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Musikstunde: Sergej Prokofjew

Teil 1

Moskau, 5.Mäz 1953, ein Riesenreich im Schockzustand: Stalin, der Generalissimus der

Sowjetunion, der „Vater aller Völker“ der große Sieger des vaterländischen Kriegs ist tot.

Ein Schlaganfall hat ihn zwei Tage zuvor hingestreckt. Und auch wenn da, beim Anblick

des scheinbar Leblosen sein Geheimdienstchef etwas verfrüht jubelt „Er ist tot, der

Tyrann ist tot“, sterben wird der Diktator, der Schlächter, der Wahnsinnige erst an jenem

5. März, morgen vor genau 60 Jahren. Warum Hunderttausende ihm die letzte Ehre

erweisen, beim Anblick seiner aufgebahrten Leiche in Tränen ausbrechen, warum in

Moskaus Straßen größte Verzweiflung herrscht, Panik und Hysterie, das gehört wohl zu

den ewigen Rätseln der menschlichen Geschichte.

Tragisch an diesem nationalen Ereignis aber ist auch, dass der Tod eines anderen

wichtigen Bürgers der Sowjetunion dabei fast unbemerkt bleibt. Denn ebenfalls am 5.

März, fast zur gleichen Stunde stirbt auch der Komponist Sergej Prokofjew. Er, der

zuletzt unter dem Stalin-Regime nur noch leidet, verfolgt wird, gedemütigt, gemaßregelt,

aber auch ausgezeichnet, hofiert, ganz nach Lust und Laune der staatlichen Zensur.

Bis in seinen Tod hinein zieht Prokofjew gegen Stalin den Kürzeren. Während das Grab

des Diktators in einem Meer von Kränzen versinkt, liegen auf Prokofjews Sarg nur ein

paar Grünpflanzen von der Nachbarin, in ganz Moskau sind alle Blumen ausverkauft.

Eine der wichtigsten künstlerischen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, einen der

großartigsten Komponisten der Moderne begleiten auf seinem letzten Weg durch die

abgesperrten Straßen nur eine Handvoll Menschen. In den Zeitungen kein Wort über

Prokofjew, kein Nachruf, keine Würdigung. Nur das Ausland reagiert, „einen

Komponisten voller Vitalität, voller Fröhlichkeit und Kühnheit“ nennt ihn Benjamin Britten,

„Mit tiefer Trauer rufe ich ihn an“, so Darius Milhaud, „den großen blonden Jungen, den

wunderbaren Pianisten, den Komponisten von eigenstarker Art“.

2‘00

Musik 1: Prokofjew: Menuett aus „Verlobung im Kloster“ 2‘43 M0017076 010

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Das Menuett aus der Suite zur Prokofjews Oper „Die Verlobung im Kloster“ mit dem

Philharmonia Orchestra London unter Neeme Järvi.

Der Werdegang dieser Oper ist symptomatisch für Prokofjews Kampf mit der

sowjetischen Kulturbehörde. Geschrieben wird diese leichtfüßig-lyrische Komödie mitten

im Krieg 1941, als Gegenprogramm zum alltäglichen Wahnsinn. Bejubelt bei ihrer

Uraufführung 1946 gerät sie dann zwei Jahre später wieder auf den Index.

„Ich muss sagen“, mäkelt der oberste Kulturbolschewik Shdanow, „wenn man das hört,

erinnert einen das an einen durchdringenden Straßenbohrer oder an eine musikalische

Gaskammer.“

Aber diese Geschmacklosigkeiten sind noch nicht das letzte Kapitel im Wechselbad

zwischen Anerkennung und Angriff des Regimes. Kurz danach geht es für mal wieder

bergauf für Prokofjew, zuletzt, kurz vor seinem überraschenden Tod gerät er ohne

erkennbaren Grund wieder ins Visier.

Und wie geht der Komponist damit um? Um sich und seine Arbeit zu schützen, aus Sorge

um Aufführungsmöglichkeiten seiner Werke und schlichtweg aus Angst um sein Leben,

gibt Sergej Prokofjew nach, ist bereit zu stilistischen und formalen Konzessionen.

