März 2011 – Nr · stischen Dichter Boris Vian heraufbeschwört. In Kriers Gedichten überlagern...

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:: Die neuen Preisträger: Jean Krier Olga Martynova Nicol Ljubic´ :: Schreibwerkstätten im Kulturhauptstadtjahr :: Eine unbekannte, kleine Sprache: Le ¨tzebuergesch März 2011 – Nr. 5 A d e l b e r t - v o n - C h a m i s s o - P r e i s 2 0 1 1 * * *

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:: Die neuen Preisträger:Jean Krier Olga Martynova Nicol Ljubic

:: Schreibwerkstätten im Kulturhauptstadtjahr

:: Eine unbekannte, kleineSprache: Letzebuergesch

März 2011 – Nr. 5

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2011

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ARTE GRATULIERTDEN PREISTRÄGERN

2011

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Inhalt :: 3

HerzkammermusikJean KrierAdelbert-von-Chamisso-Preisträger 2011

»Hände hoch« oder wir bleiben!Olga Martynova Adelbert-von-Chamisso-Förderpreisträgerin 2011

»Welche Wahrheit?«Nicol LjubicAdelbert-von-Chamisso-Förderpreisträger 2011

Deutsche Literatur von nicht-deutschen AutorenAnmerkungen zum Begriff der »Chamisso-Literatur«

Chamisso-UmschauChamisso lebt – in Archiv und Ausstellung, Buch, Bild und Blog, Internet und Konferenz

Die Nähe suchen, um die Distanz zu wahrenReportage über eine Reise nach Bosnien-Herzegowina mit dem Grenzgänger-Stipendium

»Man nimmt von beiden Seiten und erfindet Eigenes dazu«Über die luxemburgische Sprache, das Lëtzebuergesch

Es begann mit einer Liebeserklärung…Schreibwerkstätten »Viele Kulturen – eine Sprache«

Neue Bücher von Adelbert-von-Chamisso-PreisträgernRezensionen

Neuigkeiten, Auszeichnungen, Termine…Mitarbeiter dieser Ausgabe – Impressum

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Was für eine klägliche Figur er doch macht, unsereinst so glanzvoller Dichterkönig Orpheus! Nichtsmehr, so scheint es, ist geblieben von seiner alten Ma-gie und Suggestionskraft, mit der er Tiere und Men-schen zu bezaubern wusste. Wer heute noch wie derlegendäre Sänger in Konkurrenz zu den Göttern trittund zur Rettung seiner Geliebten in die Unterwelt ab-taucht, kann nur scheitern. Denn was einmal als Un-heilsgeschichte begann, das verschärft sich in der poe-tischen Wiederholung zum apokalypti-schen Alptraum. In der antiken Erzäh-lung will der Musensohn Orpheus mit derüberwältigenden Macht seines Gesangsdie dem Tod geweihte Eurydike aus demHades wieder ans Licht der Oberweltholen. Er geht der Geliebten voran, hat siefast aus dem Hades herausgelotst, kannaber im entscheidenden Moment der Ver-suchung nicht widerstehen und tut dasVerbotene: Er wendet sich nach seinerGeliebten um – das wird Eurydike zum Ver-hängnis, sie gerät endgültig in den Banndes Todes.

Der Dichter Jean Krier kehrt in sei-nem Gedicht »Mort subite«, einem derintensivsten Stücke seines jüngsten Ban-des Herzens Lust Spiele, die antike Kons-tellation vollständig um: Nun ist es derkörperlich und seelisch schwer versehrteDichter, der seiner voranschreitenden

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HerzkammermusikDer Dichter Jean Krier und seine Rhapsodik der Sterblichkeit

Von Michael Braun

Geliebten folgt – die ihrerseits keine Sekunde darandenkt, sich nach dem beschädigten Orpheus und allseinen »Gebrechen« umzusehen. Der Dichter folgt dersingenden Eurydike in düstere Vorstädte, in eine zer-störte Welt voller Schutthalden und »Straßenzügenvoller Feuer u sterbender Falter«. Es ist, wie sich amEnde des Gedichts offenbart, ein böser Traumwald,bevölkert von Schlangen und Dämonen der Großstadt.Aus diesem heillosen Szenario gibt es kein Entrinnen.

Mort subite

Und das ist eigentlich so: Eurydike schreitet vor dir her,unermüdlich, denkt auch in diesem Traum nicht daran,sich umzudrehen nach dir mit all deinen Gebrechen. Lasssie ruhig summen u singen. So immer tiefer u in immerandere Vorstädte gesogen: es ist Wald mit Häuserzeilenendlos u Straßenzügen voller Feuer u sterbender Falter.So zart in deiner Hand: anima mea. Und die Schwalbenfix, der Sommer zur Sau. Spielt auf schön brutal der Windzum Plastiktütentotentanz. Gewalt an allen Ecken. Hörst,Eurydike, die Pfiffe, du? Du meinst, kein Wunder bei allden Schutthalden u diesen Vetteln mit ihren unsäglichfetten Gesäßen. Denn gegrölt in der Schlucht unten tief.Du streitest es ab, es ist ein Wald, durch den ihr schreitetaber, wo du nicht mehr die Bäume. Voller Schlangen ein Wald, die sie alle im Takt zerquetscht, u du kommst,wenn auch kopflos, aus diesem Traum nicht heraus.

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Jean Kriers Abgesang auf Orpheus entfaltet in sei-ner Melodik und Motivik die schwarz gefärbte Klang-und Bilderwelt seiner jüngsten Dichtungen. Es ist eineRhapsodik der Sterblichkeit, eine sinnlich-barockeund todesumwehte »Herzkammermusik«, die hier einekunstvolle Form gefunden hat. Der 1949 geborene JeanKrier ist seit Jahren der einzige luxemburgische Schrift-steller, der in den deutschen Feuilletons wahrgenom-men wird, freilich ohne dass man seinen literarischenRang auch nur annähernd erkannt hätte. Es ist dassattsam bekannte Problem mit der Selbstverblendungdes deutschen Literaturbetriebs. Wer seinen Schreib-ort nicht in die Metropolen verlegt, sondern sich fürdie Peripherie entscheidet, wird mit dem Entzugöffentlicher Aufmerksamkeit bestraft. Jean Krier hat inden 1970er Jahren in Freiburg im Breisgau Germanis-tik und Anglistik studiert, bevor er in Zeitschriften undAnthologien seine langzeiligen Elegien zu publizierenbegann. Er lebt und arbeitet bis heute im kleinen Groß-herzogtum Luxemburg.

Es verwundert wenig, dass ein skrupulöser Autorwie Krier, der sich den hektischen Publikationsrhyth-men des Literaturbetriebs verweigert und sehr langeund in äußerster Akribie an einem Gedichtband arbei-tet, große Schwierigkeiten hat, einen Verlag zu finden,der sein Werk über einen längeren Zeitraum betreut.Nach dreißig Jahren scheint er nun aber im LeipzigerPoetenladen eine verlässliche Heimat gefunden zuhaben.

Bereits in seinen ersten beiden Gedichtbändenhatte Jean Krier eine ganz eigene fließende Versbewe-

gung entwickelt, die von der Technik der Langzeilelebt und darin äußerst reizvolle Mischungen aus erha-benen Anrufungen, Poesiezitaten, Redewendungen,rauen Textfragmenten und Wortfindlingen integriert.

Seit 1995 hat er vier Gedichtbände publiziert,wobei er in seinem 2010 erschienenen Band HerzensLust Spiele, mit seinen Rückgriffen auf das Alte Testa-ment und die Apokalypse des Johannes, den fatalisti-schen Verweisen auf Hölderlin, Benn, Büchner, JohnAshbery und Michel Déguy eine Intensität des Ver-gänglichkeits-Gesangs erreicht hat wie kaum ein ande-rer Autor der Gegenwart. In seinen formal so eigensin-nigen wie suggestiven Gedichten wappnet sich Kriermit einer unversöhnlichen Desillusionierungskraft undeinem scharfen Sarkasmus, um die desolate Lebens-welt unserer Gegenwart kenntlich zu machen. DasÜbergewicht der sprachlich deformierten Gesellschaftsei so stark geworden, erklärte Krier vor Jahren ineinem Gespräch mit Joachim Sartorius, dass der Rück-griff auf eine »von Kommerz und Nützlichkeit geschä-digte Sprache« unausweichlich sei. Der sprachlicheFriede werde in seinen Versen verweigert, stattdessenbahne er sich über notwendige Dissonanzen einen Wegins Heillose.

Freilich haben sich die thematischen und formästhe-tischen Schwerpunkte dieses Dichters im Laufe derJahre verschoben. In seinen Gedichtbänden Sehstücke(2002) und Gefundenes Fressen (2005) dominiertennoch die Emphasen des Visuellen, die sinnlichen Wahr-nehmungen in der Begegnung mit seinem Sehnsuchts-ort, der Ile d’Ouessant an der bretonischen Küste. Esist etwas Schwereloses in diesen älteren Gedichten,eine Fließbewegung, die aus maritimen Quellenkommt. Sie halten hartnäckig Kurs auf das Meer alsabsoluten Ort der Träume. In den Sehstücken präsen-tiert sich Jean Krier als ein Autor, der mit seinen Ge-dichten eine Fusion von zwei Unendlichkeiten anstrebt– eine Fusion von Sprache und Ozean. Er schreibt Ge-dichte, die in ihrer rhythmischen Bewegung und ihrervokabulären Textur ebenso fluid sein wollen wie dieWellen des Meeres. Die Landschaften der Ile d’Oues-sant, die auch in seinem todesbesessenen BandHerzens Lust Spiele in einem eigenen Kapitel besungenwerden, halten offenbar alle Ingredienzen des Utopi-schen bereit: die Weite, das unberechenbare Spiel des

6 :: Jean Krier

Erinnerungsblitze des lyrischen Ichs

Lange und mit äußerster Akribie arbeitet er an seinenGedichten.

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Windes, das Blau des Himmels und den »Schaum derTage«, den Krier in einer Anspielung auf den anarchi-stischen Dichter Boris Vian heraufbeschwört.

In Kriers Gedichten überlagern sich deutsche undfranzösische Sentenzen – eine poetische Gratwande-rung auf der Sprachgrenze, die der Dichter in einerstetig verfeinerten Artifizialität absolviert. Die schein-bare Leichtigkeit der Naturbeschwörung stößt indesimmer häufiger an die Grenzen einer grausamen politi-schen und anthropologischen Wirklichkeit. Auf schwel-gerische Anrufungen des Meeres, wie sie besonders inden Sehstücken zur Geltung gebracht werden, folgen inimmer bedrängenderen Bildern und immer dichterenFolge lyrische Evokationen des Todes. Im ersten undstärksten Kapitel des Bandes Gefundenes Fressen, derMotive einer existenziellen Selbstbesinnung versam-melt, ist es der Tod der Eltern, der das lyrische Ich im

»Schaum der Tage« aufschrecken lässt. Vor der Kulissedes unendlichen Meeres tauchen in kleinen Erinne-rungsblitzen die Gestalten der Mutter und des Vatersauf.

So auch im Gedicht »Sind Schäume«:

Adelbert-von-Chamisso-Preisträger 2011 :: 7

Wäre Mattigkeit danach und sanfter langer Schlaf. Aber Totengelage am Strand u alte schlaffe Haut. Der Vater kam immer nach Haus. Kein Stein auf dem andern. Aber Schweiß. Zum Überlaufen in der Scheune hinten das Fass. Mutter u Mutter schöpften schwitzend u keuchend. Totengelage von der Dämmerung bis. Als wäre noch Herbst und die Blätter fielen von ganz. Und einer, der holte die Kastanien aus dem Feuer. Plötzlich steht er auf der Düne oben, sieht sich, wie er oben da steht und wie er sich oben da stehen sieht.

In den alten Straßen von Luxemburg.

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„In den Reisebildern dieses Bandes scheint sichdas Ich nach einer Überfahrt übers Mittelmeer ganz inSchwärmerei zu verlieren. Ein Gedicht über Tunesienbeginnt so:

„So ist Gott groß aber an solchem Tag, wo derHimmel / so tief oben wie das Meer und ein Nachmittagist.“

Aber wer genau hinschaut, der wird der düsterenUnterströmung auch in jenen Gedichten gewahr, diedie tunesischen Glücksversprechen in sich einströmenlassen. In Jean Kriers Gedichten werden immer verstö-rende Signale gesetzt, die auf die Ankunft des Schreck-lichen deuten:

„Der Tod ist heiß u weiß, / die Verstorbenen wollenans Licht.“

Wer nach dem Gang durchs tunesische Paradiesam Ende des Textes angekommen ist, wird jäh mit derDatierung des Gedichts an den »heißen und weißenTod« erinnert. »Tunesien an Ostern«, heißt es da, undman darf das als Fingerzeig auf den El Kaida-Anschlagim tunesischen Djscherba lesen, der im April 2002 alleexotischen Blütenträume des Westens platzen ließ.

Diese subtile Verflechtung des Naturschönen mitdem politisch Schrecklichen oder biografisch Trauma-tischen kann man auch in den Herzens Lust Spielenbeobachten. Hier ist das im Titel aufgerufene Herznicht mehr die übliche Chiffre für die Passionen undEmotionen eines liebeshungrigen Ich, sondern primärein verletzliches Organ, das ein in den Grundfestenerschüttertes Ich mit der Todesnähe konfrontiert. DasBuch beginnt als emphatisches Gespräch mit denToten, die von den politischen Barbareien des 20. Jahr-hunderts verschlungen wurden, und weitet sich dann –in dem für Krier so typischen elliptischen Stil – zu eineruniversalen Todes-Reflexion aus, in der das Ich diegroßen Dichterkollegen der Moderne anruft, »um Ord-nungen zu schaffen jenseits der Toten, ⁄ die aus demBoden sich auflösen locker u dir in die Wirklichkeittreten«.

In einem eigenen Kapitel werden die Klinikerfah-rungen des lyrischen Subjekts beschworen, dem das»beigepasste Herz« von der Zerbrechlichkeit des Lei-bes und des Lebens zeugt. Oft flattern hier unheilvolleEngel mit schwarzen Flügeln durch die Verse, dasWeltgefühl des versehrten Ich wird geprägt durch

8 :: Jean Krier

Der Tod ist heiß u weiß, die Verstorbenen wollen ans Licht.

So ist Gott groß aber an solchem Tag, wo der Himmel so tief oben wie das Meer und ein Nachmittag ist.

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Becketts Fin de partie – ein »Endspiel«, das bis in dieeigene Finalitätsgewissheit durchschlägt. So entwirftJean Krier immer wieder in blendenden Bildern vonSchrecken und Schmerz Passionsgeschichten, indenen sich die Erfahrungen seiner schweren Herz-krankheit mit biblischen Visionen mischen:

„Und das ist Heimkehr in diesen glänzenden Saal,wo / die Kinder mit großen Augen am Tisch u in denBetten / die Toten mit ihren Kanülen und Schläuchen.Den Mantel / ablegen u nackt sein, wo Musik sonsterklang. Die Tür / öffnen u da seltsam ineinander ver-schobene Gegenden, / wo der schrecklichste derSchrecken oder du endlich, / mein Engel: wie du michaus dem Hafenbecken, wie / ich blutete an Händen undFüßen. Sieh meine Narben / u. hör.“

Mitunter entsteht der Eindruck, dass diese da-seinsbitteren Gedichte die Apokalypse bereits hintersich haben, denn auch das »Endspiel«, respektive das»Ende vom Lied« wird verabschiedet: »Lass schnauben,lass Totentanzbeine dann schwingen ⁄ – das ist dasEnde vom Lied vom Ende der Zeit.«

Finalitäten also, soweit das Auge reicht? In einemPetrarca-Gedicht des Bandes Sehstücke hat sich daslyrische Ich Jean Kriers dereinst für »resistent« und»renitent« erklärt, ein markanter Hinweis auf die Be-harrlichkeit eines Poeten, der in bösem Fatalismus dieLage des Menschengeschlechts besichtigt. In einemMerkmalkatalog für Dichter des 21. Jahrhunderts sinddiese beiden Widerständigkeiten Jean Kriers jedenfallsals Primärtugenden einzutragen: Resistenz undRenitenz. ::

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Bretonische Inseln. Gedichte. Weilerswist:Landpresse, 1995Tableaux / Sehstücke. Gedichte.Blieskastel: Gollenstein Verlag, 2002Gefundenes Fressen. Gedichte. Aachen:Rimbaud Verlag, 2005Herzens Lust Spiele. Gedichte. Leipzig:Poetenladen, 2010

Und das ist Heimkehr in diesen glänzenden Saal, wo

die Kinder mit großen Augen am Tisch u in den Betten

die Toten mit ihren Kanülen und Schläuchen. Den Mantel

ablegen u nackt sein, wo Musik sonst erklang. Die Tür

öffnen u da seltsam ineinander verschobene Gegenden,

wo der schrecklichste der Schrecken oder du endlich,

mein Engel: wie du mich aus dem Hafenbecken, wie

ich blutete an Händen und Füßen. Sieh meine Narben

u hör.

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»Ich liebe Die Wahlverwandtschaften« ruft OlgaMartynova in das ohrenbetäubende Fauchen der Es-pressomaschine hinein. Überhaupt sind die deutsch-sprachigen Schriftsteller, die sie als prägend bezeich-net, keine leichte Kost. Man sieht also gleich, wes’Geistes Kind die diesjährige Trägerin des Chamisso-Förderpreises ist: Die Liste beweist einen feinen, ent-schiedenen Geschmack; neben Goethe nennt sie denHeiligen Trinker Joseph Roth, das Schimpfgenie ThomasBernhard, den Wortzerleger Arno Schmidt und denschwäbischen Spieler Eduard Mörike, unter den Lyri-kern Hölderlin, Else Lasker-Schüler, Benn und Celan.Puh.

