Mutspecial st gallen festival 2015

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SPECIAL EDITION ST.GALLER FESTSPIELE 2015 JUNI/JULI 2015 thema La Venezia dei Foscari «Oper muss sich trauen!» «Themen können schmerzen» artists Rifail Ajdarpasic Leonardo Capalbo Claudio Cavina Maurice Steger Ensemble Thélème Ariane Isabell Unfried

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Die Spezialnummer des Schweizer Kulturmagazins Musik&Theater zum St. Gallen Festival 2015.

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special ed it ion st.Galler festsp iele 2015 Juni /Jul i 2015

t h e m aLa Venezia dei Foscari

«Oper muss sich trauen!»

«Themen können schmerzen»

a r t i s t sRifail Ajdarpasic

Leonardo Capalbo

Claudio Cavina

Maurice Steger

Ensemble Thélème

Ariane Isabell Unfried

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OperKlosterhof I due Foscari, Giuseppe Verdi

TanzKathedrale Schweigerose, Jonathan Lunn10. St. Galler

Festspiele19. Junibis 3. Juli 2015

KonzertForum für Alte Musik

www.stgaller-festspiele.chTickets +41 71 242 06 06

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nein, st.Gallen hat keinen see mit einer spektakulären landschafts-kulisse, die stadt kann auch mit keiner römischen ruine aufwarten, worin oper gespielt oder musiziert werden könnte. Hingegen besitzt st. Gallen im historischen stadtkern einen Klosterbezirk mit einer Kathedrale und einer stiftsbibliothek, die von grandioser kultureller Blüte zeugen. sich auf diese tradition und ihre geistige ausstrah-lung zu besinnen und zu beziehen, war bestimmt eine kluge ent-scheidung, als vor rund zehn Jahren die idee aufkam auch in der Gallusstadt festspiele zu veranstalten. unverwechselbar wollte man sein, und auch so auftreten. denn niemand wartete auf die nächste beliebige freiluft-«aida» oder auf sentimental-kitschige «Bohème»-schneeflocken im sommer. und so nahm ein Konzept Konturen an, das einen eigenständigen Weg ohne die üblichen repertoire-ren-ner vorgab, aber mit einer klug den ort und seine Historie einbezie-henden dramaturgie. das spannungsfeld zwischen kirchlicher und weltlicher Macht bietet dabei vielschichtige spiel- und reflexions-räume. dass zeitgenössischer tanz in ein spannungsvolles Verhält-nis mit dem barocken sakralraum der Kathedrale gebracht wird, schärft dieses profil. auf dem Klosterplatz tragen selten gespielte, aber musikalisch zündende Werke in spannungsvollen inszenierun-gen ohne Historienstaub – diesen sommer Verdis frühes dogen-familiendrama «i due foscari» – mit dazu bei, dass st. Gallen im internationalen festivalkalender auch künstlerisch sehr wohl wahr-genommen wird. erstmals wird 2015 der prunkvolle Barocksaal der stiftsbibliothek als spielort für ein Konzert alter Musik einbezogen. eine wunderbare Bereicherung und sinnlich erlebbare Vertiefung einer festspielidee, die heuer mit der zehnten auflage ein erstes Jubiläum feiern darf. darauf freue ich mich und wünsche auch ih-nen starke festspielerlebnisse an einem starken ort.

Herzlich, ihr

andrea Meuli

Liebe Leserin, lieber Leser

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editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

t h e m a«oper muss sich trauen!» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

la Venezia dei foscari . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

«Kein harmloser schmusekurs» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

a r t i s t sleonardo capalbo und sein debüt als Jacopo foscari . . . . . . . . . . . . . . . . 10

enigmatische lust – das ensemble thélème . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

claudio cavina: festa a san Marco . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

Maurice steger und das frühbarocke Venedig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

s e r v i c edas programm der festspiele. der Vorverkauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

titelfoto: priska Ketterer

Leonardo Capalbo liess in den letzten Jahren an mancher renommierten Bühne diesseits und jenseits des Atlantiks auf-horchen. Der italo-amerikanische Tenor gibt sein Rollendebüt als Dogensohn.

Als geschäftsführender Direktor der Genossenschaft Konzert und Theater St.Gallen, ist Werner Signer auch mitverantwortlich für die Festspiele. Ein Gespräch über St.Galler Mentalität und künstleri-sche Offenheit.

Claudio Cavina und das Ensemble «La Venexiana» bringen Pracht und Klanglichkeit der «Cori spezzati» von San Marco in die St.Galler Laurenzenkirche.

In der Opernszene gelten sie als starkes Duo: Der Bühnenbildner Rifail Aj-darpasic und die Kostümdesignerin Ariane Isabell Unfried kehren für Verdis «I due Foscari» nach St.Gallen zurück.

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Venedig auf den Spuren des Dogen Francesco Foscari: Eine fotografische Spurensuche in der Lagunenstadt.

Das Basler Ensemble Thélème singt in der Tanzproduktion «Schweigerose» des englischen Choreografen Jonathan Lunn. Auf dem vokalen Hochseil – ohne Netz.

Der Blockflötist Maurice Steger und sein Ensemble erwecken die Instrumentalmusik aus dem frühbarocken Vanedig zu prallem Leben. Ein Gespräch.

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In der Opernszene gelten sie längst als starkes Duo. Mit Carlos Wagner oder Calixto Bieito haben Rifail Ajdarpasic und

Ariane Isabell Unfried bleibende Inszenierungen realisiert. Auch in St. Gallen waren sie bereits zu Gast. Jetzt kommen

der Bühnenbildner und die Kostümdesignerin, die in Hamburg zusammenleben, erneut in die Stadt, um «I due Foscari»

von Giuseppe Verdi zu inszenieren – mit dem Regisseur Carlos Wagner.

Marco Frei (Text) & Priska Ketterer (Bilder)

Es kann durchaus gewagt erscheinen, den Klosterhof in St. Gallen zu fluten. Abwegig ist es aber nicht, und zwar nicht nur weil die Oper «I due Fos-cari» von Giuseppe Verdi in Venedig spielt. Die spezifische Atmosphäre der Lagunenstadt war es, die Verdi seiner-zeit schöpferisch wesentlich zu die-sem Werk anregte – was man übrigens klanglich und dramaturgisch nachvoll-ziehen kann. Eine ungewöhnliche Ver-di-Oper ist dieses Werk. Atmosphärisch erinnert manches an den grandiosen Thriller «Wenn die Gondeln Trauer tragen» von Nicolas Roeg aus dem Jahr 1973, mit Donald Sutherland und Julie Christie. Jedenfalls meint man biswei-len, in der Musik Verdis dunkle Kanäle und fast schon geheimnisvoll-fatalis-tisch schwärende Mächte zu hören.

Der Mensch im FokusSchon deswegen ist es sinnvoll, in ei-ner Inszenierung dieser eher selten ge-spielten Oper, mit Wasser zu arbeiten. «Carlos Wagner und uns war ziemlich schnell klar, dass wir Wasser benöti-gen», sagt Rifail Ajdarpasic. «Natürlich ‚fluten‘ wir den Platz nicht, aber das Wasser wird generell ein wichtiger Be-standteil der Inszenierung sein.» Inwie-weit? «Der ganze Chor, das Volk also, wird im Wasser beheimatet sein», er-gänzt Ariane Isabell Unfried. «Das Volk wird in diesem Wasser leben und sich dort bewegen, dieses Element ist sein Zuhause.» Ajdarpasic zeichnet für die Bühne dieser Produktion verantwort-lich, und Unfried kreiert die Kostüme. Auch privat ist das in Hamburg leben-de Ausstatter-Duo ein Paar.

Das Ausstatter-Paar Rifail Ajdarpasic und Ariane Isabell Unfried im Porträt

«Oper muss sich trauen!»

Mit Carlos Wagner haben sie in St. Gallen bereits «La damnation de Faust» von Hector Berlioz realisiert, zuletzt befragten sie Bizets «Carmen» hier. Und wer ihre Arbeiten kennt, weiss, dass sich beide stets für das In-dividuum und die Gesellschaft interes-sieren – der Mensch in seinen sozialen Kontexten, seiner Herkunft, seinem Sein und Wollen, zurückgeworfen auf sich selbst. Vielleicht verbergen sich darin auch biografische Spuren. Zwar ist Ajdarpasic in Stuttgart geboren und aufgewachsen, seine Eltern aber sind Anfang der 1970er-Jahre aus dem ehe-maligen Jugoslawien nach Deutschland gekommen – aus Montenegro.

Seine Grossmutter lebt noch dort, und auch ein Onkel. «Der Rest der Familie verteilt sich über Europa – neben Deutschland auch Frankreich und Luxemburg.» Der Krieg auf dem Balkan in den 1990er-Jahren war für Ajdarpasic ein tiefer Einschnitt. «Ich konnte nicht mehr Montenegro besu-chen, um nicht eingezogen zu werden. Jahrelang konnte ich nicht hinfahren.» Ob die Frage nach Herkunft und Sein, Heimat und Fremde auch sein Schaf-fen prägt? «Darüber habe ich noch nie nachgedacht, aber es ist schon etwas dran – nicht im Sinn einer ‚Traumabe-wältigung‘, aber das Thema Identität ist präsent. Deutschland ist zwar meine kulturelle Heimat, aber ich fühle mich mehr als Europäer» – was auch für Un-fried gilt.

Eine waschechte Hamburgerin ist sie, zog aber mit 20 Jahren nach Mad-rid. «Wieder zwanzig Jahre später bin ich zwar zurückgekehrt, Hamburg regt

jedoch zur Bewegung an. Es ist eine wunderschöne Stadt, sie trägt aber das Meer in sich. Das Meer ist der Weg wo-andershin.» Heimweh und Fernweh, zwei nur scheinbar widersprüchliche Pole, tatsächlich bedingen sie sich ge-genseitig. Während ihres Studiums in Karlsruhe haben sich Ariane Isabell Unfried und Rifail Ajdarpasic kennen und lieben gelernt, 1998, in der Stu-dienklasse von Michael Simons. «Sein Berufsethos, die aufrichtige, edle Hal-tung – für uns ist er ein grosses Vorbild, sowohl menschlich als auch professio-nell.» Er habe ihnen nicht zuletzt den Mut vorgelebt, einfach mal etwas zu wagen und Theater zu machen – auch wenn es mal gründlich schief geht.

