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12 Süddeutsche Zeitung Magazin Süddeutsche Zeitung Magazin 13 Der unfassbare Daniel Barenboim ist Künstler und Machtmensch, Israeli und Palästinenser, Dirigent und Pianist. Für seine drei Orchester ist er ständig auf Reisen, aber nie im Stress. Vor seinem 70. Geburtstag haben wir ihn ein halbes Jahr quer durch Europa begleitet. Porträt eines in sich ruhenden Rastlosen »Zigaretten sind banal, Zigarren Kultur«, findet Baren- boim. Er raucht beim Frühstück, in der Probenpause, beim Abendessen. Wenigstens eine Zigarre hat er immer in der Brusttasche seines Jacketts stecken. VON TOBIAS HABERL | FOTOS: JONAS UNGER

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Der Unfassbare: Daniel Barenboim lässt sich vom Redakteur Tobias Haberl und dem Fotografen Jonas Unger begleiten.

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Der unfassbare

Daniel Barenboim ist Künstler und Machtmensch, Israeli und Palästinenser, Dirigent und Pianist.

Für seine drei Orchester ist er ständig auf Reisen, aber nie im Stress. Vor seinem 70. Geburtstag haben

wir ihn ein halbes Jahr quer durch Europa begleitet. Porträt eines in sich ruhenden Rastlosen

»Zigaretten sind banal, Zigarren

Kultur«, findet Baren-boim. Er raucht beim

Frühstück, in der Probenpause, beim

Abend essen. Wenigstens eine Zigarre hat er immer in der Brusttasche seines

Jacketts stecken.

V o n t o b i a s h a b e r l | F o t o s : j o n a s U n g e r

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Der Adel dreht an seinen Siegelringen, Damen fä-cheln sich Frischluft ins Gesicht, irgendwo spielt Musik – bei den Salzburger Festspielen ist alles wie immer, nur dieser Junge fällt aus der Reihe: Er trägt eine kurze weiße Hose und Klaviernoten unterm Arm. Neben ihm stehen die Eltern, zwei Musikleh-rer aus Buenos Aires, die viel Geld bezahlt haben, damit ihr Sohn dem größten Dirigenten seiner Zeit vorspielen kann. Die nächste Stunde, das ahnt er, könnte den Rest seines Lebens bestimmen, könnte es besonders und einzigartig machen. Dass er heute diesem Genie der klassischen Musik zei-gen darf, was er kann, ist beides: Belohnung und Bürde. Trotzdem ist er nicht angespannt, eher hei-ter, als würde er sich darauf freuen.

Als der Maestro nickt, legt der Bub die Hände auf die Tasten, atmet ein, atmet aus, beginnt. Er spielt Mozart, Bach, Beethoven, zum Schluss die zweite Klaviersonate von Prokofjew. Ein vertracktes Stück. Der Dirigent ist beeindruckt, zeigt es aber nicht. Am Ende wechselt er ein paar Sätze mit den Eltern, auf Englisch, der Junge versteht kein Wort. Ein paar Tage später reisen die drei ab, im Gepäck ein Empfehlungsschreiben, das mit dem Satz beginnt: »Der elfjährige Barenboim ist ein Phä-nomen.« Vier Monate später stirbt Wilhelm Furt-wängler. Der Junge aber macht sich auf in ein Leben, das ihn zum Star und Jahrhundertmusiker machen, aber neben allem Triumph auch Verlust und Schmerz bereithalten wird.

WIEn, 23 . MaI 2012, 10 UhR MORGEnS

Daniel Barenboim lehnt an der Außenmauer des Wiener Musikvereins. Er sieht aus wie einer der Männer, die in Südfrankreich Boule spielen, leichtes Leinen sakko, unrasiert, erste Altersflecken, und hat eindeutig zu wenig Schlaf abbekommen. »Ein Film«, sagt er, »nach Mitternacht, mit Romy Schnei-der und Michel Piccoli«, der Titel fällt ihm nicht ein. Er wohnt, wie immer, wenn er in Wien ist, im »Im-perial«. Wagner hat hier gewohnt, Rilke gefrüh-stückt, ein geeigneter Ort für einen wie ihn. Und ein praktischer, am Morgen muss er nur aus der Hinter-tür stolpern; der Musikverein, eines der traditions-reichsten Konzerthäuser der Welt, liegt direkt gegen-über. Gerade treffen die ersten Musiker ein, zu Fuß, mit dem Rad, das Cello auf den Rücken geschnallt.

Daniel Barenboim hat in seinem Leben weit mehr als tausend Konzerte dirigiert, aber heute ist

selbst für ihn ein bedeutender Tag: Am Abend wird er mit den Wiener Philharmonikern zum ers-ten Mal in ihrer Geschichte das Schönberg-Violin-konzert aufführen – neben ihm, schräg versetzt, wird der Sologeiger des Abends stehen, Michael Barenboim, 27 Jahre alt, sein Sohn, aber jetzt wird erst mal geraucht. Er zieht eine Havanna aus der Brusttasche, schneidet das Kopfende mit einem Cutter auf, sengt sie an, zehn, zwanzig Sekunden lang, mus tert prüfend die Glut, zieht und nickt – ja, das Monstrum brennt.

Es ist 10.30 Uhr, bis zum Konzert sind es noch zehn Stunden, also hat er ein paar Termine auf den Tag verteilt: Frühstück mit dem Besetzungschef der Mailänder Scala, anschließend ein Vorsingen, drüben in der Staatsoper, die beiden suchen gera-de junge Sänger für eine neue Così fan tutte; da-nach eine letzte Probe mit dem Orchester und seinem Sohn; es geht um Details, Schlüsselstellen, mal ein anderer Fingersatz bei den Celli, ein ver-zögertes Atemholen der Holzbläser. Selbst in der Generalprobe lässt er die Stücke nie ganz durch-spielen, das hat er von Furtwängler. Und dann ist da noch diese Frau mit den Prada-Schuhen vom ZDF, die ihn seit Tagen belagert. Gut, im Novem-ber wird er 70, da drehen, schreiben, produzieren sie alle was über ihn, trotzdem muss er noch schla-fen, ein, zwei Stunden; macht er immer vor dem Konzert. »Danach bin ich frisch«, sagt er. Noch frischer sei er nur nach dem Konzert, »wenn die Energie der Musik in meinen Körper geflossen ist«. Und deshalb kann er auch nicht verstehen, warum alle behaupten, er mache zu viel. Die Financial Times hat ihn mal einen »pathological overachiever«, genannt, einen krankhaften Alles-macher. »Stimmt nicht«, sagt er. Was ihn anstren-ge, seien Termine und Sitzungen. »Dirigieren, Klavierspielen, eine Partitur lesen, das strengt mich nicht an, es macht mich glücklich.«

Und weil Barenboim gern glücklich ist – er ist besessen, aber kein Neurotiker und schon gar kei-ner, der leiden muss, um zu empfinden –, weil er also gern glücklich ist, macht er Musik sooft und wo immer er dazu kommt. Mit der Staatskapelle Berlin und dem Orchester der Mailänder Scala lei-tet er gleich zwei Orchester von Weltrang; ein drit-tes, das West-Eastern Divan Orchestra, hat er 1999 zusammen mit dem Literaturwissenschaftler Edward Said gegründet; die 92 Mitglieder, Juden, Moslems und Christen aus dem Nahen Osten, viele davon aus Israel und Palästina, sind seine zweite

D

Daniel Barenboim wird 1942 in buenos aires gebo-ren und bald als Wunderkind gefeiert. Mit sieben spielt er

sein erstes Konzert, drei jahre später zieht er mit seinen eltern nach israel, von wo

aus er eine Weltkarriere als Pianist und Dirigent startet. barenboim hat die argen-tinische, spanische, israe-

lische und palästinensische staatsbürgerschaft, seit jahr-zehnten setzt er sich für einen Dialog im nahost-Konflikt ein.

