Mythos Und Bedeutung. Vortrage - Levi-Strauss, Claude

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Bibliothek Suhrkamp

Claude Lévi-Strauss

Mythos

und Bedeutung

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SV

Band 1197 der Bibliothek Suhrkamp

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Claude Lévi-Strauss

Mythos und Bedeutung

Vorträge

Aus dem Englischen von Brigitte Luchesi

Suhrkamp Verlag

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Originaltitel: Myth and Meaning Die Vorträge sind dem gleichnamigen,

1980 in der edition suhrkamp erschienenen Band,der außer den Vorträgen Gespräche enthält, entnommen.

Erste Auage 1995© Suhrkamp Verlag Frankurt am Main 1980

Alle Rechte vorbehaltenSatz: MZ-Verlagsdruckerei GmbH, MemmingenDruck: Nomos Verlagsgesellscha, Baden-Baden

Printed in Germany 

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Inhalt

Die Massey-Vorträge7

Einleitung11

Das Zusammentreen vonMythos und Wissenscha

13

»Primitives« Denken und»zivilisiertes« Denken

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Hasenscharten und Zwillinge:

Die Spaltung eines Mythos40

Wenn der Mythos Geschichte wird52

Mythos und Musik 65

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Sendungen nicht verwendet wurde, sind die Vor-träge für die Drucklegung erweitert worden. Der 

 gesprochene Text wurde nur geringfügig bear-beitet, um ihn den strengeren Konventionen der Schriftsprache anzugleichen. Im folgenden sind die Hauptfragen wiedergegeben, die Carole Orr 

 Jerome an Lévi-Strauss stellte und die zur Ge-staltung der Vortragsreihe beitrugen.

Das Zusammentreen vonMythos und Wissenscha

Viele Ihrer Leser glauben, daß Sie den Versuchunternähmen, uns zum mythischen Denken zu-rückzuführen, daß wir etwas sehr Kostbares ver-loren hätten und daß wir versuchen müßten, eswiederzugewinnen. Heißt das nun, daß wir die

Wissenschaft und das moderne Denken in denWind schreiben und zum mythischen Denkenzurückkehren müssen? Was ist Strukturalismus? Wie sind Sie auf dieIdee des strukturalen Denkens gekommen? 

Sind, wenn es Bedeutung geben soll, Ordnung und Regeln erforderlich? Kann es im Chaos Be-deutunggeben? Was meinen Sie damit, daß Ord-nung der Unordnung vorzuziehen sei? 

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»Primitives« Denken und»zivilisiertes« Denken

Hasenscharten und Zwillinge:Die Spaltung eines Mythos

Es gibt Menschen, die sagen, daß das Denkender sogenannten Primitiven dem wissenschaftli-chen Denken nachstehe. Sie sagen, es stehe ihmnicht aufgrund seiner besonderen Ausdrucks-weise, sondern deswegen nach, weil es wissen-schaftlich gesehen falsch sei. Wie würden Sie das

 primitive Denken mit dem wissenschaftlichenDenken vergleichen? 

 Aldous Huxley sagte in »Die Pforten der Wahr-nehmung«, daß die meisten von uns nur einenbestimmten Teil ihrer geistigen Fähigkeiten ge-brauchten und daß die übrigen vollkommenbrachlägen. Meinen Sie, daß wir bei dem Leben,

das wir heute führen, unsere geistigen Fähigkei-ten weniger gebrauchen als die von Ihnen be-schriebenen Menschen, die mythisch dachten? Die Natur bietet uns eine mannigfaltige Welt,und wir neigen immer dazu, weniger die Ähn-

lichkeiten in der Entwicklung unserer Kulturen,als deren Unterschiede aufzugreifen. Meinen Sie,daß wir uns einem Punkt nähern, wo wir damit beginnen können, einige der zwischen uns beste-henden Trennungen aufzuheben? 

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Wenn der Mythos Geschichte wird

Wir kennen das alte Problem des Forschers, der allein durch seine Anwesenheit seinen For-schungsgegenstand verändert. Sehen wir uns un-sere Mythensammlungen an: Haben sie eine ei-

 gene Bedeutung und eine eigene Ordnung, oder ist die Ordnung von den Ethnologen, die dieseErzählungen zusammengetragen haben, herge-stellt worden? Wie unterscheiden sich mythologisches Denkenund Geschichte, was ihre begriff liche Gestaltung betrifft? Ist es so, daß die mythologische Fassung 

einer Erzählung auf historische Tatsachen zu-rückgreift, sie dann umgestaltet und auf andereWeise verwendet? 

Mythos und Musik 

Können Sie ganz allgemein etwas über die Bezie-hung zwischen Mythos und Musik sagen? Sie haben behauptet, daß sowohl der Mythos

wie die Musik von der Sprache herstammen, sich jedoch in verschiedene Richtungen entwickelt hätten. Was meinen Sie damit? 

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Einleitung

Ich werde über etwas sprechen, was ich bereits inmeinen Büchern, Ausätzen usw. beschriebenhabe, doch unglücklicherweise vergesse ich im-mer alles, was ich geschrieben habe, in dem Au-genblick, in dem es beendet ist. Das wird vermut-lich noch zu einigem Ärger ühren. Ich glaube

 jedoch, daß es auch seine Bedeutung hat, da ichnämlich nicht das Geühl habe, meine Bücherselbst geschrieben zu haben. Eher habe ich dasGeühl, daß ich eine Durchgangsstelle ür meine

Bücher bin; sobald sie durch mich hindurchge-gangen sind, ühle ich mich leer, und nichtsbleibt zurück.Sie werden sich vielleicht daran erinnern, daß ichschrieb, die Mythen würden im Menschen ge-

dacht, ohne daß er etwas davon weiß. DieserSatz wurde von meinen englischsprechendenKollegen häug erörtert und kritisiert, weil erempirisch gesehen, nach ihrer Auassung, völligsinnlos ist. Für mich aber beschreibt er eine wirk-

liche Erahrung, da er genau ausdrückt, wie ichdie Beziehung zu meiner Arbeit begreie. Dasheißt, meine Arbeit wird in mir gedacht, ohnedaß ich davon weiß.Ich habe nie ein Geühl meiner persönlichen

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Identität gehabt, habe es auch jetzt nicht. Ichkomme mir vor wie ein Ort, an dem etwas ge-

schieht, an dem aber kein Ich vorhanden ist. Je-der von uns ist eine Art Straßenkreuzung, au dersich Verschiedenes ereignet. Die Straßenkreu-zung selbst ist völlig passiv; etwas ereignet sichdarau. Etwas anderes, genauso Gültiges, ereig-net sich anderswo. Es gibt keine Wahl, es ist ein-ach eine Sache des Zualls.Ich maße mir keinesalls an, daß ich deshalb,weil ich so denke, zu dem Schluß berechtigt bin,die ganze Menschheit müsse so denken. Ichglaube jedoch, daß die besondere Art und Weise,

wie ein Wissenschaler oder ein Schristellerdenkt und schreibt, einem jeden von ihnen einenneuen Blick au die Menschheit erönet. Und dieatsache, daß ich persönlich gerade diese Idio-synkrasie habe, berechtigt mich vielleicht dazu,

au etwas hinzuweisen, was gültig ist, wobei dieArt und Weise, wie dieser oder jener Kollegedenkt, einen anderen Blick auun mag, derebenso gültig ist.