«Er hatte immer ein Ohr für Sor-gen zu Entwürfen, sagte dann aber: ‚Klingt gut, sehr schön, mach mal.‘ Das ist unser Beruf. Keine Scheu ha-ben, auch nicht vor den Gedanken. Theater ist auch eine glorreiche Ge-schichte des Scheiterns. Und Scheitern muss erlaubt sein in der Kunst, weil es zutiefst menschlich ist. Runterplump-sen und wieder aufstehen. Siegertypen sind doch im Grunde langweilig, auch wenn alle Sieger sein wollen. Auch die Geschichte der Menschheit ist eine grossartige Historie des Scheiterns, die Errungenschaften sind die jeweiligen Ergebnisse des Scheiterns – besten-falls.»

Flexibilität und FreiräumeUnd wenn es sich eben anbietet durch das jeweilige Werk, das es zu befragen gilt, äussert man sich zu einer Ge-schichte – bezieht Stellung und Positi-

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Ariane Isabell Unfried: «Das Kostüm wird im Laufe des Stücks auch leiden. Die Auswahl der Stoffe wird das Innere der Person unterstützen.»

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«Oper muss zum Denken anregen, Gefühle erlauben, Emotionen auslösen.»

on. Dafür stehen nicht zuletzt die Re-gisseure, mit denen das Duo arbeitet, allen voran Carlos Wagner und Calixto Bieito. Die Herangehensweisen und Ästhetiken mögen unterschiedlich sein, vielleicht ist Wagner poetischer und Bieito direkter, auch körperlicher; grundsätzlich aber reiben sich beide an den Menschen in der Gesellschaft.

«Wir haben sie 2003 in Barcelona kennengelernt, beide sind befreun-det.» Was ihre Regiearbeiten eint? «Beide versuchen nicht zuletzt, einen Zustand zwischen Raum, Bühne und Kostümen zu schaffen – einen emotio-nalen, psychologischen Zustand.» Für die Ausstattung bedeute dies, Freiräu-me für die Regie zuzulassen. «Flexibili-tät ist wichtig, sowie ein Grundvertrau-

en in eine Atmosphäre, eine Richtung – dass man nicht alles in Zement giesst, damit eine Reaktion ermöglicht wird. Das Suchen und das Finden sind bis zur Premiere ein Prozess. Diese Frei-heit muss man dem Regisseur und sich selbst zugestehen.»

Für Unfried und Ajdarpasic be-deutet diese Flexibilität auch, dass sie keinen ästhetischen Stil verfolgen, son-dern die Ausstattung stilistisch jeweils neu und frei entwickeln – abhängig von der zu erzählenden Geschichte und dem Arbeitsprozess mit der Regie. «Wir möchten für jedes konkrete Stück eine spezielle Welt kreieren.» Was aber alle Arbeiten eint, ist das innere, dra-maturgische Profil, das stets befragt wird – in Bühne und Kostümen. Die blosse, dekorative Bebilderung ist für Unfried und Ajdarpasic der «Tod der Opernbühne». Was die Opernbühne umgekehrt können muss? «Sie muss zum Denken anregen, Gefühle erlau-ben, Emotionen auslösen.»

Ob die Opernbühne abstrakt oder realistisch ist, das sei zweitrangig – «weil dies eine rein äusserliche, ästheti-sche Diskussion ist. Die Oper muss sich trauen. Das bedeutet auch, dass sie et-was mit dem Heute zu tun haben muss.

Die Opernbühne ist einer der wenigen noch verbliebenen Orte, der uns die Möglichkeit gibt, über uns Menschen im Heute etwas zu sagen. Das hat mehr mit Mut und einer Grundhaltung als mit einer äusserlichen Ästhetik zu tun. In unseren Arbeiten versuchen wir im-mer, den Bezug zu einer Gegenwart herzustellen – wenn auch nicht im Sinn einer realistischen Abbildung.»

ZweiklassengesellschaftIn «I due Foscari» äussert sich dieser Gegenwartsbezug in einer Art wider-gespiegelten Zweiklassengesellschaft. «Oben leben die Dogen, die ‚feine Gesellschaft‘, die sich auch unterein-ander nicht immer einig ist», erklärt Unfried. «Sie waten nicht im Wasser

– und wenn, dann dürfen sie mit den Gondeln fahren oder die umliegenden Stege benutzen. Im Wasser watet das einfache Volk. Diese gesellschaftlichen Gegensätze gelten auch heute. Denn es ist ein System, das aus den Fugen gera-ten ist – nicht unbedingt dem Unter-gang geweiht, wohl aber degeneriert.»

«In ‚I due Foscari‘ wird der Chor Wat-hosen aus Gummi anhaben, wie sie Fischer tragen», verrät Unfried – nicht nur weil der Chor im Wasser steht. «Na-türlich kann ein Chor nicht im kalten Wasser stehen, aber die Wathosen wer-den so angepasst, dass sie unsere Ge-schichte erzählen. Die Dogen werden edles Italien sein, den Kostümen wird man viel Seide und viel Geld ansehen – die Gesellschaft, die sie repräsen-tieren.» «Es werde sich eben zeigen, dass sich der Mensch an sich nicht viel geändert habe. Wir alle sind nicht gleich, sondern es gibt Unterschiede», betont Ajdarpasic. «Macht ist in dieser Oper eine ganz grosse Geschichte. Der mächtigste Mann Venedigs hat nicht die Macht, seinen eigenen Sohn vor dem Unglück zu bewahren.»

Deswegen kommen in den Kostü-men stets Elemente der Brechung hin-zu, beim Sohn wie auch in der ganzen

Familie. «Ich gebe da etwas Hoffnungs-volles hinzu», sagt Unfried, «aber das Kostüm wird im Laufe des Stücks auch leiden. Die Auswahl der Stoffe wird das Innere der Person unterstützen.» Und welche Konsequenz hat das Machtspiel in Verdis Oper für uns heute? «In un-serer Zeit offenbart die Bankenkrise, dass ein System aus Menschen kollektiv Opfer machen kann – alle zusammen, über Schichten hinweg», erwidert Aj-darpasic. «Es gibt kein Schwarz und Weiss, sondern es ist komplexer.» Denn im Grunde hat sich der Mensch nicht geändert.

«Es ist eine grosse Illusion, wenn es heisst, der Mensch sei fortschrittlicher geworden. Das ist er nicht, er war schon immer so, wie er ist. Das macht solche Opernwerke so interessant, deswegen verlieren sie nie an Gültigkeit – weil sie zutiefst menschliche Eigenschaften und tragische Momente stets aufs Neue aufzeigen. Was erzählt wird, ist dem Menschen heute vertraut wie gestern und morgen. Das ist eine beruhigende Erkenntnis.» Allerdings muss man die-se Erkenntnis eben auch zulassen.

Mut zur KunstDeswegen misstrauen Unfried und Ajdarpasic der Diskussion um realis-tische oder abstrakte Opernbühnen – auch aus kulturpolitischen Grün-den. «Überall gibt es gefährliche Spar-zwänge. Wie viel Kultur darf und kann noch bleiben? Das ist sehr gefährlich für diese Kunstform, weil sie nur über-leben kann, wenn sie mutig ist. Und mutig sein darf. Der Mut, anders zu sein braucht die Freiheit, anders sein zu dürfen – auch Dinge zu benennen, die man in anderen Zusammenhängen nicht straffrei benennen könnte. Das erst ist die Existenzberechtigung dieser Kunst.» ■

Rifail Ajdarpasic: «Der Mut, anders zu sein, braucht die Freiheit,

anders sein zu dürfen.»

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Leonardo Capalbo liess in den letzten Jahren an mancher renommierten Bühne diesseits und

jenseits des Atlantiks aufhorchen. Der italo-amerikanische Tenor gibt als Dogensohn Jacopo Foscari

in der St.Galler Festspielproduktion von Verdis «I due Foscari» sein Rollendebüt.

Kai Luehrs-Kaiser (Text) & Priska Ketterer (Fotos)

Leonardo Capalbo geht Verdis «I due Foscari» als Belcanto-Sänger an

«Ich bin doch kein Spinto!»

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Immer munter imitieren! Das all-gemeine Vorurteil, es gäbe nichts Schädlicheres als bekannte Vorbil-der nachzumachen, ist ganz falsch. Jahrhundert-Bariton Dietrich Fischer-Dieskau erklärte dem Verfasser dieser Zeilen einst stolz, er habe, als er jung war, nach Kräften Beniamino Gigli zu kopieren versucht. Warum nicht?! Fi-scher-Dieskau dürfte hierdurch Farben bei sich entdeckt haben, die er vorher nicht hatte. Ein Benjamino Gigli wäre er sowieso nicht geworden.

Leonardo Capalbo ging noch einen Schritt weiter, als er ganz jung war. Der amerikanische Tenor entdeckte die ei-gene Stimme, als er im Fernsehen Pa-

varotti hörte und diesem nachzueifern begann. Vielleicht hat das Reproduzie-ren sogar sein Talent gefördert. Capal-bo ist heute auch ein ingeniöser Stim-men-Imitator seiner Lehrerin Marilyn Horne. Ihre Rossini-Rouladen serviert er täuschend echt. Er würde sich, lacht er, sogar damit buchen lassen!

In der Schweiz wird Capalbo im Juni als Jacopo Foscari in Verdis frü-her Oper «I due Foscari» erwartet. Das wird nicht nur sein Rollen-, sondern in Wirklichkeit auch sein St. Gallen-Debüt sein. Ein Gastspiel daselbst in Verdis «Requiem» scheint zwar im Internet noch nachweisbar, wurde in Wirklich-keit aber abgesagt. Das Internet weiss nicht alles. Nicht einmal, was schliess-lich doch nicht stattgefunden hat.

Der Sohn des Dogen von Venedig, Jacopo Foscari, ist eine Rolle, die auf Schallplatten von schlankstimmigen Sängern wie José Carreras und Carlo Bergonzi gesungen wurde – nicht aber von heldischeren wie Domingo oder ly-rischeren wie Pavarotti. Der Sänger der Uraufführung in Rom 1844 war der ita-lienische Tenor Giacomo Roppa, der zu seiner Zeit eben deswegen als typischer Rollenvertreter gelten konnte, weil er kein typischer Verdi-Sänger war! Roppa hatte sich als Bellini- und Donizetti-Sänger einen Namen gemacht, steiger-te sich anschliessend bis zu Meyerbeers «Robert le diable», ohne sich bei Verdi indes weiter als bis zu Rodolfo in «Luisa

Miller» und Matteo Borsa in «Rigolet-to» vorzuwagen. Den Rigoletto-Herzog hätte er nie gewagt.

