Moulagen – das Ebenbild in Wachs - anthropologen.de · 98 Peggy Seehafer den modernen Bildern in...

15
Moulagen – das Ebenbild in Wachs Peggy Seehafer Anatomische Modelle werden bis heute gefertigt und haben ihren fes- ten Platz in der wissenschaftlichen, wie auch in der popul¨ arwissen- schaftlichen Lehre und Aufkl¨ arung. Sie erm¨ oglichen als weitgehend anonyme, alters- und geschlechtslose Kopien einen Einblick unter die Haut, in den menschlichen K¨ orper, auf Organe und Gewebe. Die derzeitig verst¨ arkt ¨ offentlich wahrgenommene Technik der Plastina- tion verwischt die Grenzen zwischen Modell und Pr¨ aparat (Schnalke 2000). Moulagen (von frz. mouler – abformen) sind dreidimensionale Wachs- modelle, Abdr¨ ucke oder Abg¨ usse, die in der Anatomie und f¨ ur medi- zinische Lehrzwecke genutzt werden. Sie beruhen auf dem unmittel- baren Gipsabdruck am Menschen, der mit einer Wachsmischung aus- gegossen und nach dem Originalbefund koloriert wird. Der Zweck ist die naturgetreue Abbildung des menschlichen Originals. Dazu geh¨ ort die genaue Nachbildung oder Abformung der K¨ orperoberfl¨ ache bis hin zu den Falten und Warzen, eine fabelhafte Kolorierung sowie die Ausstattung mit Glasaugen, Haaren, Kleidung usw. Im Kontrast zu

Transcript of Moulagen – das Ebenbild in Wachs - anthropologen.de · 98 Peggy Seehafer den modernen Bildern in...

Moulagen –das Ebenbild in Wachs

Peggy Seehafer

Anatomische Modelle werden bis heute gefertigt und haben ihren fes-ten Platz in der wissenschaftlichen, wie auch in der popularwissen-schaftlichen Lehre und Aufklarung. Sie ermoglichen als weitgehendanonyme, alters- und geschlechtslose Kopien einen Einblick unter dieHaut, in den menschlichen Korper, auf Organe und Gewebe. Diederzeitig verstarkt offentlich wahrgenommene Technik der Plastina-tion verwischt die Grenzen zwischen Modell und Praparat (Schnalke2000).

Moulagen (von frz. mouler – abformen) sind dreidimensionale Wachs-modelle, Abdrucke oder Abgusse, die in der Anatomie und fur medi-zinische Lehrzwecke genutzt werden. Sie beruhen auf dem unmittel-baren Gipsabdruck am Menschen, der mit einer Wachsmischung aus-gegossen und nach dem Originalbefund koloriert wird. Der Zweck istdie naturgetreue Abbildung des menschlichen Originals. Dazu gehortdie genaue Nachbildung oder Abformung der Korperoberflache bishin zu den Falten und Warzen, eine fabelhafte Kolorierung sowie dieAusstattung mit Glasaugen, Haaren, Kleidung usw. Im Kontrast zu

98 Peggy Seehafer

den modernen Bildern in der Medizin ruft die realitatsnahe, dreidi-mensionale Moulage heute wie damals im Betrachter Attraktion undAbscheu in gleichem Maße hervor.

Mit der Kenntnis um diese Wirkung werden z. B. fur die realistischeUnfalldarstellung bei Ubungen fur den Rettungs- und Katastrophen-dienst bis heute nach wie vor Moulagen (aus Kunststoff) verwendet.

Wachs eignet sich besonders gut, um den menschlichen Korper hin-sichtlich Farbe, Form und Textur naturgetreu nachzubilden. NebenWachs fanden im 18. Jahrhundert Holz und im 19. Jahrhundert auchGips und Pappmache Verwendung. Seit etwa 1920 dominieren Kunst-stoffe den anatomischen Modellbau.