Und das liest sie alles auf Deutsch? So ist es. Seitder Eiserne Vorhang zerrissen ist, lebt Olga Martynovain der Bundesrepublik, genau seit Ende 1990, als siezusammen mit ihrem Mann, dem Schriftsteller OlegJurjew, und dem zweijährigen Sohn Daniel für eineLesereise nach Deutschland kam. Ein Stipendium fürOleg Jurjew folgte. Freunde, ebenfalls russische Emi-granten, hatten dem Paar aus St. Petersburg in Frank-furt am Main eine kleine Wohnung besorgt, und dankder damals für russische Juden geltenden Aufenthalts-bestimmungen konnte Oleg Jurjew bleiben, mit ihmdie Familie. Daniel studiert inzwischen Biophysik inFrankfurt.

Wir treffen uns im Café Y in der Bergerstraße, diekalt und grau daliegt an diesem Januarnachmittag,dürstend nach dem buntgemischten Volk, das sich an

schönen Tagen auf dem Trottoir drängt. Das Café hin-gegen ist gut besucht, die einschlägigen Zeitungenhängen aus, unter den Gästen viele Leser, direkt neben-an befindet sich eine Buchhandlung. Und hier erzähltOlga Martynova, wie sie zur deutschen Sprache undLiteratur fand. Ihr vielbeachteter, im Droschl Verlagerschienener Roman Sogar Papageien überleben uns –der Titel ist ein Joseph-Roth-Zitat – ist nicht nur daserste Prosabuch, das sie auf Deutsch schrieb; sieschaffte es damit gleich auf die Longlist des DeutschenBuchpreises 2010, und dieses hinreißend witzige Buchhat ihr nun auch den Chamisso-Förderpreis beschert.Ein gewisses Glänzen in ihren Augen ist nicht zu über-sehen.

Schon während der Perestroika hatten OlgaMartynova und Oleg Jurjew für Radio Liberty in Mün-chen gearbeitet, wo ihre Honorare auf sie warteten –auch das war ein Grund, nach Deutschland zu reisen.Aber im Alter um die dreißig noch einmal eine neueSprache zu lernen, ist hart. »Hände hoch!«, aufge-schnappt in Kriegsfilmen, war die einzige deutscheRedewendung, die sie kannten, als sie ankamen. Da-mals, sagt Olga, in der großen Zeit des Aufbruchs,waren die Deutschkurse für Akademiker, die sie an derFrankfurter Universität belegten, »hervorragend«.Doch die wichtigste Quelle des Lernens war und bleibtfür sie das Lesen, ein Wörterbuch immer neben sich.

Letztes Jahr fand man unter den zwanzig Titeln derLonglist des Deutschen Buchpreises mehrere Autoren,

»Hände hoch« oder wir bleiben!Die Lyrikerin Olga Martynova wird für ihren Debütroman Sogar Papageien überleben uns ausgezeichnet

Von Ina Hartwig

10 :: Adelbert-von-Chamisso-Förderpreisträgerin 2011

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die den Sprachwechsel vollzogen hatten. Auch OlgaMartynova freut sich, dass die »Chamisso-Literatur« imoffiziellen Literaturbetrieb angekommen ist. Als sieihren Namen auf der Liste sah, sei ihr allerdings richtigklargeworden, »dass ich eine zweisprachige Autorinbin«. Man muss nämlich wissen, dass Olga Martynovaihre zarten, musikalischen Gedichte weiterhin aufRussisch schreibt. Und sie trägt sie mit ihrer kräftigenStimme auf Russisch vor, beispielsweise im Frankfur-ter Mousonturm, wo das Hessische Literaturbüro sitzt.Hört man Olga Martynova dabei zu (die Übersetzungwird im Anschluss von einer Schauspielerin gelesen),spürt man, warum das so sein muss: Es ist schlicht derbetörende Klang des Russischen, und dem lauscht einkeineswegs kleines Publikum.

Drei Gedichtbände hat die umtriebige OlgaMartynowa, Hermann-Lenz-Preisträgerin des Jahres2000, in deutscher Übersetzung veröffentlicht, Briefan die Zypressen (2001), Rom liegt irgendwo in Russ-

land (2006) und In der Zugluft Europas (2009). Mitihrer kongenialen Übersetzerin, der Lyrikerin ElkeErb, verbindet das Ehepaar eine lange, enge Freund-schaft.

Die meisten Chamisso-Preisträger nehmen dieneue, die Nicht-Muttersprache Deutsch als Literatur-sprache komplett an. Anders Olga Martynova, dieProsa und Lyrik auf beide Sprachen verteilt. IhreTheorie lautet: Die verschiedenen Sprachen seien wieInstrumente, die Komposition hingegen sei der Kern.Den Sprachunterschied hält sie entsprechend »nichtfür fundamental«. Übrigens habe sie, als die Idee zumRoman stand, durchaus überlegt, ihn auf Russisch zuschreiben. Aber dann sei es ihr »natürlich« vorgekom-men, ins Deutsche zu wechseln. »Ich war reif dafür.«Als Einübung ins Prosaschreiben haben ihr über dieJahre etliche Zeitungsartikel gedient, Kritiken undEssays unter anderem für die Neue Zürcher Zeitungund Die Zeit, meist über russische Literatur, denn eineVermittlerin und Entdeckerin ist sie auch.

Beim Spaziergang im Frankfurter Palmengarten.

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Vor allen Dingen ist sie diszipliniert, diese 1962 ineiner Polarnacht im nördlichen Sibirien geborene OlgaMartynova. Der Geburtsort als Zufall: Die hochschwan-gere Mutter hatte ihren Mann auf eine Dienstreise be-gleitet. Denn eigentlich ist das einzige Kind eines Jour-nalisten und einer Laborantin Petersburgerin durchund durch. In der achten Klasse bekam das literatur-liebende Mädchen, das sich weigerte, dem Komsomol(der kommunistischen Jugendorganisation) beizutre-

ten, Schwierigkeiten ausgerechnet mit ihrer Literatur-lehrerin. Jeder sollte das Gedicht eines russischenDichters auswendig lernen, und Olga trug ein Gedichtvon Marina Zwetajewa und eines von Anna Achmatowavor. Beide waren zu jener Zeit, in den siebziger Jahren,längst wieder erlaubt, doch glaubte die Lehrerin, sieseien immer noch verboten. Olgas Vater wurde einbe-stellt. Er entschied, die Lehrerin sei eine »dummeKuh«; und die literaturliebende Schülerin ging fortanarbeiten – und besuchte nebenher die Abendschule.

Nach dem Abitur an der Abendschule besuchte siedie Abendveranstaltungen der Pädagogischen Hoch-schule in Leningrad, wo es hervorragende Lehrer gab.Auf die Universität ließ man sie nicht. In ihrer typi-schen verschmitzten Art sagt sie: „Was ich als Nicht-Komsomol nicht durfte, durfte Oleg als Jude nicht.“Doch besteht Olga Martynova darauf, die Situation in

der Sowjetunion sei damals, anders als in der DDRoder in Rumänien, recht locker gewesen. Es war eine»freche« Zeit, »wir fühlten uns frei, hatten keine Angst«:»Das System war schon geschwächt.« Sie studierte rus-sische Literatur, schrieb Gedichte und lernte in derinoffiziellen Szene – sie neunzehn, er zweiundzwanzigJahre alt – ihren Mann kennen. Zu publizieren warunmöglich, das verstand sich von selbst. Die damalsgegründete Gruppe »Kamera chranenija« – das heißt»Aufbewahren«, und darum ging es ja auch – bestandim Kern aus vier Leuten, darunter Olga und Oleg. Dievier halten bis heute zusammen, auf ihrer russisch-sprachigen Webseite www.newkamera.de publizierensie russische Lyrik. Die gegenwärtige Szene, freut sichOlga Martynova, sei sehr lebhaft und äußerst interes-sant. Das Internet ist ein Segen für die in alle Welt ver-streuten russischen Dichter. Neu sei leider in Russlandselbst eine Tendenz zur Renationalisierung, zum Chau-vinismus. Von »Vaterlandsverrat« ist zwar noch nichtdie Rede, wenn einer außer Landes lebt. Aber da seiein neuer, beunruhigender Ton. Was nicht heißt, dassOlga Martynova ihre schöne Ruhe verliert.

Fragt man nach ihren russischen Lieblingsschrift-stellern, dann fällt ein Name nicht: Majakowski (»einschlechter Dichter«) – nebenbei: auch Brecht mag sienicht. Neben den erwähnten Lyrikerinnen Achmatowaund Zwetajewa nennt sie Dershawin, Puschkin, Man-delstam, Michael Kusmin, Tschechow, Lermontow,Jelena Schwarz (»eine große Lehrerin und Freundin«).Und natürlich die »Oberiuten« um Daniil Charms, der1941 verhaftet wurde und 1942 in einem Spital ver-hungerte, und dem in ihrem Roman eine wichtige Rollezukommt.

»Charms und seine Freunde haben den Unsinn alsErkenntnismittel gewählt«, referiert dort Marina. Sie,die Erzählerin, reist im Jahr 2006 nach Deutschland zueinem Kongress über eben jenen Daniil Charms; dortwird sie auch Andreas treffen, »Andrjuscha«, eine alte,aber nicht ganz verloschene Liebe aus den achtzigerJahren. Jener Westdeutsche ist damals Sprachstudentin Leningrad, Marina und er trinken in einer Silvester-nacht Champagner auf der zugefrorenen Newa. Aberdas ist bei weitem nicht alles, was sie zusammen tun.Fast wäre eine Ehe daraus geworden. Aus der anhal-tenden deutsch-russischen Gefühlsverwirrung schlägtOlga Martynova lustige, anrührende Funken; von sub-tiler Ironie sind zudem ihre Wanderungen durch dieverschiedenen Zeitschichten; ein virtuoses Spiel mit

12 :: Olga Martynova

Lustige, anrührende Funken aus derdeutsch-russischen Gefühlsverwirrung

Sie ist Schriftstellerin, aber auch Entdeckerin undVermittlerin.

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der teils grausamen, teils absurden Historie, kurzum:Literatur über Literatur und das Leben. Denn beides istaufs Engste miteinander verschlungen.

Demnächst will Olga russisch kochen. Wir verab-schieden uns im Dunkeln. Ich setze mich aufs Fahrradund rolle Richtung Main, der in diesen Tagen dieSchaulustigen anzieht, es ist Hochwasser. Da fällt mireines ihrer Gedichte ein (in der Übersetzung ElkeErbs), in dem es heißt:

Die Stadt schwimmt zum Meer, hängt die grausigenOhren ⁄ hinaus, ⁄ in die wir dreihundert Jahre lang flü-stern, die Stimmbänder ⁄ zerreißend, ⁄ die rostigenBlätter schütten dieses Stück Festland zu, ⁄ ein allsei-tig von Schreien umzingeltes Flüstern. ::

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Brief an die Zypressen. Gedichte. Deutschvon Elke Erb und Olga Martynova. Aachen:Rimbaud Verlag, 2001Wer schenkt was wem. Essays undBuchkritiken. Aachen: Rimbaud Verlag,2003Rom liegt irgendwo in Russland.Gedichte. Mit Jelena Schwarz. Deutsch vonElke Erb und Olga Martynova. Lana/Wien:Edition per procura, 2006In der Zugluft Europas. Gedichte. Deutschvon Elke Erb und Olga Martynova, GregorLaschen, Ernest Wichner, Sabine Küchleru.a. Heidelberg: Verlag Das Wunderhorn,2009Sogar Papageien überleben uns. Roman.Graz/Wien: Literaturverlag Droschl, 2010

Beim Arbeiten im Frankfurter Literaturhaus.

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Er heißt nicht Spauke. Nicol Spauke. Möglich wärees gewesen, es ist der Geburtsname seiner Mutter.Doch seine Eltern haben sich anders entschieden, ha-ben ihrem Sohn, als er im November 1971 auf die Weltkam, traditionsgemäß den Nachnamen des Vaters ge-geben. Und damit fingen die Missverständnisse an, diefalschen Einordnungen, Zuschreibungen und die Fra-gen. Wer ist Nicol Ljubic und wo kommt er her?

Wenn wieder einmal eine deutsche Tageszeitungüber »Fremde Autoren in Berlin« berichtet, wird er mitSicherheit als einer der ersten angefragt. Wenn deut-sche Feuilletons exotische Stimmen suchen, Schrift-steller mit Migrationshintergrund, fragen sie gleichnach Feridun Zaimoglu oder Nicol Ljubic. Denn das istklar: wer so heißt, kommt nicht von hier. Nach öffentli-chen Lesungen, hat Ljubic einmal berichtet, kommenimmer wieder Zuhörer zu ihm, gratulieren ihm zu sei-nem fabelhaften Deutsch und fragen ihn, wie er dashingekriegt hat. Und dann sagt er: »Ach, es war nichtsehr schwer. Denn es ist meine Muttersprache.«

Nicol Ljubic wurde zwar in Zagreb geboren, wuchsaber zunächst in den unterschiedlichsten europä-ischen Ländern auf, ging in schwedische und deutscheKindergärten und in Deutschland auf die Schule. SeineMutter ist Deutsche und sein Vater verließ das damali-ge Jugoslawien, als er zwanzig Jahre alt war.

Sonderbares Land, dieses Deutschland der Gegen-wart, das das Fremde, das Andere, das Exotischeimmer noch überall dort vermutet, wo es auch nur einkleines bisschen anders klingt. Und es brauchte nur

ein dumpfes Buch in dumpfem Ton, um diese schein-integrierte deutsche Gesellschaft wieder fein in zweiTeile auseinanderzudividieren: in die Fremden, diekeine Goethe-Gedichte lernen wollen, und das zusam-menschmelzende Urvölkchen, dem der Goethe auchnichts mehr hilft auf seinem Weg in den Untergang.Nur ein solches Buch, das 1,2 Millionen Menschengekauft haben, brauchte es, um den deutschen Schrift-steller Nicol Ljubic zum ersten Mal in seinem Schrift-stellerleben in Wut zu versetzen, Wut darüber, dass dieMenschen immer noch nicht erkennen, wie viel Gutes,Neues, Bereicherndes, Horizont Erweiterndes dieImmigranten diesem Land in den letzten Jahrzehntengebracht haben. Wut darüber, dass es nur einenschnauzbärtigen Rattenfänger braucht, um die Ressen-timents der Urbevölkerung wieder in Schwung zubringen. Und Wut darüber, dass man jetzt selber schonkomisch wird und denkt – die Leute, die einen so höf-lich und scheinbar harmlos nach einer Lesung fragen,woher man so gut deutsch könne –, dass auch diese inWahrheit ihr reines, schönes Vaterland zurückhabenwollen und ihre saubere Dichtung, geschrieben vonLeuten, die nicht Ljubic heißen und nicht Zaimoglu.

Was für ein Glück, dass es anders ist, dass die deut-sche Literatur heute anders ist, was für ein Glück, dassNicol Ljubic schreibt. Denn es ist ja natürlich nicht so,dass ihn das alles nichts anginge, dass er nicht schrei-bend über seine Herkunft und die Herkunft seines Va-ters nachgedacht hätte. Er heißt nicht Spauke – davon

»Welche Wahrheit?«Nicol Ljubic erhält den Chamisso-Förderpreis für seinen RomanMeeresstille

14 :: Adelbert-von-Chamisso-Förderpreisträger 2011

Von Volker Weidermann

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zeugen seine Bücher. Vor allem seine letzten: dieVaterspurensuche Heimatroman und das fulminanteMeeresstille, in dem die verdrängte Herkunftsfrageplötzlich ein deutsches Liebespaar auseinandersprengt,ein deutsches Leben. Aber auch in seinen ersten bei-den Werken, dem Debüt Mathildas Himmel aus demJahr 2002 und dem SPD-Abenteuerbuch Genosse Nach-wuchs ist schon das Suchende, Zweifelnde, Schwan-kende und dann mutig Voranschreitende der späterenBücher zu erkennen. Als Genosse Nachwuchs erschien,war das beinahe ein Schock. Ljubic hatte sich ent-schlossen, dem politischen Leben des Landes nichtmehr länger einfach zuzuschauen und zu maulen, son-dern selbst etwas zu tun. Nicht auf Demos oder in pri-vatem Lebensveränderungskleinklein, sondern miteinem Eintritt ins Herz der Demokratie, einem Eintrittin die SPD. Es wurde ein Abenteuerroman aus demInnersten dieses Landes, aus den Bierstuben der Orts-vereine, von den verregneten Marktplätzen der Basis-

Aktivisten und schließlich einer ernüchternden Begeg-nung mit dem kalten Kanzler Schröder, den man alsGenosse zwar duzen darf, was aber nicht viel nutzt,weil er die Lebendigkeit und Zugänglichkeit einer Eis-skulptur ausstrahlt. Es ist ein Bericht der Ernüchte-rung von einem, der sich partout nicht ernüchtern las-sen will. Den letzten Schwung hinaus aus dem Buch,hinein ins Leben bekommt er von einem türkischenTaxifahrer mit: »Seid mutig und macht weiter!«

Und Ljubic macht weiter. Er ist bis heute SPD-Mit-glied geblieben und hat sich als nächstes auf eine ganzandere Abenteuerfahrt begeben – zurück in die Vergan-genheit seines Vaters. Heimatroman hat er das Buchgenannt. Es ist eine Spurensuche, unterwegs zu deneigenen Wurzeln, von Kroatien über Italien und Frank-reich bis nach Bremen-Osterholz, wo seine Elternheute leben. Es ist eine exemplarische Einwanderer-geschichte, eine Geschichte der Anpassung, der Aben-teuerlust, der Disziplin, Lernwilligkeit und des Durch-

In Zagreb geboren, in Schweden, Griechenland, Russland und Deutschland aufgewachsen, denkt er schreibend über seineHerkunft nach.

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haltevermögens – eine Geschichte wie unzählige ande-re deutsche Einwanderergeschichten und doch miteinem ganz besonderen Protagonisten, dem bärenhaf-ten Abenteuerkönig Grizzly, der vorgibt, auf seinenLänderwanderungen die unglaublichsten Dinge erlebtund geleistet zu haben. Der zweifelnde Sohn, den derGrizzly zärtlich »Häschen« nennt, schreibt alles mitund ahnt: die Erfindungskunst des Vaters könnte ganzeinfach die Wahrheit sein. Die Wahrheit seines Lebens.