Eine derartige, klügliche Spezia-lisierung ist heute zwar leider kaum noch vorstellbar. Sie lehrt jedoch, was kundige Verdi-Spezialisten, wie etwa der Dirigent Antonio Pappano, ohne-hin reklamieren: dass Verdi generell eine Art «Belcanto zweiter Stufe» ist. «Verdi ist Belcanto plus Deklamation», sagt Pappano, und gibt damit die Er-klärung dafür, weshalb viele der besten Verdi-Sänger (etwa Montserrat Caballé, Bergonzi und auch Maria Callas) die-sen Komponisten immer von seinen Belcanto-Vorgängern her in den Blick

nahmen – ganz so, wie es auch der Amerikaner Leonardo Capalbo tut.

Geboren 1978 in New Jersey als Sohn italienischer Einwanderer, hat er sich seit über zehn Jahren als lyrischer Tenor auf Rollen beschränkt, die den kernigen Schmelz seiner Stimme nicht gefährden. Genau genommen, gelang Capalbo über Jahre ein erstaunlicher Spagat zwischen zwei Rollen, die seine Karriere perfekt ausbalancieren: dem einfältigen Nemorino in Donizettis «L’elisir d’amore» und dem empha-tisch sich in die Brust werfenden Alf-redo in «La Traviata». Dass hierbei das Debüt mit Alfredo dem leichtgewichti-geren Nemorino sogar einige Monate vorausging, zeigt die erstaunliche, für heutige Zeiten untypische Tendenz, nicht schwere auf leichtere Rollen fol-gen zu lassen, sondern umgekehrt erst die schweren Rollen zu singen – und dann die leichten.

«Ich bin nicht ungeduldig», sagt Ca-palbo, der fein in Schlips und Kragen zum Interview in Berlin erschienen ist. «Mein Stil ist Belcanto plus», so Capalbo, der hiermit die oben beschriebene Ten-denz bestätigt. «Ich singe, mit anderen Worten, in einer Bergonzi-Tradition», so Capalbo. «Am Brüllen bin ich nicht inte-ressiert.» Mit seiner Technik könne man zwar nicht so laut singen wie, sagen wir: Mario del Monaco. An alle wichtigen Rollen, wie das Beispiel Bergonzi lehre, komme man trotzdem heran.

Dem biegsamen, klaren und rhyth-misch festen Gestus seines Tenors ent-spricht auch die Eigenart, leichtere Rollen etwas härter anzufassen – und schwere Rollen etwas leichter. «Caruso hat bewiesen, dass Donizetti den Ne-morino nicht als zu leichtgewichtigen Tenor gemeint hat», so Capalbo in schönster Kenntnis der Gesangstradi-tion. Um festzustellen: «Ich bin doch kein Spinto!» Den Fehler, Puccinis Rinuccio in «Gianni Schicchi» zu sin-gen, habe er nur einmal gemacht. Und zwar damals, als er noch «jung und doof» war. «Die Attacken Puccinis sind harsch, und sein Orchester neigt dazu, einen zuzudecken. Dafür braucht man eine ganz andere Attacke.»

So gestalte er alle Rollen, die er annehme, mit einem Anspruch auf Schöngesang, der aber keine Ein-schränkungen bedeute. «Ich schaue alle Verdi-Tenorrollen daraufhin an, ob etwas Passendes dabei sein könn-te, und bin der Auffassung: ausser Ra-dames und Otello kann man über alles reden.» Zu früheren Zeiten habe das schliesslich auch funktioniert, obwohl man zugeben müsse, dass damals die Orchester leiser und die Häuser mehr-heitlich nicht so gross gewesen seien. «Die Frühwerke Verdis könnten fast auch vom späten Donizetti stammen», so Capalbo. Nur die Tessitura (also die durchschnittlich anzusteuernde Ton-höhe einer Partie) liege zum Beispiel beim Riccardo im «Ballo in maschera» höher. Und im «Passaggio», dem Über-gang zwischen den Registern, müsse man bei Verdi mehr Stoff geben. Wenn man das könne, sei auch der Weg zu Partien wie Jacopo Foscari offen.

«Man muss mutig, aber doch be-sonnen bleiben», so Capalbo über die nötige Marschgeschwindigkeit. «Ziele habe ich keine.» Alles müsse der Stim-me folgen und sich organisch daraus ergeben. So hat er in letzter Zeit sehr erfolgreich Candide an der Berliner Staatsoper (an der Seite von Maria Bengtsson und Anja Silja), Alfredo am Teatro del Liceu und den Captain Ben Marco in der Uraufführung von «The Mandchurian Candidate» (von Kevin Puts) an der Minnesota Opera gestal-tet. Neues Repertoire wird er wieder singen: in Thomas Adès «Powder her Face» in Warschau. Kurz danach bricht er dann nach St. Gallen auf. In Amster-dam folgt später mit Arturo in Bellinis «La straniera» (an der Seite von Elena Mosuc) wieder eine Belcanto-Partie.

Dass das vorsichtige Ausbalancieren nicht zu schwerer Rollen eine Folge der Krise ist, in die der Tenor Rolando Villazón vor Jahren schlitterte, gibt Ca-palbo offen zu. «Ich hatte eine grosse

«Am Brüllen bin ich nicht interessiert»

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Bewunderung für ihn als Vokalisten – und habe es noch», sagt Capalbo über Villazón. In einigen Fällen übernahm er die Verträge seines strauchelnden Kollegen. «Man muss selbstkritisch und auf der Hut sein – und bleiben.» Wenn er nach einer Vorstellung müde in die Garderobe zurückkehre, sei der Punkt erreicht, wo er sich fragen müs-se, ob die Partie richtig war. «Das ist ein Alarmzeichen», so Capalbo.

«Mit falscher Stimme kann man wie jeder klingen, den man sich nur wünscht», meint Capalbo. «Die Frage ist eben nur, wie lange.» Er sei kaum je zufrieden mit sich, und immer ein wenig im Zweifel, das treffe freilich auf jeden echten Künstler zu. «Ehrlichkeit entscheidet!» Das Instrument des Sän-gers wechsle mit jedem Abend. Man sei «halb Athlet, halb Künstler». Und müsse dementsprechend vor der eige-nen Selbstüberschätzung gewarnt sein. Und dann sei man übrigens auch noch Schauspieler. «Meine erste Liebe galt dem Drama, nicht der Oper. Für Regis-seure mache ich allerlei, wenn sie mich denn überzeugen…»

Nicht zufällig findet Capalbo seine Idole unter Sängern, die mit ihm selber wenig zu tun haben. «Ich habe mich gerne an Giacomo Lauri-Volpi orien-tiert und an Aureliano Pertile», dem Tenor Toscaninis. «Ich bin ein seltsa-mer Fall, eben weil ich als Akteur ein modernes Selbstverständnis habe und mich, sobald ich singe, als ‚vecchio tea-tro’ verstehe – alte Schule.» Das klingt vorbildlich. Sängerisch nicht über die Schnur schlagen, aber darstellerisch neugierig sein: Besser kann man das Anforderungsprofil heutiger, langan-haltender Karrieren kaum beschrei-ben.

An der Juilliard School wurde er in dieser Weise geprägt – nicht zuletzt durch Marilyn Horne, den grossen Rossini-Mezzo des 20. Jahrhunderts. «Ich bin immer noch regelmässig mit ihr in Kontakt. In Santa Barbara, wo sie ein Haus besitzt, unterrichtet sie heute noch», erzählt er. «’Du bist viel-seitig’, sagt sie mir, wenn du willst, pro-biere dich an möglichst vielen Dingen aus.’» Horne wisse, wovon sie spreche, denn sie habe als Sopran begonnen und noch mit Strawinsky persönlich an «Ödipus Rex» gearbeitet. «Sing Ver-schiedenes, aber immer mit deiner ei-genen, mit unverstellter Stimme!», sei das Credo, das sie ihm mit auf den Weg gegeben habe.

So steht als Jacopo Foscari in St. Gal-len ein Tenor auf der Bühne, von dem eine idiomatische, stilistisch elegante und bewusste Leistung zu erwarten ist. Viel wert!, wie man angesichts zu vieler,

sich durch schwere Partien druckvoll mogelnder Tenöre sagen kann. Aus seinem Spektrum aktueller Rollen wie Hoffmann, Tom Rakewell und Rober-to Devereux ragt dieser junge Foscari nicht zu scharf heraus. Als Ismaele in Verdis «Nabucco» lässt sich Capalbo übrigens auch auf CD nachhören (in der Gesamtaufnahme bei Chandos, Di-rigent: David Parry).

Wer übrigens beim Anblick dieses Italo Lovers stutzt und sich fragt, wo-

ran einen dieser Mann erinnert, dem sei gesagt: Auf der Bühne (stärker als auf Fotos) hat Leonardo Capalbo nicht frappante Ähnlichkeit mit dem jungen Jean-Louis Barrault. »Balance ist alles», sagt er, und legt gern akrobatische, körperliche Bühnenfähigkeiten an den Tag, wie man sie von Sängern früherer Generationen kaum erwartet hätte. Auch in dieser Hinsicht hat er sich von Pavarotti, seinem Initial-Erlebnis, weit entfernt. ■

Leonardo Capalbo: «Meine erste Liebe galt dem Drama, nicht der Oper. Für Regisseure mache ich allerlei, wenn sie mich denn überzeugen…»

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Venedig – auf den Spuren des Dogen Francesco Foscari

La Venezia dei FoscariFotoreportage: Priska Ketterer

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Am späten Abend des 15. Aprils 1423 wird Francesco Foscari im Al-ter von 50 Jahren zum Dogen ge-wählt. Er ist von nun an der höchste Beamte der Republik Venedig. Mit diplomatischem Geschick hat er sei-ne Rivalen Loredan und Contarini ausgebootet und kann, trotz seines für einen Dogen jungen Alters und der Tatsache, dass er mehrere Söhne hat, 26 der 41 Stimmen auf sich ver-einen. Am 16. April wird er offiziell in seine Ämter eingesetzt und zieht in den Dogenpalast. Zweimal – 1433 und 1442 – versucht Francesco Fos-cari zurückzutreten, beide Male je-doch wird dieses Ansinnen vom Rat zurückgewiesen.

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1445 wird Francesco Foscaris einziger, die Pestepidemien der vorhergehenden Jahre überlebender, Sohn Jacopo in die Verbannung geschickt. Ihm wird vorge-worfen, Geschenke angenommen zu ha-ben. In der Folge wird er noch mehrmals verhaftet und gefoltert. Ihm werden nicht

nur Verbindungen zu fremden Fürsten, sondern auch die Ermordung Ermolao Donatos zur Last gelegt. Jacopo Foscari stirbt 1457 an den Folgen der Folter fern-ab Venedigs in der Verbannung auf Kreta.

