Monika Balzert Evangelische Stift in Literarische Theolo gen ......Schriftsteller und...

15
Monika B alzert Literarische Theolo- gen in Markgröningen: Die Weitbrechts im Pfarrhaus In der Liste der Tübinger Stiftler des 19. Jahrhun- derts führen zwei Namen ins Markgröninger Pfarr- haus: die der Brüder Carl Theodor (1847-1904) und Richard Philipp Weitbrecht (1851-1911). In den Pfarrhäusern Althengstett und Heumaden, ers- ten Dienstorten ihres Vaters, geboren, durchliefen sie das niedere Seminar Blaubeuren und studier- ten ab 1865 und 1869 im Tübinger Stift. In der Liste ehemaliger Stiftler werden sie heute folgen- dermaßen charakterisiert: "Carl Weitbrecht , Schriftsteller und Literarhistoriker: seit 1893 Pro- fessor an der Technischen Hochschule in Stutt- gart"; der jüngere Bruder Richard: "Schriftsteller und Pfarrer, schrieb Volks- und Jugendschriften". 1 Populär wurden beide, weil sie dem Vorbild Fritz Reuters folgend zum erstenmal gewagt haben, in der "mittelschwäbischen" Mundart zu schreiben, "welche wir von Kindheit an sprechen gelernt haben. Ihr Gebiet erstreckt sich etwa vom Alb- trauf bis übers lange Feld bei Ludwigsburg gegen den Stromberg hin. " 2 Als Studenten kamen sie nach Markgröningen: Bis zur Pensionierung 1875 amtete ihr Vater Kar! Gottlob Weitbrecht ( 1810- 1886) zehn Jahre hier als Stadtpfarrer und lebte mit seiner Frau Julie, geb. Finckh, den Söhnen und zwei jüngeren Töchtern Hanna und Julie im gro- ßen Pfarrhaus I. Von Tübingen in die Vakanz nach- hause hieß für die jungen Stiftstheologen also nach Markgröningen fahren. Von hier aus entfalten die begabten Weitbrechtssöhne ihre vorwiegend lite- rarischen Ambitionen. Besonders Carl dichtete schon früh sehr erfolgreich. Seine spätere Karriere lässt nicht vermuten, dass der Lebensabschnitt im Markgröninger Elternhaus bedeutsam war. In Carls Vita wird nach dem Tübinger Studium nur Schwai- gern als Dienstort erwähnt 3 . Dabei verheiratete er sich mit der Tochter des letzten Arbeitshaus- verwalters in Markgröningen, Justizrat Herrmann Gottlieb Klemm, Julie Klemm, am 30.4.1874, be- vor die junge Familie ins Helferhaus nach Schwai- gern zog, wo Carl dann 12 Jahre das Amt des "Helfers" (d. h. 2. Pfarrer) innehatte. 1886 "erlöste den in der literarischen Welt( ... ) bekannten Pfar- rer der Ruf zur Leitung der höheren Mädchen- schule beim Großmünster in Zürich", wo er sieben Jahre, bis 1893, blieb. Aus dieser Zeit stammen sozialkritische Gedichte, wie die "Seefahrt" über den Vierwaldstädter See (1890) mit Klagen über Tourismus, Börsenspekulanten und Skepsis im Bezug auf "das große soziale Zukunftreich". 1893 erreicht ihn der Ruf an die Technische Hochschule in Stuttgart: Carl Weitbrecht wird Nachfolger von Julius Klaiber auf dem Lehrstuhl von Friedrich Theodor Vischer für Ästhetik und Literaturge- schichte. 1902 wirkt er als Rektor am 14.11 .1902 bei der Grundsteinlegung der "von der Studenten- schaft der Technischen und Tierärztlichen Hoch- schule zu errichtenden Bismarcksäule auf dem 1 J. Hahn , H. Mayer, Das Evangelische Stift in Tübingen . Geschichte und Gegenwart- Zwi- schen We ltgeist und Frömmigkeit. Stuttgart (Theiss) 1985; " Be- rühmte Stiftler", dort: S.296. Gerhard Raff zählt sie zu den "Zwangstheologen" (s. Raffs Raritäten, Stutt- garter Zeitung v. 11.12.97 .) 2 C. und R. Weitbrecht, Gschichta-n aus-m Schwoba ' land, 1877; Nohmol Schwoba- gschichta, Stuttgart 1882, (dort Vorwort S.V); 's Burgamoisch- ters Hansjörg/Jez isch a' - so! Stuttgart 1897 (alle bei W. Kohlham- mer) . A. Holder, Ge- schichte der schwäbi- schen Dialektdichtung mit vielen Bildnissen mundartlicher Dichter und Forscher, Heil- bronn 1896, repr. Kirchheim 1975, S. 189ff. Auswahl der Mundartgeschichten: Rainer Redies hrsg ., C. und R. Weitbrecht, Hent Er scho ghört, Liebes- lust und Liebesleid im Schwabenland (Thiene- manns) Stuttgart 1986. 3 So auch Otto (v.) Günt- ter, Nekrolog BJ 9, 1906, 274. 19

Transcript of Monika Balzert Evangelische Stift in Literarische Theolo gen ......Schriftsteller und...

Page 1: Monika Balzert Evangelische Stift in Literarische Theolo gen ......Schriftsteller und Literarhistoriker: seit 1893 Pro fessor an der Technischen Hochschule in Stutt gart"; der jüngere

Monika Balzert

Literarische Theolo­gen in Markgröningen: Die Weitbrechts im Pfarrhaus In der Liste der Tübinger Stiftler des 19. Jahrhun­

derts führen zwei Namen ins Markgröninger Pfarr­haus: die der Brüder Carl Theodor (1847-1904) und Richard Philipp Weitbrecht (1851-1911). In

den Pfarrhäusern Althengstett und Heumaden, ers­ten Dienstorten ihres Vaters, geboren, durchliefen

sie das niedere Seminar Blaubeuren und studier­ten ab 1865 und 1869 im Tübinger Stift. In der Liste ehemaliger Stiftler werden sie heute folgen­

dermaßen charakterisiert: "Carl Weitbrecht, Schriftsteller und Literarhistoriker: seit 1893 Pro­fessor an der Technischen Hochschule in Stutt­

gart"; der jüngere Bruder Richard: "Schriftsteller und Pfarrer, schrieb Volks- und Jugendschriften". 1

Populär wurden beide, weil sie dem Vorbild Fritz Reuters folgend zum erstenmal gewagt haben, in der "mittelschwäbischen" Mundart zu schreiben, "welche wir von Kindheit an sprechen gelernt haben. Ihr Gebiet erstreckt sich etwa vom Alb­trauf bis übers lange Feld bei Ludwigsburg gegen

den Stromberg hin. "2 Als Studenten kamen sie

nach Markgröningen: Bis zur Pensionierung 1875

amtete ihr Vater Kar! Gottlob Weitbrecht ( 1810-

1886) zehn Jahre hier als Stadtpfarrer und lebte mit seiner Frau Julie, geb. Finckh, den Söhnen und

zwei jüngeren Töchtern Hanna und Julie im gro­

ßen Pfarrhaus I. Von Tübingen in die Vakanz nach­

hause hieß für die jungen Stiftstheologen also nach Markgröningen fahren. Von hier aus entfalten die

begabten Weitbrechtssöhne ihre vorwiegend lite­rarischen Ambitionen. Besonders Carl dichtete

schon früh sehr erfolgreich. Seine spätere Karriere

lässt nicht vermuten, dass der Lebensabschnitt im Markgröninger Elternhaus bedeutsam war. In Carls Vita wird nach dem Tübinger Studium nur Schwai­

gern als Dienstort erwähnt3. Dabei verheiratete er

sich mit der Tochter des letzten Arbeitshaus­verwalters in Markgröningen, Justizrat Herrmann

Gottlieb Klemm, Julie Klemm, am 30.4.1874, be­

vor die junge Familie ins Helferhaus nach Schwai­gern zog, wo Carl dann 12 Jahre das Amt des

"Helfers" (d. h. 2. Pfarrer) innehatte. 1886 "erlöste den in der literarischen Welt( ... ) bekannten Pfar­

rer der Ruf zur Leitung der höheren Mädchen­

schule beim Großmünster in Zürich", wo er sieben Jahre, bis 1893, blieb. Aus dieser Zeit stammen sozialkritische Gedichte, wie die "Seefahrt" über den Vierwaldstädter See (1890) mit Klagen über Tourismus, Börsenspekulanten und Skepsis im

Bezug auf "das große soziale Zukunftreich". 1893 erreicht ihn der Ruf an die Technische Hochschule in Stuttgart: Carl Weitbrecht wird Nachfolger von Julius Klaiber auf dem Lehrstuhl von Friedrich Theodor Vischer für Ästhetik und Literaturge­schichte. 1902 wirkt er als Rektor am 14.11 .1902

bei der Grundsteinlegung der "von der Studenten­schaft der Technischen und Tierärztlichen Hoch­

schule zu errichtenden Bismarcksäule auf dem

1 J. Hahn, H. Mayer, Das Evangelische Stift in Tübingen. Geschichte und Gegenwart- Zwi­schen Weltgeist und Frömmigkeit. Stuttgart (Theiss) 1985; "Be­rühmte Stiftler", dort: S.296. Gerhard Raff zählt sie zu den "Zwangstheologen" (s. Raffs Raritäten, Stutt­garter Zeitung v. 11.12.97.)