Dieser Vater war es auch, der dem kleinen Nicolzwei Lehren für das Leben in diesem Land mit auf denWeg gab: »1. Lern Deutsch. Sonst bist Du in diesemLand ein Idiot! 2. Bring gute Noten nach Hause, sonsthast Du hier keine Chance!« Nicol Ljubic hat sich anbeides gehalten und ist damit einer der interessante-sten jüngeren deutschsprachigen Schriftsteller gewor-den. Höhepunkt seiner Kunst ist Meeresstille, die Ge-schichte von Robert und Ana, die sich in Deutschlandineinander verlieben, deren Wurzeln aber in ein vomKrieg zerrissenes Land zurückreichen. Ana kommt ausSerbien, Roberts Vater aus Kroatien. Vor allem fürRobert spielt die Herkunft keine Rolle, doch das Lebenändert sich und er wird gezwungen, sich für seine eige-ne Geschichte zu interessieren. Anas Vater ist vor demHaager Kriegsverbrecher-Tribunal angeklagt, eineGruppe von Muslimen im Sommer 1992 in Visegradheimtückisch in den Tod gelockt zu haben. Die Ge-schichte des Krieges, eine mögliche Variante ihrer bei-der Vergangenheiten, fährt wie ein Blitz in diese Liebe,zwischen diese zwei Menschen.

Es ist Zeit für Geschichte, Zeit für Politik und Zeit,dem eigenen Vater Fragen zu stellen. Denn plötzlicherscheint es Robert als Makel, die Sprache seinesVaters nicht zu sprechen, und als Mangel, sich mit derHälfte seiner Herkunft gar nicht beschäftigt zu haben.Plötzlich kommen ihm Fragen an seinen Vater: »›Ichwollte dich fragen, warum du nie Wert darauf gelegthast, dass ich Kroatisch lerne? Warum du nie versuchthast, mir deine Herkunft näherzubringen? Warum duselbst dich so von ihr losgesagt hast? Ich würde dasgern wissen.‹ Es war still in der Leitung. Dann hörte erseinen Vater sagen: ›Du bist hier geboren, du bist hieraufgewachsen, du bist hier zu Hause.‹«

16 :: Nicol Ljubic

Er hat den Rat seines Vaters befolgt: Deutsch gelernt undgute Noten nach Hause gebracht.

Zeit für Geschichte, Zeit für Politik,Zeit um Fragen zu stellen

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Robert genügt das nicht mehr. Die Geschichte hatihn eingeholt, die Geschichte des Heimatlandes seinesVaters lebt in ihm fort. Er schaut anders auf diesenangeklagten Mörder, anders natürlich als Ana, aberanders auch als andere Serben, die er kennt. Geschich-te ist lebendig, Politik ist lebendig. Es hilft nichts, eineHälfte in sich einfach zu leugnen. Das Leben ist eineFrage der Perspektive – wie in dem berühmten Fall derFotos von den abgemagerten Häftlingen hinterStacheldraht. »Kennst du die Wahrheit über das Foto?«fragt Ana Robert eines Tages. Und er darauf verwun-dert: »Welche Wahrheit?« Und sie erzählt ihm, dass esdamals die Fotografen waren, die hinter dem Zaunstanden, die Männer waren frei. Aber es sah aus wieBilder aus einem KZ. Die Fotografen hatten es bewusstanders aussehen lassen. Das Foto war einer der Aus-löser für die Luftangriffe der NATO.

»Welche Wahrheit?« Der Schriftsteller Nicol Ljubicvariiert diese große Frage in allen seinen Büchern. Errichtet den Blick nach Innen, ins Innerste unseres poli-tischen Betriebes, wo die Geheimnisse liegen, dieLangeweile, die Starre und die Möglichkeiten zur Ver-änderung von allem – und er weitet den Blick, schautplötzlich aus einem scheinbar fremden Land hinüberin die deutsche Wirklichkeit, die deutsche Gegenwart,die sich aus Angst vor dem Fremden, Angst vor derZukunft immer wieder in sich selbst zurückzieht. Da-gegen schreibt Ljubic an. Zum Glück.

Einmal, als jener Robert aus dem Roman überlegt,welche Bücher er mitnehmen würde, bei einer plötzli-chen Abreise, nennt er Stiller von Max Frisch. Viel-leicht, wir wissen es nicht, ist es auch eines der Bücher,die Nicol Ljubic mitnehmen würde. Es erzählt dieGeschichte eines Mannes, der einen anderen Namentragen will, ein anderes Leben führen, als das ihm vonder Gesellschaft zugewiesene.

Ljubic bleibt Ljubic. Auch wenn das Land, in demer lebt, an einen Nicol Spauke weniger Fragen hätte. ::

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Mathildas Himmel. Roman. Frankfurt amMain: Eichborn, 2002 Genosse Nachwuchs. Wie ich die Weltverändern wollte. München: DeutscheVerlags-Anstalt, 2004 (TB München, dtv2006)Heimatroman oder Wie mein Vater einDeutscher wurde. München: DeutscheVerlags-Anstalt, 2006Meeresstille. Roman. Hamburg: Hoffmannund Campe, 2010

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1. Adelbert von Chamisso hat etwas von einemSchlemihl – einem Schlemihl der deutschen Literatur-geschichte. Über den Rang eines romantischen »poetaminor« hat er es in der allgemeinen Wahrnehmungnicht hinausgebracht. In Erinnerung geblieben ist ervor allem als Verfasser einer Novelle. Obwohl die eineoder andere seiner Balladen einmal in Lesebüchern zufinden war, ist sein vielseitiges lyrisches Werk inzwi-schen weitgehend vergessen, noch mehr gilt das für seineÜbersetzungen. Auch als Weltreisender wartet er aufeine Neuentdeckung, wie sie kürzlich sein ZeitgenosseAlexander von Humboldt erfahren hat. Eine neuere wis-senschaftliche Ausgabe seiner Werke ist nicht in Sicht.In der Tat: ein Pechvogel, nimmt man alles zusammen.

Dabei gäbe es genügend Zusammenhänge, inner-halb derer man seine Schriften neu würdigen könnte,etwa die interkulturelle Literatur oder die Verbindungvon Dichtung und Wissenschaft, aber in diesen Kon-texten fällt sein Name kaum einmal. Das wichtigsteZeugnis seines alles in allem zu bescheidenen Nach-ruhms stellt der Preis dar, der nach ihm benannt wor-den ist. Und selbst dieser Umstand scheint in gewisserWeise nur eine weitere Seite von Chamissos Schlemihl-Schicksal zu sein.

Denn schon seit einiger Zeit ist immer wieder voneiner »Chamisso-Literatur« die Rede, die solche Auto-ren und Autorinnen umfasst, die mit dem Preis ausge-zeichnet worden sind – von Aras Ören bis Terézia Moraund Jean Krier. Der Begriff, wie griffig er auch erschei-nen mag, ist jedoch in mehr als einer Hinsicht proble-matisch. So verdienstvoll die Einrichtung des Chamisso-Preises ist – die Rede von einer »Chamisso-Literatur«ist unglücklich, kaum mehr als ein philologisches Pro-visorium, das nach einer Ablösung verlangt.

2. »Chamisso-Literatur« ist schon keine glückli-che sprachliche Bildung, denn vergleichbare Kompo-sita wie »Goethe-« oder »Kafka-Literatur« haben eineandere Semantik. Mit »Goethe-Literatur« etwa ist dieLiteratur über Goethe gemeint. Der Ausdruck »Cha-misso-Literatur« aber soll nicht Texte bezeichnen, dieüber Chamisso geschrieben wurden oder werden –sondern von Autoren und Autorinnen wie Chamisso.Das kann zunächst einmal heißen, dass sie wie er nichtin Deutschland geboren, dann aber deutschsprachigeAutoren geworden sind. Dabei ist unterstellt, dassChamisso am Anfang dieser deutschen Literatur zwei-sprachiger Schriftsteller und Schriftstellerinnen stehe.Das ist nicht der Fall.

1772, also 41 Jahre vor Peter Schlemihls wundersa-me Geschichte, erschienen anonym die Gedichte einespohlnischen Juden. Auch ihr Verfasser, Isachar Falken-sohn Behr, war ein Migrant. Sein Lebensweg führte ihnvon Litauen zum Medizinstudium nach Sachsen, dannzurück nach Polen und als Arzt über Weißrussland indie Ukraine. Mit seinen Gedichten steht FalkensohnBehr am Anfang der deutsch-jüdischen Literatur. Erselbst war sich dieser Tatsache durchaus bewusst. Inseinem den Gedichten vorangestellten »Schreiben aneinen Freund« heißt es: »Lieder eines pohlnischenJuden. … In der Tat mögen diese Worte wohl in ein paarTausend Jahren nicht beysammen gestanden haben«.

Falkensohn Behr ist der erste einer beträchtlichenZahl osteuropäischer Juden, die sich der deutschenLiteratur verschrieben haben. Seine Karriere alsdeutschsprachiger Autor zeugt von der Anziehung, diedie deutsche Kultur seit der Aufklärung auf Juden ausOsteuropa ausgeübt hat. Vor allem im 19. und 20. Jahr-

18 :: Essay

Deutsche Literatur von nicht-deutschen AutorenAnmerkungen zum Begriff der »Chamisso-Literatur«

Von Dieter Lamping

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der in seinem Pariser Exil, entschiedener als HeinrichHeine, auch auf französisch publiziert hat.

Zu den ost-jüdischen Migranten, die im 19. und 20.Jahrhundert nach Deutschland oder Österreich ein-wanderten, kommen die hinzu, die von 1933 an emi-grierten. Sie haben fortan nicht nur in anderen Länderngelebt, sondern oftmals auch in anderen Sprachengeschrieben und veröffentlicht. Ihre Zahl ist beträcht-lich. Zu ihnen gehören etwa Yvan Goll und RobertNeumann, Georges-Arthur Goldschmidt und ElazarBenyoëtz, Jakov Lind und Georges Tabori. Für all diese

Dieter Lamping :: 19

hundert finden sich unter den wichtigsten deutsch-jüdischen Autoren und Autorinnen zahlreiche Osteuro-päer, zumal Juden aus Galizien und der Bukowina, wieKarl Emil Franzos und Joseph Roth, Manès Sperberund Elias Canetti, Rose Ausländer und Paul Celan.

Ihnen gemeinsam ist eine bilinguale Sozialisation.Deutsch war in aller Regel nur eine von mehreren Spra-chen, mit denen sie aufgewachsen sind. Manès Sperberetwa hat im ersten Teil seiner Autobiografie Die Was-serträger Gottes erzählt, wie er sich von Anfang an »zu-recht finden mußte zwischen dem Ukrainischen undPolnischen, dem Jiddischen, Hebräischen undDeutschen«. Für viele war Deutsch auch nicht die erste Sprache. Elias Canetti zum Beispiel hat zuerst dasmittelalterliche Spanisch der Spaniolen, dann Franzö-sisch und Englisch gelernt, bevor er sich das Deutscheaneignete, das dann seine Literatursprache wurde.

Dass ein Ausländer durchaus ein deutscher Autorwerden kann, ist also keineswegs ungewöhnlich oderunerhört – wie auch der umgekehrte Fall nicht: dass eindeutscher Autor in einer anderen als seiner Mutter-sprache schreibt oder geschrieben hat. Dafür hat esviele Beispiele gegeben – gleichfalls lange, bevor sichseit den 60er Jahren das bildete, was man heute die»Chamisso-Literatur« nennt.

Schon Falkensohn Behr wird eine Sammlung fran-zösischer Gedichte zugeschrieben, die unter dem TitelProduction d’une muse étrangère 1783 in St. Petersburgerschienen ist. Aufgrund dieser literarischen Zwei-sprachigkeit steht Falkensohn Behr am Anfang eineranderen langen Reihe deutsch-jüdischer Autoren, die,zumeist bedingt durch Emigration und Exilierung,außer auf Deutsch auch noch in einer anderen Sprachepublizierten. Diese Reihe beginnt mit Ludwig Börne,

Chamissos »Peter Schlemihl« durchwandert mit seinen Sie-

benmeilenstiefeln die Welt. (Illustration von Emil Preetorius

in der Insel-Ausgabe der Novelle)

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zweisprachigen deutsch-jüdischen Autoren scheintder Ausdruck »Chamisso-Literatur« nicht passend.

3. Es gibt allerdings noch ein weiteres Problem,das mit dem Begriff verbunden ist. Die neuereMigranten-Literatur, die er bezeichnet, steht nicht, wieer suggeriert, in der Nachfolge des Romantikers.Chamisso hat keine literarischen Erben, nicht einmalnennenswerte Epigonen gefunden – schon gar nichtunter den deutschen Autoren türkischer, italienischer,polnischer, rumänischer, russischer oder israelischerHerkunft. Einer Literatur in seinem Namen werden sievor allem zugeschlagen, weil sie mit ihm den Status desMigranten teilen. Doch dieses »tertium comparationis«trägt nicht weit; die Gemeinsamkeiten zwischen demadeligen Exilanten des frühen 19. und den Kindernsüd- und osteuropäischer Arbeitsmigranten des spä-ten 20. Jahrhunderts sind in jeder anderen Hinsichtbegrenzt. Die Schriftsteller und Schriftstellerinnen, diein Chamissos Namen ausgezeichnet worden sind,schreiben und denken nicht wie er. Auch das sprichtdagegen, von einer »Chamisso-Literatur« oder gar von»Chamisso-Autoren« zu reden. Diesen wären andereBegriffe vorzuziehen. Die terminologischen Alternati-ven – wie »Ausländer-« oder »Minderheiten-Literatur«,auch »Literatur der Fremde« – sind allerdings in ihrerjeweiligen Perspektive auch nicht durchweg überzeu-gend. Vor allem der früh eingeführte Ausdruck »Gast-arbeiter-Literatur« hat sich überlebt; er war, im bestenFall, provisorisch und nicht frei von einer ideologi-schen Befangenheit und ist deshalb inzwischen auchverabschiedet worden. Triftiger ist es sicherlich, Be-griffe wie »Migranten-Literatur« oder »interkulturelleLiteratur« zu verwenden. Am genauesten scheint der

etwas umständliche Ausdruck zu sein, der als Titel dieses Essays dient. Andere haben ihn schon zuvor ver-wendet, etwa Immaculata Amodeo, die in einem Auf-satz von 2007 von der »letteratura di autori contempo-ranei di origine non tedesca« spricht.

4. Aber braucht man überhaupt einen separatenBegriff für die deutsche Literatur der nicht-deutschenAutoren? Doch nur solange, als man sie für eine Aus-nahme hält – wie es Thomas Mann noch schien, als er1911 über Chamisso schrieb. Nun mag sie noch immernicht den Regelfall darstellen, aber spätestens im Zeit-alter der Globalisierung ist sie auch keineswegs mehrmarginal oder passager. Es ist an der Zeit, die deutscheLiteratur von nicht-deutschen Autoren und Autorin-nen in einer anderen Perspektive und in einem größe-ren Zusammenhang zu sehen.

Ihre Texte sind nur ein Teil der offensichtlichenInternationalität der deutschen Literatur. Sie hat ver-schiedene Aspekte, politische, soziale, kulturelle undnicht zuletzt ästhetische, und sie ist keine Begleit-erscheinung der literarischen Moderne oder gar eineErrungenschaft der vergangenen vierzig, fünfzig Jahre.Schon um 1800 ist sie von aufmerksamen Beobachternwie Friedrich Schlegel und Jean Paul wahrgenommenworden. Ihren prominentesten Reflex hat sie in GoethesIdee der Weltliteratur gefunden, die allerdings inerster Linie auf einen Austausch und eine Zusammen-arbeit von Autoren verschiedener Nationalität abziel-te. Allerdings hat Goethe selbst gelegentlich daraufhingewiesen, dass Beziehungen zwischen verschiede-nen Literaturen schon seit der Antike bestanden. DieseArt der Internationalisierung durch literaturübergrei-fende Intertextualität schließt literarische Rezeptions-

20 :: Essay

»Deutsche Literatur von nicht-deutschen Autoren«

»Interkulturelle Literatur«

»Migrantenliteratur«

»Literatur der Fremde«»Deutsche Literatur von nicht-deutschen Autoren«

»letteratura di autori contemporanei di origine non tedesca«

»Interkulturelle Literatur«»Migrantenliteratur«

»Minderheitenliteratur«»Literatur der Fremde«

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Es sind bestimmte Denkgewohnheiten, die uns da-ran hindern, solche einfachen Tatsachen zu erkennenund anzuerkennen, in unserem Fall durchaus wissen-schaftliche. Die sozusagen klassische Ideologie der Ger-manistik hat Jacob Grimm in der Vorrede zum erstenBand des Deutschen Wörterbuchs 1854 formuliert, alser die Eigenständigkeit der deutschen Sprache be-hauptete, die vermutlich auch für die Literatur geltensollte: »alle sprachen, solange sie gesund sind, habeneinen naturtrieb, das fremde von sich abzuhalten«.Selbst wenn nicht jeder Germanist diesen Satz nochunterschreiben würde: Die Idee – und die Ideologie –der autonomen Sprache und Literatur ist bis heute inden Philologien stark, und sie wirkt bis deren akade-mische Organisation hinein.

Dabei wäre es längst angebracht, über neue, post-nationale Konzepte von Einzelliteraturen nachzuden-ken. Diese Bemühung steckt, gerade was die deutscheLiteratur betrifft, noch in den Anfängen. Innerhalb der Germanistik ist sie weitgehend in die Abteilung»interkulturelle Germanistik« ausgegliedert worden,von der aus sie viel zu wenig auf das Gesamtfach zu-rückwirken konnte. Die Internationalisierung der Natio-nalliteraturen, einschließlich der deutschen, ist garnicht zu übersehen. Es wird Zeit, sie auch konzeptio-nell einzuholen. Die deutsche Literatur von nicht-deut-schen Autoren und Autorinnen wäre dafür ein guterAusgangspunkt. ::

prozesse wie Übersetzung, Vermittlung oder Verar-beitung ein. Goethe selbst hat dafür mit seinem West-östlichen Divan ein bedeutendes Beispiel geliefert.

