MSB Spiegel Befreiung -...

176
debatte 4 André Spiegel Die Befreiung der Information MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 1

Transcript of MSB Spiegel Befreiung -...

  • debatte 4 André Spiegel Die Befreiung der Information

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 1

  • MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 2

  • André Spiegel

    Die Befreiung derInformationGNU, Linux und die Folgen

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 3

  • Copyright © André Spiegel 2006

    Dieser Text ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung –Keine kommerzielle Nutzung – Keine Bearbeitung Deutschland 2.0.Some Rights Reserved.

    Online-Ausgabe: www.die-befreiung-der-information.de

    Alle Rechte für die kommerzielle Verbreitung:MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft m.b.H.Göhrener Str. 7, 10437 Berlin

    www.matthes-seitz-berlin.de

    Umschlaggestaltung: neo design consulting, BonnDruck und Bindung: in Deutschland

    ISBN 978-3-88221-879-4 ISBN 3-88221-879-7 debatte 4

    André Spiegel, geboren 1969, ist promovierter Informatiker und arbeitet alsfreier Programmierer, Berater, Autor und Dozent. Seit 1994 ist er in mehre-ren Projekten der GNU/Linux-Szene als Entwickler aktiv. Er ist AssociateMember der Free Software Foundation (FSF) und berät heute mehrere großeUnternehmen beim Einsatz von Freier Software. André Spiegel lebt in Berlin.

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 4

  • Inhaltsverzeichnis

    Bestandsaufnahme 7GNU und Linux – Grundlagen einer Revolution 17Kryptographie 67Musik 85Film 105Wort 117Kooperation 129Die Befreiung der Information 149

    AnhangStatistiken 163Anmerkungen 169Index 173

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 5

  • MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 6

  • Bestandsaufnahme

    Computer in jedem Haushalt, zusammengeschaltet überein Netz, das jeden mit jedem verbindet, über Ländergren-zen und Kontinente hinweg.

    Was vielen vor zehn Jahren noch als unrealistisch er-schienen wäre, ist heute so sehr Teil des Alltags geworden,dass wir es kaum noch als Besonderheit wahrnehmen. DieEntwicklung hat sich in einer Art Selbstorganisation voll-zogen, ohne dass sie von einer einzelnen Instanz geplantoder gesteuert worden wäre – nicht einmal von den großenKonzernen, die lange Zeit den Geschehnissen eher atemloshinterherliefen, als dass sie entschieden hätten, wohin dieReise gehen soll.

    Und so ist eine Situation entstanden, in der Teenager,die über das Netz Musikstücke austauschen, den Vertriebs-wegen der Musikindustrie weit überlegen sind.

    Es ist eine Situation, in der eine Online-Enzyklopädie,an der jeder Internet-Benutzer mit einem einzigen Maus-click mitarbeiten kann, in weniger als vier Jahren der En-cyclopædia Britannica ebenbürtig wurde.

    Eine Situation, in der jeder E-Mail-Schreiber seine Brie-fe so verschlüsseln könnte, dass auch die mächtigsten Ge-heimdienste der Welt davor kapitulieren müssten.

    Es ist eine Welt, in der neun von zehn Computerbe-nutzern die Software, die sie zum Betrieb ihrer Gerätebrauchen, von einem einzigen Unternehmer beziehen, derdadurch zum reichsten Mann der Welt wurde.

    7

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 7

  • Gleichzeitig programmiert eine Szene von Enthusiastenein alternatives Betriebssystem, das dieselben Aufgaben bes-ser erfüllen kann, und stellt es jedem zur freien Verfügung.

    Das informationstechnische Erdbeben, das diese Entwick-lungen auslösen, ist so gewaltig, dass ganze Industriezweigeum ihren Umsatz, wenn nicht sogar um ihre Existenz zufürchten beginnen – und zwar mit einigem Recht. Die Fol-ge ist, dass diese Industrien, sobald sie den Ernst der Lageerkennen, alle Hebel in Bewegung setzen, um die Entwick-lungen aufzuhalten oder in ihrem eigenen Interesse umzu-lenken. Da die Veränderungen aber sehr weitreichend sindund da sie allesamt eher dem einzelnen Individuum als dengroßen Konzernen zugute kommen, sind drakonische Maß-nahmen erforderlich, um sie wieder zu kontrollieren. Vieleder Gesetze, die heute auf Betreiben großer Unternehmenerlassen werden, sind kaum anders als mit Orwell’schenBegriffen zu beschreiben. Werden sie durchgesetzt, dannkönnten sich die bereits sichtbaren, positiven Effekte derdigitalen Revolution in ihr reines Gegenteil verkehren. Dashat eine völlig neue Form von Bürgerrechtsbewegungenauf den Plan gerufen, die sich für die »digitalen Rechte«der Individuen einsetzen – Rechte, von deren Existenzdie Betroffenen oft kaum etwas ahnen und mit deren Hin-tergründen sie erst vertraut gemacht werden müssen.

    Wenn in diesem Buch von einer »digitalen Revolution« dieRede ist, sind damit zwei klar umrissene Faktoren gemeint.Der erste ist die rasante Entwicklung der Digital- und Com-putertechnik seit etwa der Mitte des 20. Jahrhunderts. DieIdee, Informationen wie zum Beispiel Texte, Musikstücke

    8

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 8

  • oder Bilder durch Folgen von »Nullen und Einsen«, alsoSpannungsmuster in elektronischen Schaltkreisen, darzu-stellen, erwies sich als so mächtig, dass diese Technik inner-halb weniger Jahrzehnte den Weg auf jeden Schreibtisch,in jeden Haushalt, in jedes Hi-Fi-Regal und in jede Hand-tasche oder Jackentasche fand. Die Entwicklung verliefexponentiell: Schon in den siebziger Jahren hatte einer derGründer der Firma Intel, Gordon E. Moore, vorausgesagt,dass sich die Anzahl der Schaltelemente auf einem Chipregelmäßig verdoppeln würde. Das Zeitintervall dafür wur-de später auf etwa 18-24 Monate geschätzt. In den vergan-genen dreißig Jahren erfüllte sich diese Voraussage mitbemerkenswerter Genauigkeit – und zwar zum Teil des-halb, weil jeder Hersteller immer wieder befürchtete, dieKonkurrenz würde den nächsten Verdopplungsschritt ter-mingerecht schaffen, und sich darum zum »Gleichziehen«gezwungen sah. Mehrfach mussten dazu völlig neue Tech-nologien entwickelt werden, die wenige Jahre vorher nochnicht bekannt waren. Das Mooresche Gesetz wurde also zueiner Art selbsterfüllender Prophezeiung. In der Folge sinddie Geräte, die wir heute mit uns herumtragen, um Grö-ßenordnungen leistungsfähiger als diejenigen, die in densiebziger Jahren noch ganze Laboretagen füllten. Ein typi-scher Mikroprozessor ist heute etwa tausendmal schnellerals in den achtziger Jahren, die typische Größe des Arbeits-speichers hat sich ebenfalls etwa vertausendfacht, und dieKapazität einer Computerfestplatte ist sogar um den Fak-tor zehntausend bis einhunderttausend größer geworden.

    Für sich alleine hätte diese Entwicklung der Computer-technik jedoch kaum zu einer derartigen Umwälzung derInformationsprozesse in der Gesellschaft geführt, wie wir

    9

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 9

  • sie heute beobachten. Es bedurfte noch einer zweiten, min-destens ebenso wichtigen Entwicklung, nämlich derjeni-gen eines weltumspannenden Netzwerkes, das diese Gerätein sehr effizienter Weise miteinander verbindet. Das Inter-net, wie wir es heute kennen, ging hervor aus einem Da-tennetz, das seit den siebziger Jahren mehrere US-amerika-nische Universitäten miteinander verband, dem sogenann-ten ARPANET. Seinen Namen erhielt dieses Netz von derAdvanced Research Project Agency (ARPA), einer Behördedes US-Verteidigungsministeriums, welche die entspre-chenden Forschungsprojekte zum Teil finanziert hatte.Zweifelsohne spielten also auch militärische Interessen eineRolle bei der Entwicklung. Die oft gehörte Erklärung, dasInternet sei entwickelt worden, um ein Netzwerk aufzu-bauen, das gegebenenfalls auch einen Atomschlag überste-hen könnte, ist hingegen nur ein Gerücht, wenn auch einsehr hartnäckiges. Tatsächlich ging es vor allem darum, dieteure und begrenzte Computerleistung möglichst effizienteinzusetzen, indem man sie auch Forschern an anderenUniversitäten zur Verfügung stellte.1

    Die Idee solcher vergleichsweise unregulierter Daten-schnellverbindungen bewies eine derartige Zugkraft, dasssich das Netz schnell erweiterte. Bereits 1973 entstandendie ersten transatlantischen Verbindungen zu Universitätenin Norwegen und Großbritannien. Anfang der achtzigerJahre wurde mit dem TCP/IP-Protokoll eine Art linguafranca der Computernetze eingeführt, so dass es fortanmöglich war, beliebige Arten von schon bestehenden Netz-werken zusammenzuschalten und über die Grenzen dieserNetzwerke hinweg Nachrichten auszutauschen. Man be-zeichnete diese netzwerkübergreifende Kommunikation

    10

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 10

  • mit dem Begriff »inter-networking«, und für das entstan-dene »Netz der Netze« setzte sich bald die Bezeichnung»das Internet« durch.

    Waren sie einmal vorhanden, konnte man über dieDatenleitungen beliebige Anwendungen realisieren. In derFrühzeit des Internet war das vor allem die elektronischePost (E-Mail) sowie ein System dezentral betriebener Dis-kussionsforen, das sogenannte USENET. In ein allgemeinzugängliches Medium verwandelte sich das Internet dannAnfang der neunziger Jahre, als Tim Berners-Lee am Eu-ropäischen Kernforschungszentrum in Genf (CERN) dasWorld Wide Web (WWW) erfand. Durch diese Technikwurde es möglich, Informationen in Form optisch aufbe-reiteter und formatierter Seiten zur Verfügung zu stellen,diese Seiten durch Hyperlinks miteinander zu verbindenund mithilfe von Suchmaschinen in Sekundenbruchteilenaufzufinden. Das Internet wurde damit zu einem globalenInformationsraum, der ohne besondere Vorkenntnisse be-treten werden konnte. Fast gleichzeitig mit dem Aufkom-men des World Wide Web begannen sich darum sowohlkommerzielle Anbieter als auch Privatbürger für das Netzzu interessieren – zunächst gegen beträchtlichen Wider-stand seitens der Universitäten, die ihre Forschungsnetzedurch die freie Wirtschaft gefährdet sahen. Allerdings warbis Mitte der neunziger Jahre bereits eine sehr vielfältigeNetzkultur entstanden, die weit über rein akademischeInteressen hinausging. Das Internet war nur noch nomi-nell eine reine »Forschungseinrichtung«. Gegen Ende derneunziger Jahre kam es dann zum explosionsartigen An-wachsen der Teilnehmerzahl, als das Internet den Weg indie Privathaushalte fand.

    11

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 11

  • Bemerkenswert an diesem Phänomen ist seine wirt-schaftliche Grundlage. Der Verfasser erinnert sich noch gutan einen Moment Anfang der neunziger Jahre, als ihm einUniversitäts-Kollege über die Schulter schaute. Es war ge-rade ein transatlantischer Datentransfer im Gange.

    »Und wer bezahlt das?«, fragte er entgeistert.»Niemand. Es ist einfach da.«

    Die Antwort ist weniger naiv, als sie klingt. Zwar ist esrichtig, dass transatlantische Kabel und die übrige Infra-struktur des Netzwerks viel Geld kosten. Diese Kostenwerden aber, anders als zum Beispiel beim Telefonnetz,nicht auf die einzelne Verbindung, den einzelnen Daten-transfer umgelegt. Finanziert wird das Netz vielmehr indi-rekt, und das aus den unterschiedlichsten Quellen: ZumTeil sind es Steuergelder, zum größten Teil aber eine in derSumme längst nicht mehr nachvollziehbare Verflechtungzahlloser Betreibergesellschaften und Diensteanbieter. DasInternet gleicht in dieser Hinsicht viel eher dem Straßen-netz als dem Telefonnetz: Es ist eine Ressource, die von derGesellschaft als ganzer bereitgestellt und finanziert wird –auch wenn sich die einzelnen Teile in den unterschiedlich-sten privaten und kommerziellen Händen befinden. Da essich um eine Meta-Struktur – ein Netz der Netze – han-delt, besitzt niemand die ultimative Kontrolle darüber, unddie Finanzierung ist weitgehend entkoppelt von der Funk-tion des Systems.