(a) Venus (b) Wachsmodell eines rechtenOhres

Abb. 1: Wachsmodelle aus dem Museum fur Naturkunde der Universitat Florenz– Zoologische Abteilung La Specola (Bild (a): Saulo Bambi; (b): Museo di CereAnatomiche)

Die anatomische Wachsbildnerei entwickelte sich Ende des 17. Jahr-hunderts aus der Tradition der kunstlerischen Wachskunst. Das per-fekte Ebenbild zu formen, ist ein uralter Traum des Menschen. Stell-vertretende Bildnisse dienen dem Menschen seit Jahrtausenden zurUberwindung der korperlichen Fesseln von Zeit und Raum, vor al-lem als Mittel gegen die Unausweichlichkeit des Todes. Ihre Ferti-gung geht auf Prinzipien zuruck, die bereits fur die anthropomorpheWachsplastik in Gestalt der Totenmaske der Antike entwickelt wur-

Moulagen 99

den. Fur ihre Anfertigung wurde uber dem Gesicht des Verstorbe-nen ein Gipsnegativ abgeformt und spater in ein Positiv ubertragen.Die Masken wurden durch die Bemalungen idealisiert und einem le-bensfrischen Zustand der Verstorbenen angeglichen. Die alteste nacheinem Naturabguss gefertigte Totenmaske fand sich in einem agypti-schen Grab aus der Zeit von 1370 v. Chr. (Schnalke 2000).Nach den Jenseitsvorstellungen der Agypter, kann die Seele des Ver-storbenen nur dann in den Gefilden Jarus existieren, wenn er zuvorseinen alten Korper wieder gefunden und neu beseelt hatte (Schmidt2002). Aus Agypten sind entsprechend auch ganze Figuren erhalten,deren Stroh- und Holzkern mit Wachs ummantelt oder die vollstandigaus Wachs modelliert sind. Sogar Korperpartikel (Echthaar, Zahne,Schadel, Knochen) sind verwendet worden.

Der Totenmaskenkult erlebte seine Blute um das 3.–2. Jahrhundert v.Chr. Angesehene Patrizierfamilien ließen die Masken ihrer Angehori-gen aufwandig fertigen, lebensecht bemalen und teilweise mit Haarenaufbereiten, um sie in einen Familienschrein zu stellen. Spater wurdedie Totenmaske in die Gedachtniskultur des christlichen Abendlan-des ubernommen. Wachsabdrucke lieferten nun die Grundlage furdauerhafte Busten aus Bronze, Terrakotta usw. Die Wachsmaske desBernardino de Sienna (gest. 1444) ist eine der altesten belegbarenVorlagen fur eine Terrakottastatue, die erhalten geblieben und heu-te Ausstellungsstuck im Provinzialmuseum Aquila in Mittelitalien ist(Schmidt 2002).

Im Frankreich des 18. Jahrhunderts wurde die Wachsmaske als Hilfs-mittel fur die Herstellung von Portraits oder portraitahnlichen Bild-nissen von Lebenden eingesetzt. Marie Tussaud, geb. Grosholtz,(1761–1850) aus Straßburg, stammte aus einer Henkers- und Scharf-richterfamilie. 1780 zog sie mit ihrem Onkel und Lehrer, dem angese-henen Wachsmodellierer Philippe Curtis, nach Paris, wo sie schonbald ihr Talent mit Wachsbildnissen von Angehorigen des Adelsund der koniglichen Familie bewies. Jahre spater sollten eben die-se Wachsportraits von den Revolutionaren unter Spottliedern durch