Seine letzten Jahre sind geprägt vom ewigen Kampf zwischen eigenen künstlerischen

Ansprüchen und den Vorgaben des Regimes. Die heißen Einfachheit, Verständlichkeit,

Melodik, Volksnähe.

Soweit er es vor sich selbst verantworten kann integriert Prokofjew das also in seinen

Stil. Der ist sowieso schon denkbar vielseitig, eben so, wie auch die Zeit, in der lebt:

Zarenreich, Revolution, Sowjetunion, dazwischen, die aufregenden 20er Jahre in Europa,

Im- und Expressionismus, Moderne, Neoklassik, Realismus.

Trotzdem gilt von Anfang an, was schon 1920 der russische Komponist Boris Assafjew

weiß: „Es ist einfach unmöglich, Prokofjews Musik nicht sogleich als solche zu erkennen,

und von der anderer Komponisten zu unterscheiden. Sie ist scharf zupackend, herb,

ausgesprochen zügig und stürmisch vorwärts drängend. Das ist eine Musik der

Bewegung, eine Musik, die keine Ermüdung kennt.“

2‘10

Musik 2: Prokofjew: 1. Satz aus der Klaviersonate Nr.1 6‘50 M0023286 001

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Das erste gedruckte Werk von Sergej Prokofjew, aus dem Jahr 1909, sein Opus 1, eine

Klaviersonate in f-Moll, zusammengestückelt aus mehreren ganz frühen Werken, hier der

1. Satz, gespielt von Bernd Glemser.

Bei der Uraufführung sitzt Prokofjew selbst am Klavier, im kleinen Konzertsaal des

Moskauer Konservatoriums. Er ist 18 Jahre alt, zwar immer noch Student in St.

Petersburg, aber als Komponist alles andere als ein Anfänger. Vier Opern, zwei Sinfonien

und unzählige Klavierstücke hat er bis dahin schon komponiert. Aber noch nichts ist im

Druck erschienen, er schreibt es für sich und seine Lehrer und die bringt der Frühreife mit

seinen ungewöhnlichen musikalischen Ideen schon manchmal zur Weißglut.

Ihn stört das nicht, Sergej Prokofjew strotzt nur so vor Selbstbewusstsein. Er wächst auf

als verätscheltes Einzelkind auf dem Lande, in der Ukraine. Sein Vater ist hier

Gutsverwalter, seine Mutter eine sozial engagierte, sehr gebildete und hoch musikalische

Amateurpianistin. Sie entdeckt das Talent ihres geliebten Serjoscha und sie sorgt dafür,

dass der kleine Liebling die denkbar beste Ausbildung bekommt.

Zuerst bei ihr, dann ab 1904 am St. Petersburger Konservatorium. Das komplette

Familienleben dreht sich ab diesem Moment nur noch um den dreizehnjährigen Jungstar.

Die Mutter Maria Grigorjewna zieht mit dem Söhnchen in die Hauptstadt, der Vater bleibt

schweren Herzens allein zurück.

Hier, in der russischen Talentschmiede an der Newa wartet auf den verwöhnten

Halbwüchsigen erst mal der zermürbend trockene Theorieunterricht von Anatol Ljadow.

Man müsse erst mal die Klassiker beherrschen bevor man etwas Neues erfindet

verkündet er seinem genervten Schüler. Und wenn der mal wieder die Regeln des

Kontrapunkts und der Fugentechnik missachtet und ihn statt dessen mit eigenen

„Schmierereien“ traktiert, fragt ihn Ljadow mit giftigem Blick: „ich weiß nicht, warum Sie zu

mir kommen, gehen Sie doch zu Richard Strauss oder Debussy“, und das so Prokofjew,

„bedeutete ungefähr dasselbe wie: „gehen Sie doch zum Teufel!“

2‘10

Musik 3: Ljadow: „Koljada“ 1‘22 M0034365 (1’38-3’00)

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„Koljada“ aus den Russischen Volksliedern op.58 von Anatol Ljadow, bei ihm erhält der

junge Sergej Prokofjew den etwas ungeliebten Theorieunterricht am St. Petersburger

Konservatorium, es spielte das Slowakische Orchester Bratislava unter Michael Halász.