2 C. und R. Weitbrecht, Gschichta-n aus-m Schwoba' land, 1877; Nohmol Schwoba-gschichta, Stuttgart 1882, (dort Vorwort S.V); 's Burgamoisch­ters Hansjörg/Jez isch a' - so! Stuttgart 1897 (alle bei W. Kohlham­mer) . A. Holder, Ge­schichte der schwäbi­schen Dialektdichtung mit vielen Bildnissen mundartlicher Dichter und Forscher, Heil­bronn 1896, repr. Kirchheim 1975, S. 189ff. Auswahl der Mundartgeschichten: Rainer Redies hrsg., C. und R. Weitbrecht, Hent Er scho ghört, Liebes­lust und Liebesleid im Schwabenland (Thiene­manns) Stuttgart 1986.

3 So auch Otto (v.) Günt­ter, Nekrolog BJ 9, 1906, 274.

19

Page 2: Monika Balzert Evangelische Stift in Literarische Theolo gen ......Schriftsteller und Literarhistoriker: seit 1893 Pro fessor an der Technischen Hochschule in Stutt gart"; der jüngere

Bronzerelief für Carl Weitbrecht auf dem Stuttgarter Pragfriedhof (Balzert)

20

Gähkopf' mit und spricht Verse, die zeigen, dass für ihn die "Erneuerung der Nation" als Ziel- und Gipfelpunkt des 19. Jahrhunderts erscheint: "Fest wie der Stein aus deutschem Gebirge, kühn in die Höhe wie deutsche Kraft wachse du Turm, wach­se, deutsches Volk!" War der Krieg 1870171 für

denjungen Weitbrecht das bestimmende Erlebnis gewesen und hatte er in der Folge zwischen 1874, 1890 und zuletzt I 898 ("An Bismarcks Toten­lager") begeisterte Gedichte auf Bismarck ge­schrieben, erscheint er den Studenten nach der Züricher Zeit nicht zufällig als Symbolfigur ihrer

nationalen Bekundungen. Seine "Deutsche Litte­raturgeschichtedes 19. Jahrhunderts", 1901 in der Sammlung Göschen in Leipzig erschienen und mehrfach neu aufgelegt, arbeitet den Gedanken der Nationwerdung der Deutschen heraus. Carl Weitbrecht stirbt aber bereits am I 0.6.1904 -der Stuttgarter Bismarckturm muß im selben Jahr vom Nachfolger eingeweiht werden4 . Begraben ist er auf dem Pragfriedhof in Stuttgart, in einer ge­

meinsamen Grabstätte mit seiner Frau und zwei Söhnen. Die Rede am Grabe hielt der Onkel, der Stuttgarter Prälat und Stiftsprediger Gottlieb v. Weitbrecht Das Bronzerelief mit dem Portrait stammt von einem der Söhne. Einen eindrucks­vollen Nachruf verfaßte Otto von Güntter, Be­gründer und erster Direktor des Schiller-Natio­nalmuseums in Marbach5.

Es lohnt sich also, das elterliche Markgröninger Pfarrhaus der Weitbrechtbrüder als Schauplatz in den Jahren 1869-74 zu vergegenwärtigen. Es kommt zwar in keiner der Würdigungen vor, auch nicht in der Vita des Bruders Richard Weitbrecht, dessen Denkmal immerhin heute in Wimpfen be-

Page 3: Monika Balzert Evangelische Stift in Literarische Theolo gen ......Schriftsteller und Literarhistoriker: seit 1893 Pro fessor an der Technischen Hochschule in Stutt gart"; der jüngere

sichtigt werden kann, wo der Pfarrer bis an sein Lebensende wirkte: "Hier machte er sich als Grün­der und Vorsitzender mehrerer Vereine um Denk­malpflege und Denkmalschutz ( ... ).verdient"6.

Theologische Pflicht und literarische Muße in Markgröningen

Die Nachweise für die theologischen Aktivitäten der Weitbrechts in der Markgröninger Bartholo­mäus!Grche finden sich im Predigtkalender7, ab Weihnachten 1867: Am 1. Weihnachtstag predigt Stadtpfarrer Weitbrecht, am 2. Weihnachtsfeier­tag "Predigt durch C.Weitbrecht, Th. cand.", der auch am 30. Dezember die Betstunde hält. Erst wieder im Herbst 1869, als Carl das Examen in Tübingen bestanden hat, wird feierlich verzeich­net, dass am Sonntag, 3. Oktober 1869, Stadt­

pfarrer Weitbrecht die "Ordination des Dr. cand. th. Weitbrecht" vollzieht: "Vikar Weitbrecht" pre­digt über Lukas 7, 36-50". Auswärtige Bewährun­gen warten auf den Vikar in nicht genannten Ge­meinden. Am 2. Weihnachtstag 1870 gehtderEin­trag "Predigt des Stud. Weitbrecht" auf Richard, der erst 1869 das Tübinger Stift bezogen hat.

Erst am Schäferlauf des folgenden Jahres, dem Bartholomäustag am 24. August 1871 , findet sich wieder eingetragen: "Schäfermarktpredigt C. W." Carl Weitbrecht hält am Festtag Markgröningens die Predigt. Diese Ehre ist in Anbetracht der Zeit­ereignisse nicht ganz überraschend: 1870 hatte der dreiundzwanzigjährige Carl in seiner Eigen­schaft als Theologe, die ihn an der patriotischen

Teilnahme am Sommerfeldzug nach Frankreich

terten Gedichten erlebt und begleitet der Vikar das Kriegsgeschehen immerhin so aus der Ferne. Im "Liederbuch für meine Freunde" (im Eigenverlag 1875 veröffentlicht) aktualisiert er den Gedicht­zyklus weiter, der im nationalen Siegesrausch und der Freude über die Reichsgründung Beachtung und Beifall in ganz Deutschland findet. Er besteht 1880 aus 12 volkstümlichen Gesängen, deren Ti­tel die patriotische Verklärung des deutsch-fran­zösischen Krieges und seines Ergebnisses spie­geln (diese "Lieder" wurden sogar mehrfach ver­tont9) : "Mir ists versagt, zu reiten" (I) "Trompeter blas!"(II) "Nachtwinde" (III) "Deutsche Hiebe" (IV) "Ausmarsch" (V) "Im Korn" (VI) "General­marsch" (VII) "Der erste Tote" (VIII) "Am Abend nach der Schlacht" (IX) "Reiterlied" (X) "Trink­lied" (XI) und vor allem "Wir sind ein Volk" (XII). In der Ausgabe letzter Hand (1903) sind die Stücke IV und XII wieder weggelassen. Letzteres erscheint aber als eine Art Deutschlandlied (in drei Strophen) typisch im Ton, der noch an Schil­ler anklingt und mü Vaterlandsdichtungen von einem von Fallersleben und Freiligrath wetteifert:

Wir sind ein Volk Wir sind ein Volk! Wer zweifelt noch? Der Süden rufts dem Norden-Welt, zweifle dran: wir sind es doch, Im Sturm sind wirs geworden! Wir sinds, das siegende Schwert in der Faust, Wir sinds- und der siegende Ruf erbraust Zu des Meers entlegensten Borden.