100 Peggy Seehafer

die Pariser Straßen getragen werden. 1795 heiratete sie den IngenieurFrancois Tussaud, mit dem sie sieben Jahre spater nach London zog.Marie Tussaud entschloss sich spater, Wachsfiguren von zeitgenossi-schen Mordern zu formen, was sich als uberaus gewinntrachtig erwies.Sie zog mit ihrer Kollektion mehrere Jahre hindurch von Ort zu Ort,um sich 1835 schließlich in London niederzulassen und das Wachs-figurenkabinett zu eroffnen. Auch in Deutschland wurden Wachsfi-guren in (Wander-)Ausstellungen popular: in Berlin, Munchen undHamburg sind bis heute entsprechende lebensgroße Puppen zu be-sichtigen. So eroffnete z. B. Karl Valentin am 21. Oktober 1934 inMunchen sein Panoptikum. Die Idee Valentins war es, seinen Einfallenuber seine Szenen und Stucke hinaus eine museale Dauer zu verlei-hen. In langwieriger und kostspieliger Arbeit wurden die Keller desHotels Wagner in den ”Grusel- und Lachkeller“ verwandelt. Betei-ligt an diesem Unternehmen waren neben Valentin, Liesl Karlstadt,die Gebruder Wagner als Hauseigentumer und der Universitatsplasti-ker Eduard Hammer, der mit seinen Wachsplastiken das Panoptikumentscheidend beeinflusste und mittrug. Emil Eduard Hammer leite-te neben seiner Tatigkeit als Universitatsplastiker (Herstellung vonanatomischen Wachsplastiken und Modellen fur medizinische Uni-versitaten in aller Welt) das 1894 eroffnete gigantische InternationaleHandelspanoptikum und Museum in der Munchner Neuhauser Straße1 (Glasmeier 1982).

Als direkter Vorlaufer der Moulage ist die Anatomia plastica zu nen-nen, die ihren Hohepunkt im 18. Jahrhundert erreichte. Die erstenPlastiken entstanden im Schnittpunkt medizin-, kunst- und technik-historischer Entwicklungen des spaten 18. Jahrhunderts, sowie dersich herausbildenden wissenschaftlichen Pathologie. Zunachst exis-tierten nur lokale Zentren der Moulagenkunst, z.B. in Florenz, Jena,London, Paris und Wien. Anfanglich ging es darum, den gesunden,normalen Menschen in seiner Gesamtheit und im Zusammenspiel sei-ner Organe dreidimensional darzustellen. Es entstanden ganzkorper-liche Ubersichtsmodelle und viele Detailarbeiten, z. B. zur Embryo-nalentwicklung des Menschen. Die Wachsbildner oder Modellbauer

Moulagen 101

schalten wie Bildhauer die Formen aus einem kalten Wachsblock.Mit erwarmtem Wachs konnte zusatzlich freihandig modelliert wer-den und bestimmte Details wurden dann im Abdruckverfahren prapa-riert.

Eines der großen Zentren war das naturkundliche Museum La Spe-cola in Florenz, wo noch heute die Wachsmodelle betrachtet werdenkonnen. Diese Sammlung besteht aus Figuren aus dem 18. (von Cle-mente Susini, Francesco und Carlo Lorenzuoli und Luigi Calamai)und aus dem 19. Jahrhundert (1848–95 von Enrico Tortoli), welcheganze Korper und Korperteile mit großer Genauigkeit darstellen. Indiesem Museum1 sind außerdem allegorische Szenen mit Wachsfigu-ren ausgestellt, die Gaetano Zumbo gegen Ende des 17. Jahrhundertsschuf und in ihnen den Tod, Seuchen, usw. thematisierte.

Die Bedeutung der Wachsplastiken fur die Lehre war so groß, dassz. B. Kaiser Franz Josef II. 1786 mehr als 1.000 anatomische undgeburtshilfliche Modelle fur den medizinischen Unterricht der Mi-litararzte und Hebammen in Osterreich bezog. Diese konnen noch im-mer im Josephinum, dem heutigen Institut fur Geschichte der Medizinin Wien, besichtigt werden (Allmer 1965). Die eigentliche Moulagen-kunst in Europa erlebte ihre Blutezeit zwischen den Jahren 1880 und1940 und fand ihre großte Verbreitung in der Dermatologie (Lehre derHauterkrankungen) und Venerologie (Lehre der Gefaßerkrankungen).Den wesentlichen Anstoß zu dieser Entwicklung gab der 1. Internatio-nale Kongress fur Dermatologie und Syphilologie im August 1889 inParis, auf dem Jules Pierre Francois Baretta (1834–1923) mit seinenMoulagen große Begeisterung bei den anwesenden Dermatologen ausganz Europa hervorrief. Danach etablierte sich die Moulage als Lehr-modell, dass jede großere Hautklinik eine eigene Sammlung anlegte.Einzelne Kliniken beschaftigten eigene Moulageure, die die Krank-heitsbilder direkt am Krankenbett abformten und die Moulagen vorOrt moglichst originalgetreu kolorierten (Euler 2000; Schnalke 2000).