1453 beginnt Franceso Foscari mit dem Bau der Ca’ Foscari auf den Grund-

mauern des abgebrochenen ehemaligen Sforzapalastes. Die Ca‘ Foscari, wahr-scheinlich als Haus für seinen aus der Verbannung zurückkehrenden Sohn ge-dacht, wird in Zukunft Jacopos Frau und seine Kinder, also des Dogen Francescos Enkel, beherbergen.

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Im Oktober 1457 wird Doge Fosca-ri zum Rücktritt gezwungen, da seine Gesundheit es ihm unmöglich macht, seinen Verpflichtungen als Doge nach-zukommen. Am 1. November stirbt er in seinem Palast und wird am 3. zuerst im Dogenpalast aufgebahrt und nachher in

der Kirche St. Maria Gloriosa dei Frari beerdigt.

Übrigens: Verdis Oper «I due Fos-cari» wird nicht wie geplant 1844 im Teatro la Fenice uraufgeführt. Die In-tendanz des Theaters fürchtet, dass die immer noch in Venedig ansässigen Fa-

milien Loredan und Barbarigo in einem schlechten Licht erscheinen könnten. So kommt es, im selben Jahr, zur Urauffüh-rung im Teatro Argentina in Rom. ■

Quelle: «The likeness of Venice», Dennis Romano, Yale University Press 1951

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Werner Signer: «Die Themen können auch schmerzen. Aber Sie müssen etwas zu sagen haben.»

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Als geschäftsführender Direktor der Genossenschaft Konzert und Theater St.Gallen, ist Werner Signer auch mitverantwortlich für

die St.Galler Festspiele, die heuer bereits ihre 10. Auflage erleben. Im Gespräch formuliert er, weshalb Kultur als ein Teil unserer

Identität unentbehrlich ist. Und weshalb das St.Galler Leitungsmodell auch mit Festspielen erfolgreich sein konnte.

Andrea Meuli (Text) & Priska Ketterer (Bilder)

M&t: st. gallen ist eine barocke, also festfreu-dige, katholische stadt. doch der theaterleiter wird hier nüchtern «geschäftsführender direk-tor der genossenschaft konzert und theater st.gallen» genannt. ein Widerspruch?Werner Signer: Überhaupt nicht. Ich denke, es entspricht der St.Gallischen Mentalität, dass man nicht protzt. Die barocke Art und Tradition sind vielmehr an Bauten und in den Geschichtsbü-chern erkennbar. Heute würde ich den St.Galler eher als zurückhaltenden Men-schen beschreiben. In dieses Bild passt, dass die Titel bewusst funktional gehal-ten sind.

M&t: geht st.gallen bewusst einen anderen Weg in der Wahl der theaterleitung: kein regie führender intendant. Werner Signer: …das geht aus der Struk-tur hervor. St. Gallen hatte 2000 als erste Schweizer Stadt den Mut, das Orchester und das Dreisparten-Theater unter die-selbe Führung zu nehmen. Daraus ist die Genossenschaft Konzert und The-ater St.Gallen hervorgegangen. Dabei überlegte man sich, wie die Verantwort-lichkeiten aufzuteilen sind. Es sollte ein Vierspartenhaus mit einem Konzertdirek-tor, einem Leiter des Musiktheaters sowie einem Schauspieldirektor werden. Die In-tentionen müssen von den künstlerischen Kollegen kommen. Das ist ganz klar.

M&t: gibt es weniger konfliktpotenzial bei die-sem Modell?Werner Signer: Der grosse Vorteil ist, dass man miteinander reden muss, dass nicht einer allein seine Suppe kochen kann. Man muss lernen, sich auszutau-schen und aufeinander Rücksicht zu nehmen. Das fördert einen guten Nähr-

Werner Signer über St.Galler Mentalität, die Idee von Festspielen im Klosterbezirk und die Lust auf künstlerische Offenheit

«Kein harmloser Schmusekurs»

boden für spartenübergreifende Projek-te, und es fliessen viel mehr Ideen in ei-nen Spielplan ein als wenn ein Einzelner das Sagen hat. Daher kristallisierte sich dieses Modell in der Praxis als erfolgrei-che Lösung heraus.

M&t: eine offene art der Führung also.Werner Signer: Das kann man so for-mulieren. Aber es heisst nicht, dass wir stets die gleiche Meinung haben. Das

wäre ja langweilig und bedeutete den Tod jeder lebendigen Kulturinstitution. Aber wir können miteinander Projekte verwirklichen und Ideen einbringen. Mein Hintergrund, mit einer musika-lischen Ausbildung neben dem kauf-männischen Rucksack, hilft wohl dabei, dass die Akzeptanz hoch ist, da wir viele Themen auf Augenhöhe diskutieren können. Das ermöglicht eine andere Gesprächskultur als wenn sich Manage-ment und Kunst strikt auseinanderhal-ten würden. Es ergibt sich eine andere Dynamik mit flexibleren Führungsmög-lichkeiten, auch wie man Risiken zu tra-gen bereit ist.

M&t: Bühnenegomanen können ein haus gna-denlos an die Wand fahren.Werner Signer: Wenn eine Geschäftslei-tung ihre Ideen zunächst bei den Kolle-gen durchsetzen muss, ist das bestimmt ein Schutz für alle Mitwirkenden an einem Haus, nicht zuletzt auch für die Künstler.

M&t: ein Filter sozusagen, der allzu tollkühne selbstverwirklichungen abdämpft?

Werner Signer: Genau, damit niemand ein Spielfeld für seine persönlichen Am-bitionen abstecken kann, und zwingend jedem Entscheid eine Reflexion voran-geht.

M&t: theaterleiter haben ganz verschiedene Biografien. Wie haben sie zum theater gefun-den?Werner Signer: Die Musik war immer meine grosse Leidenschaft. Aufgewach-sen bin ich in einem Elternhaus, in dem Wert darauf gelegt wurde, dass zunächst ein bürgerlicher Beruf erlernt wird. So kam ich zu meiner kaufmännischen Aus-bildung, ging anschliessend jedoch mit

«Die Musik war immer meine grosse Leidenschaft»

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einer gewissen Selbstständigkeit meinen musikalischen Weg.

M&t: Wohin führte der?Werner Signer: Ich machte meinen Ab-schluss an der Musikakademie Zürich im Dirigieren, als Instrumentalfächer beleg-te ich Horn und Klavier.

M&t: nahe an der kunst also, ein Vorteil zwei-fellos, wenn es darum geht, einer institution wie einem dreispartenhaus mit beschränkten finanziellen Mitteln den rücken zu stärken.Werner Signer: Es braucht die Bereit-schaft, hin und wieder auch mal ein Risiko einzugehen und dieses finanziell abzufedern, wenn man nicht immer nur auf jenem Strom schwimmen möchte, der von der öffentlichen Hand vorge-geben ist. Natürlich streben wir an, dass das Haus eine Ausstrahlung hat. Auch die Resonanz in den Medien braucht es, genau wie jene der Künstler, dass ein

Haus als wertvoll betrachtet wird, dass man hier unter guten Bedingungen neue Partien erarbeiten kann.

M&t: das theater hat heute weit stärkere kon-kurrenz, was die Freizeitgestaltung betrifft. Wie kann diese einrichtung eines kulturinteressier-ten Bürgertums dennoch erfolgreich sein? so, dass der politische Wille eine solche institution zu tragen, nicht in Frage gestellt wird.Werner Signer: Ganz wichtig ist, dass man mit einem Programm den Nerv aller möglichen Theaterbesucher trifft. Das muss überhaupt kein harmloser Schmusekurs sein, die Themen können auch schmerzen. Aber Sie müssen etwas zu sagen haben. Wenn ein Theaterbe-trieb abläuft wie der Prozess in einer Kehrichtverbrennungsanstalt, die man zwar schätzt, sich jedoch bloss darauf verlässt, dass sie funktioniert, dann ist es vorbei mit einem lebendigen Haus. Der Ausbruch muss möglich sein. Dazu ge-

hört beispielsweise auch das Migrations-thema. Wenn wir nicht bereit sind unse-re kulturelle Herkunft zu pflegen und zu unserer Tradition zu stehen, dann werden wir immer auch alles Neue ab-lehnen. Je stärker unsere Identifikation ist, desto offener können wir dem Neu-en gegenübertreten, es zulassen. Und zu unserer Tradition gehört Kultur ganz wesentlich dazu.

M&t: ablehnung des neuen aus unsicherheit heraus, wäre demnach ihre diagnose.Werner Signer: Ja, so sehe ich das. Wenn ich zu etwas stehe, brauche ich keine Angst vor Unbekanntem zu haben. Des-halb ist es auch wichtig, dass der Staat klar bekennt, dass Kultur ein Teil un-serer Identität ist und deshalb entspre-chend gefördert zu werden verdient. Nur stellt sich die Aufgabe der Vermitt-lung heute ganz anders. Einzig die Türe zu öffnen und zu meinen, das Publikum

Werner Signer, fotografiert im prunkvollen Barocksaal der Stiftsbibliothek St. Gallen. Erstmals findet diesen Sommer ein Festspielkonzert in diesem ehrwürdigen Rahmen statt.

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ströme dann herein – das reicht heute bei Weitem nicht mehr.

M&t: so kamen sie auf die idee, ihren spielplan mit Festspielen zu ergänzen?Werner Signer: Wir erkannten damals, dass das bisherige Abonnementsystem langsam wegzubrechen begann. Ganz einfach, weil es dem Zeitgeist nicht mehr entspricht. Also fragten wir uns, wie wir unsere kulturelle Vermittlungsaufgabe, vor allem im Musiktheater, wahrnehmen und unser Publikum mit einer neuen Idee verführen könnten. Das Schauspiel hat es in dieser Hinsicht einfacher. Mit einem Frisch oder Dürrenmatt kommt jeder einmal in seiner Schulzeit in Berüh-rung, wogegen das Musiktheater da meist aussen vor bleibt, so wie die traditionel-len Instrumente im heutigen Musikun-terricht zunehmend verdrängt werden.

