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Dr. Hans-Jürgen Wagner, Pädagogische Hochschule Ludwigsburg Mündigkeit im und durch Sportunterricht „Erziehung zur Mündigkeit“ ist ein zentrales und zeitloses Bildungsziel. In fast allen Lehr- und Bildungsplänen der Bundesrepublik ist es als übergeordnetes Erziehungsziel ausgewiesen und wird somit wohl zum Ziel eines jeden Bildungsprozesses. Die Grundannahme ist die, dass die Erziehung zur Mündigkeit ein notwendiger Bestandteil in einer Demokratie ist (vgl. z.B. Adorno, 1971 oder Borst, 2009). „Mündig ist ein Mensch dann, wenn er sich eingedenk der gesellschaftlichen Determination seiner selbst bewusst und in der Lage ist, ein Wissen über die historisch-gesellschaftlichen Bedingungen zu entwickeln, diese zu kritisieren und ggf. Positionen gegen unterdrückende und diskriminierende Strukturen zu beziehen“, so Heydorn (2004, S. 12). Mündigkeit bedeutet demnach die konsequente Aufklärung über das, was die Determination vorantreibt und Selbstbestimmung verhindert. In diesem Zusammenhang ist dann die Frage zu stellen, welche Vorgehensweisen bzw. Me- thoden im (Sport)unterricht den Mündigkeitsprozess verhindern bzw. behindern? Die fachdidaktische Grundlegung des Sportunterrichts an allgemeinbildenden Schulen hat prinzipiell zwei zu verbindende Ausrichtungen: 1. Anthropologischer Zugang: Das Individuum soll auf der Grundlage von Bewegungshandeln eigene Möglichkeiten erken- nen und den eigenen Körper mit entsprechenden Bewegungen als etwas Positives erleben. Diese Art der Wahrnehmung ist als ein Akt des umfassenden Spürens zu verstehen: Aus der Flut von Eindrücken kristallisieren sich jene heraus, die für das Individuum von Bedeutung sind.

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Dr. Hans-Jürgen Wagner, Pädagogische Hochschule Ludwigsburg

Mündigkeit im und durch Sportunterricht

„Erziehung zur Mündigkeit“ ist ein zentrales und zeitloses Bildungsziel. In fast allen Lehr-

und Bildungsplänen der Bundesrepublik ist es als übergeordnetes Erziehungsziel ausgewiesen

und wird somit wohl zum Ziel eines jeden Bildungsprozesses. Die Grundannahme ist die,

dass die Erziehung zur Mündigkeit ein notwendiger Bestandteil in einer Demokratie ist (vgl.

z.B. Adorno, 1971 oder Borst, 2009).

„Mündig ist ein Mensch dann, wenn er sich eingedenk der gesellschaftlichen Determination

seiner selbst bewusst und in der Lage ist, ein Wissen über die historisch-gesellschaftlichen

Bedingungen zu entwickeln, diese zu kritisieren und ggf. Positionen gegen unterdrückende

und diskriminierende Strukturen zu beziehen“, so Heydorn (2004, S. 12).

Mündigkeit bedeutet demnach die konsequente Aufklärung über das, was die Determination

vorantreibt und Selbstbestimmung verhindert.

In diesem Zusammenhang ist dann die Frage zu stellen, welche Vorgehensweisen bzw. Me-

thoden im (Sport)unterricht den Mündigkeitsprozess verhindern bzw. behindern?

Die fachdidaktische Grundlegung des Sportunterrichts an allgemeinbildenden Schulen hat

prinzipiell zwei zu verbindende Ausrichtungen:

1. Anthropologischer Zugang:

Das Individuum soll auf der Grundlage von Bewegungshandeln eigene Möglichkeiten erken-

nen und den eigenen Körper mit entsprechenden Bewegungen als etwas Positives erleben.

Diese Art der Wahrnehmung ist als ein Akt des umfassenden Spürens zu verstehen: Aus der

Flut von Eindrücken kristallisieren sich jene heraus, die für das Individuum von Bedeutung

sind.