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Das Zusammentreen vonMythos und Wissenscha

Ich möchte mit einem persönlichen Bekenntnisbeginnen. Es gibt eine Zeitschri, die ich, ob-wohl ich nicht alles verstehe, allmonatlich vonder ersten bis zur letzten Zeile gewissenha lese.Es handelt sich um den »Scientific American«.Ich bin ganz versessen darau, über alles, was inder modernen Wissenscha an neuesten Er-kenntnissen gewonnen wird, so gut wie nurmöglich inormiert zu sein. Meine Einstellung

zur Wissenscha ist also nicht negativ.Zweitens glaube ich, daß es einige Dinge gibt, diewir verloren haben und die wir vielleicht versu-chen sollten wiederzugewinnen. Ich bin mirnicht sicher, ob sich diese Dinge in der Welt, in

der wir leben und mit dem wissenschalichenDenken, dem wir olgen müssen, genauso wie-dergewinnen lassen, als seien sie nie verlorenge-gangen. Wir können jedoch versuchen, uns ihrerExistenz und ihrer Bedeutung bewußt zu wer-

den.Drittens habe ich das Geühl, daß sich die mo-derne Wissenscha keineswegs von diesen verlo-rengegangenen Dingen wegbewegt, sondern sichmehr und mehr bemüht, sie wieder in den Be-

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reich der wissenschalichen Erklärung hinein-zunehmen. Die eigentliche Spaltung, die ren-

nung von Wissenscha und dem, was wir au derSuche nach einer passenden Bezeichnung (auchwenn diese Bezeichnung ungenau bleibt) mythi-sches Denken nennen können, diese rennungerolgte im 17. und 18. Jahrhundert. Damals, zurZeit Bacons, Descartes’, Newtons und anderer,mußte sich die Wissenscha gegen die alten my-thisch und mystisch denkenden Generationendurchsetzen. Man glaubte, daß die Wissenschanur dann bestehen könne, wenn sie der altenWelt der Sinne den Rücken kehrte – jener Welt,

die wir sehen, riechen, tasten und wahrnehmen.Die Welt der Sinne war eine trügerische, diewirkliche Welt dagegen eine Welt mit mathema-tischen Eigenschaen, nur mit Hile des Intel-lekts erahrbar und im vollkommenen Wider-

streit zu den alschen Eindrücken der Sinne. Daswar vermutlich eine notwendige Unterschei-dung, lehrt uns doch die Erahrung, daß es demwissenschalichen Denken dank dieser ren-nung – dieses Schismas, wenn Sie so wollen –

möglich war, sich zu konstituieren.Nun habe ich den Eindruck (natürlich sprecheich nicht als Naturwissenschaler – ich bin we-der Physiker noch Biologe oder Chemiker), daßdie heutige Wissenscha im Begri ist, diese

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Spaltung zu überwinden, und daß die Sinneser-ahrungen wieder stärker in die wissenschali-

che Erklärung einbezogen werden als etwas,dem eine Bedeutung, eine Wahrheit innewohntund das erklärt werden kann.Nehmen Sie zum Beispiel die Welt der Gerüche.Wir waren gewohnt, sie ür eine vollkommensubjektive, außerhalb der Wissenscha liegendeWelt zu halten. Heute können uns die Chemikersagen, daß jeder Geruch und jede Geschmacks-richtung eine bestimmte chemische Zusammen-setzung haben, und die Gründe nennen, warumuns manche Gerüche und Geschmacksrichtun-

gen subjektiv so vorkommen, als hätten sie et-was gemeinsam, und warum andere uns ganzunterschiedlich erscheinen.Nehmen wir ein anderes Beispiel. Seit der Zeitder Griechen bis ins 18., sogar 19. Jahrhundert

gab es in der Philosophie eine selbst heute nochnicht ganz erloschene große Diskussion über denUrsprung der mathematischen Ideen – der Ideeder Linie, der Idee des Kreises, der Idee des Drei-ecks. Im großen und ganzen waren zwei klassi-

sche Teorien vorherrschend: Die eine stellteden Geist als tabula rasa vor, der zu Beginnnichts enthält und alles erst durch Erahrungaunimmt; daß es uns trotzdem möglich ist, dieIdee des Kreises abstrakt zu assen, rührt von der

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Betrachtung einer Vielzahl runder, wenn auchniemals vollkommen runder Gegenstände her.

Die zweite klassische Teorie geht au Plato zu-rück, der behauptete, daß diese Ideen des Krei-ses, des Dreiecks oder der Linie vollkommensind, dem Geist eingeboren, und daß wir sie,auch wenn uns die Wirklichkeit niemals einen

 vollkommenen Kreis oder ein vollkommenesDreieck vor Augen ührt, eben deshalb, weil siedem Geist vorgegeben sind, au die Wirklichkeitgleichsam projizieren können.Heute lehren uns Wissenschaler au dem Ge-biet der Neurophysiologie des Auges, daß die

Nervenzellen der Netzhaut und des übrigen Sy-stems hinter der Netzhaut spezialisiert sind: Be-stimmte Zellen reagieren nur au gerade Linien,einige davon au vertikale, andere au horizon-tale, wieder andere au diagonale, andere Zellen

dagegen nur au die Beziehung zwischen Hinter-grund und Hauptgur, und so weiter. Die Lö-sung des gesamten Problems Erahrung contraGeist scheint demnach – und ich vereinachesehr stark, weil es ür mich zu schwierig ist, das

in einer remden Sprache auszuühren – in derStruktur des Nervensystems zu liegen, also nichtin der Struktur des Geistes oder in der Erah-rung, sondern irgendwo im Bereich zwischenGeist und Erahrung, in der Art und Weise, wie

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unser Nervensystem beschaen ist und wie eszwischen Geist und Erahrung vermittelt.

Vermutlich gibt es ganz tie in meinem eigenenGeist etwas, das es wahrscheinlich macht, daßich schon immer war, was man heutzutage einenStrukturalisten nennt. Meine Mutter erzähltemir, daß ich, als ich ungeähr zwei Jahre alt warund natürlich noch nicht lesen konnte, be-hauptete, lesen zu können. Und als ich geragtwurde, woher ich das wisse, soll ich geantwortethaben, daß ich beim Betrachten der Ladenschil-der – z. B. boulanger  (Bäcker) oder boucher (Metzger) – etwas lesen könne, weil das, was der

Schri nach, vom Graphischen her, augen-scheinlich ähnlich war, nichts anderes als »bou«heißen konnte, die gemeinsame Anangssilbe

 von boucher  und boulanger . Wahrscheinlichmacht genau das und nichts anderes den struk-

turalistischen Ansatz aus; es ist die Suche nachdem Invarianten oder nach den invarianten Ele-menten unter den Verschiedenheiten an derOberäche.Diese Suche war vermutlich mein ganzes Leben

hindurch eines meiner beherrschendsten Interes-sen. Als Kind interessierte ich mich eine Zeitlangbesonders ür Geologie. Auch in der Geologiestellt sich das Problem, in der ungeheuren Man-nigaltigkeit der Landschaen das Invariante zu

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erassen, d. h., eine Landscha au eine endlicheAnzahl von Schichtungen und geologischen Vor-

gängen zu reduzieren. Später, als Heranwach-sender, verwandte ich einen großen eil meinerFreizeit darau, Opernkostüme und Opernaus-stattungen zu entweren. Das Problem ist hiergenau dasselbe: nämlich, in einer Sprache – derSprache der graphischen Kunst und der Malerei

– etwas auszudrücken, was auch in der Musik und im Libretto vorkommt, das heißt die inva-riante Eigenscha eines komplexen Systems vonCodes (musikalischer Code, literarischer Code,künstlerischer Code) zu erassen. Das Problem

besteht im Aunden dessen, was ihnen gemein-sam ist. Man könnte es ein Übersetzungspro-blem nennen: das, was in einer Sprache – oder ineinem Code, wenn Sie lieber wollen, aber Spra-che reicht aus – ausgedrückt ist, in einer anderen

Sprache zum Ausdruck zu bringen.Der Strukturalismus oder all das, was mit diesemNamen so bezeichnet wird, ist als etwas völligNeuartiges und seinerzeit Revolutionäres an-gesehen worden. Ich halte das in doppelter

Hinsicht ür alsch. Zum einen ist der Struktu-ralismus, selbst im Bereich der Geisteswissen-schaen, keineswegs neu. Wir können dieseDenkrichtung von der Renaissance bis ins19. Jahrhundert und bis in unsere Zeit genau ver-

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olgen. Aber es ist noch aus einem anderenGrund alsch: Was wir in der Linguistik, in der

Ethnologie oder in verwandten Fächern alsStrukturalismus bezeichnen, ist nichts weiter alseine blasse Imitation dessen, was die hard scien-ces, wie Sie es im Englischen wohl nennen, im-mer schon betrieben haben.Der Wissenscha stehen nur zwei Verahrens-weisen zur Verügung: Sie arbeitet entweder re-duktionistisch oder strukturalistisch. Reduktio-nistisch verährt sie dann, wenn sich eststellenläßt, daß höchst komplexe Phänomene einer be-stimmten Ebene au einachere Phänomene an-

derer Ebenen reduzierbar sind. So gibt es zumBeispiel im Leben vieles, was au physikochemi-sche Prozesse reduziert werden kann, wodurches sich zum eil, wenn auch nicht vollständig,erklären läßt. Wenn wir es aber mit Phänomenen

zu tun haben, die sich augrund ihrer Komplexi-tät nicht au Phänomene einer niedrigeren Stuereduzieren lassen, dann können wir uns ihnennur dadurch nähern, daß wir die Beziehungenbetrachten, in denen sie zueinander stehen, das

heißt dadurch, daß wir zu verstehen suchen, wieihr Ausgangssystem beschaen ist. Genau dashaben wir in der Linguistik, in der Ethnologieund in verschiedenen anderen Bereichen immerzu tun versucht.