1 Siehe auch <http://www.specola.unifi.it/cere/wax-collection.htm>

102 Peggy Seehafer

Abb. 2: Milzbrand: Wachsmoulage von ca. 1910 (Universitat Greifswald, Institutfur Geschichte der Medizin)

In diesem medizinischen Kontext wurde wieder auf den Naturab-guss am lebenden, kranken Menschen zuruckgegriffen, bei welchemdirekt auf dem Korper ein Gipsabdruck aufgenommen, das Negativmit Wachs ausgegossen und so im Umkehrverfahren ein Positiv ge-fertigt wurde. Bei gleichzeitiger Betrachtung des Kranken wurde dieRohmoulage bemalt und durch das Einsetzen von Haaren und Kunst-augen dem Original angenahert. Abschließend wurden diese auf einHolzbrett montiert und mit dem Diagnoseeintrag versehen. Danachwurden sie moglichst licht- und staubgeschutzt in Schranken aufbe-wahrt. Die Grundflache der Wachsmodelle variierte zwischen 10 x9 cm und 50 x 50 cm. Das technische Vorgehen in den Moulagen-werkstatten unterschied sich von dem an Kliniken tatiger Moulageu-re. Die Abformungen wurden noch am Patienten vorgenommen. Da-nach ubernahmen jedoch in der Moulagenwerkstatt tatige Mitarbei-

Moulagen 103

ter das Giessen, Retuschieren und Bemalen, die den ursprunglichenKrankheitsbefund nie gesehen hatten. Damit war es nach dem ErstenWeltkrieg moglich, große Stuckzahlen an Moulagen, z. B. als Unter-richtsmaterial in die ganze Welt zu liefern.

Mit der Moulage wurden dreidimensionale, hoch realistische und in-dividuelle Krankenportraits geschaffen. Das klinische Wachsbild wardarauf ausgerichtet, die Aspekte des kranken Korpers tauschendecht wiederzugeben. Selbst im Atlas der Hautkrankheiten von Prof.Eduard Jacobi, der zwischen 1903 und 1920 sieben Auflagen erfuhr,wurden zur Illustration der Krankheitsbeschreibungen ausschließlichFotos von Moulagen eingesetzt. Am haufigsten wurden Erkrankun-gen dargestellt, deren Reaktionen auf der Haut sichtbar wurden, wiez. B. Lues (Syphilis), Lepra, Gonorrhoe (Tripper), Windpocken usw.Damit erschloss sich dem wachsernen Dokument zu Beginn des 20.Jahrhunderts neben der wissenschaftlichen Lehre eine neue Rolle:Moulagen wurden auch zur breitenwirksamen, offentlichen Gesund-heitsaufklarung bzw. Abschreckung benutzt.