Der Kritiker joachim Kaiser bezeichnet ihn als »das letzte genie der klassischen Mu-

sik«. er lebt in berlin-Dahlem.

Zu Ehren des Papstes dirigiert

Daniel Barenboim sein West-Eastern

Divan Orchestra in Castel Gandolfo.

Für ihn: ein normales Konzert.

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Der Dirigent im Garten seiner Berliner Villa aus dem Jahr 1929: Er sitzt trotzdem lieber am Klavier als neben dem Pool.

Oben: barenboim in der Charterma-schine von Rom nach Paris. er sitzt immer am Fenster, erste reihe links.

Unten links: ein geiger des Divan-orchesters spielt sich ein. eine stun-de später wird das open-air-Konzert im schlossgarten von Versailles wegen Unwetters abgesagt. 9000 gäste bekommen ihr geld zurück.

Unten rechts: barenboim kniet selten. Vor dem Humidor macht er eine ausnahme.

Familie, seine Mini-Zwei-Staaten-Lösung, sein Be-weis, dass es geht, wenn man will.

Dazu kommen Gastdirigate, Solo-Auftritte, Fes-tivals, eine Stiftung für seine Nahost-Projekte, zwei Musikkindergärten in Berlin und Ramallah und seine Barenboim-Akademie, eine Art Musikhoch-schule mit Universalbildungsanspruch, die gerade in Berlin gebaut wird, entworfen von seinem Freund, dem berühmten Architekten Frank Gehry. »Das Unmögliche ist leichter als das Schwierige«, sagt Barenboim, »denn an das Unmögliche sind keine Erwartungen geknüpft.« Was soll man von so einem halten?

Mann OhnE hEIMat – Mann OhnE MIttE?

Daniel Barenboim ist Spanier, Argentinier und –als einziger Mensch auf der Welt – Israeli und Pa-lästinenser. Er hat vier Staatsbürgerschaften, die palästinensische wurde ihm 2007 nach dem Ab-schiedskonzert für den UN-Generalsekretär Kofi Annan vom palästinensischen Botschafter angebo-ten. Mit seiner Frau, der russischen Pianistin Jelena Baschkirowa, spricht er Englisch, mit seinen Söh-nen, die in Paris aufgewachsen sind, Französisch. Insgesamt beherrscht er sechs Sprachen fließend, ein paar andere holprig. Er hat in Buenos Aires, Tel Aviv, London, Paris, Chicago und Berlin gelebt, das Orchestre de Paris 14, das Chicago Symphony Orchestra 15 Jahre geleitet. Seit mehr als 60 Jahren rast er um den Erdball, um den Menschen Musik zu bringen: Musik, um zu vergessen. Musik, um sich zu erinnern. Musik, um zu verstehen.

»Daniel Barenboim ist das letzte Genie der klas-sischen Musik«, sagt der Kritiker Joachim Kaiser. »Er ist der einzige Weltstar, den Berlin hat«, sagt Klaus Wowereit. Und wirklich, lässt man sich ein auf die Art, wie er Musik macht, über sie spricht und in ihr lebt, schaut man zu, wie er mal still und bescheiden, ganz Diener der Musik, und zwei Se-kunden später streng und unnachgiebig sein kann, dann spürt man, dass die schon recht hatten, da-mals in Argentinien, die ganz sicher waren, so einer kommt nur alle paar Jahrzehnte auf die Welt, der kleine Barenboim ist ein Wunderkind.

Am 15. November wird der Bub mit der kurzen weißen Hose 70 Jahre alt. Vielleicht war er deswe-gen bereit, sich diesmal nicht nur zuhören, son-dern zuschauen zu lassen, sechs Monate lang, im Alltag, im Flugzeug, in seiner Garderobe, vor und nach dem Konzert, beim Nachdenklich-, Stolz- und Wütendwerden. Er bestand auf einem Vorge-spräch und ein paar Tagen Bedenkzeit, dann wil-ligte er ein. Am Ende dieser sechs Monate wird er fünf davon nicht in seinem Bett in Berlin geschla-fen und Konzerte in Wien, Dubrovnik, London, Prag gegeben haben, in München, Mailand, Berlin, Salzburg, Sevilla, Genf, Dresden und Moskau; nur

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Asien und Amerika macht er nicht mehr so oft, sein Zugeständnis ans Alter. »Er kann auch mal nichts machen«, sagt sein Sohn Michael, »er macht es nur nie.« »Früher waren wir manchmal zusam-men im Kino«, sagt sein anderer Sohn David, »ich habe nie erlebt, dass er nicht nach zehn Minuten eingeschlafen ist.« Es gibt einen Film über ihn aus dem Jahr 2002. Titel: Multiple Identities. Daniel Ba-renboim ist alles auf einmal: Dirigent und Pianist, Geschäftsmann, Netzwerker, Politiker und Pädago-ge, aber auch Rebell, Machtmensch, Schönheits-sucher, Charmeur, Kettenraucher und Krimifan.

WIEn, 23 . MaI 2012, 22 .30 UhR

»Das kann man schlechter spielen«, jubelt Daniel Barenboim, lässt sich von seiner Frau den Frack abnehmen und wirft sich aufs Sofa in seiner Gar-derobe. Er sieht aus wie ein römischer Kaiser, halb liegend, ein Arm auf der Lehne. Seine wenigen wei-ßen Haare kleben ihm am Schädel, sein Gesicht ist gerötet, die Augen geweitet vom Adrenalin, auch vom Stolz. Draußen klatschen sie immer noch. Sechsmal haben sie seinen Sohn und ihn auf die Bühne zurückgerufen. Die beiden drücken sich. Eine herzliche, keine sentimentale Umarmung.

Man ahnt, der Vater freut sich, er freut sich sehr, aber er hat auch erwartet, dass sein Sohn dieses Konzert genau so spielt, nämlich perfekt. Es ist das erste Mal, dass man spürt, wie fordernd dieser Mann sein kann. Dass es auch ein Kreuz ist mit der Begabung und dieser gespenstischen Schnelligkeit im Kopf, weil das Gegenüber fast immer lang-samer, behäbiger, schlechter ist. Heute hat es funk-tioniert. Er ist begeistert, von seinem Sohn, und vom Orchester: »Die haben das Stück in vier Stunden nicht nur kapiert, sondern absorbiert«, schwärmt er, »das ist ein Unterschied.«

Er sitzt in Hosenträgern da, sein weißes Hemd ist verschwitzt. »D. B.« steht darauf, diskret auf halber Höhe eingenäht. »Hab’ ich 20 Stück davon«, sagt er, »Geschenk von einem Schneider in Mailand.« Wer denkt, der Auftritt sei vorbei, nur weil der Dirigent die Bühne verlassen hat, wird jetzt Zeuge eines Schauspiels, einer Prozession, von der die normalen Konzertbesucher nichts mitbekommen. Noch ist die Türe geschlossen, noch ist Barenboim allein mit seiner Frau und seiner Referentin, seinem Sohn und dessen Frau, auch sie Konzert pianistin aus Russland. Noch scrollt er sich durch seine Kurznachrichten. Er macht das immer, in jeder Pause, nach jedem Konzert. Blackberry raus, SMS lesen, zurück schreibt er selten. Heute hat der Regisseur Claus Guth ge-

schrieben. Man müsse sich bald mal treffen, es sei nicht mehr lang hin zur Lohengrin-Premiere in Mailand. Barenboim bittet sei-ne Referentin, einen Termin zu machen, steckt sich ein paar Trauben in den Mund. Es kann jetzt losgehen. Er ist bereit, nickt, jemand macht die Tür auf, und es drängen herein: die Intendanten des Musikvereins und der Wiener Staats oper, der Klassik-Agent Jasper Parrot aus London, der öster-reichische Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel, Arnold Schönbergs Tochter, erst die Wich-tigen und Freunde, dann 40, 50 Fans, die erst Ruhe geben, wenn sie den Meister ge-lobt, berührt und daran erinnert haben, wo man sich schon mal getroffen habe, ob er sich denn erinnern könne?