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Allerdings stehen der Natur – lassen Sie mich»Natur« der Einachheit halber personalisieren

– nur eine begrenzte Anzahl von Verahren zurVerügung, und die Verahren, die sie au einerEbene der Wirklichkeit anwendet, müssen au anderen Ebenen wiederkehren. Ein gutes Bei-spiel daür ist der genetische Code: Als die Biolo-gen und Genetiker vor dem Problem standen,das von ihnen Entdeckte zu beschreiben, konn-ten sie bekanntlich nichts anderes tun, als sichder Sprache der Linguisten zu bedienen und vonSätzen, Betonung, Punkten und ähnlichem zusprechen. Ich meine nun keineswegs, daß es sich

dabei um die gleiche Sache handelt. Natürlich istdas nicht der Fall. Aber das Problem, das sich au zwei verschiedenen Ebenen der Wirklichkeitstellt, ist das gleiche.Es liegt mir völlig ern, die Kultur au die Natur

reduzieren zu wollen – wie es im ethnologischenSprachgebrauch heißt –, gleichwohl handelt essich bei dem, was wir au der Ebene der Kulturbeobachten,  formal  (keineswegs substantiell)um die gleichen Phänomene. Zumindest können

wir das Problem, das au der Ebene der Naturbesteht, auch ür den geistigen Bereich eststel-len, obwohl natürlich das Kulturelle sehr vielkomplexer ist und nach einer sehr viel größerenAnzahl von Variablen verlangt.

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Ich versuche nicht, eine Philosophie zu ormulie-ren, nicht einmal eine Teorie. Von Kindheit an

hat mich das – nennen wir es – Irrationale ge-stört, und ich habe mich immer darum bemüht,eine Ordnung hinter dem zu nden, was sich unsals Unordnung zeigt. Ich bin ganz zuällig Ethno-loge geworden; nicht etwa, weil ich mich ür dieEthnologie interessierte, sondern weil ich derPhilosophie entkommen wollte. Ebenalls reinzuällig erlaubte es das ranzösische Ausbil-dungssystem zu einer Zeit, da die Ethnologienoch kein eigenständiges universitäres Lehrachwar, daß jemand, der Philosophie studiert hatte

und Philosophie lehrte, zur Ethnologie üchtenkonnte. Ich üchtete zu ihr und stand soort voreinem Problem: es gab rund um die Welt eineUnmenge von Heiratsregeln, die vollkommensinnlos aussahen, und diese atsache war um so

irritierender, als es dann, wenn sie tatsächlichsinnlos waren, ür jedes Volk andere Regeln ge-ben mußte, auch wenn die Anzahl der Regelntrotzdem mehr oder minder begrenzt seinmochte. Sollte diese Absurdität immer wieder

auauchen und eine andere Absurdität eben-alls, dann müßte es sich um etwas handeln, dasnicht vollkommen absurd sein konnte, da essonst nicht wiederkehren würde.Das war also mein erster Orientierungsversuch:

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eine Ordnung hinter dieser scheinbaren Unord-nung zu nden. Und als ich nach dieser Arbeit an

den Verwandtschassystemen und Heiratsre-geln meine Aumerksamkeit – wiederum zuälligund keineswegs mit Absicht – der Mythologiezuwandte, tra ich dort genau au das gleicheProblem. Mythenerzählungen sind oder erschei-nen willkürlich, sinnlos, absurd; dennoch tau-chen sie überall in der Welt immer wieder au.Eine  phantastische Schöpung des Geistes, dienur an einem Ort vorkäme, wäre einzigartig;man würde sie nirgendwo sonst wieder nden.Ich wollte herausnden, ob es eine Ordnung hin-

ter dieser augenscheinlichen Unordnung gibt –mehr nicht. Und ich behaupte nicht, daß man zuendgültigen Ergebnissen kommen kann.Es ist meiner Ansicht nach vollkommen unmög-lich, Bedeutung ohne Ordnung zu konzipieren.

Es gibt etwas sehr Eigentümliches in der Seman-tik: Das Wort Bedeutung  (meaning ) ist wahr-scheinlich das Wort in der Sprache, dessen Be-deutung die meisten Probleme stellt. Was bedeu-tet bedeuten? Die einzig mögliche Antwort

scheint mir zu sein, daß »bedeuten« die Eigen-scha jeder Art von Daten bezeichnet, in eine an-dere Sprache übersetzt werden zu können. Ichmeine nicht in eine andere Sprache wie das Fran-zösische oder das Deutsche, sondern in andere

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Worte au anderen Ebenen. Letzten Endes lieerteine solche Übersetzung das, was man von einem

Wörterbuch erwartet: die Bedeutung des Wortesin anderen Worten, die dem Wort oder dem Aus-druck, den man verstehen möchte, au eineretwas anderen Ebene isomorph sind. Wasaber wäre eine Übersetzung ohne Regeln? Manwürde sie überhaupt nicht verstehen. Da mannicht einach ein Wort durch irgendein anderesWort oder einen Satz durch irgendeinen ande-ren Satz ersetzen kann, braucht man Überset-zungsregeln. Von Regeln sprechen und von Be-deutung sprechen läu au dasselbe hinaus; und

wenn wir uns die geistigen Anstrengungen derMenschheit in der ganzen Welt, soweit sie ver-zeichnet worden sind, ansehen, so ist ihr gemein-samer Nenner immer die Errichtung irgendeinerOrdnung. Insoern dies ein Grundbedürnis des

menschlichen Geistes nach Ordnung zum Aus-druck bringt – und da der menschliche Geistletztlich nur ein eil des Universums ist –, ist die-ses Bedürnis wahrscheinlich halb vorhanden,weil im Universum eine bestimmte Ordnung

herrscht und das Universum kein Chaos ist.Was ich damit sagen will, ist, daß es schon langeeine rennung – eine notwendige rennung –zwischen dem wissenschalichen Denken undder, wie ich es nenne, Logik des Konkreten gibt,

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das heißt der Beobachtung und Verwendung vonSinneserahrungen im Gegensatz zu Bildern,

Symbolen und ähnlichem. Wir sind womöglichZeugen des Augenblicks, da diese rennung viel-leicht augehoben oder rückgängig gemachtwird, weil die moderne Wissenscha in der Lagezu sein scheint, nicht nur in ihrem herkömmli-chen Bereich Fortschritte zu machen – immerweiter vorwärts zu drängen, aber stets au demgleichen schmalen Pad –, sondern gleichzeitigden Pad zu verbreitern und sehr viele Problemewieder auzunehmen, die sie bisher beiseite ge-lassen hat.

Nun könnte man mich vielleicht kritisieren undsagen, ich sei szientistisch oder ein blinder An-hänger der Wissenscha, der die Ansicht ver-tritt, daß die Wissenscha einach alle Problemezu lösen vermag. Das glaube ich nun ganz be-

stimmt nicht, zumal ich mir nicht vorstellenkann, daß der ag kommen wird, an dem dieWissenscha vollendet sein wird. Es wird immerneue Probleme geben, und in dem Maße, in demdie Wissenscha heute Probleme lösen kann, die

 vor einem Jahrzehnt oder vor einem Jahrhundertnoch ür philosophisch gehalten wurden, wer-den neue Probleme auauchen, die es bishernoch nicht gab und die man sich bisher auchnicht als Probleme gestellt hat. Zwischen der

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Antwort, die die Wissenscha uns zu geben ver-mag, und der neuen Frage, die diese Antwort

hervorru, wird stets eine Klu bestehen blei-ben. Insoern bin ich also nicht szientistisch. DieWissenscha wird uns niemals alle Antwortengeben können. Wir können uns allerdings bemü-hen, die Anzahl und die Qualität der Antworten,die wir geben können, langsam anzuheben. Dasaber können wir, so meine ich, nur mit Hile derWissenscha.

