, Gesang, und ihre Band Music for a while. 22 Uhr, Wagenhallen am Nord- bahnhof: Born to be mild. Musik von Johann Sebastian Bach, Philip Glass, Duke Ellington, Cole Porter, Metall- ica, Udo Lindenberg u.a. Hille und Marthe Perl, Viola da Gamba. Lee Santana, E-Gitarre.

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KulturMittwoch, 7. September 2016 Eßlinger Zeitung8

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reichtum und AbrechnungBach-Kantaten in der Stiftskirche mit der Gaechinger Cantorey und Hans-Christoph Rademann – Premiere der Silbermann-Truhenorgel

Von Martin Mezger

Stuttgart – Der gottesfürchtige pro-testantische Erwerbsethiker lässtsich gern die Nichtigkeit der vonihm gescheffelten reichtümer vor-singen. Nur: Damit der „betörtenWelt“ in Johann Sebastian Bachseindringlicher Klangrede (hier ausder Kantate BWV 94) ihr „reich-tum, Gut und Geld“ als „Betrugund falscher Schein“ um die musi-kalisch entzückten Ohren geschla-gen werden kann, braucht es ebendoch wieder – reichtum. Das warzu Zeiten des leipziger thomas-kantors, der sich schon mal rechtruppig über karge Mittel beklagte,nicht anders als heute, wo Hans-Christoph rademanns glücklichzum Originalklang konvertierteBachakademie den Aufbruch zuneuen Horizonten nur mittels wohl-habender Sponsoren meisternkann. Der Nachbau der Silber-mann-truhenorgel etwa, ganzerStolz der Bachakademiker, ver-dankt sich dem Mäzenatentum desunternehmer-Ehepaars Wirtz.

„DenMammon klüglich anwenden“Seine Konzertpremiere feierte

das kostbare Instrument gesternMittag in der Stiftskirche mit dreiBach-Kantaten, alle getreu demdiesjährigen Musikfest-Motto vomreichtum handelnd und damit vonder gottgefälligen läuterung des„eitlen“ zum „klüglich anzuwen-denden“ Mammon. Für letzterenstand das Konzert selbst, denn reichsind Bachs kompositorisch predi-gende Mittel sowieso, und daskünstlerische Vermögen der Inter-preten ist es nicht minder. Die Gae-chinger Cantorey – unterm barocki-sierenden Namen firmieren fürder-hin Chor wie Originalklang-Or-chester – erwies sich instrumenta-lerseits als handverlesenes Ensem-ble, das etliche nicht nur dem Na-men nach bestens klingende Grö-ßen in seinen reihen zählt. Ein Ba-rockorchester solcher Güte ist ebenkein unter der Knute des takt-stocks zusammengeschweißter„Klangkörper“, sondern eine har-monische Interaktion kundiger In-dividualisten. Als Dirigent mussrademann nicht permanent fordernund formen, sondern setzt die inter-pretatorischen Impulse, und promptfolgen prägnante Basslinien, wun-derbare Holzbläser-Soli, differen-ziert aufgefächerte Streichersätze:

ein Bach-Klang der präzisen Nuan-cen und der scharfen Fokussierung.So gleich in der kantig punktiertentitelarie der Kantate „tue rech-nung! Donnerwort“ (BWV 168),welche in buchhalterischer Meta-phorik den säumigen Seelen GottesAbrechnung vor die Sündernasehält. Bass-Solist Andreas Wolf gabdem „Donnerwort“ Markanz undden rollenden triolen-Koloraturengrollende Autorität.

In der Kantate „Was frag ichnach der Welt“ (BWV 94) verkehrtBach in typisch barocker Dialektikdie weltverleugnende Botschaft insklingende Gegenteil: Schmei-chelnde Flötengirlanden tändelnum weltlichen tand, tänzerischerhythmen ums „Blendwerk“. Wieder Flötist Georges Barthel zusam-men mit dem exzellenten Altistenterry Wey und seinem glutvoll-runden timbre in den Figurationen

der „Betörte Welt“-Arie die klang-bildlichen Münzen des Mammonkullern ließ, wurde an flinkfingrigerBravour und lichter Schönheit destons allenfalls getoppt von seinemhochvirtuosen Flötensolo in der te-norarie der Kantate „Herr JesuChrist, du höchstes Gut“ (BWV113). Sebastian Kohlhepp sang dietenorparts mit expressiver Kraft,der manchmal eine Dosis Ge-schmeidigkeit fehlte. Dorothee