    Leistungsfähige Informationsprozessoren in den Händenjedes einzelnen Bürgers, weltumspannende Datenleitungen,die jedem ununterbrochen zur Verfügung stehen – es ist

    12

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 12

  • klar, dass sich der Stellenwert der Information und die Artund Weise, wie die Gesellschaft mit ihr umgeht, dadurchnachhaltig verändern werden. Tatsächlich haben sich vieledieser Veränderungen bereits ereignet, haben unhintergeh-bare Fakten geschaffen, die wiederum neue Prozesse auslö-sen. Dieses Buch dokumentiert die wichtigsten von ihnen.

    Die ersten, die mit den neuen Technologien in Berüh-rung kamen, waren die Programmierer. Es ist darum auchnicht verwunderlich, dass das Hinterfragen der informa-tionstechnischen Spielregeln der Gesellschaft unter ihnenseinen Anfang nahm. Während zu Beginn der achtzigerJahre viele Unternehmen damit begannen, Software als einProdukt zu betrachten, das man verkaufen konnte, war derProgrammierer Richard Stallman davon überzeugt, dassSoftware der Gesellschaft dann am meisten nützen würde,wenn sie frei wäre, also jedem ungehindert zur Verfügungstünde. Er begann darum das sogenannte GNU-Projekt,dessen Ziel es war, jedem Computerbenutzer »Freie Soft-ware« zur Verfügung zu stellen, die alle seine Bedürfnisseerfüllte, ohne dass er sich deshalb in die Abhängigkeitirgendwelcher Unternehmen begeben müsste. Um dieFreiheit der GNU-Software zu garantieren, stellte Stallmansie unter eine Lizenz, die das Urheberrecht in geschickterWeise ausnutzt, um andere Programmierer oder Unterneh-men zu ermuntern – oder auch zu zwingen –, ihre Softwareebenfalls frei verfügbar zu machen. Aus dem GNU-Projektging schließlich das Betriebssystem hervor, das heute unterdem Namen »Linux« bekannt ist. Die zugrundeliegendenIdeen haben jedoch die Software-Industrie noch weit dar-über hinaus verändert; Schlagworte wie »Open Source«,die heute nicht nur Programmierern geläufig sind, stam-

    13

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 13

  • men ebenfalls aus dem Umfeld von GNU und Linux. Dasauf diese Einleitung folgende Kapitel beschreibt diese Ent-wicklungen im Detail.

    Während Programmierer wie Richard Stallman dieGrundlagen für eine freie Verfügbarkeit von Informationschufen, kam es zu einer scheinbar gegenläufigen Ent-wicklung im Bereich der Kryptographie, also der Wissen-schaft, die sich mit dem Verschlüsseln und Entschlüsselnvon Informationen beschäftigt. Mehrere mathematischeund technische Durchbrüche sorgten seit den siebzigerJahren dafür, dass derjenige, der Informationen vor unbe-fugtem Zugriff schützen will, dies heute mit einer nie dage-wesenen Effektivität tun kann – gleichgültig, ob es sich da-bei um einen Medienkonzern handelt, der die uner-wünschte Verbreitung seiner Produkte verhindern will,oder um einen Bürgerrechtler, der an einem repressivenRegime vorbei mit der Außenwelt kommunizieren will.Kryptographische Verfahren sind darum ein wichtigerSchauplatz der Auseinandersetzungen um den Status derInformation in der Gesellschaft, und das dritte Kapitel die-ses Buches wird sich ausführlich mit ihnen beschäftigen.

    Der für die Öffentlichkeit sichtbarste Kampf um dieHoheit über die Information spielt sich heute in der Weltder klassischen Medien ab, besonders in den BereichenMusik, Film und dem geschriebenen Wort. Am augenfäl-ligsten ist dabei die Krise, in der sich die Musikindustriebefindet. Die Kapazität der Netzwerke ist heute ausrei-chend, um Audio-Daten in akzeptabler Qualität vollkom-men widerstandslos und ohne nennenswerte Kosten zuübertragen. Die Vertriebsstrukturen der Musikindustrie –das Herstellen von Tonträgern, ihre Lagerung und Aus-

    14

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 14

  • lieferung zu den Händlern – werden damit überflüssig.Freie Internet-Tauschbörsen für Musikdateien sind darumzu einer signifikanten Erscheinung geworden, und dieIndustrie geht, um ihr Geschäftsmodell zu verteidigen, ingroßem Stil dagegen vor. Tausende von Tauschbörsen-Benutzern werden verklagt, gleichzeitig versucht man, da-für zu sorgen, dass die Öffentlichkeit mittelfristig keineuniversell einsetzbaren Computer mehr kaufen kann. Siesollen ersetzt werden durch Geräte, die nur noch solcheOperationen erlauben, mit denen die großen Konzerneeinverstanden sind.

    Die Filmbranche befindet sich in einer vergleichbarenSituation, unterschieden allerdings durch die Tatsache, dassdie Netzwerke dem Transport von Video-Daten noch nichtwirklich gewachsen sind. Ein abendfüllender Spielfilm be-steht aus etwa tausendmal mehr Daten als ein dreiminüti-ges Musikstück. Allerdings ist seine Produktion auch etwaum denselben Faktor teurer. Die Filmindustrie hat darumein vielleicht noch größeres Interesse als die Musikindustrie,die freie Verbreitung der Daten möglichst zu verhindern.Anders als die Musikindustrie muss sie dabei auch keinerleiRücksicht auf etablierte Formate wie zum Beispiel das derAudio-CD nehmen. Sie setzt darum in viel stärkerem Maßebereits heute kryptographische Verfahren ein, um ihreProdukte und damit ihr Geschäftsmodell zu schützen.Gleichzeitig macht sie dabei immer wieder die Erfahrung,dass jeder dieser Versuche fast augenblicklich von der ver-teilten, dezentralen Intelligenz tausender Programmiererausgehebelt und überwunden wird. Auch hier ist darumzunehmend die Forderung zu hören, das Problem aus derWelt zu schaffen, indem man der Öffentlichkeit den univer-

    15

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 15

  • sellen Computer wegnimmt und ihn durch Geräte ersetzt,die unter der Kontrolle der Industrie stehen.

    Das geschriebene Wort und seine physische Erschei-nungsform, das Buch, ist demgegenüber von der digitalenRevolution bislang erstaunlich unberührt geblieben. DieGründe dafür dürften vor allem in der technischen Über-legenheit des Mediums Buch liegen, dessen Vorteilen diedigitale Welt bislang nichts Vergleichbares entgegenzuset-zen hat. Beantwortet werden muss jedoch die Frage, obund wie das in Büchern gespeicherte Wissen in den zuneh-mend digitalen Informationsraum unserer Kultur inte-griert werden kann.

    Die hier skizzierten Entwicklungen in der Welt derklassischen Medien sind Gegenstand des vierten, fünftenund sechsten Kapitels, die sich mit der Musikindustrie, derFilmbranche und mit der Zukunft des Buches beschäfti-gen. Die digitale Revolution bringt jedoch Möglichkeitenmit sich, die über die reine Übermittlung von Informationvon wenigen an viele, wie sie charakteristisch für die klas-sischen Medien ist, hinaus gehen. Das Internet erlaubt diehochgradig dezentrale Kommunikation und damit Ko-operation zwischen Individuen; es sind diese Mechanis-men, die ein Projekt wie das GNU/Linux-Betriebssystemüberhaupt möglich machen. In den letzten Jahren sindmehrere höchst erstaunliche Projekte entstanden, die nachdenselben Prinzipien funktionieren; das bekannteste vonihnen ist die Internet-Enzyklopädie Wikipedia. Die Me-chanismen solcher weltweit verteilten Kooperationspro-jekte stehen im Zentrum des siebten Kapitels.

    16

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 16

  • GNU und Linux – Grundlagen einer Revolution

    Computer sind universelle Maschinen: Alles, was sie tun,wird durch Software bestimmt. Es sind letzten Endes Span-nungsmuster im Arbeitsspeicher des Computers, endloseFolgen von »Eins« und »Null«, von »Spannung ist da« und»Spannung ist nicht da«, die von der zentralen Prozessor-einheit als Anweisungen interpretiert werden. Aber schonvon »Anweisungen« oder »Interpretation« zu sprechen, isteigentlich ein kognitiver Trick. Tatsächlich sorgen dieSpannungspegel an bestimmten Stellen der Maschinelediglich dafür, dass wiederum an anderen Stellen Schalterumklappen und Strom fließt oder kein Strom fließt. Ausendlosen Wiederholungen dieses Prinzips ist alles andereaufgebaut – und zwar in Form so vieler übereinander lie-gender, aufeinander aufbauender Schichten, dass es heutewenig einzelne Menschen auf der Welt geben dürfte, dieeinen handelsüblichen PC durch alle diese Schichten hin-durch verstehen. Man kann es auch mit den Worten einesIBM-Mitarbeiters ausdrücken, der bei der Einweihung ei-ner neuen Großrechenanlage verkündete: »Also, zählenkann die Anlage zwar nur bis zwei – aber das kann sie un-heimlich schnell.«

    Damit ein Computer überhaupt etwas Sinnvolles tunkann, ist eine gewisse Grundsoftware erforderlich, die zumBeispiel dafür sorgt, dass der Prozessor Zugriff auf Tastaturund Maus bekommt, der Bildschirm zum Leben erwachtund eine Netzwerkverbindung aufgebaut werden kann.

    17

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 17

  • Diese Grundsoftware, man nennt sie das Betriebssystem,wird beim Einschalten des Rechners vom großen, aberlangsamen Speicher der Festplatte in den kleinen, aber sehrviel schnelleren Arbeitsspeicher kopiert.

    Auf der Software-Struktur, die das Betriebssystem be-reitstellt, können dann die eigentlichen Anwendungspro-gramme wie zum Beispiel ein Web-Browser oder ein Chat-Programm ausgeführt werden. In der Praxis verschwimmtallerdings die Unterscheidung zwischen Betriebssystemund Anwendungsprogrammen zunehmend. Wer ein Be-triebssystem wie Microsoft Windows kauft – und mankann heute, wie wir noch sehen werden, beim Kauf einesPC in der Regel gar nicht vermeiden, Microsoft Windowszu kaufen –, der bekommt eine Software-Grundausstat-tung, in der die gängigsten Anwendungen wie zum Beispielein Web-Browser oder ein Abspielprogramm für Musik-dateien bereits enthalten sind. Dem Käufer erscheint allediese Software wie ein integraler Bestandteil des Geräts;nur gewisse Komponenten wie zum Beispiel ein Textver-arbeitungsprogramm muss er noch nachträglich hinzufü-gen. Dass es bei allen diesen Bausteinen – bis hinunter zumeigentlichen Betriebssystem – überhaupt Wahlmöglichkei-ten geben könnte, ist eine Einsicht, für die sowohl dieKunden als auch die Kartellämter lange Jahre gebrauchthaben.

    Programmierer schreiben ihre Programme – also zum Bei-spiel Betriebssysteme oder Anwendungssoftware – in be-sonderen, künstlichen Sprachen, den sogenannten Pro-grammiersprachen. Beispiele dafür sind C, BASIC, LISP,COBOL oder Java. Die Anweisungen der Programmier-

    18

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 18

  • sprache können aber nicht direkt von einem Computerausgeführt werden; sie müssen zuerst in Folgen von Nullenund Einsen, also letztlich in Spannungspegel im Speicherdes Computers, übersetzt werden. Diese Übersetzung sel-ber wird wiederum von einem Programm durchgeführt,dem sogenannten Compiler. (Oft ist der Compiler in der-selben Programmiersprache geschrieben, die er dann späterübersetzt, was zu einem interessanten Henne-/Ei-Problemführt.)