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»Primitives« Denken und»zivilisiertes« Denken

Das Denken jener Völker, die wir älschlich  pri-mitive zu nennen gewohnt sind – wir wollen sieeher als schriftlose Völker bezeichnen, weil da-mit, so glaube ich, das wirklich unterscheiden-de Merkmal zwischen ihnen und uns benanntwird –, ist au zwei verschiedene Weisen inter-pretiert worden, die beide meiner Ansicht nachgleichermaßen alsch sind. Die erste hielt ein sol-ches Denken ür weniger ausgebildet. In der ge-

genwärtigen Ethnologie kommt jedem als Bei-spiel daür soort das Werk Malinowskis in denSinn. Ich muß sogleich betonen, daß ich diegrößte Hochachtung vor Malinowski habe undihn ür einen sehr bedeutenden Ethnologen

halte; ich möchte seinen Beitrag au keinen Fallschmälern. Dennoch war Malinowski der An-sicht, daß das Denken der von ihm untersuchtenMenschen sowie allgemein das Denken jenerschrilosen Populationen, die den Hauptgegen-

stand der Ethnologie ausmachen, ausschließlich von den Grundbedürnissen des Lebens be-stimmt war oder ist. Weiß man einmal, daß einVolk, welches es auch sein mag, durch die Suchenach dem Lebensnotwendigen bestimmt wird –

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Beschaung der Nahrung, Beriedigung des Ge-schlechtstriebs usw. –, dann kann man auch

seine sozialen Institutionen, seine Glaubensvor-stellungen, seine Mythologie und ähnliches er-klären. Diese in der Ethnologie weitverbreiteteAuassung ist im allgemeinen als Funktionalis-mus bekannt.Die andere Strömung beru sich weniger au denniedrigeren Stand jenes Denkens als darau, daßes sich dabei um eine grundlegend andere Art desDenkens handelt. Für diesen Ansatz steht dasWerk von Lévy-Bruhl, nach dessen Auassungder Grundunterschied zwischen  primitivem

Denken – ich setzte  primitiv  immer in Anüh-rungszeichen – und modernem Denken darin be-steht, daß das erstere vollständig von Geühlenund mystischen Vorstellungen durchdrungen ist.Während Malinowski das Utilitaristische be-

tont, legt die andere Auassung den Akzent au das Emotionale und Aektive. Ich dagegen habehervorgehoben, daß das Denken schriloserVölker in Wirklichkeit einerseits uneigennützigist oder sein kann (darin unterscheide ich mich

 von Malinowski) und andererseits (und darinunterscheide ich mich von Lévy-Bruhl) vom In-tellekt bestimmt ist oder sein kann.In »Das Ende des Totemismus« und »Das wildeDenken« habe ich z. B. zu zeigen versucht, daß

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 jene Menschen, von denen wir gewöhnlich mei-nen, sie stünden ausschließlich unter dem

Zwang des Überlebenstriebs und könnten untersehr harten materiellen Bedingungen geradenoch existieren, durchaus zu uneigennützigemDenken ähig sind, d. h., daß sie das Bedürnisoder den Wunsch haben, die sie umgebendeWelt, deren Natur und ihre eigene Gesellschazu verstehen. Und um dieses Ziel zu erreichen,gehen sie mit Hile des Intellekts vor, genausowie ein Philosoph, in gewissem Maße sogar einWissenschaler es tun würde.Das ist meine Grundhypothese.

Ich möchte von vornherein ein mögliches Miß- verständnis ausräumen. Wenn man sagt, daß einDenken uneigennützig oder vom Intellekt be-stimmt sei, so soll das keineswegs heißen, daß esdem wissenschalichen Denken gleich ist. Es

bleibt selbstverständlich etwas anderes als daswissenschaliche Denken und steht auch in ge-wisser Hinsicht hinter ihm zurück. Es bleibt in-soern anders, als es bestrebt ist, au dem kürze-sten Wege zu einem allgemeinen Verständnis des

Universums zu gelangen, und zwar nicht nur zueinem allgemeinen, sondern auch zu einem tota-len. Das heißt, es handelt sich um eine Art desDenkens, die beinhaltet, daß man, solange mannicht alles versteht, nichts erklären kann. Damit

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steht es in vollkommenem Gegensatz zum wis-senschalichen Denken, das Schritt ür Schritt

 vorgeht und dabei versucht, ür ganz begrenztePhänomene Erklärungen zu lieern; erst dannwendet es sich anderen Phänomenen zu, und soort. Das wissenschaliche Denken ist, wieschon Descartes sagte, bestrebt, das Problem inso viele eile zu zerlegen, wie zu seiner Lösungerorderlich sind.Der totalitäre Anspruch des wilden Denkens un-terscheidet sich also grundsätzlich von den Vor-gehensweisen des wissenschalichen Denkens.Der entscheidende Unterschied besteht natürlich

darin, daß dieser Anspruch nicht eingelöst wird.Wir können mit Hile des wissenschalichenDenkens die Natur beherrschen – au diesenPunkt brauche ich nicht näher einzugehen, er istklar genug –, wohingegen der Mythos dem Men-

schen selbstverständlich keine größere Machtüber seine Umwelt zu verschaen vermag. Waser ihm dagegen verscha – und das ist äußerstwichtig –, ist die Illusion, daß er das Universum verstehen könne und es auch tatsächlich ver-

steht. Natürlich ist das nur eine Illusion.Wir sollten jedoch nicht vergessen, daß wir, diewir wissenschalich denken, nur einen sehr be-grenzten eil unserer geistigen Kräe in An-spruch nehmen. Wir gebrauchen nur das, was

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unser Beru, unsere ätigkeit oder die momen-tane Situation von uns verlangen. Beaßt sich

 jemand zwanzig Jahre oder mehr mit der Wir-kungsweise von Mythen und Verwandtschas-systemen, so benutzt er diesen eil seiner geisti-gen Kräe. Wir können jedoch nicht verlangen,daß wir uns alle ür dieselben Dinge interessie-ren. Deshalb gebraucht jeder von uns nur einenbestimmten eil seiner geistigen Kräe ür das,was er tun muß und was ihn interessiert.Heutzutage benutzen wir unsere geistigen Fähig-keiten weniger und zugleich mehr als in der Ver-gangenheit; außerdem sind es auch nicht mehr

genau die gleichen geistigen Fähigkeiten wie rü-her. Von unseren Sinnesorganen machen wirbeispielsweise sehr viel weniger Gebrauch. Alsich die erste Fassung der » Mythologica« schrieb,and ich mich einem Problem gegenüber, das mir

 völlig rätselha war. Es schien so, als ob ein be-stimmter Stamm den Planeten Venus bei vollemageslicht sehen könnte, etwas, das ich ür ganzunmöglich und unglaubha hielt. Berusastro-nomen, denen ich diese Frage vorlegte, bestätig-

ten mir natürlich, daß wir ihn nicht sehen. Den-noch sei es nicht völlig ausgeschlossen, daßeinige Völker, die die vom Planeten tagsüberausgestrahlte Lichtmenge kennen, ihn sehenkönnten. Später sah ich alte Navigationsbücher

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durch, die unserer eigenen Zivilisation entstam-men, und es scheint, als seien die rüheren See-

ahrer sehr wohl in der Lage gewesen, den Plane-ten bei vollem ageslicht zu erkennen. Mit ge-schulten Augen könnten wir das wahrscheinlichauch heute noch.Mit dem Wissen über Panzen und iere geht esuns genauso. Schrilose Völker kennen ihre Um-welt und jeden einzelnen Bestandteil phanta-stisch präzise. Dies alles haben wir verloren, aberwir haben es nicht umsonst verloren. Wir sindheute beispielsweise in der Lage, ein Auto zu ah-ren, ohne in jedem Augenblick zermalmt zu wer-

den, oder am Abend unseren Fernsehapparatoder das Radio einzuschalten. Das setzt eineAusbildung von geistigen Fähigkeiten voraus,die die primitiven Völker nicht haben, weil sie sienicht brauchen. Ich bin der Ansicht, daß sie mit

ihren Möglichkeiten die Qualität ihres Denkenshätten ändern können, daß das jedoch ür ihreLebensweise und ihr Verhältnis zur Natur nichterorderlich war. Man kann nicht alle geistigenFähigkeiten, die die Menschheit besitzt, gleich-

zeitig ausbilden. Man kann nur von einem klei-nen Ausschnitt Gebrauch machen, und dieserAusschnitt ist je nach der Kultur verschieden.Nur darum geht es.