Die deutsche Literatur haben solche Rezeptions-prozesse von allem Anfang an geprägt. Entgegen man-cher Theorie besitzt sie eine große Verwandlungs- undAnverwandlungskraft. Sie hat es über die Jahrhundertevermocht, Europäisches, Amerikanisches, Orientali-sches und Asiatisches – Formen, Gattungen, Schreib-weisen, Motive, Themen – aufzunehmen. Die deutscheLiteratur war nie sehr »deutsch«, und auf keinen Fallwar sie nur »deutsch«. Andreas Kelletat hat schon 1995mit Recht festgestellt: »Sie ist in hohen Graden eininterkulturelles Mischprodukt, ist weit mehr interna-tionale denn autark-nationale Literatur«.

Das scheint, im Vergleich mit anderen Literaturen,nicht ungewöhnlich. Wir kennen, zumindest in Europa,keine Literatur, die nur für sich bestanden und gegenandere sich ganz verschlossen hätte. Keine von ihnenhat sich ausschließlich aus sich heraus entwickelt. Jedevon ihnen ist und war in vielfältige Austauschprozesseeinbezogen, die teils kultureller, teils literarischer Artsind. Literaturen, zumal die europäischen, sind keineinsulären Gebilde.

Literatur ist vielmehr in aller Regel international:die Grenzen einer Sprache, einer Nation, einer Kulturüberschreitend. Sie ist ein komplexes Beziehungs-system von Texten, das durch zahllose Verweise undVerknüpfungen zusammengehalten wird. Die Beson-derheit der Literatur macht, neben ihrer Sprache, ihrepoetische Verfasstheit aus, insbesondere ein gemein-samer Bestand an Formen, Verfahren, Themen undMotiven, an dem grundsätzlich alle Literaturen teil-haben.

Dieter Lamping :: 21

»Ausländerliteratur«n«

lle Literatur«

de«»Gastarbeiter-Literatur«

»Ausländerliteratur«Autoren«

poranei di origine non tedesca«

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Erfolgreicher AußenseiterDichter und Sprachforscher, Naturwissenschaftler

und Weltreisender: So vielseitig der Namensgeber desChamisso-Preises war, so vielseitig ist seine weltweiteRezeption. In den vergangenen Monaten wurdeAdelbert von Chamisso (1781–1838) vor allem alsNaturforscher öffentlich sichtbar. Zweihundert Jahrenach seiner Gründung suchte das Berliner Museum fürNaturkunde in seinen Sammlungen nach Objekten, dieChamisso der Berliner Universität überlassen hatte.Ausgestopfte Vögel, eine Orgelkoralle, der Schädeleines Seelöwen, Fische und Schlangen in Alkohol oderHolzmodelle von Walen wurden in der Jubiläumsaus-stellung des Museums präsentiert. Auch Ausstellungenim Martin-Gropius-Bau und im Botanischen Museumzum Berliner Wissenschaftsjahr zeigten Präparate, dieauf Chamissos Sammlungstätigkeit zurückgehen, da-runter Leihgaben aus St. Petersburg, wo sich sein Her-barium erhalten hat.

GeschichtspanoramaAls herausragende Gestalt seiner Epoche würdigt

der Schriftsteller Günter de Bruyn den Dichter in sei-nem neuen Buch Die Zeit der schweren Not. Der Titelzitiert einen lyrischen Seufzer Chamissos, geäußert inder Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon, als dergeborene Franzose und Wahlpreuße zwischen alleFronten geriet. In dieser Zeit schrieb er mit PeterSchlemihls wundersame Geschichte sein bekanntestesBuch, die Geschichte eines Mannes, der durch denVerkauf seines Schattens in eine vergleichbare Außen-seiterposition gerät.

Chamisso selbst gelang es, sich auf dem langen Um-weg über die Weltreise und durch eine wissenschaftli-che Karriere daraus zu befreien – anders als seinem

Zeitgenossen Heinrich von Kleist, dem die Verwand-lung vom Adligen in einen Bürger misslang und der sichvor zweihundert Jahren das Leben nahm. Chamissonutzte die Chancen, die ihm eine Zeit der politischenUnruhe und gesellschaftlichen Umbrüche in Preußenbot. In Günter de Bruyns zweibändigem Geschichts-panorama der Jahre 1786 bis 1815 ist er der glücklichDavongekommene, dem der Historiograf das letzteWort überlässt:

Alles wird beim alten bleiben,Alles gehen wie gebrachtDas ist’s, schluchzt sie, das ist’s eben,Was so sehr mich weinen macht.

22 :: Zu Adelbert von Chamisso

Chamisso-UmschauChamisso lebt – in Archiv und Ausstellung, Buch, Bild und Blog, Internet und Konferenz

Von Michael Bienert

Alkoholpräparat eines Fisches

der Gattung »Kaninchenfische«

aus der Forschungssammlung

des Berliner Museums für

Naturkunde.

Im Hintergrund das neu ent-

deckte Chamisso-Porträt aus

der »Loose Blätter Sammlung«

in Tromsdalen.

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Kunersdorfer Musenhof»Durch den Machtspruch von Ehrenmännern in

Untätigkeit gebannt, bring’ ich den Sommer bei demHerrn von Itzenplitz auf seinen Gütern zu, in Cuners-dorf bei Wriezen, und beschäftige mich allein mit derBotanik, wozu ich die herrlichsten Hülfen habe. Ichhelfe hier übrigens auch den Landsturm exerzierenund kommt es zu einem Bauernkrieg, so kann ich michwohl darein mischen«, schrieb Adelbert von Chamissoim Mai 1813 aus dem Oderbruch, weit ab von Berlin,wo ihn Freunde vor der antifranzösischen Stimmungzu Beginn der Befreiungskriege gegen Napoleon inSicherheit gebracht hatten. Auf dem Gut Kunersdorferfand er für die Kinder seiner Gastgeber die Schle-mihl-Geschichte, die seinen Weltruhm begründete.

Das Schloss brannte 1945 aus und wurde abgeris-sen. In einem Nachbargebäude mit großem Gartenknüpfen seit 2006 Margot Prust, Inge Bärisch undMarion Schulz an die Tradition Kunersdorfs als Musen-hof an. Sie verlegen Bücher in ihrem Findling Verlag,wohnen im Haus, veranstalten Lesungen und Ausstel-lungen. 2009 war die Schriftstellerin Regina Scheerdrei Monate als Literaturstipendiatin zu Gast. In denSommermonaten ist der neue »Kunersdorfer Musen-hof« an Wochenenden für Ausflügler geöffnet, eineAusstellung über Chamisso wird vorbereitet; genaueInformationen findet man auf der Homepagewww.kunersdorfer-musenhof.de.

Literarische Chamisso-GesellschaftIn Kunersdorf wurde am 17. April 2010 die

Chamisso-Gesellschaft ins Leben gerufen. Laut Satzungwill der Verein literarische, kulturelle und wissen-schaftliche Projekte im Geiste des Namensgebers för-dern. Arbeitsschwerpunkte sollen der internationale

Kulturaustausch, die Erschließung von ChamissosWerk und die Unterstützung der regionalen Kultur-arbeit in Kunersdorf sein. Die Chamisso-Gesellschafthat ihren Sitz zwar in der brandenburgischen Provinz,streckt ihre Fühler jedoch zugleich in die weite Weltaus. Zur Gründungsversammlung kamen der LondonerGermanist Bernd Ballmann und der Autor Peter Worts-man aus New York, der Chamissos Peter Schlemihl neuins Englische übersetzt hat. Die Berliner Staatsbiblio-thek war durch Jutta Weber vertreten, die dort denNachlass Chamissos wissenschaftlich betreut. SeineBiografin Beatrix Langner wurde zur ersten Vorsitzen-den des Vereins gewählt. Sie möchte nicht nur dieErinnerung an Chamisso wach halten und die weltwei-te Forschung fördern, sondern auch Kulturprojektemit und für Migranten unterstützen.

InternetforumBis ein Verein sich gefunden und eine leistungsfä-

hige Arbeitsstruktur entwickelt hat, dauert es einigeZeit, das gilt auch für seine Sichtbarkeit in der Öffent-lichkeit. Laut Satzung der Chamisso-Gesellschaft solleine Website künftig den weltweiten Gedankenaus-tausch unter seinen Freunden fördern, doch bei derRealisierung klemmt es noch. Als vorläufige Adressedient seit Oktober 2010 ganz zeitgemäß ein Blog mitNeuigkeiten und Veranstaltungshinweisen rund umChamisso. Dort sind alsbald Meldungen über neueForschungsvorhaben und Exponate von ChamissosWeltreise in laufenden Ausstellungen eingelaufen, und sehr schnell hat sich das Webtagebuch zu einem

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Klasse, Ordnung, Art. Ausstellungskatalogdes Berliner Museums für Naturkunde.Rangsdorf: Basilisken-Presse, 2010. 336 Seiten, 22,50 EuroGünter de Bruyn, Die Zeit der schwerenNot: Schicksale aus dem KulturlebenBerlins 1807–1815. Frankfurt a. M.:S. Fischer, 2010. 432 Seiten, 24,95 Euro

Archiv der aktuellen Chamisso-Rezeption entwickelt.Das Blog ist für alle Internetbenutzer einsehbar, fürKommentare und Einträge ist eine Registrierung erfor-derlich. Wer das scheut, kann Beiträge und Hinweisedirekt an die Redaktion ([email protected]) schicken, die Seite ist unter www.chamisso-forum.blogspot.com einsehbar.

Ein unbekanntes Porträt»Loose Blätter Sammlung« heißt ein privates Archiv

im norwegischen Tromsdalen, das neben Erstausgabenund einem Brief Adelbert von Chamissos seit kurzemauch eine Bleistiftzeichnung (S. 22) des Dichters besitzt.Es stammt aus dem Nachlass der Malerin Caroline Bar-dura. Sie lebte von 1819 bis 1827 in Berlin und führtemit ihrer Schwester einen Salon, in dem auch Chamissoverkehrte. Der Germanist Michael Schmidt von derUniversität Tromsø ist im Antiquariatshandel auf dasBlatt aufmerksam geworden und erforscht jetzt seineGeschichte. Kontakt: [email protected].

Eine Konferenz in Paris»Korrespondenzen und Transformationen« lautet

das zentrale Thema einer internationalen Chamisso-Konferenz, die vom 9. bis 11. Juni stattfindet. Ausge-richtet wird sie von der Universität Tromsø im franzö-sisch-norwegischen Studienzentrum in Paris, beteiligtist auch die Staatsbibliothek zu Berlin. »Gefragt sindBeiträge, die Chamissos wissenschaftliche Verbindun-gen und Kontakte darstellen, seine Einbindung in wis-senschaftliche Netzwerke untersuchen oder der Fragenachgehen, inwieweit er zum Aufbau von Netzwerkenbeitrug«, schreiben die Organisatorinnen Marie-Theres Federhofer und Jutta Weber in ihrer Einladung.Außerdem sollen die Referenten »das weite Feld derliterarischen, intertextuellen und interkulturellenBeziehungen in den literarischen Texten Chamissos«ausleuchten. Das dreitägige Expertengespräch dürfteder Höhepunkt der internationalen Chamisso-Rezep-tion in diesem Jahre sein. Es wird in einem Konferenz-band dokumentiert. Informationen unter www.chamissokonferenz2011.uit.no.

Arbeit am NachlassChamissos schriftlicher Nachlass in der Berliner

Staatsbibliothek umfasst neben Manuskripten undBriefen auch Urkunden, Reisepässe, Zeitungsaus-schnitte, Kartotheken und Notizbücher, er spiegelt dieganze Vielschichtigkeit seines Lebens wider. Mit rund

23 000 Blättern in 34 Archivkästen gehört er zu denumfangreichsten und vollständigsten literarischenNachlässen aus dem frühen 19. Jahrhundert. DiePapiere stecken in grauen Mappen mit kyrillischer Be-schriftung, denn als Kriegsbeute reisten sie nach demZweiten Weltkrieg in die Sowjetunion, wo auch einNachlassverzeichnis angelegt wurde. Es erfasst denInhalt der Kästen allerdings nur grob. Mit finanziellerUnterstützung der Robert Bosch Stiftung kann in die-sem Jahr die Feinerschließung, Restaurierung undDigitalisierung der Papiere beginnen. Zwei Jahre sinddafür veranschlagt, wenn alles wie geplant läuft, wirdder vollständige Nachlass 2013 über das Internet denChamisso-Forschern weltweit zugänglich sein. Vorläu-fig ausgenommen bleiben lediglich die ungeordnetenNotizzettel Chamisso zu einem hawaiianischen Wörter-buch, für deren Bearbeitung erst noch ein Spezialistgefunden muss.

Die Internetpräsentation der Staatsbibliothekkönnte ein erster Schritt zu einem digitalen Chamisso-Archiv sein, das später durch Dokumente aus natur-kundlichen Museen und Archiven erweitert werdensollte. Um Chamissos vielfältigen Forschungsinteressenund seine Mehrsprachigkeit gerecht zu werden, musseine multidisziplinäre und internationale Communityvon Forschern an seinem Nachlass arbeiten. In derHandschriftenabteilung der Staatsbibliothek war dasnur ansatzweise möglich, das Internet bietet nun dieChance, die Beschäftigung mit Chamisso weltweit aufeine ganz neue Grundlage zu stellen. ::

24 :: Zu Adelbert von Chamisso

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Am Anfang war das Plakat. Es hängt immer nochdort, wo ich es im Urlaub vor fünf Jahren zum erstenMal gesehen habe: am rechten Straßenrand, kurz vorTrogir, diesem Ort an der dalmatinischen Küste, des-sen Altstadt zum Weltkulturerbe gehört. Auf dem Pla-kat ist ein Foto von Ante Gotovina in Uniform zu sehen,dazu die Worte »Unser Held«.

Wie konnte es sein, dass ein und derselbe Menschfür die einen ein Kriegsverbrecher ist und für die an-deren ein Held? Der ehemalige General steht mittler-weile vor dem Tribunal in Den Haag, ihm wird vorge-worfen, für die Ermordung von mindestens 37 Personen,für Plünderung, Brandschatzung und Zerstörung vonDörfern und Städten und die Vertreibung von mehre-ren zehntausend Serben verantwortlich zu sein. Wiekann man solch einen Menschen verehren? Und kannman einen Menschen lieben, der solch einen Men-schen verehrt?

Es waren diese Fragen, die mich zur Geschichtemeines Romans brachten: Ein junger Bosniake, sech-zehn Jahre alt, flieht während des Krieges aus seinerHeimat. Er kommt nach Deutschland und verliebt sichin eine Serbin. Was er nicht weiß: Sie ist die Tochtereines Kriegsverbrechers.

Das war der Plot, den ich mir ausgedacht hatte. DieGeschichte aber ließ sich so nicht schreiben, sie be-durfte der Recherche. Ich konnte nicht schreiben, ohnein Bosnien gewesen zu sein. Ich wollte, dass die Ge-schichte möglich wäre, dass sie mit der Realität der Men-

schen und ihrem Nachkriegsalltag zu tun hätte. Wiewichtig das wäre, hat mir später auch Slavenka Drakulicin einem Gespräch bestätigt: Ein Buch, das sich mit demKrieg in Bosnien befasste, durfte keine falschen Faktenenthalten, weil eine falsche Jahreszahl oder ein falscherName sofort die Glaubwürdigkeit des ganzen Buches inFrage stellen.

Blieb die Frage: Wer würde mir aufgrund nur die-ser Idee eine Recherchereise finanzieren? Wer – außermir – hätte Vertrauen in meinen erdachten Plot? OhneUnterstützung hätte ich mir die Recherche und dasSchreiben nicht leisten können. Ich hatte keinen Mäzenim Bekanntenkreis, blieb also nur ein Stipendium.Leider aber hatte ich mit Bewerbungen noch nie Erfolggehabt, statt Geld stets nette Formbriefe als Antworterhalten, in denen mir mitgeteilt wurde, dass das Geldan andere ginge, aber ich es gern nächstes Jahr nochmal versuchen könne – was ich in der Regel auch tat.Im Internet erfuhr ich zum ersten Mal vom Grenzgänger-Programm: »Autoren können Unterstützung erhaltenbei Recherchen für Veröffentlichungen, die die LänderMittel-, Ost- und Südosteuropas als Thema grenzüber-

Von Nicol Ljubic

Die Nähe suchen, um dieDistanz zu wahrenReportage über eine Reise nach Bosnien-Herzegowinamit dem Grenzgänger-Stipendium

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schreitend und für ein breites Publikum aufberei-ten.« Und weiter: »Das Genre kann von literarischerund essayistischer Prosa, Foto(text)bänden,Kinder- und Jugendbuchliteratur über Drehbücherfür Dokumentar- und Spielfilme bis zu Hörfunk-beiträgen reichen.«

Ich stellte einen Lebenslauf, ein Exposé undeinen Rechercheplan zusammen, bewarb michund bekam zu meiner eigenen Überraschung statt desFormbriefes das Geld. Die Bedingungen: Ich mussteeinen Kostenplan erstellen und sollte das Geld nurzweckgebunden ausgeben. Mit meiner Veröffent-lichung sollte ich auf die Förderung hinweisen, außer-dem wurde eine sorgfältige Abrechnung verlangt undein Abschlussbericht.

Im Sommer 2007 fuhr ich für zehn Tage nachBosnien-Herzegowina. Ich hatte in Sarajevo einen Be-kannten, der mir helfen sollte und mit dem ich dannvon Sarajevo über Pale nach Visegrad und Foca reiste,später allein noch weiter nach Belgrad. Ich hatte klareVorstellungen:

Ich wollte mit einem Arzt über dessen Kranken-hausalltag während des Krieges reden; der Vater mei-ner muslimischen Hauptfigur sollte Arzt sein.