Ab 1911 kamen die Moulagen in den großen Dresdener Hygiene-ausstellungen und trotz differenzierter Aufklarungsstrategien nochab 1930 im Hygienemuseum als imponierend wirklichkeitsnahes An-schauungsmittel zum Einsatz. Dort wurden in einem abgedunkeltenRaum, im Volksmund ”die Schreckenskammer“, die Wachsbilder vonGeschlechtskrankheiten prasentiert. Es war erklartes Ziel der Ausstel-ler, dem Laienpublikum die Krankheitsbilder so drastisch vor Augenzu fuhren, um mit ihrer abschreckenden Wirkung an ein bewusste-res Gesundheitsverhalten der Besucher zu appellieren. Der ”Odol-Konig“ Lingner organisierte die 1. Hygiene-Ausstellung in Dresden1911, die von 5,5 Millionen Menschen besucht wurde. Der Grunddafur war, dass dort nicht – wie bei vergleichbaren Ausstellungen –nur medizinische Gerate vorgefuhrt wurden. Lingner zeigte Moulagen,Spirituspraparate und Reinkulturen von Bakterien. Er ließ einfacheMikroskope bauen, mit deren Hilfe die Bevolkerung die gefahrlichenKrankheitserreger erstmals direkt in Augenschein nehmen konnten.

104 Peggy Seehafer

Der Werbefachmann wusste, dass eine Mischung aus Gruselkabinettund Belehrung mehr Erfolg haben wurde, als die trockene Vermitt-lung von Fakten (Hartwig 2000).

Die visuelle Schocktherapie sollte den Einzelnen dazuveranlassen, Vorsichtsmassnahmen zur Krankheitsvermei-dung zu treffen und spezifische Krankheitszeichen fruh ansich selbst zu erkennen. (Euler 2000)

Viele Sammlungen wurden im Zweiten Weltkrieg ganz oder teilwei-se zerstort. In der Folge verloren die Moulagen auch durch die sichimmer starker durchsetzenden modernen Medien wie Fotografie undFilm an Bedeutung. Fotos sind nicht nur leichter zu reproduzieren, siesind auch bedeutend gunstiger herzustellen und platzsparender zu ar-chivieren. Ganze Moulagensammlungen wurden aufgrund dessen aus-rangiert und beispielsweise zu Altarkerzen eingeschmolzen (Schmidt2000).

Erst in den letzen Jahren ist medizinhistorisches Interesse an diesemThema erwacht, da Moulagen neben alltaglichen auch heute sehr sel-tene oder gar nicht mehr vorkommende Krankheitsbilder dokumen-tieren. Viele Moulagensammlungen an verschiedenen Hautklinikenerleben eine Renaissance. In vielen Universitaten wurden Bestandegesichtet, Sammlungen neu archiviert und neu geordnet und stehender wissenschaftlichen Lehre wieder zur Verfugung. Die Sammlungder Universitat Kiel ist beispielsweise seit 1975 im Horsaalrundgangder Universitats-Hautklinik ausgestellt und der Offentlichkeit wiederzuganglich (Euler 2000).

Moulagen 105

Moulagen als Lehrmodelle im Vergleich

Abb. 3: Wachsmodell einesEmbryos angefertigt von W.His um 1880. Etwa 2,5 mmgroß.

Wachsmodelle und Moulagen ersetzten biszu einem gewissen Punkt das Studiumder Anatomie an Verstorbenen. Fur denanatomischen Unterricht standen mensch-liche Leichname lange Zeit wegen fehlenderKuhl- und Konservierungstechniken nur inder kalten Jahreszeit zur Verfugung. Inder Sommerzeit kompensierten dann dieWachsmodelle das Fehlen der Praparate.Der Vorteil war außerdem, dass sich aus-gewahlte Wachsmodelle durch das Auslas-sen unwesentlicher Strukturen (kleinste Blutgefasse, Nerven usw.) aufdas Wesentliche konzentrierten, was zusatzlich farbig akzentuiert wer-den konnte, sodass sich schwierige topografische Verhaltnisse, wie z.B. im Kopf-Hals-Bereich nahezu von selbst darlegten. Ein weitererVorteil der detaillierten Modelle liegt auch in der anpassungsfahi-gen Große im Verhaltnis zum abgebildeten, moglicherweise makro-skopisch kaum sichtbaren Original (siehe z. B. Abb. 3).