Was für ein Mensch ist dieser hochbegabte vierzehnjährige Jungstudent an Russland

wichtigster musikalischer Talentschmiede? Auf jeden Fall hochintelligent, sehr

selbstbewusst und neben aller geistigen Freiheit, die er sich erlaubt auch gewissenhaft,

etwas zu gewissenhaft vielleicht, wenn man diese Notiz in seinem Tagebuch liest: „Meine

Harmonielehre-Übungen waren wahrscheinlich die besten, die heute im Unterricht

abgegeben wurden. Ich habe damit begonnen eine Statistik über die Fehler im Unterricht

zu führen. Nur schade, dass ich nicht früher daran gedacht habe. Aber erstens kannte ich

damals noch nicht alle Studenten und zweitens ist es mir nie eingefallen. Jedenfalls

werde ich nächstes Jahr von Anfang an eine genaue Liste über alle Fehler im

Kontrapunkt führen.“

Man kann sich denken, dass der junge Prokofjew unter seinen Kommilitonen nicht

gerade das Rennen macht im Wettbewerb: wer ist der Beliebteste?

Aber es scheint ihn nicht zu stören und es passt zu dem, was auch später immer wieder

über Prokofjew berichtete ist. Er ist gerade heraus, sehr offen, verstellt sich nicht, neigt

oft zu etwas undiplomatischem Verhalten und kann verletzen ohne es zu wollen. Aber

schon am Konservatorium gilt er, nicht zuletzt durch seine außergewöhnliche Begabung

als etwas Besonderes.

Seine Lehrer jedenfalls haben keinen leichten Stand bei ihm, mit vielen ist er unzufrieden,

und weiß sie erst viel später zu schätzen, vor allem die graue Eminenz der Lehranstalt,

den altehrwürdigen Rimskij Korsakow. "Mein Mangel an Respekt für seine Lehrmethode

hinderte mich nicht daran seine Musik zu bewundern", bekennt Prokofjew, "1907 nahm

ich teil an der Aufführung eines seiner Werke und applaudierte, bis mir die Hände

schmerzten“.

2‘10 Musik 4: Rimski-Korsakow: Tanz der Vögel 3‘08 M0021297 014

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Schon zu Lebzeiten eine legendäre Gestalt im russischen Musikleben und in St.

Petersburg einige Jahre lang der Lehrer von Sergej Prokofjew, Nicolai Rimskij-

Korsakow, hier spielte das Rundfunkorchester Berlin unter Michail Jurowski den „Tanz

der Vögel“ aus seiner Suite Snegurotschka.

St. Petersburg Anfang des 20. Jahrhunderts, obwohl am äußersten westlichen Rand

gelegen ist es der Mittelpunkt des Riesenreichs Russlands und zwar in jeder Hinsicht.

Kulturell und politisch. Hier lebt die künstlerische Avantgarde, hier hört man Debussy,

Ravel, Reger und Schönberg, hier treffen sich Symbolisten und Futuristen, hier

philosophiert und debattiert die geistige Elite, hier formieren sich die ersten Revolutionäre

und hier werden sie am legendären Blutsonntag grausam niedergemetzelt.

Das alles spüren auch die Musikstudenten im Konservatorium. Die Atmosphäre ist

aufgeladen, hitzig. Immer mehr taucht der junge Prokofjew ein in das energiegeladene

Kulturleben der Stadt, auch mit eigenen Werken. Und er hat Erfolg, seine Musik hat es

etwas Neuartiges, noch nie gehörtes, sie ist kraftvoll, wild, voll ungezügelter Phantasie

und manchmal sogar diabolisch.

1‘15 Musik 5: Prokofjew: Suggestion diabolique 2‘40

M0017086 009

Seine Suggestion diabolique macht den jungen Prokofjew in Russland mit einem Schlag

bekannt.

Hier gespielt von Andrej Gawrilow.

Man rechnet Prokofjew jetzt zum äußersten Flügel der Modernisten, sieht in ihm das

Enfant terrible des russischen Musiklebens und er nimmt die Rolle gerne an.