Mields konnte ihren astral-klarenSopran nur in kürzeren Passagenleuchten lassen, auch der Chor hatin diesen drei Kantaten fast nur ak-kordisch-schlichte Auftritte: Zuvernehmen war gleichwohl eineFülle an luminosem Wohlklang,nicht auf schlanke Kleinstbesetzunggetrimmt, sondern beste deutscheChortradition mit authentischemMusizieren verbindend. BeimSchlusskonzert am Sonntag mitHändels „l’Allegro“-Oratoriumwird man ausgiebigere Cantorey-töne hören. Gleiches gilt für das„Starinstrument“ des Konzerts, dieSilbermann-Orgel: Gespielt vonvon Michaela Hasselt zeigte sie be-reits in der Continuo-rolle Charak-ter, gab feinen ton wie kräftigenlaut, naturgemäß nicht im wum-mernden Hammond-Sound, son-dern in souveräner Noblesse. AmSonntag darf sie in einem Hän-del’schen Orgelkonzert glänzen.

Präzis nuanciert, scharf fokussiert: Hans-Christoph Rademann interpretiert Bach-Kantaten mit der Gaechinger Cantorey. Foto: Holger Schneider

Spurensuche mit BelegenAndreas Staier spielt auf dem Cembalo Musik von Johann Sebastian Bach und seinen französischen Vorbildern

Von Martin Mezger

Stuttgart – Johann Sebastian Bachist, abgesehen von einer frühentour nach Norddeutschland und ei-ner sehr späten nach Berlin, nie ausseinem mitteldeutschen umfeld he-rausgekommen. um so begierigerhat er alle Musik, die ihm in dieFinger kam, aufgesogen. So auchWerke der französischen Claveci-nisten von Jean-Henry d’Anglebertbis zum großen François Couperin.Dem prägenden Einfluss dieserfranzösischen Cembalo-Schule für

Bachs eigenen Stil spürte AndreasStaier mit dokumentarischer Prä-zision nach. Für sein Konzert imWeißen Saal des Neuen Schlosseshat der Cembalist ein Programmzusammengepuzzelt aus Stücken,die Bach gekannt haben muss.Folge war im ersten teil ein klein-teiliges Potpourri aus Minutencock-tails und Bach’schen reflexen: eineSpurensuche mit Belegen. Abertrefflich angerichtet (abgesehenvom störenden Außenlärm).

Gelassen, fast rhapsodisch eröff-nete Staier eine Suite d’Angleberts,

dem typisch französischen Charak-ter dieser musikalischen Prosodieebenso angemessen wie in den fol-genden Sätzen der federndeSchwung der „Notes inégales“, dereleganten lang-kurz-Spielweise.Verglichen mit dieser genüsslichschweifenden, in wuchernden Ver-zierungen schwelgenden Musikwirkte Bachs a-Moll-Fantasie BWV904 mit ihren sequenzierendenSpannungssteigerungen freilichkonsequent durchgestaltet.

An zwei höchst gegensätzlicheFugen d‘Angleberts über das glei-

che thema mag sich Bach bei derKonzeption seiner „Kunst derFuge“ erinnert haben. Staier ließdeshalb zwei Sätze aus diesem gro-ßen Zyklus folgen, sinnigerweiseauch den mit seiner punktiertenrhythmik ausdrücklich dem fran-zösischen Stil verpflichteten Con-trapunctus VI. Exzellent durch-leuchtete er mit seinem kantabelund resonanzreich klingenden Ins-trument, dem Nachbau eines Cem-balos des Bach-Zeitgenossen Mi-chael Mietke, die polyphonen Ver-flechtungen des themas und seiner

umkehrung. Deplatziert dagegenNicolas de Grignys Orgel-„Dialogue“, der eben nur auf derOrgel wirkt, auch wenn Staier denDialogcharakter sehr wohl regist-rierte. Brillant wiederum eine Folgevon Couperins genialen Charakter-stücken, gespielt mit temperamentund glänzenden Esprit. Was erstrecht für Bachs D-Dur-Partita(BWV 828) gilt, die Staier in ihrerkompositorischen wie spieltechni-schen Virtuosität, ihrer sinnieren-den tiefe und ihrem geistreichenElan überragend interpretierte.

