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Müller | Lorenz ∙ Niklas Luhmann

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Julian Müller | Ansgar Lorenz

WILHELM FINK

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© 2016 Wilhelm Fink, Paderborn(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

Internet: www.fink.de

Einbandgestaltung: Ansgar LorenzPrinted in GermanyHerstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

ISBN 978-3-7705-6087-5

Philosophie für EinsteigerNiklas Luhmann

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Julian Müller | Ansgar Lorenz

WILHELM FINK

Philosophie für EinsteigerNiklas Luhmann

Nehmen Sie mich bitte nicht zu ernst und verste-hen Sie mich bitte nicht zu schnell!

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Warum, fragt sich Luhmann am Steuer seines alten orangefarbenen Volvos, passieren eigentlich nicht so viele, sondern so wenige Unfälle, obwohl der Straßenverkehr doch eine hochriskante und im Grunde völlig unberechenbare Angelegenheit ist? Wieso reichen weiße Linien auf As-phalt aus, um Autos tatsächlich daran zu hindern, die Spur zu wechseln? Was muss bereits alles passiert sein, damit prinzipiell jeder ab einem gewissen Alter und nach ein paar lächerlichen Fahrstunden die Erlaubnis erhält, in ein Auto zu steigen und einfach loszufahren? Wie kommt es dazu, dass eine Fußgängerin, die über die Straße will, darauf vertraut, dass ich stehenblei-be, nur weil die Ampel rot ist? Die Luhmann’sche Theorie steht im Verdacht, groß, abstrakt und unverständlich zu sein, dabei geht es ihr doch vorrangig um die Beantwortung ganz kleiner, konkreter und empirischer Fragen. Als Philosophen würde sich Luhmann selbst daher auch gar nicht bezeichnen, sondern etwas bescheidener als Soziologen. Luhmann ist interessiert an und fasziniert von der sozialen Realität. Das ist es, was ihn und seine Soziologie antreibt.

Die Unwahrscheinlichkeit des NormalenEs gibt manche, die behaupten, dass philosophische Fragen in der Neuzeit nur noch aus dem Unbehagen, nicht mehr jedoch aus dem Erstaunen erwachsen. Diese Behauptung ist tatsäch-lich nur schwer von der Hand zu weisen. Wer staunt, dem wird schnell Naivität und Unreife unterstellt und mit einer gewissen Skepsis begegnet. Gerade von philosophischen Denkern aber wird ein Höchstmaß an Abgeklärtheit und Unerschütterlichkeit erwartet. Nun gibt es in der Philosophie allerdings auch Gegenbeispiele. Eines davon ist sicherlich Niklas Luhmann. Sein Denken ist ein staunendes Denken, das jedoch niemals naiv, kindlich oder weltfremd ist, sondern eher gefasst, erwachsen und nüchtern. Das Staunen Luhmanns gilt nicht dem Hin-terweltlerischen, sondern ausschließlich dem Bestehenden. Es ist ein großes Staunen über die Wirklichkeit, von dem letztlich all seine Texte getragen und all seine Fragen motiviert sind.

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Das selbsterklärte Ziel seiner Arbeit mag auf den ersten Blick banal wirken, es ist aber alles andere als banal: Eine Theorie zu entwerfen, der es gelingt, das Normale als etwas Unwahr-scheinliches zu beschreiben. Die erste und wichtigste methodische Anweisung Luhmanns ist es nämlich, sich über das Normale zu wundern. Wer diese Anweisung befolgt, der wird statt wie üblich nur auf Abweichungen und Außergewöhnliches auf einmal auf das Normale und Gewöhnliche achten. Vieles von dem, was man sonst einfach so hingenommen hat, wird plötz-lich erklärungsbedürftig. Beim Staunen allein darf es natürlich nicht bleiben. Damit man dann auch zu gehaltvollen soziologischen Beschreibungen und Erklärungen gelangt, bekommt man von Luhmann ein reiches Instrumentarium an Begriffen und Unterscheidungen mit an die Hand.

Ich denke, eine Theorie kann im Grunde zwei verschiedene Wege einschlagen. Der eine Weg setzt eine Ordnung als gegeben voraus und problematisiert deren Defekte. Die klassischen Titel dafür waren Perfektion und Korruption. In der vollen Perfektion kulminieren dann Natur und Moral, Sein und Sollen, und als Problem empfi ndet man entsprechend die Imperfektion der Perfektion dieser Welt. Man fragt dann eben nicht nach den Gründen für konformes, sondern nach den Gründen für abweichendes Verhalten. Einen anderen Weg schlägt man ein, wenn man gerade das Normale für unwahrscheinlich hält. Will man sich auf diesen, aus meiner Sicht radikaleren Theorietyp einlassen, stellt das hohe Anforderungen an die Konstruktion der Theorie. Sie muss das Normale, alltäglich Erfahrbare ins Unwahrscheinliche aufl ösen und dann begreifl ich machen, dass es trotzdem mit hinreichender Regelmäßigkeit zustandekommt. Die Welt, wie sie ist und bekannt ist, muss von der Aussageebene des Unwahrscheinlichen her rekonstruiert werden.