Barenboim arbeitet einen nach dem an-deren ab, schüttelt Hände, gibt Küsschen, kritzelt seinen Namen auf Programmhefte, es dauert eine Stunde, bis er alle durch hat. Er springt von Hebräisch zu Italienisch, vom Spanischen ins Englische und weiter ins Deutsche. Man könnte jetzt auch Druck verspüren, so im Mittelpunkt, drum herum Menschen aus der ganzen Welt, die was Geistreiches oder Witziges hören wollen. Er wirkt aber nicht gestresst. Es ist seine Belohnung. Sein zweiter Auftritt. Seine Au-dienz. Schließlich haben ihn vorhin alle nur von hinten gesehen. Immer wieder tupft er sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn, vor ihm liegt das frische Hemd, gestreift, von Ferragamo.

»Sie hatten wenigstens einen Sitzplatz«, sagt er zu einer älteren Dame. Sie lacht, ist dankbar, glücklich – er hat mit ihr gespro-chen. Es ist sein Standardwitz. Er macht ihn regelmäßig. Genau wie den mit seinen Initialen: »D. B.«, sagt er dann, »wie Deut-sche Bahn, ich könnte als Schaffner ar-beiten.« Er hat ein riesiges Repertoire sol-cher Sprüche. Geht mal einer daneben, lachen trotzdem alle.

Man muss ihm nur zuschauen und weiß: Der Mann hat auf der Bühne alles gegeben, aber noch mehr zurückbekom-men. Plötzlich klingelt sein Handy. Ein neutraler Klingelton, keine Melodie. Es ist der Komponist Pierre Boulez aus Paris. Da-für zieht er sich zurück. Seine Stimme wird leiser. Als er auflegt, ist es weit nach 23 Uhr. Die Meute ist weg, der Konzertsaal dunkel, das Restaurant reserviert. Familie Baren-boim spaziert hinaus in die Frühlings-nacht. »Lust auf Oper am Wochenende?«, fragt er seine Schwiegertochter beim Raus-gehen, in Gedanken schon bei seinem nächsten Verdi-Abend mit Plácido Domin-go. »In welcher Stadt?«, fragt sie zurück.

DaS WUnDERKInD – taGSüBER FUSSBall, aBEnDS

KlaVIER

Daniel Barenboim macht keinen Sport. Außer Dirigieren und ab und zu Pilates, aber das zählt nicht, findet er. Woher also nimmt er seine Energie? Wie schafft er es, in Bayreuth sechs Stunden lang Wagner zu dirigieren, ins Auto zu steigen und zurück nach Berlin zu fahren? Was hat er für ein Geheimnis, dass er unter heftigstem Druck vollkommene Gelassenheit, nein, eigent-lich selbstvergessenes Glück ausstrahlt? »Hat mit meiner Kindheit zu tun«, sagt er. »Ich habe früh ein Doppelleben geführt, tagsüber Fußball, abends Klavier.« Er spricht gern von früher. Nicht wehmütig, eher analytisch. Seine Kindheit ist für ihn der logische Ausgangspunkt für das Leben, das er heute führt, auch für die Art, wie er Musik macht – natürlich und unange-strengt. Es sieht immer mühelos aus, wenn er Klavier spielt oder dirigiert. Ein Kritiker hat mal geschrieben: Wenn Barenboim Klavier spielt, riecht es nach Wohnzimmer und großer, weiter Welt.

Daniel Barenboim wächst im Buenos Aires der Vierzigerjahre auf. Seine Groß-eltern, russische Juden, waren Anfang des 20. Jahrhunderts nach Argentinien aus-gewandert. Antisemitismus gab es nicht, dafür jüdisches Leben, herzhaftes Essen, elegante Menschen, Salon- und Hauskon-zerte; jeden Freitagabend spielt er Klavier bei den Rosenthals, einer österreichisch-jüdischen Intellektuellenfamilie, danach gibt es Apfelstrudel mit Vanillesauce. Noch heute ist Tango neben Klassik die einzige Musik, die er ertragen kann.

Seine Eltern sind Klavierlehrer, herz-liche, kluge Leute. »Es hat lange gedauert«, sagt er, »bis ich begriffen habe, dass es auch Menschen gibt, die nicht Klavier spielen.« Er beginnt mit fünf, wird erst von seiner Mutter, dann von seinem Vater unterrichtet, bis heute hatte er keinen an-deren Lehrer. »Mein Vater ließ mich im-mer nur so lange üben, wie meine Kon-zentration reichte«, erzählt Barenboim. Eine, höchs tens zwei Stunden am Tag. Al-les andere sei mechanisches Wiederholen und damit das Gegenteil von Musik. »Nur am Sonntag durfte ich spielen, so lange und was ich wollte. Ein großartiges Kon-zept«, findet er. Sein Feind ist noch heute das sture Üben, das geistlose Draufschaf-fen von irgendwas. »Qualität kommt von Qual«, den Spruch hat er mal in einem Film gehört. »Riesiger Unsinn«, faucht er,

Es kann auch ein

Kreuz sein mit der Bega­

bung und dieser gespens­

tischen Schnelligkeit

im Kopf, weil das

Gegenüber fast immer langsamer, behäbiger,

schlechter ist

So ein Leben hinterlässt Spuren: barenboims haus in berlin-Dahlem, vor allem seine raucherecke, ist voll mit Kunst und erinnerungen – antike landkarten von Palästina, radierungen von goya, auf dem Kaminsims liegt ein geschenk des emirs von Katar, ein mit edelsteinen besetzter Dirigierstab.

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»Qualität kommt von Denken.« Er meint es nicht nur auf Musik bezogen.

Nie habe er Tonleitern oder Akkordzerlegungen geübt, immer nur Stücke, Mozart, Liszt, Beethoven. Und geboxt hat er, sogar im Verein. »Mein Vater hat alles dafür getan, damit ich mir ja nicht einbil-de, meine Hände seien was Besonderes.« Mit sie-ben gibt er sein erstes Konzert. Das vergilbte Pro-grammheft steht noch heute gerahmt im Musik-zimmer seiner Berliner Villa. Mit zehn debütiert er bei den Salzburger Festspielen, mit zwölf kommt er in die Dirigentenklasse – seine Klassenkame-raden sind weit über 20 –, mit 13 wird er jüngster Meisterkurs-Schüler aller Zeiten an der Accademia di Santa Cecilia in Rom. 1954, kurz nach der Be-gegnung in Salzburg, lädt Furtwängler Barenboim nach Berlin ein, er soll als Solist mit den Philhar-monikern auftreten, aber sein Vater lehnt ab. Das Monster Hitler sei erst neun Jahre tot. Es sei noch zu früh für seinen Sohn, um in Deutschland Musik zu machen. »Ich habe ihn verstanden«, sagt Baren-boim heute. Eine unglaubliche Aussage für einen zwölfjährigen Jungen, der die Chance seines Le-bens bekommt – er muss geahnt haben, dass ihn nichts aufhalten kann.