Ich wollte mit einer Familie sprechen, die zu Fußaus ihrem Heimatdorf flüchten musste; so wie ich esmir für die Familie meiner Hauptfigur überlegt hatte.

Ich wollte jemanden treffen, der Nikola Koljevickannte, den serbischen Professor für Anglistik an derUniversität von Sarajevo, der während des Krieges zumideologischen Führer der bosnischen Serben wurdeund später Selbstmord beging. Er sollte das reale Vor-bild meiner Figur des Kriegsverbrechers sein.

Vor Ort hat sich dann gezeigt, wie schwierig es ist,Menschen zu finden, die mit mir reden wollten. Vorallem einen Arzt zu finden, schien anfangs nahezuunmöglich. Einer hatte anfangs zugesagt und dann einpaar Stunden vor dem verabredeten Treffen angerufenund erzählt, er habe die ganze Nacht wach gelegen, erhabe sogar seit langer Zeit zum ersten Mal wieder ge-raucht, er sagte, er habe seit Jahren nicht mehr an dieErlebnisse während des Kriegs gedacht, aber mit mei-ner Bitte, ihn sprechen zu dürfen, sei alles wieder prä-sent gewesen. Ich solle es ihm nicht übel nehmen, aberer wollte nicht mehr darüber reden.

Bei den Menschen, die sich bereit erklärten, mich

Es war schwierig, Gesprächspartnerzu finden, viele sagten ab

26 :: Nicol Ljubic

Für einen Tag im Sommer 2006 fotografierten Kinder

und Jugendliche im Dokumentarprojekt »this is« mit Einweg-

kameras ihr Leben und ihre Stadt.

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zu treffen, kam es während des Gesprächs jedes Mal zueinem Punkt, an dem ihre Stimme stockte und Tränenin die Augen stiegen. Es waren aber genau diese Gesprä-che, die mir halfen, über meine Geschichte nachzuden-ken. Jedes einzelne Gespräch hatte einen Wert, manch-mal waren es Details aus Erzählungen, die mir haftenblieben, manchmal warfen sie Fragen auf und manch-mal nahmen sie Einfluss auf das Konstrukt meiner Ge-schichte.

In Sarajevo kam ich in Kontakt mit einem Profes-sor, der Student bei Nikola Koljevic gewesen war. DasFaszinierende an dem Gespräch über ihn war, dass erein äußerst herzlicher und zuvorkommender Menschgewesen zu sein schien, einer, der einem Gentlemanähnelte, der Jazz liebte und guten Wein. Und einer, derseinen Sohn bei einem Skiunglück verlor und danachein gebrochener Mann war, der anfing zu trinken, sichzurückzog und depressiv wurde.

Es war diese menschliche Seite, die ihn als Vorbildfür meine Figur so interessant machte. Auch ein Kriegs-verbrecher konnte ein fürsorglich liebender Vater sein.

In Visegrad erfuhr ich von einem Haus in derPionirska Straße, in das eine Familie während desKriegs gelockt und angezündet worden war. DenTätern wurde Jahre später vor dem Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag der Prozess gemacht. Dieses Ver-brechen, das war mir bald klar, sollte als reale Vorlagefür meinen Roman dienen.

Es ist schwierig für mich, jede Einzelheit zu benen-nen, die Einfluss auf meinen Roman genommen hat. Essind Eindrücke, Anekdoten, Gedanken, Sätze, Begeg-nungen, die sich im Buch wiederfinden. Insofern wardie Reise ungemein wichtig für mich. Sie hat das ge-bracht, was ich mir erhofft hatte: ein klares Bild vonmeiner Geschichte.

Und trotzdem war ich nicht in der Lage, sie zuschreiben, über Monate quälte ich mich mit den erstenSeiten, bis mir klar wurde, dass ich an meiner Erzähl-perspektive scheiterte. Nach meiner Reise nach Bos-nien kam mir die Auswahl meiner beiden Hauptfigurenanmaßend vor: Wie konnte ausgerechnet ich über dasLeben zweier Kriegsflüchtlinge schreiben? Ich selbsthatte den Krieg in Deutschland im Fernsehen verfolgt –und nicht mal besonders interessiert. Erst als aus mei-ner anfangs erdachten muslimischen Hauptfigur einkroatisch-stämmiger Deutscher wurde, der den Kriegaus der Distanz wahrgenommen hatte, konnte ichschreiben.

Am Ende wurde es die Geschichte einer serbischenStudentin, die sich in Berlin in einen Deutschen ver-liebt, der sich nie sonderlich für seine kroatische Her-kunft interessiert hatte. Was er lange nicht weiß: Sie istdie Tochter eines Kriegsverbrechers, dem vor demTribunal in Den Haag der Prozess gemacht wird.

Manchmal muss man die Nähe suchen, um die Dis-tanz zu wahren. Aber auch das wurde mir erst dankder Recherchereise klar, ohne die ich den RomanMeeresstille nicht hätte schreiben können. ::

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Die automatische Antwort auf meinen Kontaktversuchper E-Mail hat mich verblüfft: In der Betreffzeilestand »absence« und im Text »Ech sinn am Congé bisde 4. Januar. Duerno mellen ech mech.«

Wer zum ersten Mal mit Luxemburg in Kontaktkommt, wundert sich über eine Sprachsituation, diegekennzeichnet ist durch ein komplexes Neben-, Mit-und Gegeneinander von mindestens drei Sprachen. Inden großen Tageszeitungen gibt es bunt gemischtdeutsche, französische und luxemburgische Artikelund Anzeigen. In der Werbung wird nach dem ModellLibo. La lecture a un nom. Libo Liesen erliewen (Luxem-burger Wort vom 25. 1. 2011) die Koexistenz mehrererSprachen fast schon zur Regel erhoben.

Lëtzebuergesch, das 1984 als Ergebnis einer langenhistorisch-politischen Entwicklung per Gesetz zurNationalsprache erhoben wurde, ist im Bereich dermündlichen Kommunikation die Primärsprache.Deutsch und Französisch sind Sekundärsprachen,deren Gebrauch auf verschiedene Bereiche beschränktist; Französisch gewinnt an Terrain durch die verstärk-te Präsenz romanophoner Migranten. Bei der Schrift-sprache sind Deutsch und Französisch dominant.

Wie kann man die luxemburgische Sprache beschrei-ben?

Die historische Grundlage des Luxemburgischenist das Westmoselfränkische. Da aber das luxemburgi-sche Sprachgebiet im Westen an die germanisch-roma-nische Sprachgrenze stößt, gibt es viele Gelegenheitenzu Sprachkontakten, die bewirken, dass das heutigeLuxemburgisch sich längst von seiner Grundlage ent-fernt hat und sich in Richtung einer germanisch-roma-nischen Mischsprache entwickelt.

28 :: Interview mit Germaine Goetzinger

»Man nimmt von beiden Seitenund erfindet Eigenes dazu.«

Germaine Goetzinger, Direktorin des Centre national de littérature/Lëtzebuerger Literaturarchiv, gibt im E-Mail-Interview Auskunft über die luxemburgischeSprache, das Lëtzebuergesch

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Offiziell ist Luxemburg heute Mitglied der Franco-phonie. Eine wesentliche Rolle spielt, dass Luxemburgfrüher zweisprachig war und neben dem Quartier ger-manique einen Quartier wallon umfasste, der 1839 Bel-gien zugesprochen wurde und heute der belgischenProvince du Luxembourg entspricht. Ein Relikt aus jenerZeit ist Französisch als Sprache der Gesetzgebung.

Luxemburg kennt – wahrscheinlich durch die spezi-fische soziolinguistische und politische Situation – einenhohen Grad an sprachlicher Produktivität, die dazubeiträgt, die sprachliche Eigenständigkeit abzusichern.Man nimmt von beiden Seiten und erfindet Eigenes da-zu. Offensichtlich ist ein Großteil der Wörter romani-schen Ursprungs, doch sie werden bei der Integration

auf der ersten statt der letzten Silbe betont. So sagendie Luxemburger Merci für Danke und Präbbeli (frz.parapluie) für Regenschirm oder Krepéng für Plunder(frz. saint-crépin für Handwerkszeug im Schustersack).

Nicht immer verdrängen die romanischen Wörterdie ursprünglich germanischen, es gibt für ein unddenselben Gegenstand mehrere Bezeichnungen: Brief-marken sind Timberen oder Käppercher (Köpfchen),ein Trödler heißt Frippchen oder Lompekréimer, einKühlschrank heißt Frigo, Frigidaire oder Killschaf.Häufig sind im Bereich der Wortbildung germanisch-romanische Komposita wie Frigosdir (Kühlschrank-tür), Framboisdrëpp (Himbeerschnaps) oder Pompjees-sprëtz (Feuerspritze). Manchmal ist die lexikalischeKreativität auch die Grundlage einer eigenständigenidiomatischen Produktivität. So heißen StreichhölzerFixfeier oder Fix. Wer reizbar ist, geet an Lut wéi Fix-

feier. Wer dünne Gliedmaße hat, hat Ärm a Been wéiFixspéin. Eine Streichholzschachtel ist eng Fixfeiers-këscht oder eine Fixkëscht. Am Beispiel Fußball lässtsich veranschaulichen, dass eine kulturhistorischeSonderentwicklung sich auch als entsprechendesSprachsediment wiederfindet. So ist in der Luxembur-ger Fußballsprache ein Mittelfeldspieler ein Zenter-haaf, ein Verteidiger ein Bäck, ein Torwart ein Goolkippund ein Eckball ein Korner.

Wie viele Menschen, welche Menschen sprechenLëtzebuergesch?

Luxemburgisch wird von der breiten Mehrheitgesprochen, ist also keineswegs eine Minderheiten-

Lëtzebuergesch :: 29

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sprache. Es hatte aber nie eine Monopolstellung inne,ist keine Amtssprache der Europäischen Union undwurde nie politisch geschützt wie das Isländische etwa.Insgesamt sind sprachregulierende Eingriffe staatli-cherseits eher selten, so dass die Verwaltung und dieGerichte in den drei Sprachen arbeiten. Dabei obliegtdie Sprachwahl nicht dem Amt oder dem Gericht, son-dern dem Ermessen des Bürgers, der sich an dieöffentliche Instanz wendet.

Sprachgemeinschaft und Einwohnerschaft desheutigen Staates sind nicht unbedingt identisch, denndas Sprachgebiet ist größer als das Staatsgebiet. Esreicht bis ins Areler Land nach Belgien und als franci-que mosellan nach Lothringen in Frankreich. Luxem-burgisch wird vereinzelt auch in den USA gesprochen,besonders im Mittleren Westen.

Andrerseits kann man nicht alle 500 000 Einwoh-ner über einen Kamm scheren. Luxemburg ist migra-tionsbedingt ein überaus multilinguales und multikul-turelles Milieu, gekennzeichnet durch eine stark ver-breitete Mehrsprachigkeit. Unter der Bedingung urba-ner Vielfalt entwickeln sich in den Ballungsräumenimmer neue Varianten, die wenig empirisch untersuchtsind, die aber einen Nährboden sowohl für sprachlicheIndividualisierung als auch für literarische und kultu-relle Kreativität darstellen. Wichtiger als die Beherr-schung einer Einzelsprache wird dann der Zugang zueiner anerkannten Form von Mehrsprachigkeit.

Welche Rolle spielte in der Geschichte das Lëtze-buergesche für die kulturelle Identität des kleinenLandes?

Lëtzebuergesch war im 19. und beginnenden 20.Jahrhundert als Volkssprache vorerst Oppositions-und Widerstandssprache gegen das Hochdeutsche unddas Französische der Notabeln und markiert das Ein-treten für die Idee der Volkssouveränität. So verstandCharles Mathias André 1848, als er sich auf Lëtzebuer-gesch an die Ständeversammlung wandte, die Sprach-wahl als politisches Zeichen des demokratischenProtests: Fragen, die das Volk beträfen, sollten in derSprache des Volkes abgehandelt werden.

Einen entscheidenden Durchbruch erfuhr es wäh-rend des Zweiten Weltkriegs, als Großherzogin Char-lotte sich aus dem Londoner Exil über BBC in luxem-burgischer Sprache an die Bevölkerung wandte. DiesenRundfunkansprachen kam eine große Bedeutung zu,da sie außenpolitisch die Zugehörigkeit Luxemburgszum Lager der Alliierten markierten und nach innen

den Widerstand der Luxemburger gegendie Besatzungsmacht absicherten.

Diese Entwicklung wurde noch deut-licher im Ergebnis der so genannten Per-sonenstandsaufnahme, die von der deut-schen Zivilverwaltung am 10. Oktober1941 durchgeführt werden sollte. Nebenden üblichen Angaben zur Person ver-langte der Fragebogen die Beantwortungvon drei politisch verfänglichen Fragen:Staatsangehörigkeit, Muttersprache,Volkszugehörigkeit. Im Kleingedrucktenwurde ausdrücklich erklärt, dass Luxem-burgisch nicht als Muttersprache gelte.In Luxemburg hatte man verstanden, wasauf dem Spiel stand; der antifaschistischeWiderstand setzte sich durch mit demMotto Dräimol Lëtzebuergesch.

Heute ist Lëtzebuergesch eine wich-tige Integrationssprache geworden, ins-besondere für junge Menschen. Entspre-chend boomt sie in der digitalen Kommu-nikation. Jugendliche benutzen im Inter-net und beim Schreiben von E-Mails undSMS bevorzugt Lëtzebuergesch, oft ineiner eigenwilligen Wildwuchsform.

Wird auch Literatur auf Lëtzebuergeschgeschrieben?

Das Bemühen um eine LuxemburgerOrthographie, eine Grammatik sowie umWörterbücher reichen bis ins 19. Jahr-hundert zurück. Als Literatursprachetritt es 1829 in Erscheinung, als derMathematikprofessor Antoine Meyer daserste Buch in luxemburgischer SpracheE’ Schrek ob de’Lezebuerger Parnassusherausbringt. Dreißig Jahre später führtder hauptstädtische Turnverein Gym dieersten Theaterstücke in luxemburgischerSprache von Dicks (1823 –1891) auf. Zuerwähnen sind darüber hinaus die pa-triotische Lyrik von Michel Lentz (1820 –1893) und das satirische Versepos Renertvon Michel Rodange (1827–1876). Spä-testens seitdem kann man sagen, dassLuxemburgisch sich als Literaturspracheetabliert hat, auch wenn es noch bis1928/29 dauern wird, bis Siggy vu

30 :: Interview mit Germaine Goetzinger

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Lëtzebuerg mit Ketten und 1948 FredGremling mit Dohém erste Romane vor-legen.

Eine regelrechte Aufbruchstimmungsetzt Mitte der 1980er Jahre ein, als mitGuy Rewenigs Roman Hannert dem Atlan-tik die Periode des neuen LuxemburgerRomans beginnt, der durch drei Grund-optionen gekennzeichnet ist: die Wahldes Luxemburgischen als Literaturspra-che, die Hinwendung zu einer konse-quent modernen Erzählform und die the-matische Gestaltung der Entwicklung inder Luxemburger Nachkriegs- und Gegen-wartsgesellschaft. Roger ManderscheidsRomantrilogie schacko klak (1988), depapagei um käschtebam (1991), feier aflam (1995) erscheint in deutscher Über-setzung im Gollenstein Verlag.

Wie taucht Lëtzebuergesch in den ande-ren Medien auf?

Neben Deutsch und Französisch hatsich Luxemburgisch in der Presse seitetwa sechzig Jahren eine feste Positiongesichert. Eine wichtige Rolle spielte da-bei die Actioun Lëtzebuergesch. Familien-anzeigen etwa, bei denen man früher aufdas Französische zurückgriff, werdenheute mehrheitlich in luxemburgischerSprache verfasst.

Seit den 1930er Jahren gibt es Rund-funkprogramme in luxemburgischerSprache. Am 18. Oktober 1955 ging RadioLëtzebuerg UKW auf Sendung. Ab 1969wird das Fernsehwochenmagazin Hei elei– kuck elei, seit 1991 ein tägliches Pro-gramm in Luxemburger Sprache gesen-det. Auch die Filmproduktion macht dieEntwicklung mit: Der erste Spielfilm inluxemburgischer Sprache Wat huet e ge-sot? von Georges Fautsch, Maisy Hause-mer und Paul Scheuer lief 1981 an. Filmevon Andy Bausch (*1959), der die Sprach-mischung gerade zum Markenzeichenseiner Spielfilme wie Troublemaker(1988), Three Shake-a-leg Steps to Heaven(1993), Back in Trouble (1997), Le Clubdes Chômeurs (2001) oder Trouble no

more (2010) macht, ge-nießen heute Kultstatus.Sein Lieblingsstar, derAusnahmeschauspielerThierry Van Werweke, der 2003 für seine Rolle in Le Club des Chômeurs mit dem Luxemburger Film-preis ausgezeichnet wurde, verdankt seine Authenti-zität weitgehend seinem Umgang mit der luxembur-gischen Sprache.

Welche Bedeutung hat das Lëtzebuergesche fürSchriftsteller? Gibt es eine literarische Szene?

Es gibt eine mehrsprachige Luxemburger Litera-turszene. Geschrieben wird Lëtzebuergesch, Deutsch,Französisch und dazu noch Englisch, Italienisch, Por-tugiesisch, Spanisch. Viele Schriftsteller nutzen dassprachspielerische und sprachkreative Mischen derSprachen als literarisches Ausdrucksmittel. So findetman schon in den Theaterstücken von Dicks im 19. Jahr-hundert parodistische Verballhornungen des Deut-schen und des Französischen. Italienische Einspreng-sel gibt es in den französischsprachigen Texten vonJean Portante, französischsprachige in den deutsch-sprachigen von Jean Krier.

Zum Erstarken der Literaturszene in den letzenJahrzehnten hat das Entstehen von Literaturverlagen(Binsfeld, Op der Lay, Phi, ultimomondo), die Grün-dung eines Schriftstellerverbandes, das Erscheinenliterarischer Zeitschriften, die Vergabe nationalerLiteraturpreise sowie die Gründung des Centre natio-nal de littérature und das Bemühen um eine Literatur-förderpolitik beigetragen.