Wir sind ein Volk! Ihr Völker all, verhindert, sein schmales Heft "Lieder von Ei- Kommt her, ein Volk zu schauen! nem, der nicht mit darf' veröffentlicht8. In begeis- Kommt her und hört den Donnerhall

4 Chronik der Stadt Stutt­gart 1902, 1904.

5 BJ IX (1906) 274-279. 6 Rainer Redies, Nach­

wort S.197 . 7 Pfarrer Heinrich Kir­

eher gestattete 1991 die Einsichtnahme.

8 "Weitbrecht, Karl, Kriegslieder 1870", an­gezeigt bei Adolf Bonz u. Comp. in Stuttgart, Preis: 90 Pfennig. Auf­fallend die K-Schrei­bung des Vornamens wie beim Vater: im Pre­digtkalender und bei ei­genhändigen Widmun­gen seiner Gedichte schreibt Weitbrecht sei­nen Vornamen stets mit schwungvollem C. Auf der Grabsäule steht Kar! , die übliche Schrei­bung in bibliographi­schen Angaben .

9 Von Johannes Feyhl , Den Gefallenen , Op. 12,2. und Richard Wetz, 6 Lieder für mittlere Stimme, Op. 15,4.

21

Page 4: Monika Balzert Evangelische Stift in Literarische Theolo gen ......Schriftsteller und Literarhistoriker: seit 1893 Pro fessor an der Technischen Hochschule in Stutt gart"; der jüngere

22

Aus allen unsern Gauen: Ein Volk ist geworden, das keines war, Ein Volk wird es bleiben für immerdar­Gott helfe uns, dem wir vertrauen!( ... )

Der zehn Jahre ältere Freund Dr. Eduard Paulus d. J. schrieb Carl etwas später im Jahr aus Stuttgart

nach Markgröningen: "Stuttgart 22. Nov. 1871 . Mein lieber Freund, Eben finde ich bei Neff ein hübsch-ausgestattetes Buch 'Deutsche Kernlieder aus den Franzosenkriegen'. Ausgewählt und geordnet von Dr. A. Döring, Di­rektor des Gymnasiums und der Realschule in Dortmund. Berlin bei Grote 1871. In diesem Buch, das Sie vielleicht noch nicht gesehen haben, ste­hen 14 Ihrer Kriegslieder, mit andern zwei Ihrer so guten Sachen.( ... ) Sollten Sie das Buch noch nicht haben, so können Sie es durch Neff aber auch als Freiexemplar durch Grote in Berlin beziehen. (Kos­tet eingebunden 1 M 10. Es freut mich sehr, daß Sie hier in so guter Gesellschaft einem verehrten Publico unter die Nase gerieben werden.) Wenn Sie wollen, so will ich es Ihnen schicken. Ihr treuer Ed. Paulus. In Eile!"

So ist nach der Gründung des deutschen Kaiserrei­ches der Schäfermarktprediger "C. W." am 24. August 1871 ein volkstümlicher und gefeierter Mann, der Sieg und Reichsgründung, die am 10. Mai im Frieden von Frankfurt bestätigt worden war, wohl auch die Verdienste Bismarcks mit Dank in seine Festpredigt in der Stadt der Reichssturrn­fahne einbezogen haben wird.

Damit beginnt wie mit einem Paukenschlag die Markgröninger Amtszeit des Carl W ei tbrecht: sei­ne schwungvoll eigenhändig gesetzten Initialen

C. W. zur Abhebung von den anderen Namens­trägern kehren im Predigtkalender 1871 ständig wieder, in Predigt-, Kinderlehre und sonstigen geistlichen Verrichtungen amtet er neben Stadt­pfarrer und zwei Vikaren . Am 10. September 1871 ,

einem Sonntag, ist die patriotische "Feier des Geburtsfestes der Königin" mit "Morgenpredigt" durch Carl Weitbrecht vermerkt, später am Tag auch die Kinderlehre .

Während Richa~·d W eitbrecht, schon candidatus, am 13. September 1871 ("Betstunde über 1. Cor. 9") aushilft, hält Carl am Sonntag, dem 19. No­vember, die Ernte- und Herbstdankpredigt, dann

die feierliche "Morgen predigt" am 1. Weihnachts­tag, ebenso am 27.12., und am 31.12.1871 auch noch die "Sylvesterrede". 1872 predigt Carl am Matthiasmarkttag, der laut Druckvermerk in der evangelischen Kirche Württembergs am Samstag, dem 24. Februar 1872, eigens separat gefeiert wird, um nicht am eigentlichen Datum mit dem Sonntag zusammenzufallen. Am Gründonnerstag hält C. W. "Predigt und Beichte", am Karfreitag die "Nach­mittagspredigt und Beichte". 1872 wird die Pre­digt zur Feier des Geburtsfestes der Königin am Sonntag, dem 8. September, vom Vater Weitbrecht gehalten (am eigentlichen Datum, dem 11., ist allgemeine "Schulvakanz wegen des Festes"); Richard Weitbrecht hält assistierend die Christen­lehre und am nächsten Tag Taufe. Am Sonntag, dem 15. September, predigt er über Luc. 7, 11-17. Carl übernimmt am 25. Oktober 1872 die bedeut­samere "Bußtagspredigt". Am 29.12.72 ist Sonn­

tags "R. Weitbrecht, th. cand." eingetragen, er predigt als "th. cand." wieder Ostermontag 1873 und darf endlich 1874 die Hauptpredigt am Oster-

Page 5: Monika Balzert Evangelische Stift in Literarische Theolo gen ......Schriftsteller und Literarhistoriker: seit 1893 Pro fessor an der Technischen Hochschule in Stutt gart"; der jüngere

sonntag (5. April) halten. Richard Weitbrecht hat

damals das Repetentenjahr in Urach vor sich

( 1875), in dessen Verlauf über ihn ein einjähriges

Predigtverbot ausgesprochen wird. Er promoviert

deshalb 1876 in Tübingen über das Nibelungen­

lied und verfasst anonym eine neuhochdeutsche

Version des Gudrunliedes 10, bevorer-wie schon

sein Bruder Carl -eine Studienreise nach Italien antritt.

Dichterische Arbeiten sind nach den Markgrö­

ninger Anfängen ("Bruder Conrad" 1871) wenige

bekannt 11 . Ab 1878 nimmt Richard eine Pfarrstel­

le - wohlgemerkt außerhalb Württembergs - in

Mähringen bei Ulm an und gibt von dort mit Carl

zusammen, der in Schwaigern ist, die "Schwoba­

gschichta" heraus, bevor er 1893 erster Stadtpfarrer

der ev.-luth. Gemeinde im damals Hessischen

Wimpfen am Berg wird. Hochgebildete Literaten

wurden aus dem Stift in die theologische Praxis

entlassen. Für viele, auch Eduard Mörike, zu dem

C. Weitbrecht und besonders E. Paulus persönli­

chen Kontakt hatten, tat sich zur religiösen Berufs­

richtung schon im Lauf des Studiums eine Kluft

auf. Dazu kamen die Entwicklungen in der Theo­logie, die Carl Weitbrecht 1873 klagen lassen:

"Den alten Christus hat man uns genommen, Wie ihn die gläubge Einfalt sich gedacht,

Der neue ist ein Schattenbild, verschwommen,

Das in kein Herz noch wahren Trost gebracht". 12

Die Bildungsreisen nach Italien bestärkten die goethische Seite: Freundschaftsbeziehungen stär­

ken die dichterische Produktivität, in Nachahmung

der klassischen Vorbilder nicht nur der deutschen

Literatur, sondern auch der Antike.

Freund Carl Weitbrechts in diesem Sinn war der

Stuttgarter Eduard Paulus der Jüngere. Dieser, 1837 geboren, ist nach Studien in München und der

Begehung des gesamten Limes mit seinem Vater,

dem Finanzrat Eduard Paulus d. Älteren "nach Italien aufgebrochen ," 13 wo er in Begleitung mit­

empfindender Freunde 1862/63 ein Jahr lang vor

allem die Bauwerke der Renaissance studierte. In Italien genas er aber auch, nach seinem eigenen

Bekenntnis, als Dichter in seiner "innersten Na­tur".14 Dass Carl Weitbrecht später mit Paulus

nach Italien reiste, ergab ein reiches gemeinsames

Bezugsfeld außerhalb des Markgröninger und

Stuttgarter Berufsalltags des Theologen bzw. des

Denkmalpflegebeamten . Der Briefwechsel Carls

mit dem Stuttgarter Freund wie auch die Gedicht­

sammlungen beider sprechen dafür. Eduard Paulus

erwähnt Besuche, er will den Freund aus der pro­

testantischen Strenge wenigstens im Geist immer

wieder in die sinnenfrohe Kunstlandschaft Itali­

ens entführen - symbolisch gelegentlich auch bis

nach Degerloch in den "Löwen".