    Man nennt den Programmtext, den ein Programmiererzur Lösung eines bestimmten Problems schreibt, auch Quell-text (engl. source code). Die Zielsprache der Übersetzung istdie Maschinensprache des verwendeten Computers; das Pro-dukt der Übersetzung nennt man ausführbares Programm(engl. object code, binary code oder executable code).

    In diesem Sachverhalt liegt das technische Grundpro-blem, mit dem die Auseinandersetzung über den Status derInformation ihren Anfang nahm. Es besteht in den folgen-den zwei Punkten:

    1. Ausführbare Programme – also endlose Folgen vonNullen und Einsen – sind für Menschen unverständ-lich und nicht beherrschbar (aus genau diesem Grundprogrammiert man in höheren Programmiersprachenund nicht direkt in Nullen und Einsen).

    2. Es gibt keine Möglichkeit, die Maschinensprache in dieProgrammiersprache zurück zu übersetzen. Der Grunddafür ist, dass bei der Übersetzung in die Maschinen-sprache viel Information verloren geht: zum BeispielKommentare des Programmierers, die er in den Pro-

    19

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 19

  • grammtext eingefügt hat, oder die sinngebenden Na-men von Unterprogrammen und Variablen.

    Wer heute ein Betriebssystem kauft, oder eine Anwendungwie zum Beispiel ein Textverarbeitungsprogramm, der be-kommt vom Hersteller eine ausführbare Version des Pro-gramms. Der Quelltext hingegen, den man braucht, umdie Wirkungsweise des Programms zu verstehen oder es zuverändern, ist in der Regel ein gut gehütetes Firmenge-heimnis. Und selbst wenn er das nicht ist – viele Herstellerbetrachten den Quelltext zumindest als ihr »intellektuellesEigentum« und behalten sich das alleinige Recht vor, ihnzu verändern und weiterzuentwickeln.

    Manche Programmierer sind damit nicht einverstanden.

    Eine Frage der Ethik

    In den siebziger und achtziger Jahren war das ArtificialIntelligence Lab des Massachussetts Institute of Technology(MIT) eines der wichtigsten Zentren der Computertechnik.Es war auch eine Art Oase der Freaks: Die Programmierer,die sich untereinander »Hacker« nannten, leisteten ihrePionierarbeit auf den frühen Großrechnersystemen in einerunkomplizierten, kooperativen, fast familiären Atmosphäre.Zahllose Programme wurden geschrieben, verändert, weiter-entwickelt, und die Tatsache, dass jedem der Quelltext allerProgramme zur Verfügung stand, war unabdingbar undselbstverständlich. Bisweilen nahm der Teamgeist auch dras-tische Formen an: Kam zum Beispiel ein Professor auf dieIdee, eines der wenigen Terminals für sich allein zu bean-

    20

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 20

  • spruchen und in seinem Büro einzuschließen, dann trat dieKunst des »lock hacking« in Aktion – mithilfe möglichstkreativer Methoden öffnete man das Schloss des Büros undführte das Terminal wieder der Allgemeinheit zu.

    Einer dieser Hacker war Richard M. Stallman. Viel-leicht mehr noch als für seine Kollegen war die Beschäfti-gung mit Computern für ihn zum Lebensinhalt geworden.Im Labor gab es – für den Fall, dass jemand bis spät in dieNacht durchprogrammierte – ein Bett, und Stallman warnicht nur der häufigste Benutzer dieses Betts, er hatte zeit-weise gar keine Wohnung mehr außerhalb des Labors.

    In den achtziger Jahren begannen sich die Verhältnissezu verändern, zum Teil dadurch, dass viele der Hacker mithohen Summen von der Industrie abgeworben wurden,zum Teil dadurch, dass proprietäre Software von außerhalbdes MIT ins Labor gelangte. Zum Beispiel stiftete dieFirma Xerox dem Labor einen der ersten modernen Laser-drucker, lieferte die Treibersoftware aber nur als ausführba-res Programm mit. Als der Drucker Schwierigkeiten mach-te, versuchte Stallman, an den Quelltext des Treibers zukommen, um ihn so abzuändern, dass er richtig mit denRechnern des Labors zusammenarbeitete. Aber Xerox gabden Code nicht heraus.

    Ein Kollege von Stallman an der Carnegie Mellon Uni-versity hatte den Code allerdings bekommen, jedoch alsBestandteil eines besonderen Vertrages mit Xerox undunter der Auflage eines Non-Disclosure Agreements (NDA)– er durfte den Code nicht an Dritte weitergeben. Stall-man erfuhr davon und besuchte den Kollegen bei dernächsten Gelegenheit. Er betrat sein Büro und fragte nacheiner Kopie des Codes.

    21

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 21

  • Wenn man Stallman heute davon erzählen hört, ge-winnt man den Eindruck, dass dies der Moment war, dersein Leben verändern sollte. Der Kollege antwortete: »Ichhabe versprochen, dir den Code nicht zu geben.«

    Stallman war völlig perplex. Ohne ein Wort zu sagen,verließ er wütend das Büro. Er konnte es, wie er heute sagt,noch nicht gleich formulieren, aber mit der Zeit wurdeihm klar, was ihn an der Situation so empört hatte: Es wardie Tatsache, dass ihm der Zugriff auf eine offenbar vor-handene und nützliche Information verweigert wurde, undnicht nur das: Jemand hatte sogar versprochen, weder mitihm noch mit irgendjemandem sonst zu kooperieren.

    Was Stallman erlebt hatte, war eine Folge dessen gewe-sen, dass die Computertechnik sich von einem Gegenstandder akademischen Forschung zu einem Wirtschaftszweigentwickelte und die Industrie sich anschickte, ihre eigenenSpielregeln zu etablieren. Viele Leute gerieten zu dieser Zeitin sehr ähnliche Situationen wie Stallman, aber was ihn vondiesen anderen unterschied, war, dass er sich nicht darüberberuhigen konnte. Er kam zu dem Schluss, dass ein Kon-zept wie das Non-Disclosure Agreement schlicht unethischsei und dass er, um nicht gezwungen zu sein, unter solchenBedingungen zu arbeiten, vielleicht sogar seinen Beruf auf-geben müsse. Dann aber kam ihm die Idee, wie er Program-mierer bleiben und doch seinem moralischen Anspruchgerecht werden könnte: Er würde selber ein Betriebssystemschreiben und es jedem, der es benutzen wollte, frei zurVerfügung stellen, so dass niemand mehr von irgendeinerSoftware-Firma abhängig wäre.

    Wahrscheinlich trägt diese Geschichte Züge der Stili-sierung. Stallmans Biograph, Sam Williams, hat festgestellt,

    22

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 22

  • dass weder Stallman noch sein damaliger Kollege an derCarnegie Mellon University sich an die Details des Ge-sprächs über die Druckersoftware erinnern können – ein-schließlich der Tatsache, ob das Gespräch überhaupt statt-gefunden hat.2

    Stallman begann jedenfalls, sein Betriebssystem zu pro-grammieren, und zwar von Grund auf, einschließlich desCompilers und des Texteditors, die nötig waren, um denRest des Systems überhaupt entwickeln zu können. AlsVorbild wählte er das bereits existierende Unix (»nicht meinideales Betriebssystem, aber es ist nicht ganz schlecht«), undnannte sein eigenes System GNU, was für »GNU is NotUnix« steht – ein selbstreferentielles Akronym.3

    Um zu verhindern, dass das MIT irgendwelche Rechtean seiner Software haben würde, ging Stallman schließlichim Jahr 1984 zu seinem Chef und erklärte seine Kündi-gung.

    »Sind Sie da wirklich sicher?«Stallman beharrte. Sein Chef hatte offenbar ein Gespür

    dafür, dass hier etwas Besonderes vorging, denn er nahmdie Kündigung an und fragte dann weiter: »Wollen Sie IhrBüro behalten?«

    Verblüfft akzeptierte Stallman das Angebot. Das Laboram MIT wurde so für die nächsten Jahre zum Haupt-quartier seiner Bewegung, obwohl er sowohl finanziell alsauch rechtlich von der Universität unabhängig war. Alseine Art Dachorganisation gründete er die Free SoftwareFoundation (FSF), die später als gemeinnütziger Verein an-erkannt wurde. Seinen Lebensunterhalt bestritt Stallman –in Dingen des täglichen Lebens ohnehin recht anspruchs-los – durch den Verkauf gebundener Handbücher sowie

    23

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 23

  • dadurch, dass er sich den Vertrieb seiner Software als Dienst-leistung bezahlen ließ: »Schicken Sie mir 150 Dollar, undich schicke Ihnen ein Magnetband mit meiner Softwaredarauf.« In der Zeit vor der flächendeckenden Verbreitungdes Internet ließ sich damit ein ausreichendes Einkommenerzielen, obwohl es jedem Benutzer natürlich freigestelltblieb, sich die Programme gegebenenfalls über andere Ka-näle umsonst zu besorgen.

    Vom Programmieren zum Asteroiden-Bergbau

    Zu Beginn des GNU-Projekts schrieb Richard Stallmanein Manifest, um Mitstreiter zu gewinnen und für seineIdee zu werben.4 Stallman erklärt darin, dass er es als seinemoralische Pflicht betrachte, das GNU-System zu ent-wickeln, denn die »Goldene Regel« verlange, dass derjeni-ge, dem ein Programm gefällt, es mit denen teilen müsse,denen es auch gefallen könnte. Es sei ihm daher unmög-lich, ein Non-Disclosure Agreement oder eine Software-Lizenzvereinbarung zu unterschreiben. Um weiterhin Com-puter benutzen zu können, werde er einen Grundstock anfreier Software zusammenstellen, der ihm erlaube, ohnejede Art von proprietärer Software auszukommen. VieleProgrammierer seien bereit, ihm zu helfen, denn das Wei-tergeben von Programmen sei der fundamentale Akt derFreundschaft zwischen Programmierern.

    Stallman fährt fort, indem er »einige leicht zu widerle-gende Einwände gegen das GNU-Projekt« aufzählt. DerKern dieser Einwände ist, dass dieses Modell unmöglichökonomisch funktionieren könne, ja, dass die Program-

    24

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 24

  • mierer, wenn sie ihre Programme verschenken, schlichtverhungern müssten. Stallmans Antwort auf diesen Ein-wand besteht aus drei Teilen.

    Erstens, so führt er aus, sei natürlich niemand gezwun-gen, Programmierer zu sein: »Die meisten von uns sindnicht in der Lage, Geld zu verdienen, indem sie sich anirgendeine Straßenecke stellen und Grimassen schneiden.Das heißt aber nicht, dass wir darum dazu verdammt sind,uns an Straßenecken zu stellen, Grimassen zu schneidenund zu verhungern. Wir machen etwas anderes.«

    Den Einwand, dass ohne finanziellen Anreiz aber nie-mand mehr programmieren würde, lässt Stallman nicht gel-ten: »Programmieren übt auf manche Menschen eine unwi-derstehliche Faszination aus, üblicherweise auf die, die es ambesten können. Es gibt [auch] keinen Mangel an professio-nellen Musikern, [...] obwohl die wenigsten von ihnen hof-fen können, damit je ihren Lebensunterhalt zu verdienen.«

    Zweitens aber stimme die implizite Annahme des Fra-genden nicht, nämlich dass ein Programmierer niemalsauch nur einen Cent verdienen könne, wenn er sich nichtdas Recht bezahlen lässt, seine Software zu benutzen. An-dere Modelle seien vorstellbar, wenn man nur nach ihnensuche: Programmierer könnten beispielsweise Benutzerbe-ratung anbieten, oder ganz allgemein Dienstleistungen imZusammenhang mit der Software (Unterricht, Installation,Wartung etc.). Die Entwicklung neuer Systeme könntedurch Interessengruppen finanziert werden, deren Mit-glieder Beiträge bezahlen, die dann eigens engagierten Pro-grammierern als Arbeitslohn zukommen. Auch eine Soft-ware-Steuer sei vorstellbar, die dann auf einzelne Pro-grammierer bzw. Unternehmen umgelegt würde. Benutzer

    25

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 25

  • könnten aber auch von sich aus beschließen, bestimmteProjekte zu unterstützen, etwa weil sie die Resultate nachihrer Fertigstellung verwenden wollen. Diese Beträge lie-ßen sich dann von der Steuer absetzen.