Was macht Ihr Luxemburgisches Literaturarchiv? Seitwann existiert es?

Das 1995 gegründete Centre national de littérature/Lëtzebuerger Literaturarchiv ist mit dem Centre natio-nal de l’audiovisuel eines der beiden jüngsten staatli-chen Kulturinstitute. Das CNL ist einerseits Forschungs-einrichtung mit Bibliothek und Archiv, andererseitsLiteratur- und Kulturhaus mit einem weitgespanntenVeranstaltungsprogramm.

Es erfüllt dementsprechend eine doppelte Auf-gabe: Bewahrung des literarischen Erbes auf der einenSeite und Förderung des zeitgenössischen literari-schen Lebens andererseits. Mehr Informationen findetman unter http://www.cnl.public.lu/.

Die Fragen stellte Irene Ferchl.

:: Claude D. Conter und Nicole Sahl (Hrsg.),Aufbrüche und Vermittlungen /Nouveaux horizons et médiations.Beiträge zur Luxemburger und europäi-schen Literatur- und Kulturgeschichte /Contributions à l’histoire littéraire etculturelle au Luxembourg et en Europe.Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2010

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Zum vierten Mal richtete die Robert Bosch Stiftungim Oktober 2007 Chamisso-Tage aus – zum ersten Mal»an der Ruhr«. Bei der Abschlussveranstaltung imDortmunder Rathaus gab es eine offizielle Liebeserklä-rung der Vertreter des Landes, der Städte des Ruhr-gebietes und besonders der Geschäftsleitung derKulturhauptstadt Europas RUHR.2010 und den großenWunsch, diese wunderbaren Chamisso-Tage 2007 soll-ten doch unbedingt ihre Fortsetzung in einem Beitragder Robert Bosch Stiftung in der KulturhauptstadtEuropas RUHR.2010 finden.

Die Liebe wurde erwidert – hatte die Robert BoschStiftung doch die besondere Situation des industriellenund nachindustriellen Ballungsraums Ruhrgebiet alsMigrations- und Integrationsgebiet kennengelernt. Sowollte RUHR.2010 ein wenig von den Erfahrungen wei-tergeben, die in der Zusammenarbeit mit dem Kultus-ministerium des Landes Baden-Württemberg und demLiteraturhaus Stuttgart in einer die gesamte Schullauf-bahn begleitenden literarisch-sprachlichen Bildunggewonnen worden waren.

So kam es zum Beitrag »Viele Kulturen – eine Spra-che« innerhalb des Programm-Segments »Spracheerfahren« der Kulturhauptstadt: Fünf Schreibwerkstät-ten in fünf Städten des Ruhrgebietes brachten fünfChamisso-Preisträger für ein halbes Jahr an jeweilseine Schule.

In einer Klasse oder festen Gruppe von Schülernsollten sie – eingebunden in den Deutsch-Unterrichtund ausgehend von der Erlebnis- und Erfahrungsweltder Schülerinnen und Schüler – eine intensive Beschäf-tigung mit Sprache, literarischen Formen und kulturel-len Wurzeln in Gang setzen. Die Ergebnisse der Schreib-

werkstätten sollten so etwas wie ein Kaleidoskopgegenwärtiger Befindlichkeiten von Jugendlichen imRuhrgebiet abbilden.

Die fünf Städte waren Recklinghausen, Gelsen-kirchen, Essen, Duisburg und Dortmund – Namen, diemöglicherweise schon feste Assoziationen provozieren.Die Schulen des Projektes lagen in Recklinghausen-Süd,Gelsenkirchen-Ückendorf, Essen Steele-Ost, Duisburg-Marxloh, Dortmund-Nordstadt. Diese Stadtteile habenin der industriellen Geschichte des Ruhrgebietes zeit-weise eine große Rolle gespielt, besonders im Abwehr-kampf gegen den Abbau von Arbeitsplätzen und dasVerschwinden der mit ihnen verbundenen Alltagskul-tur. Heute sind es Stadtteile, deren versteckter Reich-tum die vielen Menschen aus verschiedenen Kulturensind, die in ihnen eine Heimat gefunden haben.

Diesen Reichtum wollten die fünf Chamisso-Auto-rinnen und -Autoren, die die Schreibwerkstätten leite-ten, entdecken und sichtbar machen: Léda Forgó amTheodor-Heuss-Gymnasium in Recklinghausen, QueDu Luu an der Gesamtschule Ückendorf in Gelsenkir-chen, José F.A. Oliver an der Erich Kästner-Gesamt-schule in Essen, Selim Özdogan am Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium und Max-Planck-Gymnasium in Duisburgund Zehra Çırak an der Gertrud-Bäumer-Realschule inDortmund.

Die fünf Autorinnen und Autoren haben ganzunterschiedliche Schreibgeschichten und -erfahrungen,folglich auch ganz andere Methoden ihrer Beschäfti-

32 :: »Viele Kulturen – eine Sprache«

Es begann mit einerLiebeserklärung …Schreibwerkstätten »Viele Kulturen – eine Sprache«innerhalb der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010

Von Klauspeter Sachau

Fünf Städte, fünf Stadtteile und fünf Chamisso-Preisträger

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gung mit Literatur. Sie sind auf Lehrerinnen und Leh-rer gestoßen, die sie unvoreingenommen verstandenund unterstützten, obwohl sie sie und ihre Heran-gehensweise an die Schreibarbeit vorher nicht kannten.

Weil die Lehrerinnen und Lehrer ihrerseits ver-standen hatten, was für ein Geschenk diese halbjähri-gen Schreibwerkstätten für die Persönlichkeits- undSprachentwicklung ihrer Schüler war, stellte sich vonAnfang an die Atmosphäre einer verschworenen Ge-meinschaft ein, die an etwas ganz Besonderem undnicht Alltäglichem arbeitete.

Die Duisburger Schreibwerkstatt formuliert das imVorwort zu den in der Werkstatt entstandenen Textenso: »Ein halbes Jahr lang waren wir Dauergäste im ›Ge-bäude Schriftsteller/in‹. Die Eingangstür wurde unsvon Selim Özdogan, welcher mit dem Chamisso-Preisausgezeichnet wurde, geöffnet. Im Flur zeigte er unsdie verschiedenen Wege durch das Gebäude. Jedochzeigte er sie uns nur, gehen mussten wir sie selber. Mal

öffneten wir vorsichtig Türen, mal standen wir vor weitoffenen Türen. Alle Türen konnten wir nicht öffnen,doch bei einem mehrstöckigen Gebäude ist das auchschwer.«

Die Schülerinnen und Schüler näherten sich ihrereigenen Geschichte, ihren Gefühlen und ihrer Umge-bung in der Reflexion des bestmöglichen sprachlichenAusdrucks auf vielfältige Weise. Allen Werkstätten wargemeinsam, dass die Arbeit nicht mit den Arbeitsein-heiten getan war – alle Autorinnen und Autoren warenso mitgerissen von der Intensität der Schüler bei derArbeit, dass sie zwischen den Werkstattterminen perelektronischer Post kommunizierten, Anregungen ga-ben, Verbesserungsvorschläge machten.

Solch ein intensives Arbeitsverhältnis an der

Schreibwerkstätten :: 33

Annäherung an die eigene Geschichte

Gute Laune und waches Interesse beim Gipfeltreffen der fünf Schreibwerkstätten am 25. November 2010 im Dortmunder U.

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Entwicklung und Ausformulierung ihrer eigenen Ge-danken und einer angemessenen sprachlichen Umset-zung hatten die Schüler, aber auch die Autoren, bishernicht erlebt.

Ergänzt und intensiviert wurde dieser Prozessdurch Lesungen und kleine Workshops, die MaricaBodrozic an den fünf Schulen gab. Sie las erste Kapitelüber die Liebe aus ihrem da noch nicht erschienenenBuch das gedächtnis der libellen, packte die Schülerin-nen und Schüler mit ihrer bildreichen poetischenSprache und brachte sie wiederum mit kleinen Anrei-zen zum differenzierten Betrachten und Beschreibeneigener Gefühle, Erinnerungen und Gedanken.

Die intensive Zusammenarbeit brachte den Reich-tum der unbewussten Vorerfahrungen, die Tiefe derkulturellen Prägung und die individuelle Welt der Ge-fühle und Vorstellungen zu Tage. Die Autorinnen undAutoren wiesen den Weg zu literarischen Formen.

Literatur ist für die Teilnehmerinnen und Teil-nehmer dieses Projekts eine Freundin geworden. Siehaben ihre Bekanntschaft gemacht, haben mit denAutorinnen und Autoren erlebt, welche Ansprücheeine solche Freundschaft für sie bedeutet, welche Aus-einandersetzungen, aber auch, welches Glück sie brin-gen kann.

In allen Städten traten die Schülerinnen und Schü-ler mit ihren Arbeiten in die Öffentlichkeit. Selbstbe-wusst und auf ganz unterschiedliche – immer aus dergemeinsamen Arbeit heraus entwickelte – Weise prä-sentierten sie ihre Texte.

In einer großen Abschlussveranstaltung im Dort-munder U-Turm, dem neuen Zentrum für Kunst undKreativität, einem Wahrzeichen der Kulturhauptstadt

Die Fakten:: »Viele Kulturen – eine Sprache« war ein Projektinnerhalb der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010.:: Im Jahr 2010 gingen Chamisso-Preisträgerinnenund -Preisträger in die Schulen. In fünf Städten derMetropole Ruhr wurden fünfmonatige Schreibwerk-stätten mit insgesamt 125 Schülerinnen und Schü-

34 :: Klauspeter Sachau

Tharanan Mahendrajajah aus der Dortmunder Schreibwerk-

statt liest ein ernstes Gedicht.

Kenny Kremer aus Recklinghausen rezitiert ihr »Perfektes

Ebenbild«.

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lern verschiedener Altersstufen von Zehra Çırak, Léda Forgó, Que Du Luu, Selim Özdogan und JoséF. A. Oliver in jeweils einer Schule durchgeführt.:: Partner des Projekts waren RUHR.2010, derDortmunder Verein für Literatur e.V., das Kulturbüroder Stadt Dortmund und die Robert Bosch Stiftung.

Europas RUHR.2010, kamen sie dann alle zusammen,alle an dem Projekt beteiligten Schülerinnen undSchüler, Autorinnen und Autoren, Eltern und Freunde.Die einzelnen Schreibwerkstätten erklärten und zeig-ten, was sie erarbeitet hatten.

Und hier kam zum Ausdruck, dass die leidenschaft-liche Arbeit in den einzelnen Gruppen eine große ver-schworene Gemeinschaft hatte entstehen lassen. DreiStunden lang hörten alle aufmerksam zu, was von denanderen erarbeitet worden war, freuten sich überLustiges, staunten über Überraschendes, waren ergrif-fen von Bewegendem und spendeten allem anerken-nenden Beifall.

Ein solches Erlebnis der jugendlichen Selbstdar-stellung hatten sich selbst die Initiatoren des Projektsnicht vorstellen können. In einem Jahr hatten Jugend-liche durch individuelle literarische Arbeit in einzel-nen Gruppen in Städten, die sonst wenig mehr mitein-ander zu tun haben als Teile eines im Strukturwandelbefindlichen Ballungsraumes zu sein, eine gemeinsa-me Plattform gefunden, um über ihre Gedanken, Ge-fühle, Erlebnisse und Vorstellungen nachzudenken, zuschreiben, zu sprechen – und einander zuzuhören. ::

Schreibwerkstätten :: 35

Selim Özdogan und Schülerinnen aus Duisburg mit einer

kleinen szenischen Text-Präsentation.

Von der Begeisterung der Anderen getragen – Zehra Çırak

und Schüler der Dortmunder Werkstatt.

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Kuriose Kännchen

Dem Frankfurter Unternehmensberater Asfa-Wossen Asserate, 1948 geborener Großneffe des letz-ten äthiopischen Kaisers, ist 2003 ein veritabler Best-seller gelungen: Manieren. Der Weg dorthin war weit:»Sie sind aber net von hier?«, wurde er als TübingerStudent vor vierzig Jahren nicht nur einmal gefragt.Was außer »Nein« sollte er antworten? Und darauf folg-te oft ein selbstzufriedenes »Drum!«. Ein derart herr-licher Dialog scheint heute kaum noch denkbar. Wiesehr sich Deutschland seitdem verändert hat, zeigtAsserates neues Buch, das man als Fortsetzung derManieren lesen kann. Der Leser, jedenfalls derjenige,dem der Buchtitel noch etwas sagt, fühlt sich von An-fang an gut aufgehoben. Der damit angesprocheneKaffee übrigens hat seinen weltweiten Siegeszug vomäthiopischen Hochland aus angetreten, und es istdurchaus anregend, wenn deutsche Kaffeesitten voneinem Autor beschrieben werden, in dessen Herkunfts-land stundenlange Kaffeerituale gang und gäbe sind –und der mit der Feststellung endet, dass sein Inneresvon einem »Gefühl der Geborgenheit« durchstrahltwerde, sobald er irgendwo »Draußen nur Kännchen!«liest. Weil er dann nämlich sicher sein kann: »Hier binich zu Hause«. Beste Unterhaltung auf hohem Niveaubieten diese Streiflichter zur deutschen Landeskunde,die Sitten- und Kulturkritik ebenso enthalten wie lei-denschaftliche, herzliche Plädoyers für schwäbischenKartoffelsalat, die oft belächelten deutschen Häkel-deckchen oder die allgemeine Bierseligkeit: »Ging vomdeutschen Bierbauch tatsächlich jemals Gefahr für dasWohl des Landes aus?«. Eines Landes, das auch derVielfalt seiner Regionen und Dialekte wegen liebens-wert ist – der Autor liebt Helmut Kohls Strickjacke, einSymbol für den seit Jahrhunderten unverwüstlichenföderalen Geist Deutschlands. Doch mit subtilen Alltags-beobachtungen, auch zum politischen Geschehen, undmit großer Sympathie für allerlei deutsche Kuriosa istes nicht getan. Asserate geht es um mehr als um Liebes-erklärungen an das Land, das ihm in über vierzig Jah-ren zur Heimat geworden ist. Nicht überall steht alleszum Besten. Attackieren oder gar Poltern ist erwar-tungsgemäß nicht seine Art, doch gelegentlich hebt derPrinz, wenn man so sagen darf, vernehmlich die Augen-braue. So scheint ihm, dass »die demonstrative Liebezum Haustier nicht selten einhergeht mit einem gewis-sen Mangel an Fähigkeit zu menschlicher Zuneigung«.Oder dass nicht wenige Zeitgenossen mit Betreten

eines Eisenbahnwaggons Verhaltensweisen annehmen,»die einem kultivierten Menschen unwürdig erschei-nen«. Schwerer wiegt Asserates Befund, dass es um dieGeschäftswelt oft arg bestellt ist: »Manieren im Dienstdes Ehrgeizes und der Profitmaximierung bieten einwahrhaft abstoßendes Schauspiel. Dagegen ist die un-verstellte Brutalität geradezu ein ästhetisches Labsal«.Wo das Haupterkennungsmerkmal die Platin-Plastik-karte ist, finde man Stil, Form, Haltung und Verbind-lichkeit nur selten vor, und es wäre schon viel gewon-nen, »wenn sich die Einsicht durchsetzte, dass Manie-ren im wahren Sinne des Wortes ohne Moral nicht zuhaben sind«. Wohl wahr! Ein anderes Thema: Er kennekaum eine Nation, »die ihre Sprache mit einer solchenNachlässigkeit zu behandeln scheint wie die deutsche«,schreibt der Autor und fragt sich, ob es ein zweitesLand auf der Welt gibt, das sich derart bereitwillig derWeltsprache Englisch ausgeliefert hat. Sprachpflegejedenfalls sei keineswegs etwas Ewiggestriges, undman solle dabei mehr auf Philosophen und Schriftstel-ler hören als auf Bürokraten und Fernseh-Schreihälse.Das wissen wir schon? Es tut dennoch gut, es auch ausder Feder eines ins Deutsche eingewanderten Schrift-stellers zu lesen. Darauf ein Kännchen!

Asfa-Wossen Asserate: Draußen nur Kännchen.Meine deutschen Fundstücke. Frankfurt a.M.: Scherz, 2010. 189 S., 18,95 Euro

Those were the days…

Seit ihrem grandiosen, zu Recht mit wichtigenLiteraturpreisen ausgezeichneten Roman Der Schwim-mer (2002) hat man von Zsuzsa Bánk wenig gehört. DasEcho auf ihren Erzählband Heißester Sommer (2004)war mau, und danach widmete sich die 1965 geboreneFrankfurter Autorin erst einmal ihrer Familie. In denletzten dreieinhalb Jahren jedoch entstand ein neuerRoman: Die hellen Tage erzählt von drei Kindern, diesich in den sechziger Jahren des letzten Jahrhundertsin einer unweit des Neckarstroms gelegenen Klein-stadt namens Kirchblüt zusammenfinden und im Laufeder Jahre so etwas wie Freunde fürs Leben werden. Aufder hellen Kindheitswelt aber liegen von vornhereindunkle Schatten. Drei Familiengeschichten werdenzunächst parallel erzählt, und irgendwann greifen sieineinander. Die spannendste ist die von Aja und ihrerMutter, der aus einer ungarischen Artistenfamilie stam-menden geheimnisvollen Évi, die nicht Éva genannt

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werden will und schon gar nicht Frau Kalócs. Durch siebleibt das aus dem Schwimmer bekannte Ungarn-Thema präsent. Sie leben in einer von einem wunder-baren Garten umgebenen Bruchbude am Rand desStädtchens. Der Schatten: Aja hat seit einem Verkehrs-unfall an einer Hand nur noch drei Finger. Und ihrVater kommt nur einmal im Jahr zu Besuch, repariertdas Nötigste, spielt mit seiner Tochter und verschwin-det dann wieder. Wenn dieser Zigi, dessen Zirkus-kunststücke die Kinder lieben, überhaupt Ajas Vaterist. Der Vater von Seri wiederum, der Ich-Erzählerin,ist bereits kurz nach ihrer Geburt gestorben. Der dritteim Bunde heißt Karl. Das sein weiteres Leben bestim-mende Ereignis ist das Verschwinden seines jüngerenBruders, einfach so, an einem hellblauen Frühlingstag –eine unfassbare Katastrophe, viel schlimmer als derAlltag mit der überforderten Mutter. Alle drei alsohaben ein je eigenes Schicksal zu tragen, und auf ganzandere Weise gilt das auch für die drei Mütter, die sichallmählich miteinander anfreunden. Gerade die Schat-ten über den hellen Tagen sind es, die Aja, Seri undKarl fest aneinanderschmieden. Erst einmal wachsensie heran – bundesdeutsche Provinz in prekären Frie-denszeiten. Die Schwelle vom Kindsein zur Jugendzeitüberschreiten sie noch relativ locker, doch als die dreiErwachsenen dann zum Studieren nach Rom gehen,wird ihre Freundschaft auf eine harte Probe gestellt. Inder Ewigen Stadt, auch eine Art Gegenpol zum beschau-lichen Kirchblüt, wäre fast alles auseinandergebro-chen – am Ende aber kriegt die innige Lebensfreund-schaft der drei Hauptfiguren doch noch die Kurve.Zsuzsa Bánk erzählt in einem ruhigen und beschauli-chen Ton. An der handwerklichen Seite ihrer Prosa istnichts auszusetzen, und doch wünscht man sich mehrspannende und sprachlich sichtbare Kaskaden, Stru-del und Nebenströmungen in ihrem gemächlichen Er-zählfluss.