Aus den Jahren 1871-73 hat sich der Briefwech­sel erhalten 15 , der zwischen Stuttgart und Markgrö­ningen hin- und herging und den freundschaftli­

chen Austausch zwischen dem späteren Literatur­

geschichtsschreiber und Stuttgarter Hochschulrek­tor, den man als den "Prophet Schillers" apostro­

phiert hat16, und dem zehn Jahre älteren Landes­

konservator Dr. Eduard Paulus beleuchtet. C. Weit­

brecht hat seinerseits weit mehr Briefe von Paulus

aufbewahrt als umgekehrt der Stuttgarter Freund.

Insbesondere fand sich im Kontrast zur Kriegs­

begeisterung 1871 die in Markgröningen zentrierte

Entstehung des "Sängerwettstreits" um die beiden

10 Richard Weitbrecht, Das Gudrunlied. In neu­hochdeutschen Versen nachgedichtet. Stutt­gart, Metzler 1884. Ähnlich hatte Hermann Kurz 1847 "Tristan und lsolde" in hochdeutsche Verse gebracht.

11 Schwäbische Lieder­chronik 1875/6: "Les­sings Tod"/"Nicht wenn der Frühling"/"Im Herbst"/"Am Rhein".

12 Aus: "Ein Leben. V" (1873)

13 OskarParet,SL5, 1950, 441.

14 Eduard Paulus, Gesam­melte Dichtungen. Stuttgart 1904: Ausflug in die Campagna, S. 385.

15 Nachlässe im Dt. Li­teraturarchiv Marbach.

16 Der Vorsitzende des Li­terarischen Klubs Stutt­gart Dr. Eugen Schnei­der in seinem Vorwort zur 2.Auflage von Carl Weitbrechts "Schiller in seinen Dramen" Stutt­gart (Frommann) 1907, S. 4 ("Zur Erinnerung an Carl Weitbrecht").

23

Page 6: Monika Balzert Evangelische Stift in Literarische Theolo gen ......Schriftsteller und Literarhistoriker: seit 1893 Pro fessor an der Technischen Hochschule in Stutt gart"; der jüngere

17 M. Balzert, Alte Liebe: Poesie und Denkmal­pflege in der Unterrie­xinger Frauenkirche, Durch d. Stadtbrille 4 (1989) 77- 85.

18 Graf Leutrum von Er­tingen, Die Gräflich -Leutrumsehe Frauen­kirche zu Unter-Riexin­gen. Mit einem Über­blick über die Geschich­te des Dorfes. Stuttgart (Kohlhammer) 189 1. Kapitel 10: Gedichte (S.64-74), Nr. 2 und 3.

19 Carl Weitbrecht, Ge­dichte. Neue Ausgabe. Zugleich dritte ver­mehrte Ausgabe des "Liederbuchs". Stutt­gart (Adolf Bonz & Comp.) 1880, "Bruder Conrad" S. 59-66. Ge­sammelte Gedichte, Stuttgart (ib.) 1903, S. 17-23.

20 Leutrum a. a. 0 . S. 25: "Das Jahr 1890 brachte als wichtige Funde zwei uralte Denksteine, die, in der Kirchhofmauer verborgen, durch Lan­deskonservator Finanz­rat Dr. Paulus bei sei­nem Besuch entdeckt wurden und die ich auf entsprechende Unterla­gen im Schiff aufstel­len ließ."

21 C. W., Gedichte. Neue Ausgabe 1880, S. 178-180. Die Gedichte ge-

24

Inschriften im Bereich der Unterriexinger Frauen­kirche aus dem auch sonst poetisch ergiebigen Brief­wechsel vollständig dokumentierbar 17 • Erstaunlich

ist: Richard Weitbrecht, liebevoll von Carl "mein Kleiner" genannt und vom älteren Bruder in Dicht­versuchen gefördert, hat den Anstoß gegeben, die Riexinger Inschriften zu bedichten: zwei zusam­

menhängende Romanzen Richards sind als Brief­beilage Carls in dessen Handschrift an Paulus ge­sandt erhalten. Trotz des großen Lobs, das der älte­re Bruder spendet, scheint Richards Ballade nicht gedruckt worden zu sein. Paulus antwortet auf die Übersendung mit seinem eigenen Entwurf, und als

letzter schwingt sich Carl zu dem langen Vers­gedicht auf, das seit 187 5 in seine Gedichtsammlung "Liederbuch für meine Freunde" eingegangen ist. Dass sichjeweils ein Gedicht von Carl Weitbrecht und Eduard Paulus mit der Unterriexinger Frauen­kirche beschäftigt, hatte aus Anlaß der Restaurie­rung Gerhard Graf Leutrum von Ertingen 1891 in seiner Schrift über die Frauenkirche 18 ermittelt. Carl Weitbrecht sowie Eduard Paulus d. J. traten ja als bekannte Literaten ins Gesichtsfeld des Grafen Leutrum. Weitbrechts "Bruder Konrad", bereits 1875 veröffentlicht, lag damals gerade in der Neuen Ausgabe der Gedichte C. Weitbrechts von 188019

vor. Erst in der Ausgabe von 1903 ist im Inhaltsver­zeichnis dem "Bruder Konrad" das frühe Entste­hungsdatum 1871 beigegeben, der entscheidende Hinweis auf die Markgröninger Entstehungszeit Der Eindruck Leutrums, Paulus habe erst 1890, sozusagen im Amt, nämlich mit Bergung und Auf­

nahme der alten Inschriftsteine der Kirche befasst, den Margaretenstein als Neufund20 poetisch gefei­ert, trifft also nicht zu.

Die Freunde Eduard Paulus und Carl Weitbrecht veröffentlichten ihre Gedichte auch in der "Schwä­

bischen Liederchronik, dem Jahrbuch deutscher

Liederdichtung der Gegenwart in Schwaben", he­

rausgegeben seit 1875 von Georg Jäger. 1883 wurden sie Herausgeber des "Schwäbischen Dich­

terbuchs", abgesehen von den stattlich weiterwach­sender eigenen Gedichtsammlungen. Carl betreut

seit 1876 in Schwaigern die Redaktion des "Neuen deutschen Familienblatts", wo er unter dem Pseu­

donym " Gerhart Sigfrid" eigene Gedichte und Er­zählungen veröffentlicht. Weitbrechts Ge­

dichtsammlung spiegelt die Freundschaft in den

Strophen "An Eduard Paulus. I-III"21 wieder. Der in Marbach erhaltene Briefwechsel der

Freunde liegt ab Februar 1871 vor. Aus den Briefen von Eduard Paulus, dem frisch­

gebackenen württembergischen Landeskonserva­tor, an den Freund in Markgröningen, geht hervor: Beide sind noch unverheiratet, aber auf Braut­

schau, ein zentrales Thema, das andererseits in den Mundartgeschichten der Brüder Weitbrecht nicht sentimental-romantisch, sondern erfrischend derb behandelt wird.

"Stuttgart 8. Mai 1871 '0 der Arme früh und spat Schreibt er auf Kanz­leiformat' ... Wie ich aus Ihrem Brief ersehe, hat

die Blüthe bei Ihnen noch nicht begonnen. Sie schreiben wenigstens nichts davon, oder hüten sich deswegen zu schreiben, weil Ihr Lenz doch

am Ende keine Früchte bringt - ... Sollte aber der

Mai auch endlich in Markgröningen eingezogen sein, so wäre es mir ein großes Vergnügen, wenn

ich Sie einmal über einen Tag besuchen könnte.