    Letzten Endes jedoch, und damit beschließt Stallmansein Manifest, gehe es um eine viel größere Perspektive. Erschreibt: »Programme frei zu machen ist langfristig einSchritt in Richtung einer Welt ohne Ressourcenknappheit,wo niemand besonders hart arbeiten müssen wird, nur umseinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die Menschen wer-den die Freiheit haben, sich mit Dingen zu beschäftigen,die Spaß machen, zum Beispiel Programmieren, nachdemsie die nötigen zehn Stunden pro Woche mit unumgäng-lichen Arbeiten verbracht haben wie Gesetzgebung, Fa-milienberatung, Reparatur von Robotern und Asteroiden-Bergbau. Es wird nicht nötig sein, dass man vom Pro-grammieren leben kann.«

    Freie Software und die GPL

    Stallman führte für sein Betriebssystem den Begriff FreieSoftware ein (engl. free software).5 Der Begriff war von An-fang an als eine politische Idee gedacht. Freie Software, sodefinierte Stallman, ist Software, die dem Benutzer be-stimmte Freiheiten gibt. Im einzelnen sind das die folgen-den (sie werden, wie unter Programmierern üblich, bei nullbeginnend durchnummeriert):

    Freiheit Nr. 0 Die Freiheit, das Programm auszuführen,jederzeit, zu jedem Zweck.

    26

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 26

  • Freiheit Nr. 1 Die Freiheit, das Programm zu verändern,um es den eigenen Bedürfnissen anzupassen (Zugriffauf den Quelltext ist eine Voraussetzung dafür).

    Freiheit Nr. 2 Die Freiheit, das Programm weiterzugeben,»um seinem Nachbarn zu helfen«.

    Freiheit Nr. 3 Die Freiheit, auch veränderte Versionen desProgramms weiterzugeben.

    Der Ausdruck »Freie Software« legte allerdings auch denGrund für ein sehr hartnäckiges Missverständnis, und dasinsbesondere auf Englisch: Gemeint ist nicht, dass die Soft-ware »umsonst« wäre, »frei« im Sinne von »gratis«, oder dass»Freie Software« nichts mit Geschäft, Broterwerb oder Öko-nomie zu tun hätte. Zwar ist es in aller Regel tatsächlich so,dass man Freie Software kostenlos bekommen kann, aberschon Stallmans Beispiel des Vertriebs von Magnetbändernzeigt, dass eine Vielzahl von kommerziellen Geschäftsmo-dellen um die Freie Software herum vorstellbar ist. (Tatsäch-lich funktioniert heute ein nicht unerheblicher Teil derSoftware-Industrie nach ganz ähnlichen Prinzipien.)

    Als Eselsbrücke, um die beiden Bedeutungen von »frei«auseinander zu halten, hat sich das englische »Think of freespeech, not free beer« eingebürgert. Natürlich war es nureine Frage der Zeit, bis ein paar freundliche Spaßvögel daszum Anlass nahmen, »Freies Bier« herzustellen, also einBier, das nicht etwa umsonst ist, sondern dessen Rezept freiverfügbar ist.6

    Das Gegenteil von »Freier Software« ist damit nicht et-wa »kommerzielle Software«, sondern vielmehr Software,

    27

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 27

  • für die eine oder mehrere der oben genannten Freiheitennicht gelten. Man spricht dann von »unfreier Software« oder»proprietärer Software«, d.h. Software, die einen »Eigen-tümer« hat, dessen alleiniger Kontrolle sie unterworfen ist.

    Um den rechtlichen Status der Programme des GNU-Projekts zu schützen, entwickelte Stallman außerdem einebesondere Lizenz, die General Public License (GPL).7 DieGPL gibt dem Benutzer eines Programms die vier obengenannten Freiheiten, aber sie geht noch einen Schritt wei-ter: Sie verlangt außerdem, dass weiterentwickelte Versio-nen des Programms, oder davon abgeleitete, neue Program-me, ebenfalls unter der GPL lizenziert werden müssen.

    Durch diese Klausel wird die Lizenz von einer bloß pas-siven Erklärung von Freiheitsrechten zu einem politischenInstrument. Sie bewirkt, dass Unternehmen den unter GPLlizenzierten Code nicht in ihre proprietären Produkte ein-bauen können, sondern dass sie im Gegenteil dazu ermun-tert (oder gezwungen) werden, ihren eigenen Code eben-falls als Freie Software zu veröffentlichen. Das Ziel, dasStallman damit erklärtermaßen verfolgt, ist, das Konzept derproprietären, unfreien Software vollständig abzuschaffen.

    Das Urheberrecht wird hier also gewissermaßen zurWaffe gegen sich selbst umgeschmiedet. Stallman sprichtdaher auch humorvoll von Copyleft, also einem umgekehr-ten Copyright. Es ist eine Art formalisierter Ausdruck einesPrinzips, das auch unter dem Namen »Share-And-Share-Alike« bekannt ist, also in etwa: »Ich teile mit dir, teile duauch mit mir.«

    Kritiker argumentieren, dass Freie Software unter derGPL also gar nicht wirklich »frei« sei, weil immerhin einesausdrücklich verboten ist – die Software nämlich »unfrei«

    28

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 28

  • zu machen. Manche sehen hier einen sich selbst widerspre-chenden Radikalismus am Werk. Andere halten dagegen,dass es nur recht und billig sei, wenn jemand, der etwas derAllgemeinheit zur Verfügung stellt, nicht möchte, dass seinBeitrag in proprietären Produkten verschwindet. Als Folgedieser Auseinandersetzung sind auch andere, »permissive-re« Lizenzmodelle entwickelt worden, die gerade auf denCopyleft-Aspekt verzichten. Am einfachsten liegt die Sachebei sogenannter Public-Domain-Software, worunter manSoftware versteht, für die keinerlei Urheberrecht geltendgemacht wird, also auch keine Lizenz erforderlich ist. Umrechtliche Probleme zu umgehen (in Deutschland bei-spielsweise kann ein Autor auf das Urheberrecht gar nichtverzichten), werden allerdings in der Regel ausdrücklicheLizenzen verwendet, die jede Art von Verwendung der Soft-ware erlauben, aber zum Beispiel die Haftung des Autorsfür Fehlfunktion ausschließen (ob solch eine Klausel recht-lich wirksam ist, steht wiederum auf einem anderen Blatt).Es sind insbesondere große Konzerne, die solche Softwareinzwischen gerne als Technologie-Pool verwenden, aus demsie sich nach Belieben für ihre eigenen Produkte bedienen.

    Nichtsdestoweniger ist heute die GPL die in Freien Soft-ware Projekten mit Abstand am meisten verwendete Lizenz.

    Just for fun

    Im Lauf der achtziger Jahre stellten Richard Stallman undeinige andere Programmierer einen Großteil des GNU-Systems fertig. Die Programme, die dabei entstanden,brachten es in der Fachwelt zu hohem Ansehen: Sie waren

    29

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 29

  • technisch besser als ihre Gegenstücke aus den proprietärenUnix-Varianten etwa von AT&T, Sun Microsystems oderHewlett-Packard. Was noch fehlte, war der sogenannteKern des Betriebssystems (engl. kernel). Der Kern ist diezentrale Schaltstelle in einem Betriebssystem, ein eigenes,sehr komplexes Programm, das die übrige Software, die aufdem Computer läuft, verwaltet und ausführt. Ohne eineneigenen Kern war der bereits funktionierende Teil desGNU-Systems gewissermaßen noch ein Luftschloss undkonnte nur auf einem der schon existierenden, proprietä-ren Unix-Systeme ausgeführt werden.

    Das änderte sich, als der finnische Student Linus Tor-valds im Jahr 1991 einen eigenen Kern schrieb. Torvalds,damals Anfang zwanzig, brauchte diesen Kern für Experi-mente mit Betriebssystemen und entwickelte ihn, wie erheute sagt, just for fun.8 Um ein vollständiges Betriebs-system zu bekommen, bediente er sich bei den frei verfüg-baren Programmen des GNU-Projekts, hatte aber selberkeinerlei Beziehung zu GNU oder zur FSF. In Anlehnungan seinen Vornamen gab er dem Kern den Namen Linuxund veröffentlichte ihn unter der General Public License(GPL), um ihn der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen.(Die Verwendung der GPL war eine eher beiläufige Ent-scheidung, Torvalds verfolgte mit seiner Arbeit keine poli-tische Agenda.)

    Damit war die kritische Masse erreicht. Zum erstenMal war es möglich, einen Computer vollständig mitFreier Software zu betreiben. Zudem hatte Torvalds seinenKern für die Intel x86-er Architektur geschrieben, d.h. fürgewöhnliche, handelsübliche PCs. Für diese Architekturhatte es bis dahin nur unbedeutende, proprietäre Unix-

    30

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 30

  • Varianten gegeben, nun aber existierte eine Alternativezum ansonsten marktbeherrschenden BetriebssystemWindows von Microsoft – wenngleich zunächst, undnoch für etliche Jahre, nur technisch versierte Program-mierer etwas mit dem neuen Betriebssystem anfangenkonnten.

    Linux erfreute sich dennoch steigender Beliebtheit un-ter Eingeweihten, und schließlich wurde das GNU-Projektdarauf aufmerksam. Richard Stallman zeigte sich irritiert.Jemand anders schien die Initiative übernommen zu habenund hatte das GNU-System zu einem vollständigen Be-triebssystem gemacht. Was Stallman daran besonderskränkte, war, dass sich auch der griffige Name »Linux« fürdas System allgemein durchgesetzt hatte, wobei völlig unterden Tisch fiel, dass dieses neue Betriebssystem zum größtenTeil aus den Programmen des GNU-Projekts bestand. DerLinux-Kern machte darin nur einen vergleichsweise klei-nen, wenn auch entscheidenden Bestandteil aus. Ganz ab-gesehen von der fehlenden Anerkennung für die technischeLeistung des GNU-Projekts, sah Stallman vor allem dieGefahr, dass die politischen Ideen, um deren Willen er dasProjekt begonnen hatte, in Vergessenheit geraten könnten.Er forderte darum öffentlich, dass das System umbenanntwerden müsse. Sein Vorschlag, Lignux, wurde von der in-zwischen recht großen Fangemeinde jedoch nur mit Ge-lächter beantwortet. Linus Torvalds erklärte, dass ihm derName des Systems gar nicht so wichtig sei – und letztlichblieb alles beim Alten. Stallman besteht seinerseits darauf,das System GNU/Linux zu nennen, aber diese Sprachre-gelung hat sich in der breiten Öffentlichkeit, die das Be-triebssystem inzwischen genießt, nicht durchsetzen können.

    31

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 31

  • Die Bestandteile eines GNU/Linux-Systems stammeninzwischen aus sehr vielen verschiedenen Projekten. Vieledavon stehen unter der General Public License der FreeSoftware Foundation, viele aber auch unter anderen, weni-ger politisch gefärbten Lizenzmodellen. Die eigentlicheSoftware des GNU-Projekts stellt darunter nicht mehr denmengenmäßig größten Anteil dar, ist aber nach wie vor dergrößte Einzelbeitrag zum Gesamtsystem. Das GNU-Pro-jekt hat inzwischen auch einen eigenen Betriebssystem-Kern unter dem Namen Hurd veröffentlicht, der aberkaum praktische Bedeutung hat.

    In der Öffentlichkeit gilt Linus Torvalds als der Schöp-fer von »Linux«, obwohl er selbst durchaus betont, dass ernur einen kleinen Teil beigesteuert hat und dass er auch inseinem eigenen Teilsystem, dem Linux-Kern, vor allem dieArbeit vieler anderer Programmierer koordiniert hat.