Neuer Anlauf für EinheitsdenkmalErst scheiterte Leipzig, dann Berlin – Kulturstaatsministerin Monika Grütters will Anstoß geben – Nur beim „Waldmopszentrum“ in Loriots Heimatstadt Brandenburg gab es keine KontroversenVon Nada Weigelt

Berlin – Warum schaffen es dieDeutschen nicht, sich auf ein Denk-mal zur deutschen Einheit zu ver-ständigen? In leipzig, der Stadt derMontagsdemonstrationen, war einEntwurf mit 70 000 bunten Wür-feln schon 2014 nach jahrelangemStreit auf Eis gelegt worden. In Ber-lin stoppte der Haushaltsausschussdes Bundestags im April aus Kos-tengründen die längst geplante Ein-heitswippe – nach endlosen Debat-ten über historische Mosaike, denNeigungswinkel der Behinderten-rampe und ein bedrohtes Völkchenseltener Wasserfledermäuse.

Kulturstaatsministerin MonikaGrütters (CDu) will die Debattenun neu beleben. Am Montagabendlud sie im Berliner tränenpalast zueiner hochkarätigen Podiumsdis-

kussion. Ihr fiel nur ein Denkmalaus der jüngsten Vergangenheit ein,das ohne quälende Diskussion undjahrelanges Gerangel das licht derWelt erblickte: das 2015 eröffnete„Waldmopszentrum“ in loriotsGeburtsstadt Brandenburg an derHavel, das an den legendären Hu-moristen erinnert.

Sind die Deutschen also viel-leicht gar nicht „denkmalfähig“?Braucht es heutzutage überhauptnoch nationale Denkmäler, wodoch eigentlich die Idee eines ge-meinsamen Europa oder gar einerWeltgemeinschaft das Ziel ist?

Für den in Cambridge lehrendenHistoriker Sir Christopher Clark(„Die Schlafwandler. Wie Europain den Ersten Weltkrieg zog“) istschon die Debatte um solche Fra-gen ein Wert an sich. „Ich hoffe,dass dieses Gespräch, dieser Streit

weitergeht“, sagte er. „Diese tiefereflexion, das geschichtliche Nach-denken – das ist wirklich in Deutsch-land einmalig.“

Nach Beobachtung von AnnaKaminsky, der Geschäftsführerinder Bundesstiftung zur Aufarbei-tung der SED-Diktatur, gibt es vorallem in osteuropäischen ländernsogar einen gewissen „Denkmals-neid“ auf die Deutschen: „Diesergesellschaftliche Konsens, sich zuseiner eigenen Vergangenheit zubekennen, das wünscht man sichauch dort.“

Wichtigstes Beispiel dafür istnach wie vor das Holocaust-Mahn-mal von Peter Eisenman, das mitseinen scheinbar zahllosen Beton-stelen in der Nähe des Brandenbur-ger tors an die Ermordung vonsechs Millionen Juden durch Nazi-Deutschland erinnert. Auch hier

hatte es ein jahrelanges erbittertesringen gegeben, ein erster Wett-bewerb scheiterte.

Der Gründungsdirektor desDeutschen Historischen Museumsin Berlin, Professor ChristophStölzl, sieht das Problem nicht zu-letzt in der fehlenden künstleri-schen Formensprache. Zu monar-chischen Zeiten habe der König jenach lage einfach eine Friedens-göttin bestellen können oder – alsSymbol für einen siegreichen Krieg– eine Victoria. „Heute haben wirkeinen rezeptkasten mehr. Die Ge-genwartskünstler geben nicht Aus-kunft für solche Fragen.“

Nach Grütters lieblingsideeließe sich diese Hürde leicht um-gehen. Die CDu-Politikerin plä-diert seit jeher dafür, das Branden-burger tor zum Einheitsdenkmalzu erklären. „Es steht wie kein an-

deres Bauwerk für das Glück derWiedervereinigung und die wieder-gewonnene Freiheit“, sagte sie –stieß aber damit nicht auf einhelligeZustimmung. Für andere ist dasBerliner Wahrzeichen im 225. Jahrseines Bestehens eher Symbol fürdie wechselvollen und auch dunk-leren Zeiten der deutschen Ge-schichte.

In jedem Fall dürfte das themaauch den Bundestag noch einmalbeschäftigen. Der Vorsitzende desKulturausschusses, der SPD-Abge-ordnete Siegmund Ehrmann, kriti-sierte recht unverblümt die Ent-scheidung der Haushälter, die Ein-heitswippe im Alleingang zu kip-pen. „Es ist das Parlament, das ent-scheidet. Wir sind der Souverän.und deshalb sollten wir das nichtwie einen rohrkrepierer in sich zu-sammenfallen lassen.“

Kannibalendramaspaltet Publikum

Venedig (dpa) – Ein düsteres Kan-nibalendrama mit Jim Carrey undKeanu reeves hat beim Filmfesti-val Venedig gestern zu konträrenMeinungen geführt. Die ersten Zu-schauer verließen den Kinosaal be-reits wenige Minuten nach Filmbe-ginn, als Kannibalen in „the BadBatch“ eine junge Frau zersägen.Am Ende der Vorstellung gab esallerdings auch viel Applaus – re-gisseurin Ana lily Amirpourkönnte mit ihrem Wettbewerbsbei-trag gute Chancen auf einen derHauptpreise haben.