Mit 13 spielt er Artur Rubinstein vor, von dem er in Tel Aviv – wo die Barenboims inzwischen leben – seine erste Zigarre in den Mund gesteckt bekommt. Es ist der Beginn einer rührenden Freundschaft: der alte Rubinstein, das Kind Daniel Barenboim. Es folgen Konzertreisen durch Europa, Amerika, Australien. Ein Genie? »Ich doch nicht«, sagt Barenboim. »Menuhin war ein Genie. Als Ein-stein ihn das erste Mal Geige hat spielen hören, hat er gesagt: Jetzt weiß ich, dass es einen Gott gibt.« Es ist die Bescheidenheit eines Mannes, der begrif-fen hat, dass er noch mehr leuchtet, wenn er seine Strahlkraft gelegentlich dimmt, um sie für die Mit-welt erträglicher zu machen.

DaS SyStEM BaREnBOIM – ORGanISIERtES ChaOS

»Im Grunde bin ich ein unorganisierter Mensch«, sagt Daniel Barenboim. Es ist eine Lüge – aber nur eine halbe: Ja, dieser Mann funktioniert nur, weil es um ihn herum Dutzende Menschen gibt, die sich so mit ihm identifizieren, dass sie ihm ihr halbes Leben opfern. Es gibt ein System Barenboim, ein Netzwerk aus ständig an- und abrufbereiten Mitarbeitern, Re-ferenten und Agenten, die jeden Tag mehrmals mit-einander telefonieren, Termine koordinieren, Flüge buchen, umbuchen, stornieren und mit Journa-listen, Sponsoren, Künstlern, Politikern hin- und hermailen. Er reagiert auf Impulse, sein Stab orga-nisiert das Chaos, das dabei entsteht. »Sie können sich nicht vorstellen, was bei mir jeden Tag rein-kommt«, sagt seine Staatsopern-Referentin: Schirm-herrschaften, Interviewanfragen, Charity-Einla-

dungen, von Hand geschriebene Briefe, in denen Künstler um Termine und Empfehlungsschreiben bitten; neulich fragte einer, ob Maestro nicht seine Miete übernehmen könne. »Und Preise«, sagt sie, »wie viele Preise er kriegen soll.« Er lehnt fast alle ab. Keine Zeit. Gerade erst hat er den Klassik ECHO für sein Lebenswerk bekommen. Am Festakt im Konzerthaus nahm er nicht teil, lieber dirigierte er ein paar hundert Meter weiter Die Walküre.

Daniel Barenboim hat keine E-Mail-Adresse, dafür einen Chauffeur, einen Vorstand für seine Stiftung, eine Sekretärin in Mailand (Scala), eine Referentin in Berlin (Staatsoper) und eine zweite, die wenig anderes tut, als zwischen Daniel Baren-boim, Anna Netrebko und Rolando Villazón hin- und herzufliegen. Sie kümmert sich um alle drei und noch ein paar andere. Im Gegensatz zu Baren-boim merkt man ihr den Stress an. »Manchmal komme ich auf 120 Stunden in der Woche«, sagt sie. Sei aber ein Klacks im Vergleich zur Beloh-nung: Zeit mit solchen Ausnahmemenschen ver-bringen zu dürfen.

Trotzdem kann Barenboim sein Wahnsinnspro-gramm nur abspulen, weil er bis zur Schmerzgren-ze diszipliniert und effizient ist. In fast jedem Arti-kel über ihn steht: Barenboim macht alles gleich-zeitig. Das Gegenteil ist richtig: Sein Leben ist eine Aneinanderreihung von Beschäftigungen, die er nacheinander, nie nebeneinander, in gespens-tischer Konzentration ausführt: Wenn er raucht, raucht er. Wenn er schläft, schläft er, egal wann, egal wo; er hat das trainiert, Einschlafen, Aufwa-chen, alles auf Knopfdruck, er braucht seine acht Stunden. Wenn er spricht, wählt er jedes Wort be-wusst. Wenn er isst, nimmt er sich Zeit, er kaut auffallend langsam und lange. Wenn er spazieren geht, geht er spazieren, nie würde er zwischen-durch auf sein Handy schauen. Egal, was er tut, er vertieft sich darin, lässt sich nicht unterbrechen, bringt es zu Ende und wendet sich der nächsten Sache zu. Mühelos geht er in die Konzentration hinein und wieder heraus. Es kommt einem vor, als spaziere er durch ein Leben ohne Widerstände und Ängste. Wäre er nicht Musiker, Daniel Barenboim müsste Zeitmanagement-Seminare geben.

Es macht fast ein bisschen Angst, ihn zwei Stun-den vor einem Auftritt, im Sommeranzug, den weißen Hut auf dem Kopf, durch eine Fußgänger-zone flanieren zu sehen, oder dabei zu sein, wie er 20 Minuten vor Konzertbeginn mit seiner Agentin Termine für 2013 durchgeht, während draußen 2000 Menschen warten, die viel Geld für diesen Abend bezahlt haben. Das Signal ist der Espresso. Wenn der runtergestürzt ist, beginnt in seinem Kopf etwas Neues. Dann schaltet er um in den Konzertmodus. Er steht dann ruckartig auf und geht ohne ein weiteres Wort auf die Bühne, mit schnellen, kurzen Schritten, verneigt sich, setzt sich an den Flügel, spielt Schubert und lässt das Andan-tino der A-Dur-Sonate – als hätte er sich stunden-

Barenboim hat keine E­Mail­

Adresse, dafür einen Chauffeur,

einen Vorstand für seine Stiftung,

eine Sekretärin in Mailand und

zwei äußerst belastbare

Referentinnen in Berlin

Von einem Weltstar als Vater muss man sich ja irgendwie abgrenzen: Der Geiger Michael Ba-renboim raucht Pfeife, sein älterer Bruder, der Hiphop-Produzent David Barenboim, Zigaretten.

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Daniel Barenboim interessiert sich nur für zwei Arten von Musikern: die besten und die, die es werden könnten. Die anderen nimmt er nicht mal wahr. Es müssen schon hundertzehn Prozent sein. Deswegen ist er auch kein Komponist geworden. Er hat es versucht und wieder gelassen: »Meine Sa-chen waren nicht originell«, sagt er, »ich war nicht begabt.« Intelligenz und Ehrgeiz kön-nen sich auch als Verzicht tarnen.

ROM, 11 . JUlI 2012, 18 UhR

Die ersten Gäste kommen durch das stei-nerne Portal in den Hof des Apostolischen Palastes, der italienische Staatspräsident Giorgio Napolitano, das Ehepaar Oetker, Adel, Diplomaten, Industrielle, ein paar haben ihre Kinder mitgebracht, Töchter in hohen Schuhen, streng gescheitelte Söhne. Das Protokoll sieht es nicht vor, aber könnte ja sein, dass er einem von ihnen die Hand gibt. Es ist schwül, 32 Grad. Lautlos schiebt sich ein weißes Stoffsegel über den Hof. Die Gäste wedeln sich Luft zu, die Frauen mit Fächern, die Männer mit zu-sammengerollten Programmheften. Es ist merkwürdig still. Plötzlich taucht er auf, in roten Schuhen, lächelt, deutet ein Winken an, schiebt sich Meter für Meter in Rich-tung des goldenen Stuhls, den sie – passend zum Anlass – auf einen Perserteppich ge-stellt haben. Im Hintergrund leuchten die Albaner Berge. Es ist kurz vor sechs Uhr Abend.

Es passiert nicht oft, dass Daniel Baren-boim irgendwo hinkommt, wo die Men-schen nicht auf ihn warten. Heute ist so ein Tag. Gemeinsam mit dem West-Eastern Divan Orchestra gibt er ein Privatkonzert in Castel Gandolfo, der Sommerresidenz des Papstes. Der Papst hat Namenstag. Des-halb. Für Barenboim eine Ehre, aber auch eine gute Gelegenheit, ein paar Sponsoren glücklich zu machen. Er selbst hat erst vor vier Wochen in der Mailänder Scala für den Papst gespielt. Für Italien ein Riesen-ding. Für ihn ein Termin. Er ist nicht reli-giös. Er fühlt sich jüdisch, er spürt diese Mischung aus Tradition und Schicksal, aber regelmäßig in die Synagoge geht er nicht.