    Public Relations

    Eine weitere prominente Figur in der Szene ist Eric S.Raymond. Bereits seit den achtziger Jahren hatte er beiProjekten im Umfeld des GNU-Systems mitgearbeitet undsich einen Namen als fähiger Programmierer gemacht.Allerdings war er zunehmend uneins mit Richard Stall-mans radikalen politischen Ansichten. Wie viele andereProgrammierer betrachtete er das Schreiben Freier Pro-gramme nicht als eine moralische Verpflichtung, sondernwar vielmehr fasziniert von der Möglichkeit, über dasInternet mit hunderten von Kollegen zusammenzuarbei-ten. Er verfolgte den Siegeszug des Linux-Kerns und fand,

    32

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 32

  • dass er vor allem dadurch zu erklären war, dass Torvalds dieneuen Kommunikationsmöglichkeiten des Internet vielstärker ausgenutzt hatte als Stallman im GNU-Projekt.Während die GNU-Programmierer vergleichsweise hinterverschlossenen Türen an ihrem Code arbeiteten, um nachzum Teil erheblicher Wartezeit einer staunenden Außen-welt ihre Ergebnisse zu präsentieren, hatte Torvalds seinenLinux-Kern fast sofort veröffentlicht. Mit seinem umgäng-lichen Charakter und kommunikativen Talent hatte er esgeschafft, schnell eine große Menge von Partnern im Netzzu finden, und arbeitete mit diesen Leuten intensiv zusam-men. Oft wurden an einem einzigen Tag mehrere neueVersionen des Linux-Kerns veröffentlicht.

    Raymond fand, dass dieses Modell der hochgradig de-zentralen Kommunikation zu besseren technischen Ergeb-nissen führte als das zentralisierte Entwicklungsmodell,wie es etwa die großen Software-Konzerne betreiben –ganz davon abgesehen, dass es einfach mehr Spaß machte.Da Raymond die Konzerne nicht als moralische Gegnerbetrachtete, versuchte er sich vorzustellen, wie man dasfreie Entwicklungsmodell in die Geschäftswelt tragenkönnte, um damit Geld, möglicherweise sogar viel Geld zuverdienen.

    In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre nahm Ray-mond gewissermaßen die Rolle des Public-Relations-Ex-perten der Bewegung an und versuchte, die großen Kon-zerne dafür zu interessieren. Die Firma Netscape war dieerste, die darauf ansprang. Durch den »Browser-Krieg« ge-gen den Giganten Microsoft und dessen Internet Explorerzermürbt, war die Geschäftsleitung offen für RaymondsIdeen und entschloss sich im Jahr 1998, den Quelltext

    33

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 33

  • ihres Browsers offen zu legen. Man hoffte, dass Massen vonProgrammierern sich aus den Tiefen des Internet daraufstürzen und das Produkt in ungeahnte technische Höhenkatapultieren würden.

    Die Signalwirkung dieser Entscheidung innerhalb derComputer-Industrie war nicht zu unterschätzen. Es zeich-nete sich ab, dass Freie Software durchaus ein ernstzuneh-mendes Geschäftsmodell sein konnte. Raymond sprachdramatisch von einem »Schuss, der auf der ganzen Welt zuhören war«.

    Auf den technischen Ertrag des Projektes musste manfreilich eine ganze Weile warten. Die unabhängigen Pro-grammierer ließen keinen Stein auf dem anderen undschrieben den Browser praktisch von Grund auf neu. Sieverwendeten dabei den bisherigen, Netscape-internen Co-denamen des Projekts, Mozilla. Erst im Sommer 2002 er-schien die offizielle Version 1.0 dieses Browsers, der wiede-rum von Netscape unter dem Namen Netscape 7.0 ver-marktet wurde. Mozilla unterschied sich von MicrosoftsInternet Explorer vor allem dadurch, dass der Browser dieStandards des World Wide Web Consortiums (W3C) invorbildlicher Weise einhielt, wogegen der Internet Ex-plorer dafür bekannt war und ist, diese Standards regelmä-ßig zu ignorieren und so einen Microsoft-spezifischen De-facto Standard zu schaffen.

    Mozilla war jedoch im Lauf der Entwicklung zu einemrecht großen und schwerfälligen Programm geworden. Erstals man aus dem Mozilla-System einen neuen, bewusstklein und schlank gehaltenen Browser herauslöste, beganndessen Siegeszug. Der neue Browser erhielt den NamenFirefox und wurde mit großem Enthusiasmus von Frei-

    34

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 34

  • willigen aus der Szene verbreitet. Das Echo davon drangbis in die Mainstream-Medien, so dass der Name Firefoxheute den meisten Computerbenutzern ein Begriff ist. DerMarktanteil von Firefox, gemessen an der Zahl der Be-sucher auf bestimmten Websites*, liegt heute (Januar 2006)bei etwa 15-25%. Die ungebrochene Dominanz des Inter-net Explorer (70-80%) erklärt sich vor allem dadurch, dassdieser Browser von vornherein zum Windows-Betriebssys-tem gehört, während Firefox vom Benutzer selbstständigheruntergeladen und installiert werden muss.9

    Open Source

    Die Vorgänge im Umfeld der Netscape-Entscheidung von1998 hatten dazu geführt, dass sich eine Gruppe von pro-minenten Vertretern der Szene formierte, die für eine ver-stärkte Zusammenarbeit mit der Industrie eintraten. Zuihnen gehörten neben Eric Raymond auch der VerlegerTim O’Reilly und der Programmierer Bruce Perens. Stall-man hingegen wurde von der Gruppe mehr oder wenigerbewusst gemieden. Man hatte den Eindruck, dass seinmoralistischer Anspruch und die Betonung der Idee derFreiheit bei Verhandlungen mit Geschäftsleuten nicht gutankamen. Es schien an der Zeit, der Bewegung ein anderesGesicht zu geben. Bei einer Art Gipfeltreffen, zu dem Tim

    35

    * Ein Website ist ein bestimmter »Ort« im World Wide Web, von engl. site =der Ort, der Platz. Oft wird das mit der Webseite verwechselt, engl. web page,also einer einzelnen, im Web-Browser dargestellten Seite. Ein Website bestehtin der Regel aus mehreren Webseiten. In diesem Buch wird es darum immerder Website, aber die Webseite heißen.

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 35

  • O’Reilly eingeladen hatte, kam man überein, den Begriff»Freie Software« durch das weniger verfängliche »OpenSource« zu ersetzen und rief die »Open Source Bewegung«ins Leben.10

    Der unmittelbare Erfolg schien die Idee zu bestätigen.Schnell setzte sich der Begriff »Open Source« in weitenTeilen der Programmierer-Szene und in der Öffentlichkeitdurch. In der Industrie ist »Open Source« heute ein festetablierter Begriff, während der Ausdruck »Freie Software«in vielen Fällen auf Unverständnis stößt.

    Es überrascht nicht, dass Richard Stallman mit diesemNamenswechsel nicht einverstanden ist. Er betont, dass derBegriff »Open Source« eine völlig andere Agenda hat alsdie Freie Software Bewegung, die er begründete. DerFokus der Open Source Bewegung liegt darauf, technischmöglichst gute Software herzustellen, und sie argumen-tiert, dass der dezentrale, offene Entwicklungsprozess imInternet der beste Weg dazu ist. Die Lizenzmodelle, soheißt es, müssten jedoch den ökonomischen RealitätenRechnung tragen. So findet Raymond beispielsweise nichtsdabei, selber auch proprietäre Software zu schreiben odermit proprietären Projekten oder Produkten zu kooperie-ren. Auf lange Sicht werde sich das Open Source Modellohnehin evolutionär durchsetzen.

    Stallman erklärt dagegen, dass der Gedanke der Freiheitoberste Priorität hat: Die Abhängigkeit der Benutzer vonden Software-Herstellern soll gebrochen werden; wegeneben dieser Abhängigkeit ist es moralisch verwerflich, Quell-texte geheim zu halten, anstatt sie der Menschheit zur Ver-fügung zu stellen. Die eigene, Freie Software muss daherauch keineswegs technisch besser sein als die proprietären

    36

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 36

  • Produkte – wenn sie das ist, dann ist das ein schöner Ne-beneffekt, aber die Hauptsache ist, dass es Freie Software ist.

    Stallman betrachtet die Open Source Bewegung daherals eine separate Bewegung, mit der er sich nicht identifi-ziert. Er betont ferner, dass es sich hierbei nicht um eine»klassische« Spaltung in einen realpolitischen und einenfundamentalistischen Flügel handelt. Er schreibt:

    »Radikale Gruppen der sechziger Jahre hatten den Rufder Spalterei: Organisationen brachen auseinander wegenMeinungsverschiedenheiten in strategischen Details undhassten einander dann. Sie stimmten in den grundlegen-den Prinzipien überein und widersprachen sich nur in denpraktischen Empfehlungen, aber sie betrachteten sich alsFeinde und bekämpften sich bis aufs Messer. Das ist zu-mindest das Bild, das man heute von ihnen hat, ob es nunkorrekt ist oder nicht.

    Das Verhältnis zwischen der Freien Software Bewegungund der Open Source Bewegung ist gerade das Gegenteildavon. Wir sind in den grundlegenden Prinzipien uneins,aber haben mehr oder weniger dieselben praktischenEmpfehlungen. Also können wir in vielen konkreten Pro-jekten zusammenarbeiten, und tun das auch. Wir betrach-ten die Open Source Bewegung nicht als Feind. Der Feindist die proprietäre Software.«11

    Die Kathedrale und der Basar

    Abgesehen von seinen Verbindungen zur Industrie ist EricRaymond auch bekannt geworden durch seine Essays. Diebekanntesten von ihnen sind The Cathedral and the Bazaar

    37

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 37

  • und Homesteading the Noosphere (etwa: »Die Besiedelungdes Reichs der Ideen«).12 Raymond versucht darin, histo-risch und konzeptionell aufzuarbeiten, was er die »Hacker-Kultur« nennt, also die Szene der über das Internet koope-rierenden Programmierer, aus denen unter anderem dieGNU/Linux-Bewegung hervorgegangen ist. Wie funktio-niert diese Subkultur? Was motiviert ihre Anhänger?Warum ist sie so erfolgreich?

    Der Ausdruck »Hacker« weckt in der Öffentlichkeitunbehagliche Assoziationen. Man stellt sich darunterhochbegabte Computerfreaks vor, die in Großrechner-systeme von Banken, Versicherungen und der NASA ein-brechen und Chaos verbreiten. Die Hacker-Kultur, dieRaymond beschreibt, distanziert sich von diesen Dingennachdrücklich und möchte für solche Einbrecher lieber dasWort »Cracker« verwendet wissen. Der Ausdruck »Hacker«ist demgegenüber ein Ehrentitel. Er steht für jemanden,der vom Programmieren fasziniert ist und dem es Spaßmacht, gut darin zu sein. Anders als die oft aus der Ille-galität operierenden, destruktiven »Cracker« arbeiten die»Hacker« konstruktiv und sind stolz darauf, neue, bessere,auch benutzerfreundlichere Systeme zu bauen.

    In Homesteading the Noosphere stellt Raymond dieThese auf, dass die Hacker-Kultur, obwohl scheinbar völ-lig offen und unorganisiert bis zur Anarchie, in Wirk-lichkeit einem strengen, unausgesprochenen Verhaltensko-dex folgt.13 So gibt es in fast jedem Projekt einen eindeu-tig festgelegten Projektleiter oder Moderator, der die letzteEntscheidungsgewalt darüber hat, welche Änderungen indas Projekt übernommen werden, welche neuen Funk-tionen hinzugefügt werden und welche nicht. Er ist es, der

    38

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 38

  • das Projekt nach außen repräsentiert und der in der Regelauch entscheidet, wann eine neue Version der Softwareveröffentlicht wird. Der Führungsstil des Projektleiters isteine Frage seiner Persönlichkeit, er kann von autoritär bisintegrativ reichen und muss sich dadurch bewähren, dasses ihm gelingt, ein Team von Freiwilligen um sich zu ver-sammeln und unter ihnen als Autorität akzeptiert zu wer-den. Oft ist der Projektleiter der ursprüngliche Autor derSoftware, der mit der Zeit eine Gruppe von Interessiertenum das Projekt herum aufgebaut hat. Die Position desProjektleiters kann jedoch auch wechseln; in der Regel istdas ein Vorgang, der in wechselseitigem Einvernehmen ge-schehen muss und der sorgsam dokumentiert und bekanntgegeben wird, um die Autorität des neuen Projektleiters zuetablieren. »Wenn du das Interesse an einem Projekt ver-lierst, ist deine letzte Pflicht, es einem kompetenten Nach-folger zu übergeben«, schreibt Raymond.