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Eines der vielen Ergebnisse der ethnologischenForschung ist wohl die Erkenntnis, daß der

menschliche Geist, ungeachtet der Kulturunter-schiede zwischen den verschiedenen eilen derMenschheit, überall der gleiche ist und die glei-chen Fähigkeiten besitzt. Darüber, so glaube ich,besteht überall Einigkeit.Ich glaube nicht, daß Kulturen systematisch odermethodisch versucht haben, sich voneinanderabzugrenzen. Hunderttausende von Jahren hin-durch war die Zahl der Menschen au der Erdenicht sehr groß. Kleine Gruppen lebten isoliert,und so war es nur natürlich, daß sie eigene Merk-

male entwickelten und sich von anderen zu un-terscheiden begannen. Es steckte keine Absichtdahinter, es war einach das Ergebnis jener Be-dingungen, die über einen sehr langen Zeitraumden Ausschlag gaben.

Nun möchte ich keinesalls den Gedanken au-kommen lassen, als sei das an sich etwas Schädli-ches oder als sollten diese Unterschiede auge-hoben werden. Unterschiede sind im Gegenteiletwas äußerst Fruchtbares. Nur durch Unter-

schiede war ein Fortschritt möglich. Was unsgerade heute bedroht, ist wahrscheinlich etwas,das wir Überkommunikation nennen könnten,das heißt das Bestreben, an einem einzigen Fleck au der Welt genau wissen zu wollen, was in al-

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len anderen Weltteilen vor sich geht. Damit eineKultur eine wirkliche Identität haben und etwas

schaen kann, müssen sie und ihre Angehörigensich der eigenen Originalität, in gewissem Maßesogar der eigenen Überlegenheit über andere ge-wiß sein. Nur unter den Bedingungen einer Un-terkommunikation ist es ihr möglich, irgend-etwas hervorzubringen. Uns droht heute dieGeahr, zu reinen Konsumenten zu werden,zwar alles von jedem Fleck der Erde und aus je-der Kultur konsumieren zu können, aber jedeOriginalität zu verlieren.Wir können uns heute leicht eine Zeit vorstellen,

in der es nur noch eine Kultur und eine Zivilisa-tion au der ganzen Erde geben wird. Ich glaubenicht, daß das eintreten wird, weil es immer ge-genläuge endenzen gibt – zum einen in Rich-tung au eine Homogenisierung und zum ande-

ren in Richtung au neue Unterscheidungen. Jehomogener eine Zivilisation wird, desto oen-sichtlicher werden die inneren rennungslinien,und was au der einen Seite erreicht wurde, gehtau der anderen soort wieder verloren. Das ist

nur eine persönliche Meinung, da ich keinen ein-deutigen Beweis ür das Wirken dieser Dialektik habe. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, wiedie Menschheit ohne innere Mannigaltigkeitwirklich leben könnte.

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Betrachten wir einmal einen Mythos aus West-kanada: Er handelt vom Rochen, der den Ver-

such unternimmt, den Südwind zu besiegen odersich Untertan zu machen, und Erolg dabei hat.Die Erzählung spielt in einer Zeit, da es nochkeine Menschen au der Erde gab, das heißt einerZeit, da iere und Menschen nicht wirklich un-terschieden, die Lebewesen noch halb Mensch,halb ier waren. Sie alle wurden in ganz extre-mem Maße von den Winden geplagt: Die Winde,besonders die bösen Winde, wehten nämlich im-merzu und machten ihnen das Fischen oder dasMuschelsammeln am Strand unmöglich. So be-

schlossen sie, gegen die Winde zu kämpen; siewollten sie zwingen, sich gemäßigter zu verhal-ten. Es kam zu einem Feldzug, an dem verschie-dene menschliche iere und iermenschen teil-nahmen, darunter der Rochen, der eine wichtige

Rolle bei der Geangennahme des Südwindsspielte. Der Südwind wurde erst dann wiederreigelassen, nachdem er versprochen hatte,nicht mehr wie bisher ohne Unterlaß, sondernnur noch ab und zu oder zu bestimmten Jahres-

zeiten zu wehen. Seither weht der Südwind nurnoch zu bestimmten Jahreszeiten oder nur an je-dem zweiten ag; während der übrigen Zeitkönnen die Menschen ihren ätigkeiten nachge-hen.

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Nun, die Geschichte hat sich nie zugetragen. Un-sere Augabe besteht jedoch nicht darin, uns mit

der Feststellung, sie sei einach widersinnig odernur das Phantasieprodukt delirierenden Den-kens, zu begnügen. Wir müssen sie ernst nehmenund uns die Frage stellen: warum der Rochenund warum der Südwind?Wenn man den mythischen Sto, so wie er er-zählt wird, aumerksam betrachtet, so bemerktman, daß der Rochen augrund ganz genauerMerkmale handelt. Sie sind zweiacher Art: Zu-nächst ist er ein Fisch, der, ebenso wie alle ande-ren Flachsche, an der Unterseite schlüprig und

an der Oberseite rauh ist. Die andere Eigen-scha, die es dem Rochen beim Kamp gegen an-dere iere ermöglicht, erolgreich zu entkom-men, besteht darin, daß er, von oben oder vonunten betrachtet, sehr groß wirkt, von der Seite

 jedoch sehr dünn. Ein Gegner könnte meinen,daß es ein Einaches sei, mit dem Peil au einenRochen zu schießen und ihn zu töten, weil er sogroß ist. Aber genau in dem Moment, in dem derPeil au das Ziel gerichtet ist, kann sich der Ro-

chen plötzlich drehen oder zur Seite gleiten las-sen und nur sein Prol zeigen, au das man na-türlich nicht zielen kann, und so entkommt er.Der Rochen wird also deswegen gewählt, weil erein ier ist, das je nach Blickwinkel, wenn man

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es kybernetisch ausdrücken will, nur mit  ja odernein antworten kann. Er kann zwei – diskonti-

nuierliche – Zustände einnehmen, von denen dereine positiv, der andere negativ ist. Die Verwen-dung, die dem Rochen im Mythos zuteil wird,gleicht – obwohl ich den Vergleich nicht zu weittreiben möchte – dem der Elemente modernerComputer, die, insoern sie eine Reihe von  ja-und nein-Antworten lieern, zur Lösung hoch-komplizierter Probleme herangezogen werdenkönnen.Während es empirisch gesehen oensichtlich un-zutreend und unmöglich ist, daß ein Fisch ge-

gen den Wind antreten kann, ist es doch logischgesehen begreiich, warum Bilder  eingesetztwerden können, die der Erahrung entlehnt sind.Das gerade macht die Originalität des mythi-schen Denkens aus – daß es nämlich die Rolle

des begriichen Denkens zu übernehmen ver-mag: Ein ier, das als binärer Operator ungie-ren kann (wie ich es nennen würde), kann lo-gisch betrachtet in Beziehung zu einem Problemstehen, das ebenalls binär ist. Wenn der Süd-

wind das ganze Jahr hindurch ag ür ag weht,dann ist kein Leben ür die Menschen möglich.Wenn er jedoch nur die Häle der Zeit weht – aneinem ag ja, am anderen ag nein, usw. – dannwird zwischen den Bedürnissen der Menschen

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und den Bedingungen, die in der natürlichenWelt herrschen, eine Art Kompromiß mög-

lich.Logisch gesehen besteht also zwischen einemier wie dem Rochen und dem Problem, das derMythos zu lösen versucht, eine Anität. Auchwenn die Geschichte wissenschalich betrachtetnicht stimmt, so bleibt doch estzuhalten, daßwir die genannte Eigenscha des Mythos erstdann verstehen konnten, als es in der wissen-schalichen Welt die Kybernetik und Computergab und es uns mit ihrer Hile möglich wurde,binäre Operationen zu verstehen, die das mythi-

sche Denken schon vorher in ganz anderer Weisean konkreten Gegenständen oder Lebewesen

 vorgenommen hatte. Es besteht also wirklichkeine rennung zwischen Mythologie und Wis-senscha. Erst der gegenwärtige Stand des wis-

senschalichen Denkens versetzt uns in die Lagezu verstehen, was in diesem Mythos enthaltenist, dem gegenüber wir völlig blind blieben, so-lange uns die Vorstellung der binären Operatio-nen nicht geläug war.