M&t: dieser pädagogische Blickwinkel kann ja nicht das einzige argument für Festspiele in st. gallen gewesen sein…Werner Signer: Natürlich nicht. Genau-so wichtig war die Frage: Was besitzt die-se Stadt, was sie unverwechselbar macht? Damit rückten die besonderen Spielorte ins Blickfeld. Uns war sofort klar, dass dies nur im Klosterbezirk sein kann. Von dort gingen die musischen Impulse der Mönche im Mittelalter aus. An diese Tra-dition knüpfen wir an. Inhaltlich waren wir uns von Anfang an einig, ein eigenes Profil zu suchen. Die gleichen Werke zu spielen, die landauf, landab aufgeführt werden, konnte nicht unser Konzept sein. Wir wollten uns abgrenzen – und gleichzeitig darauf achten, uns und un-seren regulären Spielplan nicht selber zu konkurrenzieren. Daher setzten wir uns zum Ziel, mit Raritäten des Opern-repertoires ein neugieriges Publikum zu erreichen.

M&t: st. gallen ist ein ort mit einer starken kir-chentradition und -geschichte. Wie weit ist die kirche in das geschehen der Festspiele einge-bunden?Werner Signer: Sehr stark. Beide Haupt-konfessionen, sowohl die römisch-ka-tholische wie die evangelische, stellen uns ihre Räumlichkeiten zur Verfügung. In der Kathedrale dürfen wir mit dem jeweiligen Festkonzert sowie vor allem auch mit einer Tanzproduktion zu Gast sein, und in der reformierten Kirche St. Laurenzen ist das Konzertangebot plat-ziert. Eine Tanzproduktion, welche den sakralen Raum einbezieht und nicht als beliebige Choreografie daherkommt, ist natürlich etwas Besonderes. Den menschlichen Körper in seiner Bewe-gung zu diesem wunderbaren barocken Raum der Kathedrale in Bezug zu brin-gen, bedeutet eine besondere Heraus-

forderung und ist nicht austauschbar. Dazu kommt, dass mit der Orgel auch je-nes Instrument, welches die nachhaltigs-ten Akzente in diesem Raum setzt, einen wichtigen Bestandteil des musikalischen Festspielprogramms bildet.

M&t: hat sich dieses Profil beim Publikum durchgesetzt?Werner Signer: Es gab auch Widerstand. Die Frage wurde natürlich gestellt, ob der Tanz in eine Kathedrale passt, die nach wie vor als gelebtes Zentrum ih-rer ursprünglichen religiösen Funktion dient. Allerdings kommt uns gerade das auch entgegen, weil wir Kultur dorthin

bringen wollen, wo auch das Leben statt-findet. Diesen Gedanken möchten wir aufnehmen. Es gab sehr gute Gespräche mit den Verantwortlichen der Kirche, die uns das Vertrauen geschenkt haben. So sind wir sehr froh, in diesem ehrwür-digen Rahmen, zu dem auch der Klos-terplatz gehört, spielen zu dürfen.

M&t: dieses glück zweier ungemein starker aufführungsorte für Festspiele ist heute nicht mehr gefährdet?Werner Signer: Das kann man nie mit Bestimmtheit wissen. Ich denke, wenn Festspiele an einem Ort stattfinden, der nicht als selbstverständlich wahrgenom-men wird, dann können sie ein ganz an-deres Potenzial nutzen, als wenn sie in einem ohnehin ungenutzten Steinbruch spielen würden. Da spüren Sie eine Spannung. Und wenn es der Kultur ge-lingt, solche Spannung weiter zu vermit-teln, die Diskussion anzuregen – dann macht sie Sinn.

M&t: Wie schafft es ihr haus, immer wieder interessante junge sängerinnen und sänger an sich zu binden, die nicht selten internationale karriere machen?Werner Signer: Das ist das Verdienst un-seres Operndirektors Peter Heilker, dem es immer wieder gelingt, junge talentier-te Solisten zu gewinnen, die von unserer Bühne aus den Sprung in die internati-onale Musik- und Theaterszene finden.

Diese Sprungbrettfunktion zu überneh-men, ist eine überaus dankbare Aufga-be, die wir mit Freude immer wieder angehen. Damit können wir punkten, das kann ein Haus wie St. Gallen attrak-tiv machen.

M&t: erleben sie so etwas wie treue zu einem haus, welches einem beim durchbruch einst geholfen hatte?Werner Signer: Treue ist wohl ein zu star-ker Begriff. Aber wir denken, dass viele die Zeit hier bei uns geschätzt haben. Wie jeder einzelne zu seiner Vergangen-heit steht, ist Charaktersache. Wir sind geehrt genug, wenn wir sehen, dass je-

mand nach seiner Zeit in St. Gallen den Weg macht und sich an den ersten Ad-ressen des Musiktheaterbetriebs etab-liert. Es liegt nicht an uns, sich da festzu-krallen, sondern vielmehr wieder neue Talente zu entdecken.

M&t: 2014 war alles andere als ein Bilder-buchsommer. Wie viele solcher nasskalter Fest-spieljahrgänge können sie überleben? Werner Signer: Es gelang uns auch letz-ten Sommer eine ausgeglichene Rech-nung vorzuweisen. Das ist einigermassen erstaunlich. Wir konnten wohl alle Vor-stellungen spielen, aber es war wirklich keine einladende Zeit, so dass das spon-tane Publikum ausblieb.

M&t: dieses Jahr spielen sie «i due Foscari». dieses Frühwerk ist wohl unter Verdi-Freunden beliebt, doch darüber hinaus kaum bekannt. Was versprechen sie sich von ihrer Produktion?Werner Signer: In den Werken der letz-ten Jahre spielte die Kirche stets die dominante Rolle. Da dieser Platz nicht nur Sitz der kirchlichen Macht, sondern auch der weltlichen Regierung ist, woll-ten wir für einmal dieses Spannungsfeld stärker artikulieren. Der Zwiespalt zwi-schen öffentlichen Aufgaben und Fami-lie kommt in diesem Stück wunderbar zum Tragen. Zum anderen hat St. Gallen – seit es das neue Theater gibt – eine star-ke Verdi-Tradition, die soll hier ebenfalls einfliessen. ■

«Die Intentionen müssen von den künstlerischen Kollegen kommen»

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Das Basler Ensemble Thélème singt in der Tanzproduktion «Schweigerose» des englischen Choreo grafen

Jonathan Lunn für die diesjährigen St.Galler Festspiele. Was die vier Sänger und eine Sängerin von Thé-

lème sonst so antreibt, warum das Bankett die ideale Konzertform für sie ist und welche

Bedeutung dem Scheitern zuzumessen ist.

Benjamin Herzog (Text) & Priska Ketterer (Fotos)

Das Basler Ensemble Thélème: auf dem vokalen Hochseil – ohne Netz

Enigmatische Lust

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Von der Decke hängen Lüster aus Pappkarton. Auf den Tischen Wein, Brot und Käse. Eine Frau in orangefar-benem Strickpullover, ein Mann mit Videokamera, Musiker aus der Stadt, Freunde des Ensemble Thélème. Man hat sich schon mal ein Glas einge-schenkt. «Le Banquet» heisst eine in Kennerkreisen bestens etablierte Kon-zertreihe des Ensembles Thélème in der Kantine des Musikerwohnhauses an der Lothringerstrasse in Basel St. Johann.

Zur Ausstattung dieses von der Stiftung Habitat konzipierten und be-triebenen Musikerhauses gehört auch ein Konzertsaal. Dort proben vier der Thélème-Sänger, sie kommen aus Frankreich, Israel und Brasilien, so-wie zwei hinzugezogene Lautenisten. Kurzprobe im Konzertsaal für den Auf-tritt am Abend in der Kantine. Es ist die einzige Probe, und manches Stück gelangt dabei prima vista vor ihre Augen. «Unser Repertoire ist nicht für herkömmliche Konzerte gedacht, eigentlich nicht einmal für ein Publi-kum», erklärt Jean-Christophe Groffe. Der 39-Jährige aus Paris ist künstleri-scher Leiter des vor knapp zwei Jah-ren gegründeten Ensembles. Groffe hat, wie seine Mitmusiker, an der Bas-ler Schola Cantorum studiert und ist in der Stadt geblieben. Groffe ist das Fundament von Thélème – auch mu-sikalisch, denn er singt den Bass. Ihr Repertoire hat in der europäischen Musiklandschaft Seltenheitswert: fran-zösische Musik der Renaissance. Geist-liche Musik, und vor allem Chansons von Komponisten wie Clément Jane-quin oder Claude Le Jeune. «Diese Chansons hat man damals bei sich zu Hause gesungen. Mit Freunden, nach dem Essen, beim Wein», sagt Groffe. «Das stellt uns vor ein Problem. Wo führen wir diese Musik heute auf? Im Konzertsaal?»

Die Antwort gibt ihre «Banquet»-Reihe. Zwei Dutzend Zuhörer, intimer Rahmen, Wein, Käse, Bekanntma-chung durch Mundpropaganda oder Facebook. Groffe gibt den Conféren-cier, erklärt die anzüglichen Wortspie-lereien in einem der Chansons. «Ton cul servira de trompette», heisst es da-rin nicht ganz jugendfrei. So weit, so klar. Nun ist nicht alles in diesen auf altfranzösisch gesungenen Chansons auf Anhieb verständlich. Sie gehören denn auch zum Genre der Musica ri-servata, einer vor Anspielungen in Text und Ton strotzenden Musik, sind klin-gende Kleinodien für kennerhafte Ge-niesser. Da tauscht etwa eine Schlach-tenmusik, es ist Janequins berühmte «Bataille», ihre mit viel «rantantan»

und «zingzing» gepanzerte Rüstung in einer Fassung gegen das Gewand einer Messe ein, wird lammfromm – vordergründig. An dem Abend im Musikerwohnhaus erklingen selbstver-ständlich beide Fassungen.

Das ist anspruchsvoll, nicht nur für das Publikum. «Wir stellen uns mit der Banquet-Reihe bewusst keinem Perfektionsanspruch. Wenn es schief geht, geht’s halt schief. Dafür ist die-se Experimentierbühne da, und so hat man das auch damals gehandhabt», sagt Groffe. Das nimmt Druck – auch vom Publikum. Hinter dem Käseteller erhebt sich nicht ein makelloses Kunst-

werk auf seinem Sockel. Ich selbst wer-de es bemerken, wenn sich ein Mo-ment der Transzendenz einstellt. Oder auch nicht. Werde beglückt, wenn die Stimmen der vier miteinander verschmelzen und als Liebesklage «je veux plustôt mourir» aus ihrer reser-vierten Kunstschönheit hinaustreten, als klare Botschaft eines plötzlich sehr nahen 16. Jahrhunderts den Raum fül-len. Oder ich merke es nicht.