    Programmierer, die von außen an das Projekt herantre-ten, können in der Regel nicht einfach so »mitmachen«.Zu Beginn reichen sie meist einzelne, kleinere Änderungs-vorschläge ein, die dann von einem Programmierer ausdem engeren Kreis geprüft und gegebenenfalls in deneigentlichen Programmcode eingefügt werden. Arbeitet einAußenstehender längere Zeit mit und erwirbt er das Ver-trauen der anderen Projektmitglieder, dann wird ihmschließlich der Schreibzugriff auf die zentrale Version desProgrammcodes freigeschaltet, so dass er selbstständig Än-derungen einfügen kann. Der »Neuling« muss sich bisdahin so in die Arbeitsprozesse des Teams eingewöhnthaben, dass er ein Gefühl dafür hat, welche Änderungen erin eigener Initiative durchführen kann und welche vorher

    39

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 39

  • im Team diskutiert werden müssen. Sämtliche Änderun-gen werden außerdem automatisch protokolliert und kön-nen bei Bedarf rückgängig gemacht werden, wobei es je-doch praktikabler und zeitsparender ist, strittige Punktevorher zu klären.

    Die Zuständigkeiten und Rechte in einem Projektgründen sich, wie Raymond schreibt, auf das Prinzip»Autorität folgt Verantwortung«. Ein Programmierer wirdnur dann beispielsweise den Schreibzugriff bekommenoder über den weiteren Verlauf des Projektes mitbestim-men können, wenn er nicht nur gute Ideen hat und tech-nische Kompetenz beweist, sondern sich auch um wenigerbeliebte Arbeiten wie Fehlersuche und Dokumentationkümmert und sich an der Kommunikation mit den Be-nutzern des Projekts in den Mailinglisten und Diskussions-foren beteiligt.

    Kommt es zu Meinungsverschiedenheiten, sollen diesenach Möglichkeit einvernehmlich geregelt werden. Obdies gelingt, hängt zu großen Teilen von der sozialen Kom-petenz und dem diplomatischen Geschick des Projektlei-ters ab. Schlägt die Einigung fehl, dann ziehen sich einzel-ne Programmierer möglicherweise aus dem Projekt zurück,schlimmstenfalls aber droht eine Spaltung des Projekts, imEnglischen »fork«, also »Gabelung« genannt. Eine Fraktionder Programmierer, die mit dem Verlauf des Projekts nichteinverstanden ist, nimmt sich bei einem »fork« den Codeund beginnt mit ihm ein neues, oft ähnlich benanntesProjekt nach den eigenen Vorstellungen. Rechtlich gesehenist das natürlich jederzeit möglich (es ist eine derGrundvoraussetzungen der Freien Software), faktisch aberbesteht ein starker sozialer Druck dagegen, weil ein »fork«

    40

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 40

  • meistens zu inkompatiblen Software-Versionen führt,schlimmstenfalls die Zahl der zur Verfügung stehendenProgrammierer halbiert und viel zusätzliche Arbeit verur-sacht. Die wenigen »forks«, die es in prominenten Pro-jekten der Szene über die Jahre gegeben hat, sind allenBeteiligten in bitterer Erinnerung. Manchmal allerdings istein »fork« auch die einzige Möglichkeit, einen überfälligenGenerationswechsel herbeizuführen oder einen inkompe-tenten Projektleiter abzulösen. Die Entscheidung wirddann meist dadurch bestätigt, dass sich fast alle Benutzerspontan dem neuen Projekt zuwenden und das alte schnellan Bedeutung verliert.

    Raymond schließt aus diesen unausgesprochenenVerhaltensregeln, dass die Programmierer, ohne es sichvielleicht einzugestehen, vom Streben nach sozialer Aner-kennung motiviert sind. Durch ihre Arbeit können sie sichinnerhalb der Szene und bei den Benutzern einen Ruferwerben. Als Beleg für diese Theorie führt Raymond an,dass die Liste der Namen derjenigen, die an einem Projektmitgearbeitet haben, mit sehr großer Sorgfalt behandeltwird – sie ist gewissermaßen das Allerheiligste eines Pro-jekts, und einen Namen aus dieser Liste herauszulöschen,wäre ein Sakrileg.

    Eine Erklärung für diese Struktur, so Raymond, könn-te in dem aus der Soziologie und Ethnologie bekanntenPhänomen der Schenkkulturen (engl. gift cultures) beste-hen. In einer Schenkkultur definiert sich der soziale Statusnicht durch das, was man besitzt, sondern vielmehr durchdas, was man verschenkt. Man findet solche Schenkkul-turen z.B. auf tropischen Inseln, wo wegen günstiger kli-matischer Bedingungen keinerlei Ressourcenknappheit

    41

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 41

  • herrscht. Aber auch manche Schichten der westlichenGesellschaften funktionieren so, denkt man etwa an dasShowgeschäft oder allgemein an Schichten mit sehr ho-hem Wohlstand.

    Es steht zu vermuten, dass sich auch eine Bewegungwie die GNU/Linux-Gemeinschaft so erklären lässt: Inden westlichen Gesellschaften, zumal bei deren techni-schen Eliten, ist möglicherweise ein Grad des Wohlstandeserreicht, der die traditionellen Modelle von Karriere undBesitzstandswahrung obsolet werden lässt, so dass sich statt-dessen auch hier eine Art Schenkkultur herausbildet.

    Trolltech und das Qt-Problem

    Konfrontationen zwischen der GNU/Linux-Bewegung undanderen Modellen der Software-Entwicklung sind keineSeltenheit. Der Verlauf solcher Konflikte verrät eine Men-ge über den inneren Zusammenhalt und die Prinzipien-treue der Bewegung, oft sehr zur Überraschung auch ein-geweihter Beobachter.

    Einer der ersten dieser Konflikte entstand um das Jahr1998 im Rahmen des KDE-Projektes. KDE verfolgt dasZiel, GNU/Linux mit einer grafischen Oberfläche auszu-statten, die der von Microsoft Windows oder auch MacOSvergleichbar ist. (Unix-Systeme verfügten lange Jahre nurüber sehr rudimentäre grafische Schnittstellen, die Nicht-Fachleuten kaum zuzumuten waren.) Eine entscheidendeKomponente von KDE ist die Qt-Bibliothek, ein Soft-ware-Paket, das grafische Elemente wie Schaltflächen,Menüs und Eingabefelder bereitstellt. Qt war von der nor-

    42

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 42

  • wegischen Firma Trolltech entwickelt worden, und zwar alsproprietäres Produkt für die Windows- und Mac-Welt.Trolltech versprach sich vom Einsatz unter GNU/Linuxeine zusätzliche Verbreitung der Software, und so wurde Qtden KDE-Entwicklern unter einer besonderen Lizenzumsonst zur Verfügung gestellt. Die Lizenz funktioniertenach dem Prinzip »Angucken, aber nicht Anfassen«: Zwarwar der Quelltext für die KDE-Entwickler zugänglich, aberTrolltech behielt sich unter anderem das alleinige Recht vor,neue Versionen der Bibliothek herauszubringen.

    Qt war also keine Freie Software, und darüber kam eszum Streit. Enthusiastische KDE-Entwickler verwiesen aufdie technischen Vorteile von Qt, zu denen es damals keineAlternative in der Freien Software Szene gab. Außerdemkönne man Qt schließlich umsonst benutzen und denQuelltext einsehen, und das hielten viele für ausreichend.Oft war auch der Vorwurf zu hören, dass man ein gutesProjekt nicht durch unsinnige Lizenzstreitigkeiten gefähr-den dürfe. Andere bestanden jedoch darauf, dass Qt ebenkeine Freie Software sei und dass es darum nicht einmalerlaubt sei, die KDE-Programme (die unter der GPL lizen-ziert waren) überhaupt mit der Qt-Bibliothek zu verbinden.Als Folge entstanden zwei neue Projekte: Eines, unter demNamen Harmony, begann damit, die Qt-Bibliothek voll-ständig nachzubauen, um sie schließlich unter der GPL zuveröffentlichen. Ein anderes Projekt, genannt GNOME,sollte eine völlig neue grafische Oberfläche entwickeln, dieohne Qt auskam und zum offiziellen Desktop für dasGNU-System werden sollte. Einige der FSF nahestehendeGNU/Linux-Anbieter begannen bereits damit, KDE voll-ständig aus ihrem Angebot zu entfernen.

    43

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 43

  • Besonders die Entscheidung für das GNOME-Projektwurde wiederum scharf kritisiert, denn man fürchtete, dasErscheinungsbild von GNU/Linux würde damit unein-heitlich werden, ganz abgesehen von dem doppelten Auf-wand, den eine solche Parallelentwicklung bedeuten wür-de. Nichtsdestoweniger machten beide Projekte schnellFortschritte, und die Firma Trolltech sah sich bald zumEinlenken gezwungen, wollte sie ihren Status innerhalb derGNU/Linux-Szene nicht völlig verlieren. Die Qt-Lizenzwurde in mehreren Schritten zu einer echten Freien Soft-ware Lizenz abgeändert und mit der GPL kompatibelgemacht. Das Harmony-Projekt war damit überflüssig undwurde eingestellt. KDE wurde als gleichberechtigte Ober-fläche auch in FSF-nahe GNU/Linux-Varianten aufge-nommen, gleichzeitig aber wurde die Entwicklung vonGNOME weiter betrieben. Im Ergebnis gibt es heute zweigrafische Oberflächen für GNU/Linux-Systeme, nämlichKDE und GNOME, die einander im Funktionsumfangweitgehend gleichen. Viele Programme und Komponentensind zwischen den Oberflächen ohne weiteres austausch-bar.

    Das BitKeeper-Debakel

    Ein ähnlicher Konflikt, aber mit signifikant anderem Aus-gang, ergab sich in jüngerer Zeit um die Versionsverwal-tung des Linux-Kerns. Unter einer »Versionsverwaltung«versteht man ein System, das aufzeichnet, wer wann welcheÄnderung am Code eines Projekts gemacht hat undwarum. Man benötigt dafür ein eigenes, sehr komplexes

    44

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 44

  • Programm, das die Aktivitäten zahlreicher, meist übermehrere Kontinente und Zeitzonen verteilter Entwicklerkoordinieren muss. Gerade die Entwicklung des Linux-Kerns ist in dieser Hinsicht besonders anspruchsvoll, weiles sich um eines der prominentesten und aktivsten FreienSoftware Projekte handelt.

    Etwa um das Jahr 2002 zeigte sich, dass Linus Torvaldsmit den bis dahin existierenden, freien Werkzeugen zurVersionsverwaltung seiner Aufgabe nicht mehr gerechtwerden konnte. Es waren einfach zu viele Änderungsvor-schläge und Weiterentwicklungen, die bei ihm eingereichtwurden und die er zu integrieren hatte. Torvalds entschiedsich darum, ein System namens BitKeeper zu nutzen, dasvon Larry McVoy, selber einem Mitglied des Linux-Teams,entwickelt worden war. BitKeeper wird als ein proprietäres,also kostenpflichtiges und geschlossenes System vertrieben,was McVoy damit begründete, dass er ohne Lizenzge-bühren die Entwicklung nicht hätte finanzieren können.Für das Linux-Projekt würde er allerdings eine Ausnahmemachen und das System kostenlos zur Verfügung stellen.