Nun möchte ich nicht, daß Sie denken, ich würdewissenschaliche Erklärung und mythische Er-klärung gleichsetzen. Ich meine, daß sich dieGröße und Überlegenheit der wissenschalichenErklärung nicht nur in den praktischen und gei-

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stigen Errungenschaen der Wissenscha zeigt,sondern auch in der zunehmend beobachtbaren

atsache, daß es der Wissenscha über die Er-klärung ihrer eigenen Gültigkeit hinaus möglichwird, auch das zu erklären, was in gewissemMaße bereits im mythologischen Denken gültigwar. Es ist wichtig, daß wir ür diesen qualitati- ven Aspekt mehr und mehr Interesse entwickelnund daß die Wissenscha, die vom 17. bis zum19. Jahrhundert eine rein quantitative Ausrich-tung hatte, auch die qualitativen Aspekte derWirklichkeit mit einzubeziehen beginnt. Dieswird uns ganz sicher dazu beähigen, einen gro-

ßen eil dessen, was im mythologischen Denkenenthalten ist und was wir bisher als bedeutungs-los und widersinnig abzutun geneigt waren, zu

 verstehen. Eine solche Einstellung wird uns zuder Einsicht verhelen, daß zwischen Leben und

Denken nicht jene absolute Klu besteht, die derphilosophische Dualismus des 17. Jahrhundertsals gegeben hinstellte. Wenn wir zu der Einsichtgelangen, daß das, was in unserem Denken vor-geht, etwas ist, das sich nicht substantiell oder

undamental vom Grundphänomen des Lebensunterscheidet, und wenn wir außerdem zu derErkenntnis kommen, daß zwischen der Mensch-heit einerseits und all den anderen Lebewesenandererseits – nicht nur den ieren, sondern

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auch den Panzen – keine unüberbrückbareKlu besteht, dann werden wir vielleicht zu

mehr, sagen wir, Weisheit gelangen, als wir unszutrauen.

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Hasenscharten und Zwillinge:Die Spaltung eines Mythos

Unser Ausgangspunkt wird diesmal die merk-würdige Beobachtung sein, die Pater P. J. deArriaga, ein spanischer Missionar in Peru, zuEnde des 16. Jahrhunderts machte und die er inseinem Buch »Extirpacion de la Idolatria del Peru« (Lima 1621) veröentlicht hat. Er berich-tete, daß in Zeiten bitterster Kälte die Priester ineinem bestimmten eil des damaligen Peru alle jene Einwohner zusammenrieen, von denen

man wußte, daß sie mit den Füßen voran au dieWelt gekommen waren, oder die eine Hasen-scharte hatten oder Zwillinge waren. Sie wurdenbeschuldigt, ür die Kälte verantwortlich zu sein,weil sie, wie man sagte, Salz und Peer gegessen

hatten, und es wurde ihnen beohlen, Reue zuzeigen und ihre Sünden zu bekennen.Der Glaube, daß zwischen Zwillingen und atmo-sphärischer Unordnung ein Zusammenhang be-steht, ist nun aber in der ganzen Welt, auch in

Kanada, sehr weit verbreitet. Es ist wohlbe-kannt, daß die Küstenindianer von Britisch-Ko-lumbien Zwillingen besondere Kräe zuschrie-ben – gutes Wetter bringen, Stürme vertreibenund anderes mehr. Doch darum geht es mir jetzt

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nicht. Mir ällt vielmehr au, daß alle My-thensammler – z. B. auch Frazer, der Arriaga

mehrmals zitiert – nie die Frage gestellt haben,warum Menschen mit Hasenscharten undZwillinge einander ähnlich sein sollen. Das ei-gentliche Problem besteht meiner Ansicht nachdarin herauszunden: warum Hasenscharten?Warum Zwillinge? Und warum werden Ha-senscharten und Zwillinge nebeneinanderge-stellt?Zur Lösung des Problems müssen wir wie somanches Mal von Südamerika nach Nordame-rika springen; ein nordamerikanischer Mythos

wird uns nämlich den Schlüssel zu dem südame-rikanischen lieern. Viele Leute haben mich ürdiese Vorgehensweise getadelt und behauptet,Mythen einer bestimmten Bevölkerung könntennur im Rahmen der Kultur dieser Bevölkerung

interpretiert und verstanden werden. DiesenEinwand kann ich in mehrerer Hinsicht entkrä-ten.Zunächst erscheint es mir ziemlich oensicht-lich, daß die Bevölkerung von Nord- und Süd-

amerika vor Kolumbus viel größer war, als manbisher angenommen hat, was in den vergange-nen Jahren auch von der sogenannten Berkeley-Schule bestätigt worden ist. Und eben weil sie

 viel größer war, liegt es au der Hand, daß diese

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Populationen einen gewissen Kontakt zuein-ander gehabt haben müssen und Glaubensvor-

stellungen, Praktiken und Bräuche sozusagendurchsickerten. In gewissem Maße wußte jedeBevölkerung immer, was in der benachbarten

 vorging. Zweitens kommen Mythen wie die hierbehandelten nicht isoliert vor, einmal in Peruund dann in Kanada, sondern wir begegnen ih-nen in den dazwischenliegenden Gebieten immerwieder. Sie sind in Wirklichkeit panamerikani-sche und nicht in verschiedenen eilen des Kon-tinents vereinzelt auretende Mythen.Nun gäbe es sowohl bei den upinamba, den al-

ten Küstenindianern Brasiliens zur Zeit der Ent-deckung, als auch bei den Indianern in Peru ei-nen Mythos, der berichtete, wie es einem sehrarmen Wesen mit List gelang, eine Frau zu ver-ühren. In der bekanntesten Version, die der

ranzösische Mönch Andre Tevet im 16. Jahr-hundert gesammelt hat, heißt es, daß die ver-ührte Frau Zwillingssöhne gebar: Der einestammte von ihrem rechtmäßigen Gatten, derandere von dem Verührer, bei dem es sich um

den rickster handelt. Die Frau war unterwegs,um den Gott zu treen, der ihr Mann werdensollte, als der rickster dazwischentritt und sieglauben macht, er  sei der Gott; daher wird sie

 vom rickster schwanger. Als sie später ihrem

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zukünigen Gatten begegnet, wird sie auch vondiesem schwanger und bringt später Zwillinge

zur Welt. Da nun die unechten Zwillinge ver-schiedene Väter haben, haben sie auch gegen-sätzliche Charakterzüge: Der eine ist taper, derandere ein Feigling; der eine ist der Beschützerder Indianer, der andere der Beschützer der Wei-ßen; der eine versorgt die Indianer mit Gütern,während der andere ür viele unglückliche Bege-benheiten verantwortlich ist.Zuällig treen wir nun in Nordamerika au ge-nau den gleichen Mythos, besonders im Nord-westen der Vereinigten Staaten und in Kanada.