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In Anlehnung an das berühmte Zitat von J.J. Rousseau (1712 – 1778) - Ein gut entwickelter

Verstand, nicht ein voller Kopf, ist das Ziel der Erziehung – könnte man aus anthropologi-

scher Perspektive sagen: Ein gut entwickeltes Körpergefühl und eine positive Einstellung zum

eigenen Körper und zu individuellen Bewegungsmöglichkeiten, nicht die perfekte Realisie-

rung von Norm-Bewegungen, ist das Ziel der Erziehung im Sportunterricht.

2. Soziokultureller Zugang:

Das Individuum soll mit Sport als Kulturgut vertraut werden sowie konstruktiv und kritisch

damit umgehen können.

Allgemein ist die Frage zu stellen, wie Sport, Spiel und Bewegung zu gestalten sind, dass

sich der Mensch als Subjekt zu einem mündigen Menschen entwickeln kann.

In der fachdidaktischen Literatur des Sports gibt es Arbeiten, die sowohl eine „Erziehung zur

Mündigkeit“ realisieren (vgl. z.B. Bietz, 2001, Loibl, 2001, Landau, 2003 oder Wagner,

2010) als auch welche, die diese erschweren oder gar verhindern (vgl. z.B. Saile und Vollmer

2008). Fritsch und Maraun haben letzteren Sachverhalt bereits 1992 sehr überzeugend darge-

stellt.

Von einer entmündigenden oder behindernden (sport)pädagogischen Maßnahme ist dann zu

sprechen, wenn die Handlungsmöglichkeit (… und somit die Reflexionsfähigkeit …) des In-

dividuums so eingeschränkt ist, dass es das zu lösende Bewegungsproblem (z.B. einen Treffer

durch einen Korbleger erzielen) nicht eigenständig in seiner Ganzheit lösen kann.

Das Individuum wird an der Lösung des Bewegungsproblems insofern behindert (z.B. durch

einen bestimmten Geräteaufbau), als eine selbständige Auseinandersetzung nicht möglich ist.

Die folgenden Abbildungen aus Kittsteiner und Hilbert (2011) sollen am Beispiel Volleyball

verdeutlichen, was unter „Behindernde Aufgabenstellungen“ gemeint ist (S. 39 oben links, S.43

oben rechts, S. 44 unten): die Schüler und Schülerinnen haben durch diese methodische Maßnahme

kaum die Möglichkeit ihren eigenen Weg zu finden …Alles ist genau geregelt und gut organisiert –

die Schüler können die „richtige“ Ausführung der Bewegung kaum verhindern ..:

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Literatur:

Adorno, T. W. (1971). Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt: Suhrkamp. Bietz, J. (2001). Handball spielend entwickeln. Ein genetisches Vermittlungskonzept Sport-

pädagogik, 4 , S. 15-17. Borst, E. (2009). Theorie der Bildung. Eine Einführung. Hohengehren: Schneider. Fritsch, U. & Maraun, H.-K. (1992). Über die Behinderung von Lernen durch Lehrhilfen.

Sportunterricht, 41 (1), S. 36 – 43. Heydorn, H.-J. (2004). Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft. Wetzlar: Verlag

Büchse der Pandora. Kittsteiner, J. & Hilbert, G. (2011). Spielend Volleyball lernen. 22 Stundenbilder für Schule

und Verein. Wiebelsheim: Limpert Landau G. (2003). Lernwege beweglich halten – genetisch lehren. In Bach, J. & Sickmann, H.

(Hrsg.), Bewegung im Dialog (S.53 - 59). Velber: Selze. Loibl, J. (2001). Basketball. Genetisches Lehren und Lernen. Spielen – erfinden – erleben -

verstehen. Schorndorf: Hofmann. Pongratz, L. A. (2010). Sackgassen der Bildung. Pädagogik anders denken. Paderborn: Schö-

nigh. Saile, H. & Vollmer, B. (2008). Doppelstunde Volleyball. Schorndorf: Hofmann. Wagner, H.-J. (2010). Genetisches Lehren und Lernen als Möglichkeit zur Vermittlung des

Volleyballspiels in der (Grund)schule. In K. Langolf & R. Roth (Hrsg.), Volleyball inter-national in Forschung und Lehre 2009, 34. Internationales Hochschul-Symposium des Deutschen Volleyball-Verbandes 2009, (S. 103 – 116). Hamburg: Feldhaus.

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