    Die Entscheidung führte zu einem Aufschrei in derSzene. Besonders Richard Stallman kritisierte heftig, einfreies Projekt, und noch dazu ein so prominentes wie denLinux-Kern, in irgendeiner Weise von unfreier Softwareabhängig zu machen. Auch viele Linux-Entwickler zeigtensich irritiert. Torvalds hingegen argumentierte, dass es keinanderes, freies System gäbe, das dieselbe Aufgabe erfüllenkönnte. Und tatsächlich hatte sich seine Produktivität, ge-messen an der Zahl der Änderungen, die er in den Linux-Kern integrieren konnte, nach dem Umstieg mehr als ver-doppelt.

    45

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 45

  • Aber die »Ehe« hielt nur drei Jahre. Andere Entwicklerwaren nach wie vor unzufrieden damit, von einem proprie-tären System abhängig zu sein. Schließlich begann einervon ihnen damit, durch reverse-engineering das Daten-format von BitKeeper zu bestimmen und es in einemfreien Programm nachzubauen. Das wiederum betrachteteMcVoy als klaren Regelverstoß: »Ihr könnt gerne mit mirin Konkurrenz treten, aber nicht als Trittbrettfahrer. Löstdie Probleme selber, und konkurriert ehrlich. Konkurriertnicht, indem ihr euch meine Lösung anguckt.«14

    Es kam zu keiner Einigung, und so zog Larry McVoyschließlich sein Angebot der kostenlosen BitKeeper-Nut-zung zurück. Das Linux-Team musste sich nach eineranderen Versionsverwaltung umsehen, und Richard Stall-man veröffentlichte einen Artikel, in dem er seine ableh-nende Haltung in allen Punkten bestätigt sah: »Zum erstenMal in meinem Leben möchte ich mich bei Larry McVoybedanken.«15

    Kleine Distributionskunde

    Weltweit gibt es heute mehrere zehntausend Freie SoftwareProjekte, von denen viele auf eigens eingerichteten Server-farmen wie sourceforge.net beheimatet sind. Die Grundsoft-ware, die man für ein funktionierendes GNU/Linux-Sys-tem braucht, stammt aus einigen hundert dieser Projekte.Es ist darum ein eigener Arbeitsschritt erforderlich, umdiese Bausteine so auszuwählen und zusammenzufügen,dass ein vollständiges, benutzbares System entsteht. Mannennt ein solches Paket aller relevanten Software eine

    46

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 46

  • Distribution. Zahlreiche Projekte und Unternehmen habensich die Zusammenstellung, die Pflege und den Vertriebsolcher Distributionen zur Aufgabe gemacht; sie sind es,über die ein Anwender mit GNU/Linux in Berührungkommt. Zu den bekanntesten gehören Red Hat, SuSE undMandriva (ehemals Mandrake). Hinter ihnen stehen kom-merzielle Unternehmen, die das gebündelte GNU/Linuxauf CD-ROM bzw. DVD verkaufen, einschließlich ent-sprechender Dokumentation und dem Angebot einer Kun-den-Hotline.

    Eine Sonderstellung nimmt die Distribution des De-bian-Projekts ein, weil sie ausschließlich von Freiwilligenzusammengestellt und betreut wird, insofern also vielleichtam deutlichsten dem Geist der Bewegung entspricht.Debian ist eine der wenigen Distributionen, die durchge-hend die Bezeichnung »GNU/Linux« (statt einfach»Linux«) verwendet; das Projekt verfügt außerdem übersehr strenge Richtlinien, welche Software aufgenommenwerden darf und welche nicht (die meisten anderen Distri-butionen fügen auch proprietäre, closed-source Softwarehinzu).

    Debian gilt jedoch gleichzeitig als recht technischorientiert und für Laien wenig geeignet. Die Ubuntu-Distribution ist in jüngerer Zeit angetreten, um diesenMangel zu beheben. Das Projekt wird von dem südafrika-nischen Unternehmer Mark Shuttleworth gesponsert, derbereits durch seinen Touristen-Flug zur InternationalenRaumstation von sich reden machte. Ubuntu basiert aufder Infrastruktur des Debian-Projekts und wird heute oftals die am leichtesten zu installierende und benutzer-freundlichste GNU/Linux-Variante genannt.

    47

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 47

  • Stimmen aus dem Imperium

    »Erst ignorieren sie dich, dann lachen sie dich aus, dannbekämpfen sie dich, und dann gewinnst du.« – Dieser Aus-spruch von Gandhi, der vielen Graswurzelbewegungen insStammbuch geschrieben wurde, zeigt auch eine gewisseGültigkeit für die GNU/Linux-Bewegung und ihre Aus-einandersetzung mit den proprietären Software-Giganten,allen voran die Firma Microsoft.

    Allerdings nicht unbedingt in der angegebenen Reihen-folge. Schon als »Micro-Soft« (damals noch in andererSchreibweise) im Jahr 1975 gegründet wurde, hatte sichBill Gates mit der Szene der Hacker auseinander zu setzen,die Software als ein Allgemeingut betrachteten und Pro-gramme mit großer Selbstverständlichkeit untereinanderkopierten. In einem heute berühmten »Offenen Brief andie Hobbyisten« versuchte Bill Gates sich bereits 1976 vondieser Idee abzugrenzen. Er schreibt darin: »Wer kann essich leisten, professionelle Arbeit umsonst zu tun? WelcherHobbyist kann drei Mann-Jahre ins Programmieren steck-en, alle Fehler finden, sein Produkt dokumentieren und esdann umsonst weggeben?«16

    Die Sätze finden sich heute, kommentarlos, auf demUmschlag von Stallmans Biographie.

    Es sollte über zwei Jahrzehnte dauern, bis die Szene derfreien Programmierer wieder auf dem Radarschirm desUnternehmens erschien, das inzwischen zu einem Welt-konzern geworden war. Nach außen hin wurde dasGNU/Linux-Phänomen lange Zeit keiner Erwähnung fürnötig befunden, aber eine Microsoft-interne Studie zeigte,dass man sich sehr wohl damit auseinander setzte. Das Me-

    48

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 48

  • morandum wurde im Oktober 1998 Eric Raymond zuge-spielt, der es unter dem Namen »Halloween-Dokument«veröffentlichte und kommentierte.17

    Die Studie war, wie sich später belegen ließ, tatsächlichfür ranghohe Microsoft-Manager geschrieben worden. DerVerfasser räumte darin ein, dass die Open Source Be-wegung eine reale Bedrohung für den Konzern darstellteund dass die Qualität dieser Software proprietärenProdukten gleichkam oder sie sogar übertraf. Besondersviel Potential habe GNU/Linux dann, wenn die Kom-munikation zwischen Rechnern und Programmen nachunabhängigen, weltweit vereinbarten Standards abliefe. AlsGegenmaßnahme empfahl der Verfasser darum recht un-verhohlen, dass Microsoft seine Marktmacht ausnutzensollte, um solche Standards zu untergraben. Man solltezum Schein auf sie einschwenken, um dann eigene, pro-prietäre Zusätze hineinzubringen, so dass nur noch Micro-soft-Produkte mit diesen erweiterten »Standards« funktio-nieren würden. »De-commoditizing« hieß dieses Vorgehenim Microsoft-Sprachgebrauch. Eine andere Formel, dieebenfalls intern bei Microsoft geprägt und dann von derunabhängigen Fachwelt übernommen wurde, ist sprechen-der: »Embrace, Extend, Extinguish«, also etwa: »Mitma-chen, Erweitern, Auslöschen«.

    Als auf dem Höhepunkt des Dot-com Booms im Jahr2000 die Open Source Idee salonfähig geworden war,musste sich Microsoft auch öffentlich mit der Bewegungauseinander setzen. Unrühmlich in die Geschichte einge-gangen ist die Äußerung von Vizepräsident Jim Allchin,der am 14. Februar 2001 bekanntgab: »Ich bin Amerika-ner, ich glaube an den Amerikanischen Weg. Es erfüllt

    49

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 49

  • mich mit Sorge, wenn die Regierung Open Source Projek-te unterstützt, und ich glaube nicht, dass wir unsere Politi-ker gut genug unterrichtet haben, so dass sie die Bedro-hung verstehen.«18

    Allchin bezog sich darin auf Projekte, in denen Soft-ware für US-amerikanische Behörden oder das Militär aufOpen Source Basis entwickelt wurde, finanziert durchSteuergelder. Mit der »Bedrohung« meinte er offenbar dasCopyleft-Prinzip der GPL, also die Tatsache, dass ein Un-ternehmen GPL-Software nur dann in eigene Produkteeinbauen darf, wenn diese Produkte dann selber unter derGPL veröffentlicht werden.

    Dass Allchin dies als »unamerikanisch« hinzustellenversuchte, löste freilich nur allgemeines Kopfschütteln aus.Im Juni desselben Jahres war es Microsoft-CEO SteveBallmer, der noch einmal nachlegte:

    »Unter dem Gesichtspunkt des intellektuellen Eigen-tums ist Linux ein Krebsgeschwür, das alles infiziert, wo-mit es in Berührung kommt.«19

    In weiten Teilen der Industrie hatte sich jedoch inzwi-schen die Überzeugung durchgesetzt, dass die freie Ver-fügbarkeit des Quelltextes große Vorteile brachte, vor al-lem auf dem Gebiet der Software-Sicherheit. Je mehr un-abhängige Beobachter das Innenleben eines Programmsuntersuchen können, desto größer die Wahrscheinlichkeit,dass auch hartnäckige Fehler und Sicherheitslücken gefun-den werden. Auch das Vertrauen der Benutzer in dieSoftware steigt, wenn sich auf diese Weise belegen lässt,dass die Programme keine versteckten Hintertüren enthal-ten. Gerade dieser letzte Punkt war es, der besonders Re-gierungen und andere öffentliche Stellen zunehmend miss-

    50

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 50

  • trauisch dagegen machte, dass ihre gesamte software-tech-nische Infrastruktur von einer einzigen amerikanischenFirma stammte und man der Software wie einer black boxvertrauen musste.

    Microsoft entschloss sich darum zu einer Art Appease-ment-Politik. In einer groß inszenierten Rede vor der SternSchool of Business an der New York University kündigteMicrosoft-Chefdenker Craig Mundie ein »Shared Source«Programm an, das die genannten Einwände ausräumensollte. Ausgewählte Teile des Windows-Betriebssystemswürden zur öffentlichen Kontrolle freigegeben, wobei sichMicrosoft aber sämtliche Rechte an dem Code vorbehielt.

    Es war das übliche »Angucken, aber nicht Anfassen«.Bruce Perens, einer der Mitbegründer der Open SourceInitiative, setzte sich dafür ein, dass Microsoft eine klareund eindeutige Antwort aus der Szene bekommen würde.Mit viel Diplomatie gelang es ihm, ein Dokument zu ver-fassen, das sowohl von Richard Stallman als auch EricRaymond, Linus Torvalds und noch einigen anderenunterschrieben wurde. Es heißt darin:

    »Wir verbuchen einen neuen Triumph für Open Sourceund Freie Software: Wir sind ein so ernsthafter Konkurrentfür Microsoft geworden, dass ihre Manager öffentlichbekanntgeben, dass sie Angst haben. Die einzige Bedro-hung, die wir für Microsoft darstellen, ist jedoch das Endeder monopolistischen Geschäftspraktiken. Microsoft isteingeladen, sich als ein gleichberechtigter Partner zu betei-ligen, eine Rolle, in der sich heute viele befinden, vonIndividuen bis hin zu transnationalen Unternehmen wieIBM und HP. Gleichberechtigung ist aber nicht das, wo-nach Microsoft sucht [...] Sie hoffen, den Nutzen der Frei-

    51

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 51

  • en Software zu bekommen, ohne diesen Nutzen mit denenzu teilen, die daran mitarbeiten, ihn herzustellen. [...] Mi-crosoft, es ist Zeit, mit uns zusammenzuarbeiten.«20

    Der Kampf um den Desktop

    Als sogenanntes Desktop-System, also bei Arbeitsplatz-rechnern und privaten Computern, hat GNU/Linux zwaran Einfluss gewonnen, aber sich noch nicht nennenswertdurchsetzen können. Studien, die zum Beispiel auf Be-sucherzahlen bei bestimmten Websites beruhen, sehen dasBetriebssystem seit mehreren Jahren relativ konstant beieinem weltweiten Benutzeranteil von 3% – fast derselbeWert, den auch MacOS von Apple erreicht, während dieübrigen 94% auf Windows entfallen. Zwar sind solche Sta-tistiken immer mit viel Vorsicht zu genießen, aber unbe-stritten dürfte zumindest die Aussage sein, dass sowohlGNU/Linux als auch MacOS im einstelligen Prozent-bereich liegen, und Microsoft nahe bei 90%.