»Eigentlich«, sagt er, »gibt es nur zwei Dinge, die ich an Menschen bewundere: moralische Integrität und schöpferisches Genie.« Seine Helden sind Richard von Weizsäcker, Joschka Fischer, Felipe Gon-zález, Frank Gehry, sein bester Freund ist der indische Dirigent Zubin Mehta. Eine

Heldin ist nicht dabei. Der Papst auch nicht. Dafür ist seine Frau umso begeis-terter. Sie ist ihm heute Morgen hinterher-geflogen, gestern hat sie selbst noch ein Konzert in Düsseldorf gespielt. Jetzt scrollt sie sich durch die Fotos auf ihrem Mobil-telefon: Sie und ihr Mann, eingerahmt von zwei Schweizer Gardisten: »Toll, oder?«, schwärmt sie.

Das Divan-Orchester ist Barenboims Herzenssache und eine politische Dauer-provokation. Bei seiner Gründung hatten 60 Prozent der Musiker noch nie in einem Orchester gespielt, 40 hatten noch nicht mal eines gehört. Heute ist der Divan ein Profiorchester, dessen Konzerte oft mehr-fach mit Regierungsvertretern und der UNO abgestimmt werden. Trotzdem erin-nert es an eine Klassenfahrt, wenn das West-Eastern Divan Orchestra auf Tournee geht, natürlich eine mit zwei Kategorien: Baren-boim leitet die Proben und Konzerte, sitzt in denselben Flugzeugen, die für das Or-chester gechartert werden, ist offen für Fragen und Sorgen, trotzdem ist er kein Klassenlehrer, der mit der Schirmmütze vorneweg läuft, er ist der Star, der in der Limousine vom Flughafen abgeholt wird und in jeder Stadt im besten Hotel wohnt. Ob im Konzertsaal oder am Flughafen, nie sieht man ihn kommen. Er taucht auf und verschwindet, wie ein Geist. Plötzlich ist er da, im weißen Sommeranzug, die Prada-Sonnenbrille im Gesicht, und streichelt über den entzündeten Arm der palästinen-sischen Geigerin. Er weiß, dass es auf Gesten ankommt: eine Partie Backgam-mon im Flugzeug, Rosen, die er nach dem Konzert aus seinem Strauß zieht und ein-zeln an die Musiker verteilt. »Der Mann ist ein Wunder«, sagen die, »er sieht es, nein, er hört es, wenn einer von uns einen Ton mit dem Mittel- statt mit dem Ringfinger spielt.«

Als der Papst einzieht, stehen alle auf, schauen gerührt, halten Handys in die Luft, nur Barenboim bleibt relativ unbeteiligt in der letzten Reihe sitzen. Ist er gekränkt, weil es nicht um ihn geht? Ist er beschei-den? Oder einfach professionell? Er hat noch ein paar Telefonate erledigt, die Kra-watte um den Hals gelegt. Gerade plaudert er im Flüsterton mit dem Chef der Salzbur-ger Festspiele, Alexander Pereira. Es geht um ein Interview, das Barenboim dem Spiegel gegeben hat: »In Israel«, hat er da gesagt »gibt es eine Politisierung der Erin-nerung an den Holocaust.« Ein Satz, der für viel Ärger sorgen würde, wenn ihn ein Nicht-Jude gesagt hätte. >>

lang in seine Tragik eingefühlt – mit einem tiefen Sinn für Verzweiflung ausklingen, absterben, erlöschen.

MünChEn, 10 . JUlI 2012

Rauch, überall Tabakrauch. Barenboim sitzt in seiner Garderobe im Münchner Gasteig. Sie haben ihm eine Obstschale hingestellt, Himbeeren, Blaubeeren, Ki-wis, Bananen. Er aber raucht lieber, heute eine kurze, dicke aus Kuba, mehr Zeit ist nicht.

»Sie rauchen Zigarre? Das ist schlecht« – eine Frau stürzt ins Zimmer, »das ist sehr schlecht. Denn eigentlich darf man hier nicht rauchen.« Der Rauchmelder. »Wenn der losgeht, muss das ganze Haus evakuiert werden.« Daniel Barenboim spricht seinen Satz zu Ende, dreht sich um: »Oh, das tut mir leid«, sagt er, »aber ich habe nirgend-wo ein Verbotsschild gesehen«, nimmt noch einen Zug, bläst den Rauch in die Luft, lächelt. Man kann dabei zusehen, wie die Frau an Elan verliert. Sie kommt nicht an gegen diese Autorität. »Na gut«, gibt sie sich geschlagen. Ob er denn wenigstens das Fenster öffnen könne? »Aber natür-lich.« Macht er gern. Er sagt es so, dass man ihn danach nicht arrogant, sondern char-mant findet.

Daniel Barenboim ist ein Menschen-fänger. Und er kriegt, was er will: die höchs ten Honorare, die besten Solisten, gottgleiche Verehrung. Verloren hat er eigentlich nur zweimal: Als ihm 1989 als Direktor der Pariser Bastille-Oper gekün-digt wurde. Der Spiegel veröffentlichte damals seine Forderungen: 1,5 Millionen Mark Grundgehalt, entspricht bei 25 Pflichtdirigaten im Jahr 60 000 Mark Gage pro Abend. Und 2002, als er Chef der Ber-liner Philharmoniker werden wollte. Die Musiker haben sich damals gegen ihn ent-schieden. Er hat es längst vergessen. Krän-kung überwunden. Er würde bestreiten, dass es je eine gegeben hat.

Im Restaurant schaut er nicht in die Karte, sondern bittet den Ober, ihm etwas zu empfehlen. Er sagt dann: Nein. Nein. Nein. Nein. Und irgendwann ja. Einmal, während seines Bruckner-Zyklus in Wien, muss er um 23 Uhr noch ein Interview nachbearbeiten. Er sitzt also draußen bei seinem Wiener Stammitaliener und kann nichts mehr lesen. Zu dunkel. Er könnte reingehen, aber es dauert keine Minute, da bringt der Kellner eine kleine Lampe und klemmt sie ihm an den Tisch. Er ist dank-

bar für so viel Aufmerksamkeit, aber er findet auch, dass er sie verdient hat.

»Es gibt keinen anschaulicheren Aus-druck für Macht als die Tätigkeit des Diri-genten«, heißt es in Masse und Macht von Elias Canetti. Der Dirigent steht allein und erhöht, alle anderen sitzen. Kommt er, klat-schen alle. Geht er, klatschen auch alle. Und – ganz wichtig – die Menge sieht ihn nur von hinten. Er führt sie an. Für die Zeitspanne einer Aufführung ist er der Herrscher der Welt.

In Berlin gibt es Restaurants, die machen die Musik aus, wenn Barenboim zur Tür hereinkommt. Musik in Fahrstühlen, Flug-häfen, Restaurants empfindet er als »phy-sische Penetration«. Er hört ja nicht mal zu Hause welche. In seinem Musikzimmer ste-hen fast alle CDs, die er jemals aufgenom-men hat, sicher 350. Fast alle sind noch eingeschweißt. Einmal hat er vor einem Konzert mit dem Pianisten Lang Lang den kompletten Flügel wie ein IKEA-Regal aus-einandergebaut, um dem verdutzten Chi-nesen die Mechanik seines Instruments zu erläutern. Man spiele einfach besser, wenn man so ein Ding richtig verstanden hat.