Page 7: Monika Balzert Evangelische Stift in Literarische Theolo gen ......Schriftsteller und Literarhistoriker: seit 1893 Pro fessor an der Technischen Hochschule in Stutt gart"; der jüngere

Ich könnte vielleicht schon am Samstag anrücken; ein Wirthshaus wird es schon in Markgröningen geben, wo ein alter Italienfahrer sein Haupt nie­derlegen kann. Schreiben Sie mir über diese Mate­rie keinen langen Brief. Seit Sie von hier fort sind bin ich vollends ganz allein, die Mädchen fallen von mir ab massenweise, und doch bin ich jetzt

definitiv angestellt, pensionsberechtigt! ... Dass Sie ohne Liebe sind, ist mir ein großer Trost für Sie; es taugt wenig für den Dichter, es wäre denn eine unglückliche Liebe, das ist also was wir uns aufs Brot schmieren können, das ist für unser­einen. -Und nun zum Schluss will ich Ihnen als protestantischem Seelsorger noch einen heilsamen

Schrecken einflößen durch ein ganz katholisches Lied, das ich aber hinwiederum auf ein gut evan­gelisches Mädchen gedichtet habe".( ... )

Das hier nicht mitgeteilte Gedicht22 lässt schon Motive anklingen, wie sie sich nachher in den

verschiedenen Gestaltungen der Konrad-Dichtung ausgeführt finden. Die "Bilder aus Italien", die Paulus gerade zur Herausgabe vorbereitet, enthal­ten weitere Ausgestaltungen der religiös überhöh­ten unglücklichen Liebe.

"Stuttgart, 25. Mai 1871 (mit Gedichtbeilage) Mein lieber Freund, Letzthin konnt' ich Sie leider nicht besuchen, das Wetter war zu kalt, zu deutsch wollen wir sagen. Nun aber sind himmlische Tage, aber Sie werden wohl an Pfingsten mü Ausgie­ßung des heiligen Geistes sehr beschäftigt sein, auch fürchte ich an solchen Tagen diejenigen,

welche damals schon den Jüngern des Herrn auf­säßig wurden und sie der Betrunkenheit ziehen, ich fürchte diese selbst besoffenen, alle Eisenbah-

nen ausfüllenden, sich mit Vergnügungen abquä­lenden Menschenmassen und hoffe Sie deshalb

später an einem stillen Sonntag auf der Kanzel in Markgröningen zu überraschen. Wie Sie auch aus

meiner gebundenen Rede bemerkt haben werden,

sind tiefe Wandlungen in mir vorgegangen, ich

schöpfe wieder Hoffnung, wie ein Fisch, den man

wieder ins Wasser geworfen hat, meine Seele hat sich geneigt und gehoben und strömt über in sün­digen Liedern. Gott erhalte mir den Funken und behüte mein Herz vor allem Dumpfen und Miß­lichen. -Ich male jetzt nicht mehr mit Oelfarben,

sondern in Wachsfarben, wie die alten toskanischen Maler, die so gottfrohe Heilige schufen, viele ne­

beneinander, mit ahnungsseligen Näschen und goldenen Haaren, Harfen in den Händen und zier­liche Lilienstäbe. Ich freue mich schon, mit Ihnen zusammenseinund zusammenfühlen zu dürfen. Ihr getreuer Ed.Paulus

Landesbeschreibungsknecht"

Paulus bereiste mit seinem Vater von 1866-79 die Oberamtsbezirke: In den seit 1871 erschienenen Oberamtsbeschreibungen sind die Ortsbeschrei­bungen meist von ihm verfasst. Statt des erhofften Lehrstuhls für Kunstgeschichte wurde ihm aber 1872 nur die Stelle seines ausscheidenden Vaters, des Finanzrats Paulus (1803-78), zugesagt. Aus den Andeutungen Weitbrecht gegenüber geht her­vor: Paulus sehnt sich nach einem Hausstand, trotz

allen Poetentums, und die sichere Anstellung er­möglicht ihm, sich am 15. Mai 1873 mitderimmer

deutlicher hervortretenden Braut, Constanze Renz, zu verheiraten. Im Oktober 71 wird er die Hand­schrift seiner Braut dem Freund in Markgröningen

hörten wie der "Bruder Conrad" schon zum al­ten Bestand von 1875. S. 181 "An Denselben nach dem Tode seines Vaters", ist 1878 ent­standen. Die Verlagsan­zeigen im dieser Aus­gabe konzentrieren sich auf Eduard Paulus d. J. (bei Bonz und bei Neff Erschienenes).

22 Eduard Paulus, Gesam­melte Dichtungen, Stuttgart 1904, S. 22-23, ohne die dritte Stro­phe.

25

Page 8: Monika Balzert Evangelische Stift in Literarische Theolo gen ......Schriftsteller und Literarhistoriker: seit 1893 Pro fessor an der Technischen Hochschule in Stutt gart"; der jüngere

\lllotrßtüuinoen. ljen~et nm Gtabt•'Ufntt~nu~. 1544.

Vermutlich aus der Hand des Eduard Paulus stam­men Zeichnungen vom Markgröninger Pfarr­haus, der Bartholomäus­und Heilig-Geist-Kirche, sowie weiterer - heute verlorener Details aus der Stadt- die er in "Die Kunst- und Altertums­Denkmale im Königreich Württemberg" (1889) veröffentlichte.

in Form der Abschrift gerade des Konradsliedes

unterbreiten. Ab jetzt schon sendet er dem Freund

Liebesgedichte an seine spätere Frau.

"Stuttgart Juni 1871 (mit Gedichtbeilage) Mein lieber Freund! Viel herzlichen Dank für Ih­

ren schönen Brief von letzthin, den ich schon lang

zu beantworten trachtete, aber die Zeit mangelt und das Geld, denn 'anche io sono poeta ', und muß

mich plagen und den Staatskarren helfen tragen.

Wie Sie aus dem Schwäbischen Merkur ersehen haben werden, ist die Witterung gegen mich, sehr schlecht und nicht anstellig zu verreisen, und daher jetzt keine Dampferlinie zwischen hier und Grö­

ningen eingerichtet ist, so müssen wir vorerstens gebratene Brieftauben ins Maul fliegen lassen. (P)"

Die Zeitungsnotiz über den außer­gewöhnlich verregneten Sommer lässt sich ermitteln: jedenfalls ist der Gedanke einer 'Schiffsverbin­dung' zwischen Markgröningen und Stuttgart übers Lange Feld skurril. Etwas später weitere Brie­fe, deren oft humorvoll umschla­gende Stimmung typisch ist:

"Stuttgart, einen Monat nach dem Vollmond im Jahr der Sindfluth 1871 Das Beste wäre, wir gingen nach Italien, wo die Sonne scheint und der Lorbeer von selber wächst und die Myrten blühen und alles un­

entgeltlich."

9Jiorfgriinlnnen. lUo~n lt!ff!llirJcn 6fibportnl bec Stnbt!itnJe. 'JlaO O:noclrfJrn H7~. Ein Stimmungsbild der dienstli-

eben Ausfahrten:

26

Page 9: Monika Balzert Evangelische Stift in Literarische Theolo gen ......Schriftsteller und Literarhistoriker: seit 1893 Pro fessor an der Technischen Hochschule in Stutt gart"; der jüngere

"Stuttgart Juli 1871 Mein lieber Freund, letzthin am Samstag hätte ich Sie beinahe besucht, ich war schon in Asberg, ich

kam von Brackenheim her- aber es war so maßlos

heiß, daß ich mich nicht entschließen konnte, Sie heimzusuchen, ich wäre auch ohne Zweifel unter­

wegs vollends ganz zerflossen.- Aber ich möchte Sie doch einmal besuchen im Laufe dieses Jahrs,

schreiben Sie mir ... Ach man wird alt und geistlos

und schleppt sich dahin maschinenmäßig mit lot­ternden Schrauben- und der Krieg ist vorbei, der

uns so jauchzend gemacht, man ist zufrieden und

hatjetzt wieder (ich wenigstens) keinen Heißhun­

ger mehr nach einer tiefächten frischen poetischen Leistung. Hätten Sie nicht die Güte, recht schöne

Lieder zu schreiben? ... Ich klammere mich immer krampfhafter an die Poesie, ich fürchte immer auch, daß es das einzige Glück - und daß wir Riesen­

schätze in uns besitzen, aber die Hebung ist so schwer, es sitzt ein großer schwarzer Pudel darauf mit flammenden Augen. Hierüber und über die

große Annehmlichkeit unseres württembergischen Pfarrschatzes bald mündlich mehr IhrE. Paulus"

"Stuttgart 28 . Juli 1871 An C. W. 0 dürft' ich wieder gehen Mit dir, es denkt dir noch­Bei lauer Lüfte Wehen durchs hohe Degerloch.

Die jungen Vögel sangen

So fröhlich durch den Wald, Und unsere Herzen klangen zusammen alsobald.

Zu Füssen liegt gebettet das blüthenvolle Thal, Und wir emporgerettet Aus Dunst und Dampf und Qual.

Des Lämmerwirthes Weine Verklären den Humor Und jeder stellt die Seine Im Lied dem Andern vor.