Doch im Vergleich zu den südamerikanischenVersionen weisen jene aus Kanada zwei bedeut-same Unterschiede au. Bei den Kootenay bei-spielsweise, die in den Rocky Mountains leben,geht der Geburt der Zwillingsbrüder, von denen

der eine später die Sonne, der andere der Mondwird, nur eine einzige Beruchtung voraus. Undbei anderen Indianern aus der Sprachamilie derSalish in Britisch-Kolumbien – bei den Tomp-son und den Okanagan – kommen zwei Schwe-

stern vor, die von zwei oenbar verschiedenenPersonen betrogen werden. Eine jede gebärt ei-nen Sohn. Dies sind nun zwar keine echten Zwil-linge, da sie von verschiedenen Müttern geborenwurden, aber sie sind Zwillingen insoern ähn-

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lich, als sie – jedenalls moralisch und psycholo-gisch gesehen – unter genau denselben Bedin-

gungen zur Welt kamen.Diese Versionen sind im Hinblick au das, wasich zu zeigen versuche, die wichtigeren. Die Sa-lish-Version schwächt den Zwillingscharakterder Heroen ab: Die Zwillinge sind keine Brüder,sie sind Cousins; nur die Bedingungen, unter de-nen sie geboren werden, sind genau parallel. Diegrundlegende Absicht bleibt dennoch die glei-che, denn nirgendwo sind die beiden Heroenechte Zwillinge. Sie sind – selbst in der südameri-kanischen Version – die Söhne verschiedener

Väter und haben gegensätzliche Charakterzüge,die sowohl in ihrem eigenen Betragen wie imVerhalten ihrer Nachahren zum Ausdruck kommen.Wir können also sagen, daß in allen Fällen die

Kinder, die als Zwillinge bezeichnet werden oderdie man, wie in der Kootenay-Version, ür Zwil-linge hält, später verschiedene Abenteuer er-leben, durch die sie, wenn ich so sagen dar,entzwillingt werden. Diese Entzweiung von Per-

sonen, die zu Anang als Zwillinge vorgestelltwerden – sei’s als echte Zwillinge, sei’s Zwillin-gen ähnlich –, ist ein grundlegendes Merkmal al-ler Mythen sowohl in Südamerika wie in Nord-amerika.

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In der Salish-Version des Mythos gibt es ein sehrmerkwürdiges Detail, das äußerst wichtig ist.

Wie Sie sich erinnern, kommen in dieser Versionüberhaupt keine Zwillinge vor, da es sich umzwei Schwestern handelt, die beide unterwegssind, um einen Gatten zu nden. Eine ihrerGroßmütter hatte ihnen gesagt, daß sie ihreGatten an bestimmten Merkmalen erkennenwürden. Beide werden dann von den ricksters,denen sie au ihrem Wege begegnen, zu demGlauben verleitet, daß sie die Gatten seien, diesie heiraten sollen. Eine jede verbringt die Nachtmit einem rickster, und beide Frauen bringen

später einen Sohn zur Welt.Nach dieser unseligen Nacht in der Hütte desricksters trennt sich die ältere Schwester vonder jüngeren und besucht ihre Großmutter – eineBergziege und auch eine Art Magierin, denn sie

weiß im voraus vom Kommen ihrer Enkelin undschickt ihr den Hasen zur Begrüßung entgegen.Der Hase versteckt sich unter einem Baum-stamm, der mitten au den Weg geallen ist, undals das Mädchen ein Bein hebt, um über den

Stamm zu steigen, kann der Hase ihre Ge-schlechtsteile sehen und macht einen sehr unpas-senden Scherz. Das Mädchen ist wütend, esschlägt mit seinem Stock nach ihm und spaltetihm die Nase. Darum haben die iere der Hasen-

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amilie jetzt gespaltene Nasen und gespalteneOberlippen, die wir, eben wegen dieser anatomi-

schen Eigentümlichkeit der Kaninchen und Ha-sen, beim Menschen Hasenscharte nennen.Mit anderen Worten: Die ältere Schwester stehtim Begri, den Körper des ieres zu spalten.Wäre die Spaltung zu Ende geührt worden –hätte sie nicht bei der Nase innegehalten, son-dern auch noch den Körper und den Schwanzzerteilt –, dann hätte sie aus einem EinzelwesenZwillinge gemacht, das heißt zwei Individuen,die vollkommen gleich oder identisch wären,weil sie beide eil eines Ganzen sind. In diesem

Zusammenhang ist es sehr wichtig, nach derVorstellung zu ragen, die die amerikanischenIndianer in ganz Amerika von Zwillingen hat-ten. Was wir vornden, ist der verbreiteteGlaube, daß Zwillinge als Folge einer inneren

Spaltung der Körpersäe entstehen, die sichspäter verestigen und zum Kind werden. Beieinigen nordamerikanischen Indianern z. B. ist esschwangeren Frauen verboten, sich im Schla zuschnell umzudrehen, weil sich die Körpersäe

dabei teilen und sie dann Zwillinge zur Weltbringen könnten.Auch ein Mythos der Kwakiutl von der Vancou- ver-Insel sollte hier erwähnt werden. Er erzählt von einem kleinen Mädchen, das wegen seiner

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Hasenscharte von allen gehaßt wird. Ein Unge-heuer, eine übernatürliche Menschenresserin,

taucht au und stiehlt alle Kinder, auch daskleine Mädchen mit der Hasenscharte. Sie stecktsie alle in einen Korb, um sie nach Hause zu tra-gen und zu ressen. Das kleine Mädchen wird alserstes hineingesteckt, bendet sich also au demBoden des Korbs. Es gelingt ihm, ihn mit einerMuschelschale, die es am Strand augelesen hat,auzuschneiden. Das Ungeheuer trägt den Korbau dem Rücken, so kann das Mädchen heraus-allen und als erstes weglauen. Es ällt mit denFüßen voran heraus.

Die Stellung des hasenschartigen Mädchens unddie des Hasen im zuvor genannten Mythos sindgenau symmetrisch: Wenn der Hase sich unterdem Stamm au dem Weg versteckt, hockt er un-ter der Heldin und bendet sich also dieser ge-

genüber genau in der Stellung, als wäre er von ihrgeboren und mit den Füßen voran entbundenworden. So sehen wir, daß es überall in dieserMythologie eine tatsächliche Beziehung gibtzwischen Zwillingen einerseits und einer Geburt

mit den Füßen voran oder Stellungen, die meta-phorisch damit identisch sind, andererseits. Da-mit erhellt sich auch deutlich die von Pater Ar-riaga aus Peru berichtete Verknüpung vonZwillingen, Menschen, die mit den Füßen voran

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au die Welt gekommen sind, und solchen mitHasenscharten, jene Verknüpung, von der wir

ausgegangen sind.Die atsache, daß die Hasenscharte als ein An-satz zu Zwillingen augeaßt wird, kann zur Lö-sung eines Problems beitragen, das besonders ürEthnologen, die in Kanada arbeiten, grundle-gend ist: Warum haben die Ojibwa und andereIndianer aus der Sprachamilie der Algonkin zurhöchsten Gottheit, an die sie glaubten, geradeden Hasen erwählt? Es wurden verschiedene Er-klärungen vorgebracht: der Hase sei ein wichti-ger, wenn nicht gar wesentlicher Bestandteil ih-

rer Nahrung gewesen; der Hase laue sehrschnell und sei deswegen ein Vorbild ür jene Fä-higkeiten gewesen, die den Indianern eigen seinsollen, und so ort. Keine dieser Erklärungen istwirklich überzeugend. Überzeugender erscheint

mir, vorausgesetzt, meine vorangegangenen In-terpretationen stimmen, das Folgende: 1. Inner-halb der Familie der Nagetiere ist der Hase dasgrößere, ins Auge allendere, wichtigere ier, ereignet sich daher zum Repräsentanten der Fami-

lie der Nagetiere. 2. Alle Nagetiere weisen eineanatomische Eigentümlichkeit au: Sie sind teil-weise gespalten, wodurch sie dem Ansatz nachzu Zwillingen werden.Wenn es im Leib der Mutter Zwillinge oder so-

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gar noch mehr Kinder gibt, so hat das im Mythosgewöhnlich sehr ernste Folgen: Um nämlich her-

auszunden, wem die Ehre des Zuerst-Geboren-Werdens zuällt, beginnen die Kinder – auchwenn es nur zwei sind –, miteinander zu kämp-en und zu wetteiern. Das eine, böse, schrecktauch vor einer Abkürzung nicht zurück, wennich so sagen dar, um als erstes geboren zu wer-den; es nimmt nicht den natürlichen Weg, son-dern spaltet den Leib der Mutter, um daraus zuentkommen.Das ist, meine ich, eine Erklärung daür, war-um ein Mit-den-Füßen-voran-Geborensein mit