Zsuzsa Bánk: Die hellen Tage. Roman. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 2010. 543 S., 21,95 Euro

Magisches Masuren

Polnische Literatur in deutscher Sprache schreibeer, sagt der 1968 in Bartoszyce geborene, seit 1985 inDeutschland lebende Artur Becker gern. Daran istzumindest richtig, dass sein neues Buch in der nord-östlichsten Ecke unseres Nachbarlands spielt – wieKino Muza (2003), Das Herz von Chopin (2006) oder

Wodka und Messer (2008), um nur einige der Texte zuerwähnen, für die Becker 2009 den Adelbert-von-Chamisso-Preis bekommen hat. Wie goldrichtig es war,ihn auszuzeichnen, beweist Der Lippenstift meinerMutter auf beeindruckende Art und Weise. Mitten in dermasurischen Seenlandschaft liegt die Kleinstadt DolinaRóz, die einst den Namen Rosenthal trug. Wir tauchenein ins pralle Leben der Volksrepublik Polen in denspäten siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts,als es zwar schon Pink Floyd zu entdecken gab, diegroßen Streiks in den Werften und die damit einherge-henden politischen Umbrüche aber erst am Horizontsichtbar wurden. Wir sehen diese Provinzwelt, diedem Zweiten Weltkrieg noch sehr viel näher ist als derJahrtausendwende, mit den Augen des dort heran-wachsenden Bartek, eines gewitzten und hellwachenSchülers am örtlichen Technikum, dem nach der Wahr-heit ebenso dürstet wie nach der Liebe respektive dem,was er dafür hält. Die schrägen Vögel, mit denen er eszu tun hat, angefangen beim versoffenen Vater, sindallesamt vom grauenhaften Schicksalsjahrhundert Eu-ropas und speziell Polens gezeichnet, besser: versehrtbis ans Ende ihrer Tage und zugleich verdammt zumWeiterleben. Wie Becker das Panoptikum seiner Roman-gestalten entstehen lässt und in welcher Farbenfülle eres ausmalt, erinnert an beste Traditionen des magi-schen Realismus – die »Danziger Trilogie« liegt geogra-fisch nahe, an Faulkner oder Cortázar darf man den-ken und an andere große Autoren. Im Zentrum desTreibens der polnisch-deutsch-ukrainisch-jüdischenMischepoche von Dolina Róz steht die fünfunddreißigQuadratmeter umfassende verstaubte Schusterwerk-statt – ein »privates Europa«, mehr noch: die ganzeWelt in einer Nuss! Der Schuster Lupicki und sein Sohn,der Bucklige Norbert, die mannstolle SchusterstochterMariola, die stets in Rot gekleidete stalinistische Dich-terin Natalia, Opa Franzose und Oma Olcia, der bein-amputierte Opa Monte Cassino und die vom DrittenReich schwärmende Oma Hilde und wie sie alle heißen– jede Romanfigur wird lebendig und glaubwürdig, dassoziale Mit- und Gegeneinander aller Akteure tritt pla-stisch zu Tage, krass und gelegentlich auch etwas obs-zön. Aus all dem glänzend geschilderten, vom west-deutschen Alltag jener Jahre meilenweit entferntentrüben Erdendasein, in dem Männer Helden sein wol-len, Frauen immer grell geschminkt und manchmalhalbnackt herumlaufen und 15-Jährige mit Hosengür-teln verdroschen werden, weisen immer wieder un-übersehbare Spuren ins Metaphysische. Und der müt-

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terliche Lippenstift, mit dem sich Bartek bisweilen imBadezimmer schminkt und dann ganz für sich tanzt,singt und raucht? Der ist Überlebenshilfe, Verheißungeines ganz anderen Lebens, Dingsymbol des Utopi-schen. Dolina Róz ist das menschliche Leben selbst, inall seiner Erbärmlichkeit und Größe, ein Ort, in demder Weltuntergang längst stattgefunden hat und »dasWeltende im Grunde genommen jeden Tag von neuemanfing«. Artur Becker aber ist sein wortgewaltigerChronist.

Artur Becker: Der Lippenstift meiner Mutter.Roman. Frankfurt a.M.: Weissbooks, 2010. 314 S.,19,80 Euro

Realismus ist das nicht

Als eine Art innerer Monolog einer Frau, die sichselbst den Namen Nadesha gegeben hat, ist das jüngsteBuch der 1973 in Dalmatien geborenen Berliner Auto-rin Marica Bodrozic angelegt. »Roman« – so steht es aufdem Buchdeckel. Doch ist dieser verträumt mäandern-de Prosastrom, der immer wieder das große Themades Fremd- und Dazwischenseins umspielt, wirklichein Roman? Auch wenn der Balkankrieg, »der am Endedes zwanzigsten Jahrhunderts noch einmal in Rohformetwas über das zwanzigste Jahrhundert erzählt hat«,im Hintergrund immer präsent bleibt – wer eine realis-tische Geschichte erwartet, einen geradlinigen Plot mitscharf konturiertem Personal, ist hier fehl am Platze.Was in diesem filigranen Textgewebe wirkliches Ge-schehen ist und was eher Phantasmagorie, bleibt bis zuseinem Ende offen. Man sollte Bodrozics Prosa lang-sam lesen, denn es ist ihre zunächst befremdende, bald aber eigentümlich glitzernde und funkelnde undschließlich begeisternde Literatursprache, die denLeser gefangen nimmt und Marica Bodrozic als Aus-nahmetalent unter den ins Deutsche eingewandertenLiteratinnen und Literaten erscheinen lässt. Trotzdemmöchte man gern wissen, worum es hier eigentlichgeht. Die Erinnerung der Protagonistin, egal ob sie sichin Paris, Amsterdam, Moskau und Berlin oder gar amLake Michigan aufhält, kreist um ihre dalmatinischeKindheit und Jugend, um die von Krieg und Gewalt trau-matisierte Freundin und »Sprachverbündete« Arjeta,ganz besonders und geradezu manisch aber um Ilja,ihre große Liebe, der eigentlich nur der Stichwortgeberist für ihre zärtliche Zwiesprache mit der Liebe – undletztlich mit der ganzen Welt. Dass Nadeshas poetische

Auseinandersetzung mit ihrem inneren und äußerenKosmos auch einen dunklen, ja bestürzend grausamenrealen Hintergrund haben könnte, wird angedeutet:Immer wieder mischt sich ihr Vater in dieses nicht-lineare, eher assoziativ-sprunghafte Erzählen und Erin-nern ein – ein finsterer Libellensammler und -aufspie-ßer, der in Wahrheit ein Kindermörder gewesen seinsoll und deshalb überstürzt aus Jugoslawien ins ferneChicago flüchten musste. Soll das Gedächtnis der Libel-len, wie der ein wenig irritierende Buchtitel lautet, zu-gleich ein Epitaph für die ermordeten Kinder sein?Ganz klar wird das nicht. Aber kann es eine »Wahrheitaus der Rückschau« geben?, fragt Nadesha. »Oder istnicht jede Rückschau auch eine Erfindung der Wahr-heit?«. Kein Realismus: Es geht der Autorin um diehymnische Feier des Erinnerns und die somnambuleReflexion über das Glück und die Liebe – und wohl umwenig anderes als um die Sprache und deren immerwieder verblüffend aufblitzende Schönheit. Es istschon oft beobachtet worden, dass diejenigen deutsch-sprachigen Autoren, deren Muttersprache nicht dasDeutsche ist, sich sehr bewusst aus der Kiste der imDeutschen gängigen Wortkombinationen, Satzkonstruk-tionen, Sprachbilder oder Redensarten bedienen unddiese dann abwandeln, verdrehen oder auch nur leichtverrücken, bis ein ganz eigener, origineller, zuvor nochnie dagewesener sprachlicher Duktus entsteht. Die imSinne der romantischen Universalpoesie entgrenzte,manchmal allzu opulent ausufernde Sprachpoesie vonMarica Bodrozic ist ein schöner Beleg für diese Beob-achtung. »Ich mag Leute«, sagt ihre Protagonistin, »diesich fremd in fremden Sprachen werden, bis die frem-den Sprachen ihre Sprachen werden«. Diese Berlinerinaus der Fremde liebt die deutsche Sprache, und ausdieser Liebe heraus ist ein erstaunliches, beglückendesund am Ende sogar jubilierend lebensfrohes StückLiteratur entstanden.

Marica Bodrozic: Das Gedächtnis der Libellen.Roman. München: Luchterhand, 2010. 253 S., 19,99 Euro

Lále sucht Liebe

Für ihren ersten Roman Der Körper meines Bruders(2007) war die 1973 in Ungarn geborene Léda Forgóreichlich gelobt und zu Recht mit dem Chamisso-För-derpreis bedacht worden. »Sprachliche Expressivität,wie sie in der zeitgenössischen deutschen Prosa nur

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selten vorkommt«, attestierte ihr berühmter Lands-mann György Dalos dem Erstling dieser seit 1998 inBerlin lebenden Schriftstellerin. Die Protagonistinihres zweiten Romans heißt Lále, jedenfalls seit sie inDeutschland lebt. Mit ihrem Ex-Mann Pável ist es end-gültig aus. Mehr aus Verlegenheit gerät sie an den ausCottbus stammenden Mützenträger Pit. Recht baldlernt sie auch dessen Vater kennen und nach und nachdie Familie, mit der sie sich in den nächsten Jahrenabmühen wird. »›Ach, Ungarn‹, sagte der Vater, wäh-rend er den grauenhaften Kaffee ohne Zaudern schluck-te, ›Ungarn!‹, setzte er die Tasse ab. Lále sah, dass seineZüge sich verkrampften. ›Dobri djen!‹, rief er dannplötzlich, als ob er soeben persönlich nach langerUnterdrückung die Demokratie proklamiert hätte. Sieschwieg höflich, und als die Erwartung im triumphie-renden Blick des Vaters nicht nachließ, sagte sie: ›Dasist kein Ungarisch‹«. Und schon sind wir mitten drin imbinationalen Dilemma und ahnen bereits, dass einLeben mit Pits Spießerfamilie nicht gut ausgehen kann,unter anderem weil diese von Ungarn keine Ahnunghat und auch keine haben will. Immerhin setzt dieTochter eines jüdischen Vaters durch, dass ihr SohnNathan heißt und nicht Hermann. Doch als sie Pit hei-ratet, um einen Kredit für ein renovierungsbedürftigesHäuschen in Cottbus zu bekommen, nimmt das Un-glück endgültig seinen Lauf. Der zweite Teil des Romansführt das Schürzen letztlich nicht lösbarer »Knoten derMissverständnisse« vor Augen: Ausweglos an Cottbusgebunden, sieht Lále ihren Nathan in sozial trostloserUmgebung heranwachsen – und selber geht sie ein wieeine Primel. Dann die Katastrophe: Der dröge Pit hatirgendwann genug von seiner Ehefrau, und zusammenmit seiner Schwester entreißt er ihr den Sohn. »DieWelt hätte untergehen müssen«. Tut sie aber nicht.Stattdessen entführt die verzweifelte Mutter den Sohnnach Berlin, und natürlich kommt zu ihren Existenz-sorgen jetzt auch noch ein bitterer Streit ums Sorge-recht. Das Schlusskapitel, in dem »Tamama«, Lálesungarische Großmutter, tatkräftig mitmischt, scheintzunächst auf eine Art Showdown zuzulaufen. Das Fami-liengericht gibt Pit recht, Láles Enttäuschung steigertsich zu Hass und Wut, sie greift zum Messer… Aber dasLeben geht weiter. Am Ende will Lále nach Budapestfliegen, kommt aber nur bis nach Wien: »Nicht Deutsch-land und nicht Ungarn, aber etwas dazwischen. Allesein wenig anders, aber doch ähnlich und zu verstehen.Fremd und selbstverständlich. Zwischenland. Zwi-schenlandung im Zwischenland«. Irgendwo dort lebt

wohl auch Léda Forgó. Sie erzählt so nüchtern wieschräg, mit einleuchtenden Rückblenden auf Lálesungarische Jahre, genau beobachtend und – nicht durch-gehend, aber doch meistens – in einem bezauberndschwebenden Deutsch. Ihr immer hochinteressanterund aufwühlender interkultureller Liebes-, Ehe-,Familien- und Gesellschaftsroman ist zu empfehlen.

Léda Forgó: vom ausbleiben der schönheit.Roman: Berlin: Rowohlt, 2010. 255 S., 19,95 Euro

Würfel aus Wasser?

Wer an einem Fluss aufgewachsen ist, vergisst ihnsein Leben lang nicht. Zsuzsanna Gahse, die in Buda-pest und später in Wien aufgewachsene Chamisso-Preisträgerin des Jahres 2006, lebt seit langem imschweizerischen Thurgau, also eine gute Autostundevon Donaueschingen entfernt. Die Wasser der angeb-lich aus dem Zusammenfluss von Breg und Brigachentstehenden Donau sind oft ungestüm, unberechen-bar, so etwas wie das Gegenteil eines Würfels mit sei-nen klaren Kanten und seinen sechs gleich großen Sei-ten. Von Donauwürfeln hatte man noch nie gehört.Zsuzsanna Gahses Wort-Neuschöpfung aber leuchtetdem Leser sofort ein: Zehn Silben mal zehn Zeilen bil-den ein Quadrat, zehn Quadrate einen Würfel, und aus27 solchen Sprachwürfeln besteht ihr jüngstes Buch.Das Wunderbare daran ist: Gerade wegen dieser stren-gen Vers- und Sprachform, in die man sich übrigensohne Mühe einliest, fließt und mäandert diese ausWörter und Sätzen geschaffene Donau, nimmt andereFlüsse in sich auf, beherbergt rätselhafte Tiere wie dieHuchen, lässt Menschenschicksale, Brücken, Inseln,Fähren, Städte, Dörfer, Sprachen und Kulturen, ja gan-ze Vergangenheiten vorüberziehen, von ihrer Quellebis zur Mündung. Vor allem aber lässt sie tausendAssoziationen zu – allein die Namen: »Neben der Donaugibt es andernorts ⁄ die Duena, die Dwina, den Dnepr, ⁄den Don. Merkwürdig wie sich die Namen ⁄ ähneln, undam Ende heißen alle ⁄ Flüsse gleich, ursprünglich ein-fach nur Fluss.« Leuchtende Erinnerungssplitter tau-chen auf und wieder unter, Erzählinseln bilden sichund werden wieder überflutet. Die Würfel geben demFließenden, Zufälligen, Sich-Verändernden Form undHalt – und bleiben gleichzeitig so beweglich wie dasWasser selbst. Der den berühmten Donaustrudeln inRegensburg verwandte Sog der Sprache wird höchstpoetisch kanalisiert, und die Frage »Lyrik oder Prosa?«

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erübrigt sich bald. Denn beides verschlingt sich, ringtmiteinander, bildet etwas Neues, nie Dagewesenes –und strömt und sprudelt, an Wien, Pressburg, Budapestoder Belgrad vorbei, durch die Eiserne Pforte bis zumDonaudelta und endlich zum Schwarzen Meer. Sprach-spiele, Wasserspiele, mit ergreifenden Glitzernamenwie »Pfreimd« oder »Dürrschweinnaab« (beides realexistierende Gewässer übrigens). Dass das Lektüre-erlebnis zu bezaubernd oder gar idyllisch wird, ver-hindern die Würfel-Sujets: Da fordert das Hochwasserseine Opfer, die berühmten Donauwelse schnappensich kleine Kinder, man fischt die Selbstmörder ausdem Strom und bestattet sie auf dem Friedhof der Na-menlosen, Hunnenhorden brandschatzen die Ufer-siedlungen, gewaltige Bomben zerstören serbischeDonaubrücken, und im sechsundzwanzigsten Würfelist sogar die Apokalypse nicht fern. Die Sprachvirtuo-sin Zsuzsanna Gahse brennt in ihren »Donauwürfeln«ein wahres Sprachfeuerwerk zu Ehren einer europäi-schen Kulturlandschaft ab, und wäre die Rede vom»poetischen Kosmos« nicht so überstrapaziert, müssteman sagen: Hier trifft sie zu, im wahrsten Sinne desWortes! Donauwürfel ist mit Sicherheit eines derumwerfendsten Bücher der letzten Jahre.

Zsuzsanna Gahse: Donauwürfel. Wien: EditionKorrespondenzen, 2010. 139 S., 18,50 Euro

Kosmopolitische Schweiz?