Wie im Rausch komponiert er neue Werke, immer öfter auch sinfonische und genießt den

Jubel des avantgardistischen Publikums und die Verachtung der Traditionalisten.

Sein 2. Klavierkonzert, mit ihm selbst am Flügel verursacht sogar einen handfesten

Skandal, die bestmögliche Variante einer Uraufführung. Die Presse liefert ihm neben

Begeisterung „welche Jugendfrische, welch ein Temperament!“ auch den gewünschten

Verriss, samt bissigem Spott: „Auf der Bühne erschien ein Jüngling, der aussah wie ein

Gymnasiast. Es war Sergej Prokofjew“, so der Kritiker, „er setzte sich an den Flügel und

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beginnt die Tasten abzuwischen und mal zu probieren welche höher und welche tiefer

klingen und das mit einem spitzen, trockenen Anschlag. Das Publikum ist befremdet.

Einige sind erregt, andere stehen auf und stürzen zum Ausgang, rufen: von solcher

Musik wird man irrsinnig. Der Saal leert sich. Mit einem erbarmungslos dissonierenden

Akkord bricht das Konzert ab!“

1‘20

Musik 6: Prokofjew: 3.Satz aus dem 2.Klavierkonzert 2'23 M0132452 002

Jewgenij Kissin mit dem 3. Satz Intermezzo aus dem 2. Klavierkonzert in g-Moll von

Sergej Prokofjew, zusammen mit dem Philharmonia Orchestra London unter Vladimir

Ashkenazy.

1914, zu seinem fulminanten Abschlussexamen am Konservatorium spendiert

Prokofjews Mutter ihrem Sohn eine Reise nach Europa. Er entscheidet sich für London.

In Paris war er schon mal und außerdem winkt an der Themse eine spannende Saison. .

Vor allem gastieren hier gerade einer der spektakulärsten Musikunternehmer, den es in

Europa zu dieser Zeit gibt. Ebenfalls ein Russe, jetzt ansässig in Paris und hier gefeiert

als die personifizierte Avantgarde: Sergej Diaghilew.

Mit seinen berühmten Ballet Russes verzaubert er gerade das englische Publikum und ist

wie immer auf der Suche nach neuen Talenten. Am liebsten nach russischen.

Ein junger Wilder wie Prokofjew kommt ihm da gerade recht.

Prokofjew fühlt sich geschmeichelt von dem Interesse des Impresarios und erzählt

beflissen von seinen künstlerischen Plänen. Eine Oper soll es sein, nach Dostojewskis

Roman „Der Spieler“. Diaghilew winkt ab, "Oper ist passé", erklärt dem jungen

Komponisten, "die Zukunft gehört dem Ballett. Schreiben Sie für mich ein Ballett, am

besten nach einem russischen Märchenstoff oder einem vorgeschichtlichen Sujet“.

Diaghilew hat auch schon gleich einen Autor für ihn parat, einen gewissen Sergej

Gorodetzky. Mit ihm zusammen entwickelt Prokofjew die Geschichte. Sie spielt in

Russlands frühem Mittelalter, in der Zeit der Skythen, mit Sonnenkult, Mondjungfrauen

und altslawischen Göttergestalten, Titel „Ala und Lolli“.

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Als Prokofjew stolz sein neues Werk präsentiert ist Diaghilew enttäuscht. Es findet es

nicht originell genug, obwohl Prokofjew alles an barbarischen Klanggemälden auffährt,

was ihm möglich ist. Aber Diaghilew, gnadenlos, mit untrüglichem Gespür für Qualität

sieht die Mängel. "In der Kunst musst du verstehen zu hassen, sonst verliert deine Musik

an Individualität“. „Aber das führt doch zu einer Verengung!“ wehrt sich der junge

Komponist, woraufhin Diaghilew kontert „Die Kanone schießt weit, weil sie sich nicht

zerstreut!“.

Prokofjew wird er sich erziehen zu einem der großartigsten Komponisten für seine

Balletttruppe. Die abgewiesene Partitur von Ala und Lolli aber gibt Prokofjew nicht auf.