„the Bad Batch“ erzählt von ei-ner Kannibalengemeinschaft unddem Beginn einer liebesgeschichtein einer post-apokalyptischen Welt.Die 24-jährige Britin Suki Water-house spielt Arlen, die in der texa-nischen Wüste umherirrt, bis sievon Kannibalen gefangen wird,dann aber fliehen kann. In weite-ren rollen sind Jim Carrey („DieMaske“) und Keanu reeves („Ma-trix“) zu sehen. Die Britin Amir-pour (Jahrgang 1980) ist eine vonnur zwei regisseurinnen im vene-zianischen Wettbewerb.

Staatssekretärin Grütters. Foto: dpa

Film über Stefan Zweigsoll Oscar bringen

Wien (dpa) – Österreich setzt seineHoffnung auf einen Auslands-Oscarin den Episodenfilm „Vor der Mor-genröte“. Der Film der deutschenregisseurin Maria Schrader handeltvon den Exiljahren des österrei-chisch-jüdischen Schriftstellers Ste-fan Zweig (1881-1942) in Nord-und Südamerika. Der österreichi-sche Kabarettist Josef Hader spieltdie Hauptrolle. Der Streifen setztesich gegen vier weitere Produktio-nen durch, wie der Fachverbandder Film- und Musikindustrie ges-tern mitteilte. Als Produzent fun-gierte der Deutsche Stefan Arndt,für die Kameraarbeit war Wolfgangthaler zuständig.

„Vor der Morgenröte“ treffe vordem „Hintergrund einer durch denNationalsozialismus zerrüttetenWelt zutiefst aktuelle Aussagenzum thema Flucht“, hieß es in derBegründung der Jury. Die letztelebensphase Stefan Zweigs zeige„auf sensible und eindringlicheWeise seine Erfahrungen vonFremd-Sein, Exil und Entwurze-lung“. Deutschland schickt denFilm „toni Erdmann“ von regis-seurin Maren Ade um eine schwie-rige Vater-tochter-Beziehung insOscar-rennen.

Heute beim musikfest

10 uhr, fruchtkasten: Die Orgel– Exponat barocker Klangvorstellun-gen.

12 uhr, musikpavillon amschlossplatz: Stuttgart singt. Vokal-ensemble Ebersbach, Leitung: Wolf-gang Proksch.

13 uhr, stiftskirche: Johann Se-

bastian Bach: Werke für Violine solo(Sonate g-Moll BWV 1001, Partita E-Dur BWV 1006, Partita d-Moll BWV1004). Thomas Zehetmair, Violine.

15 uhr, Hospitalhof: Musikfest-Café. Henning Bey im Gespräch mitThomas Zehetmair.

19 uhr, theaterhaus: Golden

Twenties. Tora Augestad, Gesang,und ihre Band Music for a while.

22 uhr, Wagenhallen am Nord-bahnhof: Born to be mild. Musik vonJohann Sebastian Bach, Philip Glass,Duke Ellington, Cole Porter, Metall-ica, Udo Lindenberg u.a. Hille undMarthe Perl, Viola da Gamba. LeeSantana, E-Gitarre. Solidarität mit Autoren

aus der TürkeiIstanbul (dpa) – Mit der teilnahmeals Ehrengast an der Internationa-len Buchmesse in Istanbul, die indiesem Jahr vom 12. bis zum 20.November stattfindet, will Deutsch-land Solidarität mit türkischen Au-toren zeigen. Man wolle mit demGastlandauftritt in zwei Monatenauch „ein Zeichen der unterstüt-zung setzen für unsere Kolleginnenund Kollegen, die ihren Beruf der-zeit unter schwierigen oder schwie-rigeren Bedingungen ausüben“,sagte gestern die internationaleProjektleiterin der FrankfurterBuchmesse, Bärbel Becker.Sie ma-che etwa die Verhaftung der Auto-rin Asli Erdogan wegen terrorver-dachts „betroffen“, sagte Becker,ohne die Situation politisch bewer-ten zu wollen.