Der Buchtitel antwortet ganz offenkundig aufeinen berühmten Essay von Paul Nizon: »Diskurs in derEnge« (1970/73). Der seit Jahrzehnten in Paris lebendeSchweizer Schriftsteller hatte damals die Kunstfeind-lichkeit der Eidgenossenschaft angeprangert und dieProblematik einer Identität als Schweizer Autor kri-tisch diskutiert. Was bedeutet eine solche Identitätheute? Was bedeutet sie insbesondere für Schriftsteller,die nicht im Lande geboren sind, aber in einer seinerSprachen schreiben und das literarische Leben seitvielen Jahren mitprägen? Das waren die Ausgangsfra-gen eines von der Soziologin und Germanistin MartinaKamm geleiteten interdisziplinären Forschungspro-jekts, in dessen Rahmen vier wissenschaftliche Exper-ten in klugen Essays sowie durch Interviews undöffentliche Podiumsgespräche mit 17 Schriftstellernüber die biografischen Voraussetzungen und die kul-turpolitische Position von solchen Schweizer Autorennachgedacht haben, die mit dem berüchtigten Attribut

»Migrationshintergrund« leben müssen. Für alle Lite-raturliebhaber – und nicht nur für Fans und Experten –ist lesenswert, was zum Beispiel Erica Pedretti,Christina Viragh, Ilma Rakusa oder Melinda NadjAbonji hier zu sagen haben. Und was über sie gesagtwird. Warum? Weil man profunde, oft nachdenklichstimmende Einblicke in Lebensläufe und Sprachbio-grafien erhält und einfach besser versteht, wie einebestimmte Art von Schweizer Gegenwartsliteratur,mehr noch: wie Literatur überhaupt eigentlich zustan-de kommt. Fragen wie »Spielt das Thema ›Migration‹ inIhrem heutigen Leben eine Rolle?« oder »Hat die Mehr-sprachigkeit einen Einfluss auf Ihre Literatur?« sindmeistens nur Anlässe, um ganze Literatenwerkstättenzu öffnen. Sprache als Thema sei für ihn »immer zen-tral«, sagt Francesco Micieli: »Ja, dass Sprache über-haupt als Auseinandersetzung vorkommt. Hingegenmuss sie bei Thomas Mann nicht unbedingt vorkom-men. Die Sprache. Sie ist … Er hat sie, sie ist. Fertig«.Nicht-Muttersprachler haben sie nicht, und sie sindauch nicht fertig mit ihr. »Das erste Nicht-Dazugehörenkam sprachlich«, erzählt Catalin Dorian Florescu. »Icherlebte mich wie ohne Beine, mit dem Hochdeutsch inder Luft hängend … Wenn ich Deutsch rede, dann redeich anders Deutsch als Deutsche, ich formuliere anders,meine Sprachmelodie ist anders … Ich schreibe inDeutsch, weil ich in Deutsch lebe und in Deutsch ein-sam bin und in Deutsch versuche, glücklich zu wer-den«. Insgesamt zeigt sich, dass zu enge Kategorienwie »Fremdheit« oder »Migration« auf Ablehnung sto-ßen und sich niemand gerne zur »Migrationsliteratur«zählen möchte. Massgeblich für die Einschätzung alldieser Schriftsteller, egal woher sie kommen und wiesie sich in der Schweiz durchschlagen, sollte zualler-erst der genaue Blick auf die Poetik ihrer Texte sein –und nicht der Blick auf ihre keineswegs nur migranti-schen Mehrfachidentitäten. Ganz nebenbei lernt manauch kultur- und sozialwissenschaftliche Konzepte wieHybridität, Transnationalismus oder Kosmopolitismusgenauer kennen. Und nicht zuletzt ist »Diskurse in dieWeite« auch ein engagiertes Plädoyer dafür, den Blickfür das Kosmopolitische in der Literatur überhaupt zu schärfen – und sich von ihrer staunenswert welthal-tigen Vielfalt anregen und verführen zu lassen.

Martina Kamm /Bettina Spoerri /DanielRothenbühler /Gianni d’Amato: Diskurse in die Weite.Kosmopolitische Räume in den Literaturen derSchweiz. Zürich: Seismo Verlag, 2010. 204 S., 21,50 Euro

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1985Aras Ören Rafik Schami (Förderpreis)

1986Ota Filip

1987Franco Biondi Gino Chiellino

1988Elazar BenyoëtzZafer Senocak (Förderpreis)

1989Yüksel PazarkayaZehra Çırak (Förderpreis)

1990Cyrus Atabay †Alev Tekinay (Förderpreis)

1991Libuse Moníková †SAID (Förderpreis)

1992Adel KarasholiGalsan Tschinag

1993Rafik Schami Ismet Elçi (Förderpreis)

1994Dante Andrea FranzettiDragica Rajcic (Förderpreis)

1995György DalosLászló Csiba (Förderpreis)

1996Yoko TawadaMarian Nakitsch (Förderpreis)

1997Güney DalJosé F.A. OliverJirí Grusa (Ehrengabe)

1998Natascha WodinAbdellatif Belfellah (Förderpreis)

1999Emine Sevgi ÖzdamarSelim Özdogan (Förderpreis)

2000Ilija TrojanowTerézia Mora (Förderpreis)Aglaja Veteranyi (Förderpreis) †

Mehr über sämtliche Chamisso-Preisträger und frühere Ausgaben desMagazins finden Sie unter www.bosch-stiftung.de/chamissopreis

2001Zehra Çırak Radek Knapp (Förderpreis)Vladimir Vertlib (Förderpreis)Imre Kertész (Ehrengabe)

2002SAIDCatalin Dorian Florescu(Förderpreis)Francesco Micieli (Förderpreis)Harald Weinrich (Ehrengabe)

2003Ilma RakusaHussain Al-Mozany (Förderpreis)Marica Bodrozic (Förderpreis)

2004Asfa-Wossen AsserateZsuzsa BánkYadé Kara (Förderpreis)

2005Feridun ZaimogluDimitré Dinev (Förderpreis)

2006Zsuzsanna GahseSudabeh Mohafez (Förderpreis)Eleonora Hummel (Förderpreis)

2007Magdalena SadlonLuo Lingyuan (Förderpreis)Que Du Luu (Förderpreis)

2008Sasa StanisicLéda Forgó (Förderpreis)Michael Stavaric (Förderpreis)

2009Artur BeckerTzveta Sofronieva (Förderpreis)María Cecilia Barbetta(Förderpreis)

2010Terézia MoraAbbas Khider (Förderpreis)Nino Haratischwili (Förderpreis)

2011Jean KrierOlga Martynova (Förderpreis)Nicol Ljubic (Förderpreis)

Adelbert-von-Chamisso-Preisträgerinnen und Preisträger 1985 — 2011 :: 41

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Neuerscheinungen

Elazar Benyoëtz, Fraglicht.Aphorismen 1977 – 2007. Wien:Braumüller Literaturverlag, 2010

Zehra Çırak, Der Geruch von Glück.Erzählungen. Berlin/Tübingen:Verlag Hans Schiler, 2011

György Dalos, Gorbatschow.Mensch und Macht. München: C. H. Beck, 2011

Catalin Dorian Florescu, Jacobbeschließt zu leben. Roman.München: C. H. Beck, 2011

Nino Haratischwili, Juja. Roman.Berlin: Verbrecher Verlag, 2010

Abbas Khider, Die Orangen desPräsidenten. Roman. Hamburg:Nautilus Verlag, 2011

Francesco Micieli, Liebe im Klima-wandel. Ein Protokoll. Oberhofen:Zytglogge, 2010

Selim Özdogan, Ein Glas Blut.Kurzprosa. Hamburg: Asphalt &anders, 2011Ders., Heimstraße. Roman. Berlin:Aufbau Verlag, 2011

Zafer Senocak, Deutschsein. EineAufklärungsschrift. Hamburg-Berge-dorf: Edition Körber Stiftung, 2011

Tzveta Sofronieva, Diese Stadtkann auch weiß sein. Geschichten.Berlin/Tübingen: Verlag HansSchiler, 2010

und Schriftstellers Kerner zuToleranz und gegenseitigem Res-pekt an. Marica Bodrozic (Das Gedächtnisder Libellen) erhält den Liechten-stein-Literaturpreis 2011, der mit15000 Schweizer Franken dotiertist. Die Preisverleihung findet am26. März in Vaduz statt. Der »Liech-tenstein-Preis zur Förderung jun-ger literarischer Talente« wird seit1980 durch den dortigen PEN-Clubverliehen.Zsuzsanna Gahse hat den mit 15000 Euro Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung erhalten, dendie Deutsche Akademie für Spracheund Dichtung alljährlich verleiht.Die Preisverleihung fand im Mai2010 in Istanbul statt. Außerdemwurde ihr der Thurgauer Kultur-preis 2010 zuerkannt, für ihre »sub-tile Kunstfertigkeit und spürbareLust an der Arbeit mit Texten« alsSchriftstellerin und Übersetzerin.Terézia Mora wurde für ihrenRoman Der letzte Mann auf demKontinent mit dem Erich-Fried-Preis ausgezeichnet. Der Juror UrsWidmer begründet seine Entschei-dung damit, dass Mora »eine derkraftvollsten Stimmen der jungendeutschen Literatur« sei. Die Preis-verleihung fand Ende November2010 in Wien statt.Francesco Micieli hatte im Januar2011 die 10. Dresdner Chamisso-Poetikdozentur inne. Seine fünfVorlesungen kreisten um die Fragedes Einflusses vieler Sprachen aufseine Schreibsprache, um dieRegeln der Gastfreundschaft unddas Schreiben für das Musiktheater.

Dies., Via Dukte. Gedichte.Nürnberg: ICH Verlag Häfner +Häfner, 2010

Michael Stavaric, Brenntage.Roman. München: C. H. Beck, 2011

Ilija Trojanow, Gebrauchsanwei-sung für Indien. München: Piper,2010

Galsan Tschinag, Das andere Da-sein. Roman. Berlin: Insel Verlag,2011

Zu Hause in der Welt.Topographien einer grenzüber-schreitenden Literatur. Hrsg. vonImmacolata Amodeo und HeidrunHörner. Sulzbach: Ulrike Helmer,2010

Exkursionen in die Fremde.Eine Festschrift für DietrichKrusche. Hrsg. von Konrad Ehlich,Sabine Lambert, Renate Riednerund Simone Schiedermair.München: Iudicium, 2010

Mutter, wo übernachtet die Sprache?14 Porträts mehrsprachiger Auto-rinnen und Autoren in derSchweiz. Hrsg. und Vorwort vonFrancesco Micieli. Zürich: LimmatVerlag, 2010

Elazar Benyoëtz erhält am 18.September 2011 den mit 5000 Eurodotierten Justinus-Kerner-Preisder Stadt Weinsberg. Der in Wiengeborene, seit den 1930er Jahrenin Israel lebende Autor knüpfe andie moderne Haltung des Arztes

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Page 43: März 2011 – Nr · stischen Dichter Boris Vian heraufbeschwört. In Kriers Gedichten überlagern sich deutsche und französische Sentenzen – eine poetische Gratwande-rung auf

Die Mitarbeiter dieser Chamisso-Ausgabe

Michael Bienert, Jahrgang 1964, lebtseit 1977 in Berlin. Seit dem Germanis-tik- und Philosophiestudium arbeitet erals Autor und Journalist, u.a. als Kultur-berichterstatter für die Stuttgarter Zei-tung, konzipierte Ausstellungen undStadtspaziergänge. Seine Bücher the-matisieren die Berliner Literatur- undKulturgeschichte, zuletzt erschien Stille Winkel an der Berliner Mauer.

Michael Braun, geboren 1958, lebt alsLiteraturkritiker für die NZZ, den Tages-spiegel, den SWR und den Deutschland-funk in Heidelberg. Von 2007 bis 2011war er Herausgeber des Deutschland-funk-Lyrikkalenders. 2010 veröffent-lichte er die Anthologien Der gelbe Akro-bat. 100 deutsche Gedichte, kommentiert

kommentierter Ausgaben der Werkevon Rilke, Hofmannsthal, Kafka undAndersch, hat neben Aufsätzen undEssays zahlreiche Bücher vor allem zurLiteratur der Moderne veröffentlicht.Zuletzt erschien Die Idee der Weltlite-ratur. Ein Konzept Goethes und seineKarriere.

Nicol Ljubic, 1971 in Zagreb geboren,ist als Sohn eines Flugzeugtechnikersin Schweden, Griechenland, Russlandund Deutschland aufgewachsen. Er stu-dierte Politikwissenschaften und arbei-tet als freier Journalist und Autor. Fürseine Reportagen wurde er mehrfachausgezeichnet, unter anderem mit demTheodor-Wolff-Preis.

Yves Noir wurde 1967 in Frankreichgeboren. Er studierte Mediendesign mitSchwerpunkt Fotografie und arbeitetals freier Fotograf und Dozent für Foto-grafie im In- und Ausland.

Klauspeter Sachau ist Grafiker undLiteraturvermittler. Für den Verein fürLiteratur Dortmund leitet er das jährli-che LesArt.Festival in Dortmund. InZusammenarbeit mit dem Kulturbüroder Stadt Dortmund koordiniert er grö-ßere literarische Veranstaltungen, unteranderem auch 2007 die »Chamisso-Tage an der Ruhr« der Robert BoschStiftung und das Projekt »Viele Kultu-ren – eine Sprache« innerhalb derKulturhauptstadt Europas RUHR.2010.

Volker Weidermann, 1969 in Darmstadtgeboren, studierte Germanistik undPolitikwissenschaft, war Kulturredak-teur der taz, und wechselte 2001 zurneu gegründeten Frankfurter Allgemei-nen Sonntagszeitung, deren Feuilletoner seit 2003 leitet. 2006 erschien Licht-jahre, seine kurze Geschichte der deut-schen Nachkriegsliteratur, 2008 dasBuch der verbrannten Bücher und 2010die Biografie Max Frisch – sein Leben,seine Bücher.

(mit Michael Buselmeier) und Lied ausreinem Nichts. Deutschsprachige Lyrikdes 21. Jahrhunderts (mit Hans Thill).2011 erscheinen der Essay Die verges-sene Revolution der Lyrik und eine Stu-die zum 125. Geburtstag von Hugo Ball:Der magische Bischof der Avantgarde.

Irene Ferchl studierte Germanistik, Ge-schichte und Kommunikationswissen-schaft und arbeitet seither in Stuttgartals Kulturjournalistin und Autorin lite-rarischer Reiseführer. 1993 gründetesie das Literaturblatt Baden-Württem-berg, dessen Herausgeberin und Chef-redakteurin sie ist. Seit 1998 betreut siefür die Robert Bosch Stiftung die Publi-kationen zu den Chamisso-Preisträgern.

Ina Hartwig, geboren 1963 in Hamburg,studierte Romanistik und Germanistik.Sie war Herausgeberin des Kursbuch(2002–2005), Gastprofessorin in St. Louis (USA) und in Göttingen sowieLiteraturredakteurin der FrankfurterRundschau. Sie lebt als freischaffendeAutorin und Kritikerin u.a. für Die Zeitund die Süddeutsche Zeitung in Frank-furt a. M. Von 2006 bis 2010 war sie Mit-glied der Jury für den Chamisso-Preis.2011 wird sie mit dem Alfred-Kerr-Preis ausgezeichnet.

Klaus Hübner arbeitete nach seinemGermanistikstudium und der Promo-tion als Dozent an in- und ausländi-schen Universitäten und für Verlage. Erlebt in München als Autor, Publizistund Literaturkritiker, ist Redakteur derZeitschrift Fachdienst Germanistik undSekretär des Adelbert-von-Chamisso-Preises der Robert Bosch Stiftung.

Dieter Lamping, Jahrgang 1954, warProfessor für Allgemeine und Verglei-chende Literaturwissenschaft an denUniversitäten Wuppertal und München.Seit 1993 lehrt er in Mainz, 2008 war erFellow am Freiburg Institute for Ad-vanced Studies. Er ist Herausgeber

Impressum

Herausgegeben von der Robert Bosch Stiftung GmbHRedaktionIrene Ferchl, Frank W.AlbersGestaltungröger & röttenbacher, Büro für Gestaltung, LeonbergAbbildungen/FotosChristian Aschman (30/31)Gerrit Hahn/Dokumentarprojekt »this is« (25, 26, 27)Insel Verlag (19)Hannelore Landsberg (22)Yves Noir (1, 5, 6, 7, 8, 9, 11, 12, 13, 15, 16, 17)Margot Prust (23)Staatsbibliothek zu Berlin/Handschrif-tenabteilung (24)RUHR.2010, Manfred Vollmer (33, 34, 35)Christof Weber (28, 29)

© 2011 bei den Autoren, Fotografen und dem HerausgeberAlle Rechte vorbehaltenwww.bosch-stiftung.de

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»Es ist schwierig für mich, jede Einzelheit zu benennen, die Einfluss hatte auf meinen Roman. Es sind Eindrücke, Anekdoten, Gedanken, Sätze, Begegnungen, die sich im Buch wieder finden. Insofern war die Reise ungemein wichtig für mich. Sie hat das gebracht, was ich mir erhofft hatte: ein klareres Bild von meiner Geschichte.«Nicol Ljubić über die Recherche für den Roman »Meeresstille«, erschienen 2010 bei Hoffmann und Campe

Grenzgänger gesucht

Gesucht werden Autoren, die für eine geplante Veröffent-lichung in deutscher Sprache eine Recherchereise indie Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas unternehmen möchten. Das Genre kann von literarischer und essayis-tischer Prosa, Fototextbänden, Kinder- und Jugendbuch über Drehbücher für Dokumentar- und Spielfilme bis zu Hörfunkbeiträgen reichen. Bewerbungen sind jährlich am 31. Oktober und 30. April möglich, entsprechende Unterlagen gibt es unter www.bosch-stiftung.de/grenzgaenger

Die Robert Bosch Stiftung stellt außerdem Fördergelder für Veranstaltungen mit Grenzgängern bereit. Schauen Sie auch in unseren aktuellen Veranstaltungskalender unterwww.bosch-stiftung.de/gg_veranstaltungen