Abb. 4: MoulagenmuseumUniversitatsSpital und Uni-versitat Zurich

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wa-ren klinische Lehrmaterialien gezeichnete,lithographierte, gestochene, gemalte undkolorierte Abbildungen von den sichtbarenZeichen einer Krankheit oder prapariertemenschliche Korperteile. Diese waren nichtselten idealisiert oder uberzeichnet, wie amBeispiel der Abb. 5 zu sehen ist.

Mitte des 19. Jahrhunderts loste die Foto-grafie die Malerei als Dokumentationsme-dium ab und etablierte sich auch in derMedizin rasch durch ihre scheinbare Objek-tivitat. Monochrom gehaltene Fotos gaben

106 Peggy Seehafer

sehr gut die grafische Struktur und das Formenrelief charakteristi-scher Krankheitszeichen auf der Haut wieder. Die Nachkolorierungmachte aber haufig den naturnahen Eindruck wieder zunichte, wobeifur die Diagnostik gerade die wirklichkeitsnahe Farbgebung entschei-dend ist.

Trocken- und Feuchtpraparate spielen in der dermatologischen Dia-gnostik und Lehre traditionell nur eine untergeordnete Rolle, weil siedurch die Konservierung einer so starken Veranderung unterliegen,dass sich die Praparate nicht fur eine realitats- und naturnahe Prasen-tation eignen. Auch bei der Plastination werden durch die Kunststoff-impragnierung die Zellen chemisch und physikalisch denaturiert, wasihnen die typische Textur lebender Gewebe nimmt, welche im Gegen-satz dazu die Wachsmodelle so lebensecht aussehen lasst.

Die in Moulagentechnik hergestellten Lehrmaterialien waren eine ein-drucksvolle Erganzung zu den genauen Beschreibungen der Krank-heitsbilder. Die Aufgabe der Moulage war im Gegensatz zur ana-tomischen Wachsplastik nicht mehr die anonyme Wiedergabe eineridealisierten Vorstellung vom normalen Korperbau, sondern die Do-kumentation des realen Krankheitsbildes einer identifizierbaren Per-son. Sie dienten nicht nur als Lehr- und Studienmittel, sondern auchin einem geringem Umfang der Befunddokumentation.

Die Moulage bewahrte sich als Abbildung nicht nur wegen ihrer rea-litatsnahen Farbe- und Bemalbarkeit, sondern auch wegen ihrer drei-dimensionalen Darstellung von Krankheitszeichen. Außerdem nahertsie sich der Objektivitat durch den direkt am Patienten entnomme-nen Abdruck in einem Maße an, die eine Abbildung nicht erreichenkann, da sie den subjektiven Einflussen eines Illustrators unterliegt(Abb. 5).

Durch die realistischen Abdrucke schuf die Moulagenkunst eine Artdreidimensionale Fotografie von den Kranken und starkte mit dieserDarstellung den Anspruch auf Sachlichkeit, welcher in der wissen-schaftlichen Lehre eine besondere Rolle zukommt.

Moulagen 107

Abb. 5: Querlage eines Fetus in der Gebarmutter nach B. S. Schulze (Hebam-menlehrbuch, 1921). Die Proportionen dieses lachelnden Ungeborenen, der sichmit seiner Ausrichtung innerhalb der Gebarmutter in einer durchaus misslichenSituation befindet, stimmen nicht. Die Hande und Unterarme, sowie Knochel undUnterschenkel sind im Verhaltnis zum Rest des Korpers zu grazil dargestellt,eher vergleichbar mit den (schonheits)idealen Proportionen von Erwachsenen je-ner Zeit.

In der Konkurrenz zur Fotografie behielt die Moulage bis in die Mittedes 20. Jahrhunderts ihre fuhrende Position. Die Fotografie avanciertezur Hilfstechnik, um das Wachsbild bestmoglich, z. B. fur Lehrbucher(z. B.: Jacobi 1903) zu reproduzieren (Schnalke 2000).