0 Lieb, 0 Luft, 0 Leben, Gleichheit der Poesie, Die Wunden sie verschweben­doch sie vergeht uns nie."

Dieses Lied gibt Zeugnis von gemeinsamen Aus­flügen, besonders nach Degerloch- ins "Lamm", sonst in den "Löwen", um sich über die wechseln­den Liebesschicksale mit gutem Württemberger zu trösten. Auch der folgende Brief scheint auf solche ausgelassenen Dichterpartien anzuspielen.

"Stuttgart 18. Sept. 1871 Hochedler und halbgöttlicher Freund -Sie werden glauben ich sei verrückt. ... Man sollte Sie den lyrischen Freiligrath23 nennen, auch Sie singen von Affen, Bären, Löwen und Katzen ... doch genug des Scheußlichen, bald alles mündlich ... wär ich im Stande, Sie zwischen Don­nerstag und Samstag aufzusuchen, den Festschwin­del müssen wirbeidenatürlich auch mit (unleser­

lich) stinkend und trinkend. Wie oft hab ich ge­wünscht, Sie möchten bei mir sein und den Won­nen der Jugend.- 'Trompeter, blas an den Rhein,

an den Rhein '!"

23 Ferdinand Freiligrath hatte 1870 in Lauffen zur Hölderlin-Feier ge­sprochen und war 1871 wieder in Stuttgart (z. B. im Haidehaus). 1874 schreibt erheitere Gruß­episteln an den dichten­den Landeskonservator Paulus.

27

Page 10: Monika Balzert Evangelische Stift in Literarische Theolo gen ......Schriftsteller und Literarhistoriker: seit 1893 Pro fessor an der Technischen Hochschule in Stutt gart"; der jüngere

24 Die Inschriften des Kreises Ludwigsburg, gesammelt und bearbei­tet von A. Seeliger-Zeiß und H. U. Schäfer. Die Deutschen Inschriften, Bd. 25. Wiesbaden 1986, Nr. 178

25 Die Grabplatte der Mar­garete von Münchingen. 2 Fragmente: der Löwe soll vom Mittelfeld der Grabplatte stammen. "Beide Teile wurden 1890 von Landeskon­servator Eduard Paulus aus der Kirchhofmauer geborgen und 1891 re­noviert." Damals er­folgte auch die Aufstel­lung in der Kirche auf dem Postament sowie die schwarze Ausma­lung der Buchstaben. (Seeliger-Zeiß a. a. 0. ; Nr. 39; zeitlicher An­satz: Ende des 14.Jahr­hunderts).

28

Als Zitat setzt Paulus den Anfang des 2. Gedichts

aus Carls "Liedern von Einem, der nicht mitdarf '

ans Ende.

Markgröninger Dichterwettstreit im Spätherbst 1871

Der Eindruck der deprimierendenN ovemberstim­mung 1871 , der nördlichen Öde, die das Dichter­

gemüt Carl Weitbrechts im Pfarramt in Markgrö­

ningen umgibt, lässt sich aus verschiedenen Ge­dichten belegen. Der Briefwechsel mit dem Freund

in Stuttgart spiegelt seinerseits Depressionen, die auch die poetische Produktion gefährden.

Der einzige erhaltene sehr sorgfältige Brief Carl

Weitbrechtsan Paulus vom 25. Oktober mit dem eigenhändig abgeschriebenen Gedicht des Bru­ders Richard stellt eine Wendemarke dar: voraus­

gegangen sein muss mindestens ein gemeinsamer Gang der Freunde zur Unterriexinger Frauenkirche mit der rätselhaften Inschrift neben dem Seiten­portal - die Bruder-Conrat-Inschrift am Strebe­pfeiler der Ostseite der Riexinger Frauenkirche als

"Gedächtnisinschrift für einen Unbekannten mit Vornamen Conrad" wird heute eher ins 16. Jahr­

hundert datiert24 - und dem damals noch im Freien befindlichen Margaretenstein25 . Spielerisch hat­ten sich die phantasievollen Italienfahrer im Deu­

ten geübt. Eduard Paulus hatte den noch in zwei Fragmenten in der Friedhofsmauer sitzenden 'Margarethenstein ' entdeckt, aus beruflichen In­teressen dafür besonders sensibilisiert. Der sich nun per Briefwechsel entspinnende "Sängerwett­

streit" zeigt das gesunde Selbstvertrauen Carls in seine- verglichen mit der seines Bruders- über­legene poetische Fertigkeit.

"Markgröningen, 25. Okt. 1871 Lieber Freund! Diesmal bin ich lange nicht drange­kommen, Ihnen zu schreiben und vielmal zu dan­ken fürdie Bilder aus Italien!- Es surrt mir noch im

Kopf von den vielerlei Zerstreuungen, beziehungs­

weise Zersplitterungen der letzten Wochen. Ich

muss jetzt, da die Tübinger und ähnliche Bieder­männer das Haus nicht mehr unsicher machen, erst nach und nach meine sieben Sinne wieder ordnen,

was bei unser einem mehr Arbeit kostet als beim sonstigen Menschenkind, das mit 5 Sinnen glück­lich ist. Aber es istjetzt eine trübselige Zeit, es wird

still und kühl und spät, und ich habe wieder einmal Heimweh - weiß nicht, wonach? Ich wollte, wir

wären vollends eingeschneit! Das 'Bruder Conrad, dem Gott gnad'- am Riexinger Kirchiein hat mein Bruder sehr schön besungen. Ich wills Ihnen ab­

schreiben. Ich selbst habe seit dazumal gar nichts, sage: gar nichts mehr produciert; ich liege im poe­tischen Gärtlein da wie ein todter Hund. Meine

Phantasie läuft klappernd leer und mein Gemüth wird täglich ärmer - was brauchen auch draußen die Blätter zu fallen? Ich wollte, wir wären einge­schneit ! Winterschlaf! - Wintertraum! Also das

Gedicht meines Bruders! Es sind aber zween:

I.

"Hier laß mich ruhn, die Wallfahrt ist vollendet, Laßt sterben mich in meinem Heimatthal! Hier, wo ich den geweihten Ort geschändet, Wo ich zum Mord gezückt den blanken Stahl­Schließt euch zur Ruh, ihr Augen, zu ,

Hier scheine mir die Sonn zum letztenmal!"

Er lehnt sich an den Pfeiler; müde sinken Die Augen ihm, im Abendwinde wehn

Page 11: Monika Balzert Evangelische Stift in Literarische Theolo gen ......Schriftsteller und Literarhistoriker: seit 1893 Pro fessor an der Technischen Hochschule in Stutt gart"; der jüngere

Die langen Locken, die wie Silber blinken -Stumm andachtsvoll die Frommen ihn umstehn, Die unverweilt herbeigeeilt, Des fremden Bruders Sterben anzusehn.

Da plötzlich zuckt es wie Erinnerungen Ihm durch das Herz, sein Aug erschließt sich weit - "Er redet- hört ihn!" flüstern alle Zungen, "Macht seinem Segen euer Herz bereit!" Er hört es nicht, sein Angesicht Färbt Fieberglut- er ist in alter Zeit:

"Da wars!" - Der Pfeiler deckt den Kampfes­heißen, Die Hand faßt um des Schwertes Griff geballt­Das soll dem Beter drin die Wege weisen­Jetzt tritt er aus der Thür- ein donnernd "Halt!" Den Stahl heraus! 's gilt einen Strauß! Du oder ich! Hei wie das kracht und schallt!

"Willst von ihr lassen? Nein! - So magst dann fallen! Gnad Gott dir! Ha, da sitzt der Todesstoß!" Am Pfeiler lehnt er blutig -Tritte hallen -Schon Reue? Fort von hier! Greif aus, mein Roß! Ostwärts zum Krieg im Sturme flieg! Im Heilgen Kampf wird man der Qualen los!

0 heißer Sturm auf Akkons feste Mauern! Komm, Tod vom Türkenschwert!- Er geht vorbei! Gefangenschaft! 0 endlos langes Trauern! Das Haar ergraut- und alt- und endlich frei! Zum Heimatland den Fuß gewandt -"Gott, gieb, dass ich bei Ihr begraben sei!"

Er schweigt. Die Sonne sinkt im Westen nieder, Noch färbt ihr Strahl das Kirchiein blutig roth, Leis senkt der Schlaf sich auf des Wandrers Lider,

Im Abendwind kommt sanft zu ihm der Tod. Dumpf schallt und bang der Glocke Klang, Vom Chor her tönt's :"Erlös uns aus der Noth!"