Das Gleiche bei Interviews oder Foto-terminen: Letzte Frage heißt letzte Frage. Noch ein Bild heißt ganz sicher kein zweites. Er ist nicht diplomatisch, aber auch nie unhöflich, nur bestimmt. Und er muss ja auch so sein. Manchmal abwei-send. Meistens distanziert. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als jeden Tag Men-schen vor den Kopf zu stoßen. »Die ersten 30 Jahre«, sagt er, »verbringt man damit, berühmt zu werden, den Rest der Zeit ver-sucht man es zu verbergen.«

Daniel Barenboim erinnert ein biss-chen an Uli Hoeneß. Menschen, die er mag, gibt er alles, den anderen gar nichts. Um seine Divan-Mitglieder kümmert er sich rührend wie ein Vater. Er kann un-glaublich großherzig sein und sehr böse werden. Sein Führungsstil ist autoritär, nicht moderierend. Und er ist nie kumpel-haft, wenn schon, dann ist er ein Freund. Sagen auch Kollegen. Der Dirigent Kent Nagano zum Beispiel: »Vor meinem ersten Konzert in Tel Aviv war ich unsicher, also bat ich ihn um Rat und eine Einschätzung. Wissen Sie, wann er mich anrief? In der Pause seines Soloauftritts in der New Yor-ker Carnegie Hall.« Als im Mai der Jahr-hundertbariton Dietrich Fischer-Dieskau im Alter von 86 starb, schrieb er, obwohl er für Konzerte in Wien war, einen Nach-ruf für die FAZ. Er vergisst so was nicht. Die gemeinsame Zeit. Die vielen Konzerte.

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Als sich nacheinander der Papst und das Publikum setzen, springt Barenboim auf und schaut nach seinen Musikern, die aus verschiedenen Türen auf die Bühne strömen wie Ameisen aus einem Bau – drei fehlen, sie haben es nicht aus Syrien rausge-schafft. Die riesige Statue des heiligen Petrus, die Kardinäle, der heilige Ernst dieses Ortes, die Bose-Boxen in den Fenstern – beeindruckt ihn alles nicht. Für Folklore und Rührung hat er nichts üb-rig, es ist die Botschaft, um die es ihm geht: Juden und Moslems, die für den Papst Musik machen. Das gefällt ihm. Und die Spätfolgen so einer Ver-anstaltung. Die Dankbarkeit der Sponsoren. Das Geld, mit dem weitere Konzerte möglich sind. Des-wegen hat er ein paar dieser Leute in der Charter-maschine mitgenommen. Überhaupt trifft er regel-mäßig sehr reiche Menschen, Frühstück in Salz-burg, spätes Abendessen in München. Der Divan und Amerika – das ist sein nächstes großes Ding. Jetzt aber ist der Papst an der Reihe. Und Beet- hoven. Am nächsten Tag geht es weiter nach Ver-sailles, dann nach Genf, Sevilla, London, vielleicht – zwischendurch – für ein Konzert nach Ost-Jeru-salem. Die UNO verhandelt noch. Eine Charterma-schine ist geblockt.

DER MUSIKER – MIt DEM KOPF FühlEn, MIt DEM hERzEn DEnKEn

Daniel Barenboim hat keine Künstlerhände. Ro-bust und kräftig sind sie. Mit kurzen, dicken Fin-gern. Es gibt Stücke, die kann er nicht spielen, weil er die Spannweite nicht hinkriegt.

Nichts an Daniel Barenboim ist feingliedrig oder verzärtelt. Nie kokettiert er damit, einen be-sonderen Draht zu letzten Wahrheiten zu haben. Er hat ihn, das reicht – und gibt ihm die Möglich-keit, abseits der Musik erstaunlich viril, irdisch, flapsig, normal zu sein. Er liebt deutschsprachige Krimis: SOKO 5113, Ein Fall für zwei, Kommissar Rex, sein ist Held ist Stephan Derrick. Als er in Pa-ris die Windpocken hatte, hat er sich eine Folge nach der anderen reingezogen.

Man sieht ihn selten ohne Zigarre. Er hat seine festen Sorten. Vier, fünf verschiedene, zu Hause in seiner Berliner Villa bewahrt er sie in einem Hu-midor auf. Er kauft sie in Berlin, Mailand und am Flughafen in Beirut: »Ein Paradies. Riesige Aus-wahl und 30 Prozent günstiger.« Seine Lieblingszi-garre ist eine Behike, Preis: 36 Euro. Er verraucht alle vier Wochen ein ziemlich ordentliches Mo-natsgehalt.

Er liebt ein saftiges Steak, einen guten Wein, eine Tischrunde kann er mühelos durch einen lah-men Abend retten. Gern mit Witzen, auch über den Papst, auch über Juden: »Was ist ein Antisemit? Einer, der Juden mehr hasst als unbedingt notwen-dig.« Es ist faszinierend, ihm zuzusehen, wie er gleichzeitig tief empfinden und ziemlich derbe

daherreden kann. Einmal, auf die Frage, ob er – gemeint waren Zigarren – morgens lieber dicke oder dünne möge, sagt er: »Also diese Frage müs-sen Sie nun wirklich einer Frau stellen.« Er lacht dann laut und kehlig, weil er es wieder mal ge-schafft hat, eine dumme Journalistenfrage so lustig zu kontern.

Aber man darf sich nicht täuschen lassen: Mu-sik ohne Leiden, das geht nicht. Und Daniel Baren-boim weiß das. Natürlich hat er einen hohen Sinn für das Tragische und Abgründige, für Wagner, Nietzsche, Bayreuth, die Lust am Untergang und Vergehen, trotzdem ist er verliebt ins Gelingen. Und genauso macht er Musik. Er ist zutiefst mit-leidsfähig, man muss nur zuhören, wie er den Par-sifal dirigiert, aber er instrumentalisiert diese Gabe nicht, um Schönheit oder Pathos zu produzieren. »Das Romantische ist das Kranke, das Klassische das Gesunde«, hat Goethe behauptet. Barenboim ist kerngesund. In seinem Alltag wie in seiner Mu-sik bringt er zwei Dinge zusammen, die nicht zu-sammenpassen: Disziplin und Leidenschaft. Neu-lich hat er sich nach seinem Bruckner-Konzert in Wien in einen Club fahren lassen, wo er sich zwi-schen 500 schwitzende, tanzende Hiphop-Fans gestellt hat. Auf der Bühne stand KD-Supier, das ist der Künstlername seines Sohnes David, der als Hiphop-Produzent ziemlich erfolgreich ist. »Ich war unglaublich stolz auf ihn«, sagt Daniel Baren-boim. »Er versteht nicht so ganz, was ich eigentlich mache«, sagt David Barenboim, »aber er kommt und interessiert sich, das rechne ich ihm hoch an.«

»Wenn mein Vater Musik macht«, sagt der ande-re Sohn, der Geiger Michael, »ist er gleichzeitig ra-tional und emotional.« Und er meine nicht nach-einander oder je nachdem, »ich meine gleichzei-tig.« Barenboim selbst drückt es so aus: »Ich fühle mit dem Kopf und denke mit dem Herzen.« Und er weine auch beim Lohengrin-Vorspiel, nur halt nicht physisch. »Das soll jetzt nicht überheblich klingen«, sagt er einmal und schickt den Konjunk-tiv voraus, weil er genau weiß, dass das, was gleich kommt, ziemlich überheblich klingen wird. »Wirk-lich«, sagt er, »nicht arrogant gemeint, aber ich glau-be, dass ich etwas anderes mache als meine Dirigen-tenkollegen.« Musik, sagt er dann, ist erst mal ein physikalisches Phänomen, nämlich klingende Luft. Sobald ein Klang aufhört, verschwindet er, wird zur Stille und stirbt. Musik steht in einer unlösbaren Beziehung zur Stille und damit zum Tod. »Wenn ich Musik mache«, sagt er, »habe ich schon beim ersten Ton den letzten, das Ende, also den Tod im Blick.« Musik als Spiegel des Lebens, als Reise ins Nichts. Als Versuch, gegen den Tod anzukämpfen, indem man den Klang nicht abreißen lässt. Musik auch als Möglichkeit, den eigenen Tod fühlend vor-wegzunehmen. »Musik bringt einen in Berührung mit Zeitlosigkeit«, sagt er, »und damit Erlösung.« Er meint es wörtlich und macht es vor, als Dirigent und Pianist, jeden Abend wieder. >>

Oben: Unmittelbar nach dem Konzert in Castel gandolfo wechseln die beiden Weltstars des Abends ein paar Worte. auf die Frage, was man zum Papst so sagt, wenn man eine Minute Zeit hat, meint ba-renboim: »Wir haben über beethoven gesprochen.«

Unten links: Muss privat oder besonders wichtig sein, wenn der Maestro mal selbst telefo-niert. normal lässt er telefonieren.