Wenn Diaghilew darin kein Ballett sieht heißt das für ihn noch lange nicht, dass es

schlechte Musik ist. Er bearbeitet sie zu einer viersätzigen, seiner Skythischen Suite und

verschafft sich bei Uraufführung 1916 damit mal wieder einen seiner gelungensten

Skandale. Entrüstung und Enthusiasmus, Tumult und Jubel halten sich die Waage: „Der

Mann an der Pauke hatte das ganze Fell seines Instruments zerschlagen“ frohlockt

Prokofjew „und der Veranstalter versprach es mir zuzuschicken.“

2'50 Musik 7: Prokofjew: 2.Satz aus der Skythischen Suite 3‘15 M0315400 006

Energische Rhythmen, harte, kraftvolle Klänge von acht Hörnern und vier Posaunen,

wilde exstatische Musik, das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter

Kirill Karabits mit „Gott Tschusbhog und der Tanz der Geister“, dem 2. Satz aus der

Skythischen Suite von Sergej Prokofjew.

Aber Prokofjew kann auch anders, nur kurze Zeit später zeigt sich ein ganz anderer Stil,

ein weicher Lyrismus von warmer Poesie. Prokofjew vertont fünf Gedichte von Anna

Achmatowa und nennt sie Romanzen. Gerade in dieser Phase seiner künstlerischen

Selbstfindung, als ausgemachtes Enfant Terrible der russischen Musikszene pocht

Prokofjew auf seine Vielseitigkeit. „lange Zeit hat man mir überhaupt die Fähigkeit zum

Lyrischen abgesprochen“, äußert er sich, „und da meine Lyrik nicht ermutigt wurde,

konnte sie sich nur sehr langsam entfalten“. Sie wird ein ganz großer wichtiger

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Bestandteil seines Stils, eine Lyrik von sangbarer Schönheit, und wie Prokofjews Freund

Mjaskowski es beschreibt „Ausdruck einer tiefen, die Seele lösenden Ruhe und Stille.“

1‘10

Musik 8: Prokofjew: Lied aus den 5 Romanzen

M0323123 004 1'48

Nach Gedichten von Anna Achmatowa schreibt Sergej Prokojew seine fünf Romanzen

op.27., hier sang die Sopranistin Carole Farley das Lied Grüße", begleitet am

Klavier von Arkady Aronov.

„In jeder flüchtigen Vision erblicke ich Welten, voll von trügerischem, schillerndem Spiel“.

Sergej Prokofjew lässt sich gerne inspirieren, auch durch solche Verse vom Symbolisten

Konstantin Balmont. "Flüchtige Visionen" nennt nach diesem Gedicht seine 20

Minitaturen, "Visions Fugitives", Momentaufnahmen, kurz und prägnant wie ein

Aphorismus. Viele haben eine Spielzeit von gerade mal einer Minute und doch steht

sofort ein Charakter da, unruhig, phantastisch, schlicht, innig, dramatisch. Dazu passt

auch, was Prokofjew 1918, ein Jahr nach den Visionen in einem Interview bekennt:

„In allem, was ich schreibe halte ich mich an zwei hauptsächliche Grundsätze – Klarheit

in der Darlegung meiner Ideen und lakonische Kürze, unter Vermeidung alles

Überflüssigem im Ausdruck.“

1‘00 Musik 9: Prokofjew: Nr.10 aus den Visions Fugitives 1‘00

M0007921 005

Original für Klavier, hier in einer Bearbeitung für Streichquartett, „Ridicolosamente“ aus

den Visions fugitives, es spielt das Borodin Quartett.