In seinem Namen verweist das En-semble Thélème auf ein literarisches Werk aus der Zeit Janequins und Le Jeunes. Auf François Rabelais’ um 1550 erschienene Romanzyklus «Gar-gantua et Pantagruel». In einer Episo-de wird dort eine Abtei namens Thé-lème beschrieben, die sowohl Männer wie Frauen aufnimmt. Die fröhliche Mönchs- und Nonnenschar lebt dabei nach dem Motto, das Groffe sich und seinen Kollegen auch verschrieben hat: «Tu, was du willst!»

Das utopische Potenzial dieses Mottos lässt sich nicht immer ganz ausschöpfen, dessen ist sich Groffe be-wusst. Aber als Grundlage, auch etwa für eine Produktion wie «Schweige-rose» an den St.Galler Festspielen, ist so ein Motto doch ganz tauglich. Die Schweigerose, als Ornament in Beicht-stühlen oder bestimmten Zimmern in einem Kloster, ist das Zeichen dafür, dass hier Besprochenes diskret behan-delt wird. «Sub rosa» sprechen heisst, sich der Schweigepflicht unterziehen.

Die erste Assoziation zu diesem, für ein Musikensemble nicht auf den ersten Blick passenden Thema, führ-te Groffe zu Orlando di Lasso. Seine «Prophetiae Sibyllarum» beschwö-ren im Text zwar das Gegenteil der Schweigepflicht, waren die Sibyllen doch die über den ganzen Mittelmeer-raum verteilten Verkünderinnen einer wichtigen Botschaft, der Geburt Jesu. Doch die chromatische Musik Lassos mit ihrer tonartlichen Verschlüsse-lung und die vielen Codes, die den Text enigmatisieren, geben den «Pro-phetiae» ihren sprichwörtlich sibyllini-schen Charakter. Das verrätselte Werk

Lassos, das in St.Gallen nebst Ande-rem erklingt, gehört ebenfalls zur so-genannten Musica riservata. Man wird sich auf einen enigmatischen Abend einstellen können. Formuliert der Choreograf Jonathan Lunn seine Lust am Verborgenen doch unverhohlen: «Die tänzerischen Formen, die ich an-strebe, rühren von einer Mischung aus Intentionen, Ideen und Gefühlen her, die nach einem Ausdruck verlangen, aber sich nicht unbedingt in Sprache fassen lassen. Sie bleiben verborgen und befinden sich unter dem Schutz der Rose des Schweigens.»

Thélème-Gründer Groffe lebt mit seiner Frau, ebenfalls Sängerin, und ihren Kindern seit fünf Jahren im Bas-ler Musikerwohnhaus. Soeben sind sie dort in eine der grösseren Wohnun-gen umgezogen. Am Boden Kisten. Nur der wohl wichtigste Ort in einem Musikerhaushalt, der Übungsraum, ist schon fertig eingerichtet. Ein Kla-vier von Schmidt-Flohr, Notenständer, Bücher, Noten, Kaffeetassen. An der Biennale für Neue Musik in Salzburg hat Groffe soeben etwas von Rebec-ca Saunders gesungen. Für einen Schola-Absolventen nicht selbstver-ständlich. Für einen, der nach dem Rabelais’schen Motto der Freiheit lebt, aber schon – wie überhaupt jedes der Thélème-Mitglieder, musikalisch gerne an anderen Blumen riecht. Das bereichert und fliesst wiederum ins Programm zurück. Groffe ist zurzeit

«Wenn es schief geht, geht’s halt schief»

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auch daran, elektronische Instrumen-te auf seinem Computer auszutesten, sie mit der Stimme zu verbinden. Die Suche nach dem Neuen geht stets weiter. Das führte etwa auch schon zu einem Programm mit Musik von Schubert und Janequin und erstaun-lichen Gemeinsamkeiten der beiden «Bohème»-Musiker.

Die Basler Konzert-Bankette sind eine ideale Bühne für solche Neu-kombinationen. «Das lokale Publi-kum macht da auch gut mit», erfreut sich Groffe. Natürlich hat auch sein Ensemble Auftritte in den grossen Musikzentren. «Aber es ist nicht wert-voller, in Wien, London oder sonstwo zu arbeiten als in der eigenen Stadt», gibt er zu bedenken. Im Gegenteil. Das lokale gepflegte Singen, nicht unähnlich der Kartoffel vom Bauern in Stadtnähe, bietet für ihn spürbare Vorteile. Er geniesst die Verwurzelung mit einem Publikum, das, so Groffe, weniger «autozentrisch» sei, als etwa das Pariser Publikum, das sich im Mit-telpunkt der Welt wähnt. Schön sei der Prozess des Gebens und Nehmens in derjenigen Stadt, wo die Thélème-Mitglieder auch studiert haben, oder noch studieren. Die Porträtfotos für ihre Website haben die Fünf denn auch in einem alten Wagen der loka-len Tramlinie 21 gemacht. Die Ver-kehrsbetriebe willigten nicht nur in die Fotosession ein, sondern schenk-ten den Sängern und der Fotografin auch gleich die Fahrkarten. ■

Das Ensemble Thélème singt im Tanzstück «Schweigerose» von Jonathan Lunn.

24., 25., 29.6.2015Kathedrale St.Gallen, 21:00 Uhr

Orlando di Lasso und polyfone Chansons aus der Renaissance –

das Ensemble Thélème bereitet den musikalischen Boden für die Tanzproduktion «Schweigerose».

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Claudio Cavina: «Die Engel singen aus der Höhe, die Seele des Publikums soll bewegt werden.» Impression aus San Marco.

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Andrea und Giovanni Gabrieli entwickelten am Markusdom in Venedig die mehrchörige Kirchenmusik zur Hochblüte.

Ein Konzert vom Ensemble «La Venexiana» unter Claudio Cavina erweckt diese Musik und die Klanglichkeit der «Cori

spezzati» in St. Gallen zum Leben.

Reinmar Wagner (Text) & Priska Ketterer (Bilder)

Das Ensemble «La Venexiana» bringt die Pracht von San Marco in die Laurenzenkirche

Festa a San Marco

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M&t: claudio cavina, sie spielen und singen mit ihrem ensemble «la Venexiana» in st. gal-len Musik von den beiden gabrielis, die für den Markusdom in Venedig geschrieben wurde. Welche rolle spielt Venedig für die Praxis der «cori spezzati», der mehrchörigen aufführung geistlicher Musik?Claudio Cavina: Venedig war im 15. und 16. Jahrhundert eine der wichtigsten, mächtigsten und einflussreichsten Städ-te der Welt. Das betrifft Politik, Militär und Handel, aber auch die Kultur. Die Hauptkirche Venedigs, San Marco, re-flektiert diese Grösse. Die Technik der «Cori spezzati» wurde zwar nicht hier erfunden, aber mit den beiden Empo-ren und ihren Orgeln bot San Marco ideale Bedingungen und wurde hier von Giovanni Gabrieli zu ihrer Hochblüte gebracht.

M&t: Wo entstand denn die idee der «cori spez-zati»?Cavina: An verschiedenen Orten von Norditalien. Wir wissen, dass in Bologna zum Beispiel schon früh mit zwei oder sogar drei Chören musiziert wurde. Auch in Venedig wurde schon vor And-rea Gabrieli in San Marco mehrchörig gespielt und gesungen, der Niederlän-der Adriaen Willaert hat diese Praxis schon recht differenziert angewandt. Und manche Einflüsse kommen nicht einmal aus Italien selbst, sondern wur-den im Norden vorgeprägt, zum Bei-spiel von Orlando di Lasso, der in den Niederlanden und in München wirkte. Andrea Gabrieli studierte bei Lasso und lernte dort die Doppelchorpraxis ken-nen. Als er nach Venedig zurückkehr-te, entwickelte er in San Marco seine Version der doppelchörigen Psalmen und Concerti. Sein Neffe und Nachfol-ger Giovanni Gabrieli wurde dann der grosse Meister der Doppelchörigkeit mit reicher, vielfältiger Ausprägung dieser Technik und ihrer Erweiterung bis hin zu vier und fünf Chören.

M&t: also gibt es grosse differenzen zwischen der Musik der beiden gabrielis?Cavina: Andrea steht noch in der Tradi-tion der Consort-Musik: Alle spielen und singen dieselben Worte in homofonen Harmonien. Er nutzte die Doppelchö-rigkeit vor allem responsorial, als Spiel von Frage und Antwort, das an wichtigen und feierlichen Momenten in die Be-kräftigung durch beide Chöre gemein-sam mündet. Bei Giovanni finden wir viele konzertante Elemente, nicht mehr nur ganze Chöre wechseln sich ab, son-dern viele solistische Instrumente, bis hin zum virtuosen Wettstreit.

M&t: es ist klar, dass im gegensatz zum päpst-lichen ideal nicht nur singstimmen, sondern

auch instrumente eingesetzt wurden. Welche instrumente spielen eine rolle?Cavina: In der Kirche hat man tatsäch-lich Instrumente verwendet, die den Ge-sang unterstützen, die sich dem Timbre der Stimmen anpassen wie die Zinken und Posaunen. Es gab auch Violinen und tiefere Streicher, vor allem aber hat man Blasinstrumente verwendet. Die Epoche unterschied stark zwischen «mu-sica da chiesa» und «musica da camera», in welcher der Gesang viel moderater und stärker auf die Verständlichkeit des Textes ausgerichtet ist. In der Kir-

che entfaltete man den grossen Klang, pflegte das Demonstrative, die Fülle und Feierlichkeit, dazu passen auch die Zin-ken und Posaunen, die einen tragenden Klang haben.

M&t: die auf den emporen agierenden Musiker sollten ja wohl auch wie stimmen vom himmel klingen?Cavina: Certo, es sind die Engel, die aus der Höhe singen. Man hört die Stimmen, man sieht nicht die Sänger, die Seele des Publikums soll bewegt werden. Die katholische barocke Kir-

Claudio Cavina: «Ein musikalischer Spaziergang durch den Raum der Kirche.»