II. Stumm auf dem Kirchiein liegt die Nacht, Kein Laut rings in der Runde! Allein der Mond am Himmel wacht Zur mitternächtgen Stunde. Am Pfeiler kühl gebettet ruht Der Wanderer so still und gut, Und wer, wer denkt noch seiner? Der Nachtwind flüstert: Keiner!

Doch horch! es schallen leis geführt Am Kirchiein Hammerschläge -Hats in den Gräbern sich gerührt? Sind heut die Geister rege? Ein Weib steht an des Pfeilers Rand Und haut mit ungeübter Hand Beim fahlen Mondenscheine Am felsenharten Steine.

Schon viele Sommer sind dahin Ihr übers Haupt gegangen, Ihr Haar, das einst so goldig schien, Ist weiß, verblüht die Wangen; Nur noch ihr Aug blitzt hell und gut, Als wär vom altem Tugendmuth, Von ihrem heißen Lieben Ein Strahl darin geblieben.

"Um mich", spricht leis ' sie, "zogest du Dein Schwert hier aus zum Streite, Ich trieb dich ohne Rast und Ruh Hin in die Welt, die weite-Du hast wohltreugedacht an mich!

29

Page 12: Monika Balzert Evangelische Stift in Literarische Theolo gen ......Schriftsteller und Literarhistoriker: seit 1893 Pro fessor an der Technischen Hochschule in Stutt gart"; der jüngere

30

Wer denkt, wenn ich dahin, an dich? So soll der Stein dir schenken Ein treues Angedenken!"

Und Schlag auf Schlag fällt nun herab, Mag auch die Hand ihr beben: Ein gräbt sie einen Pilgerstab

Und fromm ein Kreuz daneben. Dann haut sie zitternd in den Stein Kunstlos gefügte Worte ein, Mit ihnen ihre Thränen Und all ihr banges Sehnen.

Eh sich die Nacht geendet hat, Noch vor des Morgens Grauen, Steht 'Bruder Conrad, dem Gott gnad ' Im Pfeiler eingehauen;

Und als der erste Sonnenstrahl Fällt auf des Todten Ehrenmal, Geht lächelnden Gesichtes Sie ein zum Land des Lichtes.

Richard Weitbrecht

Ich wollte, ich hätte das Ding gemacht! Einige Unebenheiten in der Form kommen gegen die Schönheit des Ganzen nicht in Betracht, im Gan­zen ist auch die Form ein bedeutender Fortschritt meines Kleinen- früher war er hierin etwas nach­lässig.- Man ruft mich ab, deswegen- einander­mal mehr! Mit herzl. Grüßen Ihr getr. Carl Weitbrecht"

Das "Bruder Conrad Gedicht" von Eduard Paulus kommt nicht in der entsetzlich unleserlichen Hand­

schrift von Paulus selbst nach Markgröningen, son­dern als kalligraphisches Probestück seiner Braut Constanze Renz ("C. R.").

"Stuttgart. 18. Novemb. 1871 Mein lieber Freund, Jedem, der aus Mutterleibe will, sollte man mit einem 2 Thaler Stück den Hirnschädel eindrücken; wozu denn der Aufwand von Jammer und Schmerz, von ewiger nie enden wollender Mühsal. Und vollends die Dichter, wel­

che alle diese Scheußlichkeiten noch in süß klin­gende Form gießen, und endlich, was noch ent­

setzlicher, die sog. Geistlichen, die sagen, wir sei­en unsterblich, und uns darauf vorbereiten wollen ; daß das Elend nur nie und nimmer ein Ende haben soll. Da Sie nun beides sind, so können Sie sich denken, wie grausam Sie mir erscheinen und wie schwer es mir wird, mit Ihnen fröhlich zu verkeh­ren-, aber doch gehören Sie noch zu den allerbes­ten, die ich gefunden habe./Ja, es gehört wahrlich ein guter Muth dazu, nicht ungeduldig zu werden; aber was geht das mich an , sagt der ewige, selige Geist der Welt, ich habe Wichtigeres zu thun: ich muß meine strahlenden Fixsterne in Ordnung hal­ten und kann mich mit einem so elenden irdenen Planeten nur nebenher abgeben. Ja, mein lieber Freund, wir sind auf die Thaifahrt gerathen; durch ein pures Mißverständnis sind wir soweit herun­tergekommen, und wir bekommen vielleicht noch eine Nachzahlung von 10.000 Seligkeiten für alle die so unrechtmäßig erlittene Unbill! Als licht­geborenen Leute sind wir unter die Saurier ge­steckt worden und wer hilft uns nun heraus aus diesem Urschlamm; an unseren eigenen Zöpfen müssen wir uns herausziehen, aber diese Tat ist ja letzthin nicht gerathen und obliegt dem Löwen

von Degerloch. Doch bald giebts wieder Krieg worin die Bestie Mensch seinem transeendentalen Unmuth wieder ein wenig Luft macht, und dann

Page 13: Monika Balzert Evangelische Stift in Literarische Theolo gen ......Schriftsteller und Literarhistoriker: seit 1893 Pro fessor an der Technischen Hochschule in Stutt gart"; der jüngere

schreibt mein Weitbrecht wieder ein Bändchen

herrliche Kriegslieder! Nichts schöner als dieß!

Kommen Sie auch wieder nach Stuttgart, damit

wir das Nähere darüber besprechen. Anliegend

sende ich Ihnen ein Lied, das ich durch die schö­

nen Lieder Ihres Bruders angeregt auf Riexingen

(Bruder Konrad u. d. Grabstein der Margareta)

verfaßt habe. Ein schönes Fräulein, das eine große

Verehrerio Ihrer Gedichte ist, hat es Ihnen abge­

schrieben.

Ihr treuer Ed. Paulus."

In Handschrift von der Braut des Eduard Paulus,

Constanze Renz (Monograrnrn gepresst links oben

auf dem Doppelbogen des Damenbriefpapiers)

"Stuttgart, Oct. 1871 Bruder Conrad. ( ... ) E. P.

(eigenhänd. sign.)"

Eine andere "Stuttgart Nov. 1871" von Paulus

geschriebene 4-strophige Gedichtbeilage enthält

die Anspielung auf den Margarethengrabstein.

In dem nächsten Brief zeigt Paulus seinerseits

an, dass inzwischen die "Bruder-Conrad-Dich­

tung" , die Carl Weitbrecht verfasst und übersandt hat, an ihn gelangt ist: als Briefbeilage hat sich das

Gedicht allerdings handschriftlich nicht auffinden

lassen. Das muss zwischen dem 22. Nov. und 9.

Dezember gewesen sein , dem Datum des folgen­

den Briefes:

"Stuttgart, 9. Dec. 1871 Mein lieber Freund. Schönsten Dank für Ihren Brief und den Armen Conrad, der keine Ruhe

mehr hat in seinem Grab. Das Gedicht ist sehr

schön geschrieben, nur dürfte man dem Manne

vielleicht mehr innere Entwicklung wünschen.

Noch mehr aber muß ich Sie rühmen wegen Ihres

Gedichtes in der Stuttgarter Zeitung, das hier

überall die vollste Anerkennung gefunden hat, und

auch in dem Mumientreffen bei Kolb von Profes­

sor Kern bei lautloser Stille vorgelesen wurde.

Und in der That ist es außerordentlich schön und

ergreifend und gehört zu Ihren besten unter den

Kriegsliedern, einfach, reinklingend und große tie­

fe Gedanken. Zurseiben Zeit hatte ich auch ein

Lied überdie Geister von Edenhall begonnen, aber

es wollte nicht fertig werden, und ich hab es

jetzt glaub ' ich verloren; mir scheint, das Schick­

sal hatte Sie dafür ausersehen und mir die Kraft

entzogen und Ihnen beigelegt, womit ich voll stän­

dig zufrieden bin, denn es ist auf ein sehr fruchtba­

res Feld gefallen. Letzthin war ich bei Lyriker

Mörike (Silberburgstr. 67 .2) , er sagte mir, ich sol­

le Ihnen danken für Ihre Gedichte, die ihm sehr

gefallen haben und er möchte mündlich mit Ihnen

darüber sprechen. Er hat eine große schneeweiße

Katze, die er sehr hoch hält. Auf baldiges Wieder­

sehen

Ihr Ed. Paulus verte!l( Rückseite:) Soll ich eine kleine Kritik über Ihre Kriegslieder in der Stuttgarter Zeitung schreiben ; weil jetzt

Weihnachten kommt, geht vielleicht einer oder

der Andere auf den Leim. Schreiben Sie mir hier­über bald. Das Publicum ist eine reine Sau!