Neben diesen Minimalismen arbeitet Prokofjew in seinen letzten russischen Jahren vor

seiner Emigration an großen Projekten, auch für die Bühne Aufgeführt werden sie vorerst

noch nicht, immerhin herrscht Krieg. Sergej Prokofjew bleibt verschont von der Front,

sein Vater ist inzwischen gestorben und als einziger Sohn einer Witwe wird er nicht

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eingezogen. Aber nicht nur der erste Weltkrieg verändert das Leben in der russischen

Hauptstadt, sondern auch die Revolution von 1917. Prokofjew bezeichnet sich Zeit

seines Lebens als unpolitisch, aber dem Sog dieser gewaltigen Erschütterung kann auch

er sich nicht entziehen. Er ist begeistert von den Aufmärschen der Bolschewiken, zieht

durch die chaotischen Straßen und versteckt sich, wenn scharf geschossen wird hinter

Häuserwinkeln. Im Sommer 1917 zieht Prokofjew zu seiner Mutter in die Ukraine. Er

muss länger bleiben als ursprünglich geplant. Alle Verbindungen in die großen Städte

sind unterbrochen, es fahren keine Züge und die Straßen sind gesperrt. So verlebt

Prokofjew die Zeit der Februarrevolution, die „10 Tagen, die die Welt erschüttern“,

zurückgezogen in einem Kurort auf dem Lande. Aber wahrscheinlich hätte er sich

sowieso nicht gerade in den Strudel der Ereignisse gestürzt. „Ich hatte nicht die leiseste

Ahnung von dem Zweck und der Bedeutung der Oktoberrevolution, “entschuldigt er sich

später, „es kam mir nie in den Sinn, dass ich wie irgendein anderer Bürger ihr von Nutzen

sein könnte.“

Er lebt in seiner eigenen, künstlerischen Welt. Materielle Not, Armut, soziale

Ungerechtigkeit hat er nie kennen gelernt, seine Probleme sind die Sorgen um die

Aufführung seiner Werke. Und so komponiert er in der Abgeschiedenheit von der realen

Wirklichkeit in der aufgewühltesten Epoche seiner Heimat ausgerechnet seine

„Klassische Sinfonie“. Hell, graziös, voll Anmut und Esprit, optimistisch und klar, ein

Werk, ganz im Geiste Haydns.

2‘10

Musik 8: Prokofjew: 1. Satz aus der Symphonie classique 4‘04 M0039973 005

Der Bestseller von Sergej Prokofjew, seine klassische Sinfonie, hier daraus der 1. Satz

mit dem Philadelphia Orchestra unter Riccardo Muti.

Uraufgeführt wird das Werk 1918 in Petrograd, wie das ehemalige Petersburg jetzt heißt.

Prokofjew dirigiert. Im Publikum sitzt auch der neue Volkskommissar für Volksbildung

Anatoli Lunatscharski. Er besucht fast alle Konzerte zeitgenössischer Komponisten und

ist begeistert. Prokofjew erkundigt sich bei ihm nach den Möglichkeiten einer Ausreise.

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„Warum wollen Sie Russland verlassen“ fragt ihn Lunatscharski. „Ich bin ziemlich

überarbeitet“, antwortet Prokofjew „und möchte ein bisschen frische Luft schöpfen“.

„Glauben Sie nicht, dass wir hier genug frische Luft haben“, so der Volkskommissar,

"ja, aber ich möchte mich gern der Heilwirkung der Meeresluft aussetzen.“ Lunatscharski

dachte ein paar Minuten nach“, erzählt Prokofjew und sagte dann heiter:“ Sie sind ein

musikalischer Revolutionär, wir sind Revolutionäre des Lebens, wir sollten zusammen

arbeiten. Aber wenn Sie nach Amerika gehen sollen, so will ich Sie nicht daran hindern“.

Prokofjew bekommt seinen Pass für Auslandsreisen und macht sich auf in die Neue Welt.

Ein Freund warnt ihn noch: Du rennst vor der Geschichte davon und das wird dir die

Geschichte nie verzeihen. Wenn du zurückkommst, wird man dich nicht mehr verstehen“.

Aber Prokofjew achtet nicht auf diese Worte, erst später packt ihn die Reue: „Und so

versäumte ich die Chance, am Leben des neuen Russland von seiner Geburt an

teilzunehmen.“

1’30

Musik 12: Prokofjew: 1. Satz aus dem Violinkonzert 8'10 M0256748 004

Vilde Frang mit einem Ausschnitt aus dem 1. Satz des Violinkonzerts Nr. 1 in

D-Dur von Sergej Prokofjew, begleitet vom WDR Sinfonieorchester Köln unter

Thomas Søndergård.