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La Venexiana

Nein, das x im Namen des italienischen Barockensembles ist kein Schreibfehler. «La Venexiana» ist eine anonyme italienische Renaissance-Komödie (1535–37), ein Vorläufer der «Commedia dell’arte», ein frühes Meisterwerk des Theaters, das italienische Hochsprache mit verschiede-nen Dialekten mischt und damit Bräuche und Verhaltensweisen der Renaissance-Gesellschaft beleuchtet und aufs Korn nimmt. 1986 gab es übrigens eine Verfilmung der «Venezianerin» mit Laura Antonelli in der Hauptrolle. Das Ensemble «La Venexiana», das der Countertenor Claudio Cavina 1998 gründete, verknüpft in seinen Interpretationen die für diese Zeit typische Expressivität, die Aufmerksamkeit für die Subtilitäten der Sprache mit den Kontrasten zwischen Raffiniertem und Populärem, zwischen Kirchlichem und Profanem. Dieser alten Interpretationspraxis folgend, leitet Claudio Cavina auch kleinere Formationen mit einem diskreten Dirigat, das die Tempi ständig dem Fluss der Sprache angleicht.Claudio Cavina studierte in Bologna bei Candace Smith, später in Basel bei Kurt Widmer und René Jacobs, und sang als Countertenor in verschiedenen Ensembles und Produktionen. Mit «La Venexiana» konzentrierte er sich vorerst auf die grosse Tradition des Renaissance-Madrigals und pflegte neben Monteverdi und Gesualdo auch Komponisten wie Sigismondo d’India, Luca Marenzio oder Barbara Strozzi. Später wuchs das Interesse an der frühbarocken Oper, und «La Venexiana» machte sich auch mit Opern von Cavalli und Monteverdi einen Namen. Von Anfang an erschienen die Früchte dieser Arbeit beim spanischen Label Glossa auch auf CD. Gegen zwanzig Produktionen sind bereits veröffentlicht worden, darunter die kompletten Madrigale von Monteverdi, nebst den beiden Opern «Orfeo» und «L’Incoronazione di Poppea», aber auch Madrigale von Gesualdi, Luzzaschi, D’India, Marenzio oder Giaches de Wert. Im kom-menden Herbst wird «La Venexiana» gleich zwei neue CD-Produktionen aufnehmen, einerseits Duette für zwei Countertenöre von Steffani, Benedetto Marcello und Händel, andererseits eine Zusammenstellung von Duetten für Sopran und Countertenor aus Opern von Francesco Cavalli.

chenmusik entfaltet schon im 16. Jahr-hundert eine grosse Pracht und Feier-lichkeit. Das ist grosses Theater, wie es sich auch in den aufwendigen Prozessi-onen ausdrückt mit ihren Gewändern und geschmückten Statuen. Die Musik soll die Manifestation dieser Feierlich-keit unterstützen.

M&t: Was bedeutet das für die aufführung die-ser Musik für ein ensemble heute?Cavina: Zum Glück sind wir sehr vertraut mit dieser Musik und diesem Stil, auch wenn wir als Ensemble ursprünglich vom Renaissance-Madrigal her kommen. Mu-sik, die auf liturgischen Texten basiert, pflegt weniger den Textausdruck wie wir das in den Madrigalen finden. Die Akus-tik in der Kirche erlaubt keine zu schnel-len Bewegungen und Verzierungen, die Harmonik ist vergleichsweise einfach. Im Madrigal ist die Poesie und die Far-bigkeit des Textes sehr wichtig. In der Kirche haben wir lateinische Texte, die alle kennen: Der Text des Magnificats muss nicht im Detail verstanden werden, das kannten die Menschen damals aus-wendig.

M&t: der kirchenraum in st. gallen ist wesent-lich kleiner als san Marco. Was bedeutet das für ihre interpretation?Cavina: St. Laurenzen ist eine schöne Kirche, die Balkone erlauben mehrchö-rige Musik ohne weiteres. Ich bin neu-gierig, wie der Raum auf diese Musik re-agiert, wie die Akustik sich auswirkt auf die Tempi und unsere Interpretationen. Giovanni Gabrieli liebte grosse Grup-pen, er hatte bis zu 40 Sänger in San Marco, aber das ist in St. Gallen nicht nötig. Wir werden sieben Sänger haben, und 13 oder 14 Instrumentalisten: Zin-ken, Posaunen, Violinen, Orgeln und Theorben.

M&t: der titel ihres Programms lautet «Festa a san Marco». Wie haben sie es aufgebaut?Cavina: Wir haben verschiedene Psalm-vertonungen und Motetten der beiden Gabrieli ausgesucht, dazu zwei doppel-chörige instrumentale Canzonen von Andrea, und wir schliessen mit einem grossen Magnificat in zwölf Stimmen. Nicht alles ist doppelchörig in diesem Programm, manchmal singen wir acht-stimmig zusammen, manchmal sind wir geteilt in drei verschiedene Gruppen. Nicht alle werden ständig am selben Platz singen und spielen. Es wird eine Art musikalischer Spaziergang durch den Raum der Kirche sein. ■

La Venexiana, Leitung: Claudio CavinaMusik von Andrea und Giovanni Gabrieli.Freitag, 26. Juni, 19.00 Uhr, Kirche St. Laurenzen

Blick in den Chor von San Marco.

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Maurice Steger und sein Ensemble lassen die Instrumentalmusik des frühbarocken Venedig auferstehen

M&t: Maurice steger, ihr Programm «Venezia 1625» lässt uns eintauchen in die Frühzeit der barocken instrumentalmusik. steht die Jahres-zahl 1625 für ein konkretes ereignis?Maurice Steger: Nein, das ist nur ein un-gefährer Anhaltspunkt. 1610 haben wir mit Monteverdis «Orfeo» die erste gros-se Oper, nach 15 Jahren absolut wilder stilistischer Entwicklung. Wir haben in Venedig die erste Generation der gros-sen Instrumentalkomponisten mit Cas-tello, Fontana und Salomone Rossi, die nächste Generation mit Uccellini oder Merula ist am Kommen.

M&t: im Musikleben Venedigs spielt die kathe-drale san Marco die unumstrittene Führungs-

«Manchmal bin ich schon ein bisschen eifersüchtig»

rolle. Bei welchen gelegenheiten wurden die instrumentalen stücke gespielt?Steger: Die Monodie mit ihrer Ausgestal-tung der Affekte ist erst gut zwanzig Jah-re alt, das Solistentum ist neu, dass man eine Geigensonate spielt, ist neu. Musik soll nun Gefühle erwecken, nicht nur Gottes Lob sein. Sie wird dadurch bei neuen gesellschaftlichen Schichten eta-bliert. Davor gab es als Instrumentalmu-sik nur Tanzmusik, jetzt hält sie Einzug in die Palazzi. Aber die Besetzungen und die Stimmungen deuten darauf hin, dass diese Instrumentalstücke noch immer – auch oder vielleicht vor allem – in der Kirche gespielt wurden. Da sass Castello noch an der Orgel und hat seine Sona-

te begleitet. Und zwar allein, die heu-tige Mode, im 17. Jahrhundert überall Theorben im Generalbass einzusetzen, deckt sich kaum mit den historischen Verhältnissen. Ich finde, ein korrekt ge-spielter Continuo-Satz eines Organisten, kommt der Wahrhaftigkeit und Substanz der Komposition näher.

M&t: auf ihrer cd «Venezia 1625» bringen sie aber ein sehr farbiges continuo mit.Steger: Ja, aber ich behaupte nicht, dass das damals so gewesen ist. Ich will ein-fach ehrlich sein. Auch in St. Gallen spie-len wir mit Theorbe. Eine Orgel allein ist einfach zu wenig farbig, wir brauchen eine Besetzung, die emotionaler ist.

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Auch ein Psalterium kann nicht nach-gewiesen werden, dennoch setzen wir in St. Gallen diese Farbe ein. Aber ein wenig Zurückhaltung auf diesem Gebiet gehört heute zu meinem Personalstil, es wird meiner Meinung nach manchmal schon etwas übertrieben. Wenn ich so rumschaue, bin ich schon fast ein Hard-liner geworden, daran muss ich persön-lich schon ein bisschen knabbern. Was die Jungen machen, ist viel undogma-tischer, und ein bisschen eifersüchtig macht es mich doch: Warum gebe ich mir eigentlich so viel Mühe, möglichst fundiert zu recherchieren, warum bin ich so ehrlich? Die Jungen sind mit die-sen Klängen aufgewachsen, haben da-durch einen freien Zugang bekommen. Das ist sicher schön, und es klingt oft prächtig, aber ich vermisse manchmal ein bisschen einen Mangel an Konzept, an Struktur einer Komposition, was für mich schon immer noch das wichtigste ist an dieser Musik.

M&t: halten sie sich in st. gallen an das Pro-gramm der cd?Steger: Nein, es ist sogar ziemlich ver-schieden. Die Kirche St. Laurenzen ist ein sehr guter Raum, da kann ich mit einem historisch weitgehend rekonstru-ierbaren passenden Ensemble spielen. Diese Stücke sind damals keine Kam-mermusik gewesen, das ist, glaube ich, ein zu moderner Gedanke. Wir machen einen Sprung zu Caldara als spätestem Werk im Programm. Er hat als erster ge-schrieben: Sonata da camera; und da ist dann ein Cembalo und eine eher tiefe Stimmung gemeint.

M&t: auch für die Melodiestimmen haben die komponisten meistens kein bestimmtes inst-rument vorgeschrieben, sondern die Besetzung offen gelassen.Steger: Das war absolut üblich. In St. Gallen habe ich mit Fiorenza de Dona-tis eine tolle Barockgeigerin. Sie spielt die grosse Sonate von Castello, obwohl ich sie auch auf der Blockflöte spielen könnte. Ich habe mir als Gegenstück die Sonate von Fontana ausgewählt, die et-was intellektueller und bläserischer im Charakter ist. Aber der Siegeszug der Violine hat damals noch nicht richtig eingesetzt.

M&t: Warum verliert die Blockflöte später so stark an Boden?Steger: Man hatte in den 1630er- und 1640er-Jahren diese grossen Pest-Epi-demien in Venedig, und es scheint tat-sächlich, dass zum Beispiel viele der wirklich guten Zinken-Spieler dabei um-gekommen sind. Es gab sie nicht mehr, sie bildeten keine neuen Virtuosen aus, und das hat, glaube ich, auch dazu bei-getragen, dass diese Instrumente relativ rasch aus dem Gebrauch kamen. Es ist wirklich ein Bruch, auch bei den Block-flöten lässt sich Ähnliches beobachten.