IhrE P"

Carl Weitbrecht veröffentlicht später ein Gedicht

über einen eigenen Besuch bei Mörike, es steht unmittelbar vor dem Sonettzyklus an Eduard Pau­

lus26. Friedrich Theodor Vischer, Inhaber des Lehr­

stuhls, den Carl Weitbrecht 1893 einnehmen wird,

sprach am 4. Juni 1875 beim Begräbnis Mörikes.

Ein Zitat aus dieser Grabrede, eine Anrede an

26 neu aufgenommen in die Gedichte 1880, Abt. IV Stimmung und Ge­legenheit, S. 176.

31

Page 14: Monika Balzert Evangelische Stift in Literarische Theolo gen ......Schriftsteller und Literarhistoriker: seit 1893 Pro fessor an der Technischen Hochschule in Stutt gart"; der jüngere

27 nach Alfred Biese, Deutsche Literaturge­schichte, Bd. 2, Mün­chen 1913, S. 677.

32

Mörike: "Das Leben, das wirkliche Leben braucht ja noch andere Kräfte, nüchterne, eiserne; auch das Reich der Muse verlangt anders geartete Kräf­te noch als die deinen, verlangt Kräfte mit Adler­sehnen und mit breitem Schwunge der Fittiche"27

- Mörike wurde gewürdigt, ja, aber als der zeitge­mäße kämpferisch gestimmte Dichter wurde er nicht empfunden: Carl Weitbrecht entsprach mit Kriegslieden, "Kernliedern" und kraftvollen ger­manischen Mythen weitgehend diesem Ideal. Ge­rade deshalb erscheinen im Jahr 1871 die Roman­zen um Bruder Konrad von Bedeutung: Sie zei­gen, dass Stimmungen gegensätzlicher Tendenz das Bewusstsein Carl Weitbrechts und seines Freundes im Jahr der deutschen Reichsgründung bestimmt haben.

Schon 1872 sendet Paulus statt Verlobungsan­zeige ein heiteres Gedicht- mit eigenhändig hin­zugefügtem Datum und Signet, doch in der Hand­schrift der Verlobten! Schwierigkeiten, mit denen Weitbrecht kämpft, spricht er in einem weiteren Gedicht "An Carl Weitbrecht" an , das er dem Freund ("Stuttg. Feb. 72") sendet.

Eine Frühlingseinladung ergeht von Weitbrecht zurück an den Freund in Stuttgart:

"Markgröningen, 8. März 1872 Lieber Freund, Wissen Sie noch, wie wir heute vor einem Jahre in später Mitternachtsstunde einen Abschiedstrunk bei Kolb thaten? Weiß nimmer, was wir uns noch Gutes gewünscht haben. Gutes haben wir aber jedenfalls indeß erreicht. Mir fehlt

jetzt nur noch Italia, dann sag ich Amen! und

werde Pfarrer. Hier einige Lieder und vielen Dank für die Ihrigen! ... Nun wird die Welt wieder recht für Unsereinen! Über Ostern wird wohl alles grü-

nen und um diese Zeit ist meine Liebste wieder bei

mir. Wie wärs , wenn Sie dann einmal mit der Ihrigen kämen? Auch mein Bruder wird wieder da sein- vielleicht können wir dann abermalen einen Sängerstreit a la "Bruder Conrad" aufführen. Vielleicht komme ich vorher noch einmal nach

Stuttgart. Für heute dies und viele Frühlingsgrüße! Ihr tr(euer) CW"

Paulus antwortet heiter:

"Stuttgart, 25 . Januar 1873 (Am Tag von Pauli Bekehrung) Mein lieber Freund. Schon längst wollte ich Ihnen

schreiben und danken für Ihren I. Brief vom 8. d. M. , aber ich habe so schrecklich viel zu thun, eine

mir ganz ungewöhnte Sache, daß ich keine Zeit habe, zuweilen neue Liebesgedichte zu machen oder 1/4 Liter Bier zu trinken. Mit Ihrem Schrei­ben bin ich ganz einverstanden namentlich in Be­treff des Ganges zum Löwen empor, ja es wäre gut, wenn wir beide wieder im Sternbild des Lö­wen ständen, unsere Gedanken wieder auszulüf­ten und unsere Lieder wieder auszuwischen, unse­re Herzenstiefen wieder auszuleuchten.

Der eine schreibt sich Weitbrecht Der andre Eduard, 0 wären wir jetzt müd necht, Wir gingen auf die Fahrt. Wir gingen in das warme Altrom, zum Petersplatz Ein jeglicher am Arme

den heißgeliebten Schatz.

Fromme Wünsche, göttlicher Erfüllung harrend, Sie indessen in Markgröningen pfarrend, Und ich als Speiche im Schubkarrenrad knarrend,

Page 15: Monika Balzert Evangelische Stift in Literarische Theolo gen ......Schriftsteller und Literarhistoriker: seit 1893 Pro fessor an der Technischen Hochschule in Stutt gart"; der jüngere

Aber zugleich in innigster Freundschaft verhar­rend Als Ihr treuer Freund Eduard Paulus Assistent."

Die herzliche Verbundenheit findet später den unmittelbaren Ausdruck nicht mehr so leicht. Zum Beispiel: In einem Brief Weitbrechts aus dem Züricher Intermezzo taucht zwar endlich das Du auf, verdeckt aber kaum die leicht ironische Distan­zierung des Briefschreibers.

"Zürich, 2. März 1890. Lieber Freund! Schreibst du nichts mehr? Seit Jahresfrist laboriere ich an einem längeren literarisch-kritischen Aufsatz über Deine schiefgewickelte dichterische Gesamtper­sönlichkeit, und dies ist mit der Grund, warum ich über deinen 'Merlin' im Einzelnen nichts geschrie­ben habe."

Eigentlich gehört jedoch das 1889 ebenfalls in Zürich im Herzenston verfaßte Gedicht Carl Weit­brechts hierher, zur Würdigung der unverbrüchli­chen Freundschaft: An Eduard Paulus28

Heut hab ich wieder auf die Welt geflucht Die mir von jeher stiefgesinnt gewesen, Dann hab ich deine Lieder vorgesucht Und hab mich wieder dran gesund gelesen.

Wennirgendwo auf meinem Lebensgang Ganz reiner Weg, ganz seliger Pfad gewesen, Dann war es dort, wo ich mit dir im Sang Und Zwiegespräch vom Erdenkrebs genesen .

Wenn auf den Hünenburgen uns umspann

Der Götternebel im Novemberwinde, Wenn in das Glas der reine Wein uns rann In Sommernächten unter blühender Linde-

Wenn wir im Pfarrhaus unterm Rebenlaub Des Lebens Rätsel ernst und lachend wogen Und dann durch Marktgewühl und Kehrichtstaub Der Alltagsgassen zu den Münstern zogen -

Wenn wir vom Apennin aufs weite Meer Voll Andacht wie verklärte Geister schauten,

Indes dort unten wechselfarbig schwer Um Felsenschloß und Turm die Nebel brauten-

Wenn durch die stolzen Gassen von Florenz Wir wie mit Ghirlandajos Menschen streiften Und durch den anemonenbunten Lenz Der üppigen Medicäervillen schweiften -

Wenn uns aus allem Pfaffentrug zum Licht die klaren Bauten Brunellescos hoben Und helle Gottesfunken ins Gesicht Vom Meißel Michelangelos uns stoben -

Und wenn wir, heimgekehrt ins deutsche Land, Uns trotzig wieder gegen Larven stellten Und siegreich standen, Schwert und Glas zur Hand, Ob noch so heiser kleine Füchse bellten -

Wenn- das war Leben, wie ein ganzes Stück Von dem, was ewig fest, was nie verwittert! Und seh ich klaren Augs darauf zurück, Begreif ich nicht, wie je mein Herz gezittert.

Vorwärts durch Wust und Rauch und blödes Nichts, Das wichtigdumm sich bläht und morgen modert! Und dann ins Grab! - wir Erben jenes Lichts, Von dem wir sicher wissen, wo es lodert!

28 Gesammelte Gedichte 1903 S. 305

33