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Es gibt keine BiographieNiklas Luhmann ist kein Freund von Biographien. Über sein eigenes Leben Auskunft zu geben, ist ihm spürbar unangenehm, wie es ihm auch ein Rätsel ist, warum sich überhaupt jemand für den Menschen hinter der Theorie interessieren sollte. Wenn es nach Luhmann selbst ginge, wäre in seinem Fall vollkommen ausreichend, was Martin Heidegger einmal über das Leben des Aristoteles gesagt hat: „Er wurde geboren, arbeitete und starb.“ Mehr biographische Angaben sind im Grunde nicht notwendig und mehr biographische Angaben geraten fast unweigerlich zur Fiktion. Heroische Lebensentscheidungen werden dann meist überbewertet, biographi-sche Zufälle dagegen ausgeblendet, und so entsteht in Biographien in der Regel ein Bild von Zwangsläufi gkeit und Kohärenz, wo im echten Leben doch viel mehr Ungeplantheit und Kon-tingenz im Spiel war. Biographien stellen für Luhmann daher keine wirklich verlässlichen Quellen dar. Sie zwingen das Leben in eine narrative Form, die das Leben so nie hatte. Dass zu den Lieblingsromanen Luhmanns ausgerechnet der „Tristram Shandy“ zählt, Laurence Sternes bissige Parodie eines autobiographischen Textes, ist vielleicht kein Wunder.

Die Biographie Luhmanns soll daher gar nicht erst als kitschige Heldengeschichte erzählt werden – das wäre ja auch gar nicht im Sinne des Helden. Eher soll sie als eine Geschichte voller Zufälle und merkwürdiger Abzweigungen erzählt werden. Denn dass wir das vielleicht anspruchsvollste und ehrgeizigste Theorieprojekt im 20. Jahrhundert ausgerechnet einem ehe-maligen Verwaltungsbeamten verdanken und dass Luhmann heute ganz selbstverständlich als Klassiker der Soziologie gilt, obwohl er in seinem Leben nicht einmal wirklich Soziologie stu-diert hat, das ist ohne Zufälle gar nicht zu erklären.

Ich glaube nicht an eine Determi-niertheit von Lebensgeschichten. Biographien sind mehr eine Kette von Zufällen, die sich zu etwas organisieren, das dann allmählich weniger beweglich wird.

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Wer ist Niklas Luhmann?Niklas Luhmann wird am 8. Dezember 1927 in Lüneburg geboren. Sein Vater betreibt dort eine kleine Brauerei und Mälzerei, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Besitz der Familie ist. Die Mutter stammte aus einer Schweizer Hoteliersfamilie aus dem Berner Oberland. Es sind gehobe-ne bürgerliche Verhältnisse, in denen Luhmann aufwächst, jedoch ohne irgendeinen Bezug zur universitären Welt. Weder in der Familie der Mutter noch in der des Vaters gibt es Akademiker.Sein Elternhaus beschreibt Luhmann durch ein hohes Maß an Liberalität und Toleranz ge-kennzeichnet. Die Eltern achten sehr darauf, dass ihre Kinder frei ihren jeweiligen Interessen nachgehen können. Niklas, der älteste von drei Brüdern, ist ein begeisterter und insbesondere an historischen Fragen interessierter Leser, dem die elterliche Bibliothek schon bald nicht mehr genügt. So gerne Luhmann liest und sich mit sich selbst beschäftigt, so ungern geht er zur Schule. Sie ist ihm eher eine lästige Pfl icht, und doch fällt sie ihm so leicht, dass er die vierte Schulklasse überspringen und bereits als Neunjähriger aufs Gymnasium, das Lüneburger Johanneum, wechseln darf.