Erst mit der Entwicklung des Farbdiapositivs verlor die Moulage anBedeutung, allerdings musste gleichzeitig auf die dritte Dimension inder Abbildung verzichtet werden. Mit computergestutzter Technolo-gie ist es heute wieder moglich, diese dritte Dimension in die Abbil-dungen hineinzunehmen. Im Kontrast zu den modernen Bildern inder Medizin ruft die realitatsnahe, dreidimensionale Moulage heutewie damals eine besondere Faszination hervor. Nicht zuletzt deswe-gen empfinden es viele (auch professionelle) Betrachter einfacher, mit

108 Peggy Seehafer

einem Lehrmodell zu arbeiten, das man in den Handen halten, in derOberflache betasten und verschiedenen Lichteinfallen aussetzen kann.Diese so genannte Stereognosie ist die Fahigkeit durch Beruhren diedreidimensionale Struktur eines Objektes zu erkennen. Dazu gibt esbestimmte Nerven fur taktile Reize in der Handregion des Menschen(Kolb & Wishaw 1993).

Abb. 6: Moulage aus demMusee des moulages del’hospital Saint-Louis 1 inParis

Den Eindruck, den eine Moulage oder einWachsmodell auf den Betrachter macht,wird nicht ausschließlich als Bildreprasen-tation im Gehirn gespeichert. Auch as-soziierte Handlungen, Empfindungen undSprache sind prasent (Kolb & Wishaw1993). Das bedeutet, die Betrachtung ei-ner Moulage in einer Laborumgebung odereiner medizinhistorischen Ausstellung er-laubt einen anderen, fur das Lernen eherforderlichen Einstieg, als die Betrach-tung einer dreidimensionalen Abbildungam Computer. Das liegt u. a. daran, dassder Rechner schon eine erste raumliche Di-stanz zur Abbildung schafft, die nachstebildet die Studienumgebung (Arbeitszim-mer, Bibliothek), die normalerweise nicht

mit menschlicher Anatomie verknupft ist. Durch die raumliche Di-stanz konnen mit der Abbildung assoziierte Emotionen, wie Ekel oderMitgefuhl verhindert werden, die fur das Studieren von Krankheitenwichtig sind.

Ein wesentlicher Grund fur die Wirksamkeit von Moulagen ist diePersonifikation. Die Haut als großtes Korperorgan ummantelt denmenschlichen Korper nicht nur, sondern gibt ihm seine fur uns au-genscheinliche Identitat. Die Darstellung von Erkrankungen der Hautbzw. Symptomen auf der Haut und der Abdruck an einer reellen Per-son machen deren Gesicht zum Prototypen fur diese Krankheit und

Moulagen 109

nehmen ihr den Schutz der Anonymitat. Diese Personifikation derKrankheit bettet sie in einen Kontext, aus dem sich der Betrachternur schwer losen kann, weil Menschen mit einem speziellen Wahr-nehmungssystem ausgestattet sind, welches hochst sensitiv auf Ge-sichter anspricht. Diese unverzichtbare Fahigkeit ermoglicht es demMenschen, Beziehungen einzugehen und aufrecht zu erhalten (Land-au 1993). In dem hier angesprochenen Fall konkretisiert die Moulagedie entsprechend abgebildete, sonst nur abstrakte Krankheit anhandihrer sichtbaren Symptome.

Die Haut ist aber nicht nur mit Identitat assoziiert, sondern gleichzei-tig auch mit Schmerzempfinden, welches stark emotional gefarbt istund keine eindeutig definierte Wahrnehmungsqualitat darstellt. Dochauch ohne das Fachwissen um Nocirezeptoren und Neurotransmitterbei der Schmerzwahrnehmung kann sich jeder Mensch unabhangigvon Alter und Intellekt vorstellen und erinnern, dass Veranderungender Haut (Risse, Schurfungen, Entzundungen usw.), wie sie in denMoulagen deutlich werden, mit Schmerzen einhergehen.