    Der Grund für diese ungebrochene Microsoft-Domi-nanz dürfte vor allem in der Monopol-Politik des Kon-zerns liegen. Hersteller, die Windows mit ihren PCs auslie-fern wollen, werden von Microsoft dazu verpflichtet, aus-schließlich Windows anzubieten (einschließlich des Aufkle-bers »Designed for Windows« auf dem Gehäuse). Das Be-triebssystem, das mit 50-100 Euro im Endpreis zu Bucheschlägt, ist also aus Sicht der Kunden integraler Bestandteildes Geräts.

    Die so erreichte Markt-Dominanz erhält sich dannselbst aufrecht: Hersteller von Peripheriegeräten wie

    52

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 52

  • Druckern oder Grafik-Karten betrachten ihre Arbeit oft alserledigt, wenn sie ihrem Produkt eine CD-ROM miteinem Windows-Treiber beilegen können. Das wäre nochnicht weiter tragisch, da die freie Programmierer-Szene inder Regel sehr schnell bei der Hand ist, entsprechendeTreiber für GNU/Linux-Systeme zu bauen. Möglich ist dasallerdings nur, wenn der Hersteller die Spezifikation seinesProduktes offen legt, so dass die freien ProgrammiererZugang zu den technischen Details haben. Gerade dashaben viele große Hersteller in der Vergangenheit immerwieder mit den erstaunlichsten Argumenten verweigert.Erst langsam beginnen die Firmen zu begreifen, dassGNU/Linux-Treiber (die sie oft noch nicht einmal selberentwickeln müssen) ihrem Geschäft eher förderlich sind alsschaden. In der Praxis werden heute alle gängigen PC-Komponenten von GNU/Linux unterstützt; Problemegibt es nur noch gelegentlich bei sehr neuen Entwick-lungen, die erst seit wenigen Wochen oder Monaten aufdem Markt sind und deren Hersteller nicht mit der freienEntwickler-Szene zusammenarbeiten.

    Ein weiterer Grund für die Microsoft-Dominanz aufdem Desktop sind schließlich die proprietären Datei-formate, allen voran das der Textverarbeitung Word. DieStruktur solcher .doc-Dateien ist hoch komplex und wirdvon Microsoft nicht offiziell bekannt gegeben – zum Teilwohl deshalb, weil das Unternehmen selber nicht über einevollständige Spezifikation des Formates verfügt. Faktischist es allein dadurch definiert, dass das Programm MicrosoftWord, ein über Jahrzehnte gewachsener Moloch aus Millio-nen Programmzeilen, solche Dateien lesen und schreibenkann. Es hat darum lange Jahre gedauert, bis freie Pro-

    53

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 53

  • grammierer das Format durch Ausprobieren so weit analy-siert hatten, dass sie ihre eigenen Textverarbeitungspro-gramme damit kompatibel machen konnten.

    Technische Gründe, warum die Benutzer, insbesonde-re Laien, auf Windows angewiesen wären, werden darumzusehends bedeutungslos. Die grafischen Oberflächen mo-derner GNU/Linux-Systeme, basierend auf GNOMEoder KDE, sind der von Microsoft Windows äquivalentund entsprechend intuitiv zu bedienen. Für das, was diemeisten Benutzer üblicherweise mit ihren Rechnern tun –Surfen im Web, E-Mail, Chat sowie das Verfassen vonTexten – gibt es entsprechende Anwendungssoftware, dieder unter Windows mindestens ebenbürtig ist: Der Web-Browser Firefox, die E-Mail-Programme Thunderbird oderEvolution, der Instant Messenger Gaim sowie der Office-Suite OpenOffice.org, der von Textverarbeitung über Ta-bellenkalkulation bis zu Präsentationssoftware alle Kom-ponenten enthält, die Microsoft Office ebenfalls anbietet,und zudem in der Lage ist, Dateien auch in den Micro-soft-Formaten zu lesen und zu erzeugen.

    Auch jenseits dieser Standard-Programme gibt es kaumeine Aufgabe, für die nicht entsprechende Freie Softwareexistierte, sei das Bildbearbeitung, Finanzbuchhaltung,Videoschnitt, 3D-Modellierung oder Astronomie.

    Eine veränderte Welt

    Die Schwierigkeiten, Microsoft die Monopolstellung aufdem Desktop-Markt streitig zu machen, dürfen nicht dar-über hinwegtäuschen, dass sich die Software-Industrie

    54

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 54

  • durch die Ideen von Freier Software und Open Sourcelängst grundlegend gewandelt hat. Es sind vor allem dieComputer hinter den Kulissen, zum Beispiel bei Bankenund Versicherungen, aber auch die Server des World WideWeb, die inzwischen zu einem signifikanten Anteil mitFreier Software funktionieren. So werden seit einigenJahren schon mehr als 60% aller Websites durch den freienWebserver Apache realisiert. In der Szene der Web-Anbieterhat sich inzwischen das Kürzel »LAMP« etabliert, was für»Linux, Apache, MySQL, Perl« steht und die typischeTechnologiepalette bezeichnet, mit der viele Websites pro-grammiert werden. Alle diese Komponenten sind FreieSoftware.

    Auch wenn es um ganze Betriebssysteme geht, ist dasproprietäre Modell auf dem Rückzug. Die Firma Sun Mi-crosystems, derzeit Marktführer bei kommerziellen Unix-Systemen, hat im Jahr 2006 ihr komplettes BetriebssystemSolaris unter einer Open Source Lizenz veröffentlicht, umdie Vorteile des offenen Entwicklungsprozesses zu nutzen(ihren Umsatz erzielt die Firma Sun vornehmlich durchden Verkauf von Hardware und durch Support-Verträgemit großen Kunden, nicht aber durch die Lizenzierungvon Software). Auch Apple, neben GNU/Linux der einzi-ge Konkurrent für Microsoft auf dem Desktop-Markt, hatzumindest das Fundament des Betriebssystems MacOSdurch Freie Software ersetzt, nämlich durch das nicht ganzso weit verbreitete, aber »liberal« lizenzierte BSD-Unix.Auch mehrere wichtige Anwendungsprogramme auf demMacintosh, zum Beispiel der Web-Browser Safari, stam-men inzwischen aus freien Projekten und werden vonApple in Zusammenarbeit mit der Szene weiterentwickelt.

    55

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 55

  • Lediglich das »Kronjuwel« des Apple-Betriebssystems, diehochwertige grafische Oberfläche, ist nach wie vor ein pro-prietäres Produkt.

    Zumindest was die öffentliche Inszenierung betrifft, istes jedoch der Branchenriese IBM gewesen, der die viel-leicht deutlichste Hinwendung zu Freier Software undOpen Source vollzogen hat. Im Januar 2001 erklärte IBM-Präsident Sam Palmisano das GNU/Linux-System zurReferenzplattform für alle zukünftigen Entwicklungen desKonzerns.21 Man habe eingehende strategische Debattengeführt und sei zu dem Schluss gekommen, dass IBM nurdurch Zusammenarbeit mit der weltweiten Programmie-rer-Szene in der Lage sein würde, den Herausforderungender Zukunft zu begegnen. In der Folge investierte IBMdreistellige Millionenbeträge in den Aufbau entsprechen-den Know-hows innerhalb des Konzerns sowie in dieUmstellung der meisten eigenen Software-Produktlinien,um sie unter GNU/Linux einsetzen zu können. IBM trittseither oft als Service-Dienstleister auf, der seinen Kundendas freie Betriebssystem »verkauft« – und zwar nicht dieSoftware selbst, sondern das entsprechende Know-howund die technische Unterstützung. Ein prominentesBeispiel dafür sind die IT-Infrastrukturen mehrerer großerUnternehmen an der New Yorker Wallstreet, die unter derLeitung von IBM auf GNU/Linux umgestellt wurden.Manche IBM-Programmierer werden von dem Konzernauch dafür bezahlt, in freien Projekten mitzuarbeiten, undzwar natürlich in solchen, an denen das Unternehmen einbesonderes Interesse hat.

    Obwohl IBM also mit einiger Überzeugungskraft als»Partner der Szene« auftritt, sind die Ziele und Geschäfts-

    56

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 56

  • modelle des Konzerns keineswegs mit denen der Bewegungdeckungsgleich. Nach wie vor sind fast alle Software-Produkte, die IBM herstellt, proprietär und müssen vomKunden mit sehr hohen Lizenzgebühren bezahlt werden –auch dann, wenn IBM sich relativ unverhohlen bei freienProjekten, die permissiv lizenziert sind, »bedient«, alsoSoftware aus dem freien Technologie-Pool abschöpft undin eigene Produkte einbaut, die dann proprietär, also ohneQuelltext, an die Kunden verkauft werden. Aus genau die-sem Grund verwendet IBM in der Regel auch keinenCode, der unter der GPL lizenziert ist, weil das Copyleft-Prinzip genau dieses Vorgehen verbieten würde.

    Auch andere Aspekte der Firmenpolitik von IBM ste-hen im Widerspruch zu Überzeugungen in der Szene. Da-zu gehört beispielsweise das Engagement des Konzerns füreine neue Generation von Kopierschutztechniken, von de-nen in späteren Kapiteln dieses Buches die Rede sein wird.

    Sei nicht böse

    Ein anderer Konzern, der seinem Image zufolge eigentlichdas Zeug zu einem Partner der Szene haben sollte, glänztbislang durch eine fast auffällige Abwesenheit: Google.

    »Don’t be evil« – »sei nicht böse« war das Motto, mitdem Larry Page und Sergey Brin im Jahr 1996 ihr Unter-nehmen gründeten. Wegen der Unaufdringlichkeit seinerSuchmaschine schnell zum meistbesuchten Site des WorldWide Web aufgestiegen, besitzt Google heute eine weltweitverteilte Infrastruktur von mehreren zehntausend Com-putern. Alle diese Computer laufen unter GNU/Linux –

    57

    MSB Spiegel Befreiung.qxd 26.07.2006 18:56 Seite 57

  • die technischen Einzelheiten sind jedoch geheim. Darinbesteht denn auch der Hauptkritikpunkt der Freien Soft-ware Bewegung an dem Unternehmen, nämlich dass derKonzern zwar von den Errungenschaften der Szene profi-tiert, aber nur sehr wenig an sie zurückgegeben hat. Auchdie Anwendungsprogramme, die Google in den letztenJahren mit erstaunlicher Produktivität und Innovations-kraft auf den Markt bringt (Google Mail, Google Desktop,Google Earth, um nur einige zu nennen) sind allesamt pro-prietäre Software, deren Quelltext nicht offen gelegt wird.Und es gibt noch einen weiteren Bereich, in dem Googlekeineswegs mit den Überzeugungen der Szene konformgeht, so wie übrigens auch der IBM-Konzern nicht: dieFrage der Patentierbarkeit von Software.

    Der patentierte Mausclick

    Es ist der Albtraum jedes unabhängigen Programmierers,dass ihm aus heiterem Himmel ein Brief auf den Tisch flat-tert, der ihn davon in Kenntnis setzt, dass seine Softwareein obskures Patent verletzt, von dem er nie etwas gehörthat, und ihm daher ein Prozess oder exorbitante Lizenz-gebühren drohen. Ein solcher Fall ereignete sich im Jahr1994, als die Firma Unisys überraschend bekanntgab, einPatent auf das weit verbreitete Grafikformat GIF (GraphicsInterchange Format) zu besitzen.22 Für Programme, dieGIF-Bilder herstellen konnten, muss