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Die Erlebnisse des KriegesDie Tatsache, eine Schulklasse übersprungen zu haben, führt nun allerdings auch dazu, dass Luhmann bereits als Fünfzehnjähriger zusammen mit seinen allesamt älteren Klassenkamera-den zum Kriegsdienst eingezogen wird. Nach einer Ausbildung zum Luftwaffenhelfer ab 1943 erlebt Luhmann die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs noch unmittelbar als Soldat. Im Frühjahr 1945 wird er zur Wehrmacht einberufen und in Heilbronn noch für kurze Zeit im Häuserkampf eingesetzt. Die Situation der Wehrmacht ist aussichtslos und dem jungen Sol-daten Luhmann ist zu diesem Zeitpunkt bereits bewusst, an einem Krieg teilzunehmen, der schon verloren ist. Mit dem Kriegsende gerät Luhmann dann in amerikanische Gefangenschaft. Die Frage, warum er in seinen Texten stets auf Kontingenz hinweise, also auf die Möglichkeit, dass alles immer auch ganz anders sein könnte, beantwortet Luhmann später einmal mit dem Hinweis auf die eigenen Erlebnisse und die Schrecken des Krieges.

Exkurs: Skeptische Generation

Der Begriff „Skeptische Generation“ geht auf den Soziologen Helmut Schelsky (1912-1984) zurück. Er fasste darunter jene Kohorte der um das Jahr 1930 Geborenen, also all jener, die den Krieg als Kinder zwar hautnah miterlebt haben, aber meist noch zu jung waren, um selbst eingezogen zu werden. Eine gewisse Skepsis und Distanziertheit, ein starkes Misstrauen gegenüber Ideologien, vor allem aber eine ganz und gar unpathetische und pragmatische Haltung zur Welt macht Schelsky als die charakteristischen Merkmale dieser Generation aus, die maßgeblich und in den unterschiedlichsten Positionen das Geschehen der Bundesrepublik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mitbestimmt haben. Auch Luhmann kann zur skeptischen Generation gezählt werden. Nüchternheit und Distanziertheit, Pragmatismus und die Ablehnung von Pathos sowie von Ideologie – all das sind Eigenschaften, die auch ihn kennzeichnen.

Exkurs: Skeptische Generation

Unsere Gymnasialklasse ist 1945 noch zur Wehrmacht einberu-fen worden. Ich stand mit meinem Banknachbarn an einer Brücke, zwei Panzerfäuste in vier Händen. Dann machte es Zisch, ich drehte mich um, da war kein Freund und keine Leiche, da war nichts. Seit-dem denke ich Kontingenz.

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Wunsch nach OrdnungWeil er noch minderjährig ist, wird Luhmann im September 1945 vorzeitig aus der Gefangen-schaft entlassen und entschließt sich, nach Lüneburg zurückzukehren, von dem er allerdings nicht einmal weiß, ob es mittlerweile in der sowjetischen oder in der englischen Besatzungs-zone liegt. Wieder im Elternhaus angekommen muss er sich bald überlegen, wie es berufl ich weitergehen soll. Die väterliche Brauerei zu übernehmen, kommt für ihn nicht in Frage. Statt-dessen entschließt er sich, Rechtswissenschaften zu studieren und erhält einen Studienplatz in Freiburg. Seine Studienwahl begründet Luhmann in erster Linie durch die Erlebnisse des Krieges und der Gefangenschaft. Im Recht sieht er eine Möglichkeit, Ordnung in das Chaos zu bringen, das um ihn herum herrscht. Luhmann ist ein engagierter, aber keineswegs enthusias-tischer Student der Rechtswissenschaften. Am meisten fasziniert ihn das Römische Recht, vor allem das Geschick seiner Konstruktion. Und doch hält sich Luhmann, auch aus fi nanziellen Gründen, nicht lange mit dem Studium auf. Bereits 1949, also nach drei Jahren Jurastudium, legt er das Erste Staatsexamen ab.

Ich lese Hölderlin.

Nach einer Referendariatszeit in Lüneburg und dem juristischen Staatsexamen schlägt Luh-mann zunächst eine klassische Juristenlaufbahn ein, mit dem Ziel, selbstständiger Rechts-anwalt zu werden. Dieser Wunsch zerschlägt sich aber schon bald und so wechselt Luhmann stattdessen in die öffentliche Verwaltung, zunächst als Assistent des Präsidenten des Oberver-waltungsgerichts in Lüneburg, später als Referent im Niedersächsischen Kultusministerium. Trotz einer Beförderung zum Oberregierungsrat gerät Luhmanns Karriere als Verwaltungsbe-amter ins Stocken. Weil er sich nicht an eine politische Partei binden will, vor allem aber auch nicht das Leben eines klassischen Verwaltungsbeamten lebt, werden weitere Beförderungen blockiert. Statt sich im Landkreis bei einem Feuerwehrfest blicken zu lassen, geht Luhmann vermehrt intellektuellen Interessen nach. „Ich lese Hölderlin“, ist die ebenso kokette wie la-pidare Antwort auf die Frage, was er denn in seiner Freizeit so treibe.

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