Unten rechts: Daniel barenboim zusammen mit seiner zweiten Frau, der russischen Pianistin jelena baschkirowa. sie ist einen Tick größer als er, dafür – sagt sie – spielt er besser Klavier. Die beiden sind seit 1988 verheiratet.

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SalzBURG, 20 . JUlI 2012

Die anderen kommen pro Sommer zwei- oder drei-mal nach Salzburg zu den Festspielen, Daniel Barenboim kommt sechsmal: zweimal mit dem Divan-Orchester, dreimal für seinen Schubert- Zyklus, einmal mit dem Orchester der Scala für Verdis Requiem, das Abschlusskonzert.

Die meisten bleiben zwischen ihren Auftritten in der Stadt, manche nehmen sich sogar eine Woh-nung, Barenboim fliegt jedes Mal hin und wieder weg. Für einen Klavierabend bleibt er 24 Stunden. Er kann und will die Festspielstimmung nicht ge-nießen. Es muss sich was bewegen, sonst wird er unzufrieden. Also fliegt er nach Berlin, Rezitativ-proben für Siegfried, einmal lässt er sich nach Du-brovnik fahren, ein Klavierabend, außerdem macht er Urlaub mit seiner Frau. Zehn Tage Spanien. Er hat ein Haus in der Nähe von Málaga. Danach wer-den sie sich eine Weile nicht sehen. Er muss weiter nach Mailand, Moskau, Sankt Petersburg. Sie nach Israel, ein Kammermusik-Festival.

Es ist Montagvormittag, Barenboim tritt aus dem »Goldenen Hirschen«, unter dem Arm zwei Noten-bände mit Schubertsonaten. Was das für ein Drama war, mit diesen Noten: Er hat seine nämlich verges-sen. Ein Band liegt in Berlin, einer in Spanien. Also mussten sie ihm die Noten organisieren – am Sonn-tag, die Geschäfte hatten zu und am nächsten Abend Konzert. Er spielt natürlich auswendig, trotz-dem will er sich einlesen. Er muss die Noten nur anschauen, schon hört er die Musik. Ein paar ver-trackte Stellen will er auch noch mal durchspielen, der Rest ist da, Blackout unmöglich. »Er überblickt ein riesiges Repertoire«, sagt der Konzertmeister der Berliner Staatskapelle, »Hunderte von Symphonien, Opern und Klavierstücken kann er Note für Note spontan abrufen«, und was dazu kommt: »Er kennt die technischen Gegebenheiten jedes Instruments, egal ob Querflöte, Horn oder Kontrabass«, eigent-lich könne man nur von einem Genie sprechen. Auf die Frage, wie viele Partituren er denn nun wirklich auswendig kennt, schaut Barenboim nur irritiert, so dumm findet er sie. Zahlen, Rekorde, Superlative – interessiert ihn nicht. Als ob es darauf ankäme.

Am Ende hat eine Mitarbeiterin noch einen Satz Schubert-Noten von einer älteren Dame auf-getrieben. Es sei ihr eine Ehre, nur reinschreiben solle er halt was, bevor er wieder wegfährt. Macht er, aber jetzt will er ein bisschen proben. Er hat sich seinen 130 000-Euro-Steinway extra aus Berlin her-transportieren lassen. Man spielt besser, wenn man das Instrument kennt. Auf dem Programm steht Schubert: Impromptus und die große A-Dur-Sonate. Das Konzert, der ganze Zyklus sind ein riesiger Er-folg, trotzdem fallen die Kritiken mittelmäßig bis mies aus: »Zu wenig Gestaltung«, heißt es da, »lü-ckenhafte Läufe, technisch mangelhaft, stellenwei-se gefühllos.« Hat er doch zu wenig geprobt? Sich zu sehr auf seine Erfahrung verlassen? Denn spie-

len kann er das, er hat es hundertmal bewiesen. Er antwortet mit einer Geschichte: »Wissen Sie«, sagt er, »am Tag nach meinem allerersten Orchesterkon-zert in Buenos Aires sind zwei Rezensionen er-schienen. In der einen hieß es, seit Mozart hätte man kein solches Genie erlebt. In der anderen stand, es sei kriminell, ein achtjähriges Kind auftre-ten zu lassen, das keine Begabung habe.«

Daniel Barenboim ist längst mehr als ein Musi-ker. Er findet es nicht schlimm, und das Seltsame: Meistens ist es auch nicht schlimm, wenn er mal nicht perfekt durch eine Tongirlande durch-kommt. Mit seinem eigenen Anspruch kann sowie-so kein Kritiker mithalten. Sollen die sich also ru-hig an Detailfragen abarbeiten, er macht sich nicht davon abhängig. Existenzielle Momente möchte er schaffen, für sich und die Menschen, technische Perfektion kann da auch stören, weil sie die Essenz überdeckt. Und deswegen stört ihn auch so eine Kritik nicht. Der Weltstar Barenboim ist längst ein Prinzip, eine Marke, die über jeden Zweifel erha-ben ist. Es ist längst so, dass alle gut finden, was er macht, weil er es macht. Für einen Künstler kann das auch ein Problem sein.

DER POlItIKER – lIEBER EInE UtOPIE alS EInE

SChlEChtE REalItät

Daniel Barenboim interessiert sich nicht für An-drea Nahles oder Strompreise, trotzdem ist er ein hochpolitischer Mensch, »politisch im Sinne Beet-

hovens«, sagt er. Und deswegen geht er auch nicht wählen: In Israel wüsste er nicht, welche Partei. In Argentinien und Spanien kennt er sich zu wenig aus. In Palästina? Na ja.

»Glauben Sie mir«, sagt er, »es vergeht kein Tag, an dem ich nicht traurig werde wegen dieses Konflikts.« Es ist sein Lebens-, auch sein Leidensthema. Weil er Teil davon ist. Weil es die Erinnerung an seine Kindheit in diesem Land, das er so liebt, verdüstert. Und weil er dieses Mal machtlos ist. Es gibt kaum einen Konflikt, den er nicht aus der Welt schaffen kann, mit einem Blick, einem Spruch oder der geballten Macht seines Apparates, beim Thema Israel geht es ihm wie allen anderen: Warten, Diplo matie, Appelle. Die Angele-genheit stagniert. Und Stagnation mag er gar nicht.