Der dominanteste Sinneseindruck beim Menschen ist das Sehen, aberes darf nicht vergessen werden, dass Wahrnehmung und Lernen ubermehrere Sinne stattfindet, also ein multifaktorielles Geschehen ist.Die Betrachtung von Abbildungen auf Papier oder im Computer be-wirkt eine gezielt selektive Aufmerksamkeit, die fur Experten in fo-kussierter Forschung sinnvoll sein kann, sich aber fur die breite Wis-sensvermittlung an Mediziner und interessierte Laien nur begrenzteignet. Das gilt fur heutige Medizinstudenten ebenso, wie fur dieBesucher der ”Schreckenskammer“ in den Hygiene-Ausstellungen ab1911 in Dresden: Das Wissen um Details macht nur im Zusammen-hang einen Sinn und fuhrt erst nachfolgend zu einem anhaltendenLernerfolg (Spitzer 2002).

Eben weil sie aufgrund ihrer Beschaffenheit mehrere Wahrnehmungs-sinne zugleich ansprechen, eignen sich Moulagen besonders gut alsLehrmodelle.

110 Peggy Seehafer

Daneben darf nicht vergessen werden, dass einige Krankheiten inunseren Breiten, dank des medizinischen Fortschritts, nur noch anMoulagen studiert werden konnen, womit diese als geschichtstrachti-ge Dokumente einen nahezu unschatzbaren Wert darstellen.

Literaturverzeichnis

Allmer, K.; Jantsch, M. (1965): Katalog der Josephinischen Sammlung ana-tomischer und geburtshilflicher Wachspraparate am Institut fur Geschichte derMedizin der Universitat Wien Wien: Herrmann Bolau Nachf.

Euler, U. (2000): Die Moulagensammlung der Dermatologischen Universitatskli-nik Kiel , Dissertation an der med. Fakultat der Universitat Kiel.

Glasmeier, M.C. (1982): Karl Valentin: Volkssanger? Dadaist? Munchen: Schir-mer & Mosel-Verlag.

Hahn, S. und D. Ambatielos, (Hrsg.) (1994) Wachs – Moulagen und Modelle.Internationales Kolloquium 26. und 27. Februar 1993, Deutsches Hygiene-MuseumDresden.

Hartwig, M. (2000): Vor 70 Jahren: Das Deutsche Hygienemuseum in Dresdeneroffnet , DLR.

Jacobi, Eduard (1903): Atlas der Hautkrankheiten : mit Einschluss der wich-tigsten venerischen Erkrankungen; fur praktische Aerzte und Studierende. Urban& Schwarzenberg, Berlin.

Kolb, B. und I. Wishow (1993): Neuropsychologie Heidelberg: Spektrum Aka-demischer Verlag.

Landau, T. (1993): Von Angesicht zu Angesicht. Heidelberg: Spektrum Akade-mischer Verlag.

Marz, I. (2000): Ausgewahlte Moulagen und Wachsmodelle in der Charite. Ka-talog zur Ausstellung Theatrum naturae et artis – Theater der Natur und KunstHumboldt-Universitat Berlin. Berlin: Henschel Verlag.

Netzeitung (2001): Es ist doch nur Wachs<http://www.netzeitung.de/servlets/page?section=568&item=126211>

Moulagen 111

Schmidt, H. (2002): Die Totenmaske – das letzte Antlitz Vortrag im Kongress-zentrum Luxemburg anl. des Kongresses OMEGA90

Schnalke, T. (1995): Diseases in Wax. The history of the medical moulage Ber-lin: Quintessence Publishing.

Schnalke, T. (2000): Der Mensch in Wachs: Anatomische Modelle und klinischeMoulagen. Katalog zur Ausstellung Theatrum naturae et artis – Theater der Naturund Kunst. Humboldt-Universitat Berlin, Berlin: Henschel Verlag.

Schubert, E. (1983): Grundriss der Physiologie Berlin: Verlag Volk und Gesund-heit.

Spitzer, M. (2002): Lernen, Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidel-berg: Spektrum Akademischer Verlag.

Walther, E. (Hrsg.) (1993): Moulagen – Krankheitsbilder in Wachs. Dresden:Deutsches Hygiene-Museum.