M&t: Vieles in dieser frühbarocken Musik erin-nert stark an die consort-Musiken, die virtuo-sen solistischen Passagen werden immer wie-der unterbrochen, die Musik wirkt kleingliedrig und dadurch abwechslungsreicher als später, etwa bei Vivaldi.Steger: Genau, deswegen haben Ba-rockgeiger, die sich im 18. Jahrhundert auskennen, auch oft Mühe mit diesen Stücken. Man braucht viel mehr Wis-sen und eine starke Intuition für den Kontrapunkt. Die Rolle des Soloinstru-ments unterscheidet sich sehr von ei-nem Vivaldi -Konzert, man ist manchmal nur eine Stimme in einem kontrapunk-tischen Gebilde, hängt kurz die Diva heraus, muss Affekte zeigen und gleich darauf wieder zurück gehen. Und vor al-lem muss man diese Rollen sehr schnell wechseln können. Im Hochbarock geht

alles viel länger, den ganzen Satz lang ist man der virtuose König des Geschehens, dann folgt eine Pause und ein Adagio mit ebenfalls ganz klarer Rollenvertei-lung. Hier, im frühen Barock, ist da alles noch nicht gefestigt, manches ist über-raschend anders, wirkt willkürlich, ist sogar unlogisch. Es gibt viele Sackgassen in dieser Zeit. Keine Musik ist proben-technisch so aufwendig wie Frühbarock.

M&t: Was heisst das für sie als leiter dieses ensembles?Steger: Ich kann nichts modellieren wie in der romantischen Musik, oder auch schon im Spätbarock. 90 Prozent der Interpretation wird in den Proben fest-gelegt. Man kann kaum etwas anzeigen. Aber ich kenne und liebe dieses Reper-toire sehr, wenn mir Musik nahe liegt, dann diese.

M&t: Müssen sie dafür bei den Veranstaltern kämpfen?Steger: Man kennt immerhin den Flötis-ten, sagen sie dann. Aber es ist tatsäch-lich ein Problem: Niemand kennt diese Komponisten. In St. Gallen war das jetzt sehr schön, sie kannten die CD und woll-ten genau diese Musik haben. Frühba-rock kann ich nicht so oft spielen, dabei wäre es zum Beispiel hoch interessant, was zum Beispiel in Neapel in dieser Zeit genau passiert. Vielleicht muss ich eine CD machen, dann steigt das Inte-resse. Aber ich habe halt auch gelernt, dass die Musik, die ich wirklich sehr gerne spiele, für die mein Herz schlägt, nicht so richtig mehrheitsfähig ist.

M&t: Wie reagiert denn das Publikum darauf?Steger: Es geht eher nicht mit Tränen in den Augen aus dem Konzert, son-dern reagiert auf die ganzen Emotions-wellen. Darum brauche ich auch die Klangfarben. Ich würde gerne alles nur mit Orgel spielen und das Gerüst der Komposition zeigen. Das geht natürlich nicht, dafür fehlen die Hörgewohnhei-ten. Aber ich erlebe oft, wenn ich solche Stücke in andere Programme integrie-re, dass die Leute nachher sagen, diese Tanzmusik von Merula hat mir am bes-ten gefallen. Dann ist für mich die Welt in Ordnung.

Reinmar Wagner

Maurice Steger & Ensemble«Venezia 1625»: Musik von Uccellini, Picchi, Castello, Kapsberger, Fontana, Caldara, Rossi und Merula. Das detaillierte Programm finden Sie im Service-Teil am Ende dieses Heftes. Dienstag, 23. Juni, 19.00 Uhr, Kirche St. Laurenzen.

Maurice Steger: «Keine Musik ist probentechnisch so aufwendig wie Frühbarock.»

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19. Juni bis 3. Juli 2015

I due FoscariOper vOn Giuseppe verdi Open-Air-AufführunG Auf dem KlOsterhOf st.GAllen

Musikalische leitung attilio tomaselloinszenierung carlos WagnerBühne rifail ajdarpasickostüMe ariane isabell unfried licht guido Petzold choreinstudierung Michael VogelFrancesco Foscari Paolo gavanelli / leo an JacoPo Foscari leonardo capalbo / derek taylorlucrezia contarini Yolanda auyanet / Majella cullaghJacoPo loredano levente Páll / Wade kernotBarBarigo riccardo Botta Pisana simone riksman / alison trainer

Chor des Theaters St.Gallen Opernchor St.Gallen Theaterchor Winterthur Prager Philharmonischer ChorStatisterie des Theaters St.GallenSinfonieorchester St.Gallen

Premiere: Freitag, 19. Juni 2015, 20.30 UhrWeitere Vorstellungen: 20., 23., 26., 27. Juni, 1. und 3. Juli jeweils 20.30 Uhr

SchweigerosetAnzstücK vOn JOnAthAn lunn KAthedrAle st.GAllen

choreograFie Jonathan lunnkostüMe Marion steinerlicht andreas enzler draMaturgie serge honeggergesang thélèmeorgel Willibald guggenmos

Tanzkompanie des Theaters St.Gallen

Premiere: Mittwoch, 24. Juni 2015, 21 UhrWeitere Vorstellungen: 25. und 29. Juni, jeweils 21 Uhr

Konzerte

Forum für Alte Musikl’OrGAnO A veneziA venediG in der OrGelmusiKsonntag, 21. Juni, 17 uhr, Kathedrale

Willibald Guggenmos, Domorganist St.Gallen

veneziA 1625 sOnAte, sinfOnie, ciAccOne, cAnzOne e tOccAtedienstag, 23. Juni 2015, 19 uhr, Kirche st.laurenzen

Maurice Steger, Blockflöte und Leitung

musicA A sAn mArcO cOri spezzAti – musiK im rAumfreitag, 26. Juni, 19 uhr, Kirche st.laurenzen

La Venexiana Claudia Cavina, Leitung

vivAldi und dresden vivAldi und dAs flOrenz des nOrdenssonntag, 28. Juni, 19 uhr, Barocksaal der stiftsbibliothek

Johannes Pramsohler, Barockvioline Philippe Grisvard, Cembalo

vivAldi Bei den hABsBurGerndienstag, 30. Juni, 19 uhr, Kirche st.laurenzen

Capella Gabetta Andrès Gabetta, Violine und Leitung

cheruBini – requiemdonnerstag, 2. Juli, 20 uhr, Kathedrale

Luigi Cherubini | Requiem c-Moll (1817)

Sinfonieorchester St.Gallen Otto Tausk, Leitung Kammerchor Feldkirch Prager Philharmonischer Chor

Venezianische Stimmungen im St.Galler Klosterbezirk

Die Atmosphäre des UNESCO-Weltkulturerbes ist einmalig und macht einen Besuch der St.Galler Festspiele zu mehr als einem Kulturgenuss. Für Ihr ganz besonderes Festspielerlebnis bieten wir Ihnen spezielle Angebote, die Sie individuell zusammen-stellen können.Vor der Veranstaltung können Sie bei einer Wer-keinführung mehr über die Oper «I due Foscari», den Komponisten Giuseppe Verdi, die Solisten und das Kreativteam erfahren. Die Produktion einer Oper unter freiem Himmel bringt ganz besondere Herausforderungen mit sich. Innerhalb kurzer Zeit werden Bühne und Zuschauertribüne gebaut, mit Sound und Licht ausgestattet, das Sinfonieorches-ter platziert, die 200 Mitwirkenden organisiert, da-mit am Ende die Kunst ganz im Mittelpunkt stehen

und strahlen kann. Bei unseren Backstageführun-gen zeigen wir Ihnen, wie es geht und was alles bedacht wurde.

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teleFonisch +41 71 242 06 06 die Mitarbeiterinnen nehmen ihre ticketwünsche entgegen und beraten sie gerne.

schriFtlich st.galler Festspiele, BillettkasseMuseumstrasse 24, ch-9004 st.gallenschriftliche Bestellungen mit angaben zum Vor-stellungsdatum, anzahl tickets, kategorie können an obenstehende adresse gesandt werden. Bearbeitungsgebühr: Fr. 5.–

Persönlich tickets können sie am schalter der theaterkasse in der Museumstrasse 24 oder während der Festspiele im Besucherzentrum stifts-bezirk an der gallusstrasse 11 direkt beziehen.

Programm

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s e r v i c e 33Verdis Kreuzritter-Rivalen-tragödie «I Lombardi», 2011.

Ein wildes Drama um Faust: Berlioz‘ «La Damnation de Faust», 2012.

«La Favorita» von Gaetano Donizetti, die Festspieloper des Jahres 2014.

Verdis «Attila», sein patriotisches Drama um den Hunnenkönig, stand 2013 auf dem Programm der Festspiele.

Bilder: st.Galler festspiele/t+t fotografie tanja dorendorf/toni suter/Hans Jörg Michel

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36. Jahrgang, Juni/Juli 2015Special Edition St.Galler Festspiele 2015

Redaktionsanschrift:Musik&TheaterNeugasse 10, CH-8005 Zürich Tel. +41 44 491 71 88, Telefax 044 493 11 76http://[email protected]

HerausgeberinSomedia (Südostschweiz Presse und Print AG)Sommeraustrasse 32Postfach 491, CH-7007 Chur

VerlagsleitungRalf SeeligTel. +41 81 255 54 [email protected]

ChefredaktorAndrea Meuli

RedaktionReinmar Wagner, Werner Pfister

Autorinnen und Autoren dieser AusgabeMarco Frei, Benjamin Herzog, Priska Ketterer, Kai Luehrs-Kaiser, Andrea Meuli, Reinmar Wagner

BildstreckenPriska Ketterer

AnzeigenMusik&Theater +41 44 491 71 [email protected]

Abonnementverwaltung Kundenservice/AboSommeraustrasse 32Postfach 491, CH-7007 ChurTel. 0844 226 [email protected]

HerstellungSomedia Production

KorrektoratErnst Jenny

CopyrightMusik&Theater, SomediaAlle Rechte vorbehalten

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Studenten (mit beigelegter Legitimation):

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Schnupperabonnement (3 Ausgaben): CHF 25.– Euro 25.–

Ausland Luftpost:1 Jahr CHF 200.– Euro 150.–

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Das Abonnement ist mit einer Frist von 2 Monaten vor seinem Ablauf kündbar. Ohne schriftliche Kündigung erneuert es sich automatisch um ein Jahr.

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Bekanntgabe von namhaften Beteiligungen i.S.v. Art. 322 StGB:Südostschweiz Radio AG, Südostschweiz TV AG, Südostschweiz Emotion AG, Südost-schweiz Pressevertrieb AG, Südostschweiz Partner AG

ISSN 0931-8194

Page 35: Mutspecial st gallen festival 2015

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Mit grosszügiger Unterstützung von

Müller-Lehmann-Fonds

Ab 2. Maiim Grossen Haus

Oper von George Benjamin und Martin Crimp

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