Er hat während des Sechstagekriegs 1967 Konzerte in Israel gespielt. Er hat im gleichen Jahr seine erste große Liebe, die Cellistin Jacqueline du Pré, in Israel geheiratet, David Ben Gurion war unter den Hoch-zeitsgästen. Noch heute hat er eine Wohnung in Jeru-salem. Sie steht fast immer leer. Er wird nur traurig, wenn er da ist. Als er 2004 in der Knesset den Wolf-Preis überreicht bekommt, trägt er die israelische Un-abhängigkeitserklärung vor, unter anderem das Ge-löbnis, dass Israel mit all seinen Nachbarn in Frieden leben wolle. Als eine Abgeordnete schimpft, wie er es wagen könne, einen derart festlichen Anlass für eine Attacke auf Israel zu instrumentalisieren, geht er ein

zweites Mal ans Podium und antwortet: »Ich habe Israel nicht attackiert. Ich habe lediglich seine Unab-hängigkeitserklärung vorgelesen.«

Sein Einsatz für die palästinensische Sache beginnt nach dem Sechstagekrieg 1967. Weil Israel auf einmal nichts Unschuldiges mehr hatte. Er kann es bis heute nicht fassen: Dass die Juden, die über 2000 Jahre lang Minderheit waren, nur 19 Jahre nach Gründung ihres Staates selbst eine Minderheit unterdrücken. Seitdem fordert er einen Psychiater für beide Staaten. Das Pro-blem sei, dass beide Völker zutiefst davon überzeugt sind, dass der jeweils andere kein Recht hat, auf diesem Stück Land zu leben. Und das Schlimme: Bei-de haben recht. »Es ist doch absurd«, sagt er, »dass Woody Allen noch heute Abend nach Israel ziehen könnte, eine palästinensische Familie, die tausend Jahre lang dort gelebt hat, aber nicht.«

Seine Antwort ist der Divan. In diesem Orchester sitzt für den Moment einer Symphonie ein Jude ne-ben einem Palästinenser. Sie spielen den gleichen Ton, gleich laut, gleich lang. Das geht nur in der Mu-sik. Für sein Engagement wird Barenboim von bei-den Seiten kritisiert: den Israelis und den Palästinen-sern. Für ihn der Beweis, dass er etwas richtig macht. Gut möglich, dass er in den nächsten Jahren den Frie-densnobelpreis bekommt.

Sein Ziel ist es, mit dem Divan in jedem Land ge-spielt zu haben, aus dem wenigstens ein Orchester-

Musik ist für ihn ein Spiegel

des Lebens, eine Reise ins

Nichts. Ein Versuch, gegen den Tod anzu­

kämpfen und ihn fühlend

vorweg­ zunehmen

Für seinen dreiteiligen schubert-Zyklus hat barenboim seinen eigenen Steinway-Flügel von berlin nach salzburg transportieren lassen. gerade spielt er sich ein, 30 Minuten, reicht vollkommen.

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mitglied kommt. Eine Utopie? »Vielleicht«, sagt er, »aber besser mit einer Utopie leben als mit einer schlechten Realität.« Ende Juli wird das Konzert in Ost-Jerusalem wenige Tage vor dem Termin abge-sagt. Zu heikel. Zu brisant. Palästinensische NGOs haben dagegen protestiert. »Es wurde nicht abge-sagt, es wurde verschoben«, korrigiert Barenboim. Er mag es nicht, wenn die Realität gewinnt.

DER PRIVatMann – EIn aBEnD OhnE tERMInE

»Robert, wir fahren nach Hause«, sagt Daniel Ba-renboim und lehnt sich in den beigefarbenen Le-dersitz, in der Hand zwei Tüten, eine von Prada, eine von Cartier. Er wirkt wie ein Politiker in die-sem BMW 730. Er selbst besitzt einen Smart. Er braucht ihn nie.

Fünfzehn Minuten später ist er da: Stadtteil Dahlem, altes West-Berlin, eine Villa aus dem Jahr 1929, im Garten ein kleiner Pool. Er öffnet die schwere Tür, niemand zu Hause. Der erste Eindruck ist warm und behaglich, Orient-Teppiche, orienta-lische Vasen, an den Wänden Karten des Heiligen Landes aus dem 19. Jahrhundert, im Musikzimmer der Flügel von Artur Rubinstein. Es ist vollkommen still, vielleicht der richtige Moment, um über das Thema zu sprechen, das bisher nie so richtig gepasst hat: den Verlust seiner ersten Frau, der britischen Jahrhundertcellistin Jacqueline du Pré. Er hustet, als er den Namen hört, legt die Zigarre zur Seite, fängt sich, erzählt: »Sie war die größte natürliche

Begabung, die ich je kennengelernt habe.« Es folgt ein fünfminütiger Monolog über ihre Art zu spie-len, überhaupt über Streicher und wie wichtig sie für ein Orchester seien, irgendwann hat er es ge-schafft, das Thema zu wechseln. Also noch ein Ver-such. Denken Sie jeden Tag an sie? »Nicht so be-wusst«, er zögert und erzählt weiter, wie er sich auf den ersten Blick in sie verliebt hat, Weihnachten 1966 bei Freunden in London, ein Hausmusika-bend. »Wir haben zusammen Musik gemacht, noch bevor wir miteinander gesprochen haben.« Man muss sich diese Jahre vorstellen wie einen Rausch: das Musikerpaar, jung zu Weltruhm gekommen, reist durch die Welt, gibt gefeierte Konzerte, füllt die Klatschspalten, feiert mit den Beatles – eine nicht enden wollende Zurschaustellung von Genie und Liebesglück –, bis zur Diagnose im Oktober 1973: Sie hat multiple Sklerose. Es folgen die schwierigsten Jahre im Leben von Daniel Baren-boim, zerrissen zwischen seiner Verantwortung und Liebe und dem Willen, auch seinem Recht, sein eigenes Leben weiterzuführen. Er pendelt zwi-schen Paris und London, wo seine Frau immer schwächer wird, ihr letztes Konzert spielt, im Roll-stuhl landet und 1987 – nach 14-jähriger Leidens-zeit – stirbt. »Sie begleitet mich jeden Tag, vor allem in der Musik«, sagt er, »und ich habe das große Glück, dass meine Frau Jelena das alles weiß und akzeptiert. Ich bewundere sie dafür.«

Auf einmal eine Stimme aus der Tiefe des Hauses: »Kommt in die Küche, ich habe was zu essen gemacht« – seine Frau muss heimgekommen sein: Jelena Baschkirowa, Pianistin, groß, elegant, herzlich; die ideale Partnerin für einen wie ihn, weil sie beides ist: selbstbewusst und zurückhal-tend, auf Augenhöhe, aber keine Konkurrentin, und wenn es drauf ankommt: entsagend. Es ist nach 22 Uhr. Sie hat Borschtsch gemacht, dazu gibt es Schwarzbrot, Krabben, ein bisschen Fisch. An den Wänden hängen Pinnwände mit Familienfo-tos: die Barenboims am Strand, die Barenboims beim Winterspaziergang und – an Karneval – ver-kleidet. Ein Handy klingelt. Sie hebt ab, spricht Englisch. Er gähnt. Isst seine Suppe. Man hört nur noch das Klackern des Löffels. Ein langer Tag. Ein langer Sommer. In zwei Wochen wird Daniel Ba-renboim 70 Jahre alt. Es wird eine große Feier ge-ben, die Einladungen sind raus in alle Welt. Los geht’s um 22 Uhr. Vorher muss er dirigieren.

Seine Frau Jelena Baschkirowa ist

die ideale Partne­rin für einen

wie ihn: elegant, herzlich, auch

Pianistin, selbst­bewusst und

zurückhaltend, auf Augenhöhe,

aber keine Konkurrentin

t o b i a s h a b e r l und dem Fotografen j o n a s U n g e r blieb gar nichts anderes übrig, als Daniel Barenboim ständig hinter-herzureisen, mit dem Flugzeug, mit der Bahn, mit dem Auto – manchmal haben sie ihn auch zu Fuß begleitet. Am Ende haben sie nachgerechnet: Haberl hat für seine Recherchen 8201 Kilometer zurückgelegt,

Unger, der in Paris lebt, kommt immerhin auf knapp 7000 Kilometer.

Daniel barenboim besitzt einen smart, braucht ihn aber nie. egal wo er hinkommt, es wartet immer ein Chauffeur mit einem sehr geräumigen Wagen auf ihn.