Zwillingen in Verbindung gebracht wird, weilbei der Geburt von Zwillingen eines der Kinderim Konkurrenzkamp, nur ja als erstes au dieWelt zu kommen, die Mutter zerstört. SowohlZwillinge als auch eine Geburt mit den Füßen

 voran sind Anzeichen ür einen geährlichen Ge-burtsvorgang; ich könnte es auch eine Geburt

 von Heroen nennen, denn das Kind ergrei dieInitiative und wird zu einer Art Heros, bisweilenauch zu einem mörderischen Heroen. Doch es

 vollbringt eine sehr wichtige at. Das erklärt,warum in mehreren Stämmen sowohl Zwillingeals auch Kinder, die mit den Füßen voran zurWelt gekommen sind, getötet werden.Das wirklich Wesentliche daran ist, daß wir in

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der gesamten amerikanischen Mythologie –und, wie ich meine, in der Mythologie überall in

der Welt – Gottheiten oder übernatürliche We-sen antreen, denen die Rolle von Vermittlernzwischen den Mächten oben und der Mensch-heit unten zuällt. Sie können au verschiedeneWeise zur Darstellung kommen: So nden wirbeispielsweise Gestalten des messianischen y-pus oder auch himmlische Zwillinge. Dabei zeigtsich, daß der Hase in der Mythologie der Algon-kin genau zwischen dem Messias – d. h. einemeinzigen Vermittler – und den himmlischenZwillingen liegt. Er ist kein Zwillingspaar, re-

präsentiert jedoch Zwillinge im Ansatz. Er istnoch immer ein vollständiges Einzelwesen, hataber eine Hasenscharte – ist also au halbemWeg, zum Zwilling zu werden.Das erklärt auch, warum der Hase als Gott in

dieser Mythologie einen zwiespältigen Charak-ter hat, der Kennern und Ethnologen zu schaenmachte: Manchmal erscheint er als sehr weiseGottheit, der die Aurechterhaltung der Ord-nung im Weltall obliegt, und manchmal als lä-

cherlicher Clown, der von einem Mißgeschick ins andere stolpert. Auch das wird am besten verständlich, wenn wir die atsache, daß die Al-gonkin den Hasen gewählt haben, damit erklä-ren, daß er ein Wesen ist, das weder beschaen

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ist wie a) eine einzelne Gottheit, die den Men-schen wohl will, noch wie b) Zwillinge, von de-

nen der eine gut und der andere böse ist. Da ernoch nicht völlig in zwei eile geteilt, noch nichtzu Zwillingen geworden ist, können die beidenentgegengesetzten Eigenschaen in ein und der-selben Gestalt vereint bleiben.

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Wenn der Mythos Geschichte wird

Dieses Tema konrontiert den Mythologen mitzwei Problemen. Das eine ist ein sehr wichtigestheoretisches Problem; wenn wir uns nämlichdas Material ansehen, das hinsichtlich Nord-und Südamerika sowie anderer eile der Welt

 veröentlicht wurde, so scheint der Mythensto  von zweierlei Art zu sein. Manchmal haben dieEthnologen Mythen gesammelt, die eigentlicheher wie Flickwerk wirken, wenn ich so sagendar; unzusammenhängende Erzählungen sind

ohne ersichtlichen Bezug aneinandergereiht. Inanderen Fällen, z. B. was das Gebiet der Vaupe inKolumbien betri, liegen uns sehr kohärentemythologische Erzählungen vor, durchweg inKapitel augeteilt, die ganz logisch aueinander

auauen.Zum anderen stellt sich die Frage: Welche Be-deutung kommt einer Sammlung zu? Sie kannzweierlei Bedeutung haben, etwa daß eine kohä-rente Ordnung den Urzustand wiedergibt, einer

Sage vergleichbar, und daß immer dann, wennwir Mythen als unverbundene Elemente vorn-den, dies das Ergebnis eines Zeralls- und Auö-sungsprozesses ist; wir nden nur zerstreute Ele-mente eines vormals sinnvollen Ganzen. Oder

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aber wir stellen die Hypothese au, daß der un- verbundene Zustand der archaische war und

daß die Mythen von einheimischen Weisen undPhilosophen, die es nicht überall, sondern nur ineinigen bestimmten Gesellschaen gibt, in eineOrdnung gebracht wurden. Die Bibel zum Bei-spiel stellt uns vor genau das gleiche Problem: Essieht so aus, als ob ihr Rohmaterial unverbun-dene Elemente waren, die gelehrte Philosophenzusammengestellt haben, um eine ortlauendeErzählung daraus zu machen. Es wäre äußerstwichtig herauszunden, ob wir es bei den vonden Ethnologen untersuchten schrilosen Völ-

kern mit einem ähnlichen Fall zu tun haben wiemit der Bibel oder ob es sich hier um etwas völliganderes handelt.Dieses zweite Problem ist, obwohl ebenallstheoretisch, eher praktischer Natur. Früher, sa-

gen wir im 19. und zu Anang des 20. Jahrhun-derts, wurde das ethnologische Material zumgrößten eil von Ethnologen, d. h. von Außen-stehenden gesammelt. Natürlich standen ihnenin vielen Fällen – und besonders in Kanada – ein-

heimische Mitarbeiter zur Seite. Nehmen wirzum Beispiel Franz Boas, dem ein Kwakiutl,George Hunt, assistierte (strenggenommen warer kein Kwakiutl, da er der Sohn eines schotti-schen Vaters und einer lingit-Mutter war, doch

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er wuchs bei den Kwakiutl au und identiziertesich vollkommen mit deren Kultur). Bei den

shimshian arbeitete Boas zusammen mit Henry ate, einem gebildeten shimshian, und MariusBarbeau mit William Benyon, der ebenalls eingebildeter shimshian war. So war zwar dieMitarbeit Einheimischer von Anang an gewähr-leistet, aber dennoch bleibt estzuhalten, daß so-wohl Hunt und ate wie auch Benyon unter An-leitung von Ethnologen arbeiteten, d. h., daß sieselbst Ethnologen wurden. Natürlich kanntensie die Legenden und Überlieerungen ihres eige-nen Clans und ihrer eigenen Sippe am besten,

aber interessierten sich auch ür die Daten ande-rer Familien, anderer Clans usw.Wenn wir uns die riesigen Sammlungen indiani-scher Mythen ansehen, etwa die »Tshimshian

 Mythology « von Boas und ate, oder die Kwa-

kiutl-exte, die von Hunt gesammelt und vonBoas herausgegeben, veröentlicht und auchübersetzt wurden, sehen wir, daß die Datenmehr oder weniger den gleichen Auau auwei-sen, wie ihn die Ethnologen nahegelegt haben:

Am Anang stehen kosmologische und kosmo-gonische Mythen, und erst sehr viel späterkommt all das, was als legendäre Überlieerungund Familiengeschichten augeaßt werdenkann.

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Es hat sich also ergeben, daß die von den Ethno-logen begonnene Augabe heute von den India-

nern selbst in die Hand genommen wird, undzwar ür die verschiedensten Zwecke, z. B. umden Indianerkindern in der Grundschule Unter-richt in der eigenen Sprache und Mythologie zuermöglichen. Das ist im Augenblick sehr wich-tig. Ein anderer Zweck ist der, mit Hile der le-gendären Überlieerung Ansprüche gegenüberden Weißen zu bekräigen – territoriale Ansprü-che, politische Ansprüche und so ort.Es ist also äußerst wichtig estzustellen, ob zwi-schen den Überlieerungen, die von Außenste-

henden gesammelt wurden, und denjenigen, die von den Einheimischen selbst so gesammelt wur-den, als ob sie von Außenstehenden gesammeltworden wären, ein Unterschied besteht, undwenn ja, welcher. Kanada ist, wie ich meine, in

einer glücklichen Lage, da Bücher über seineMythologie und seine legendären Überlieerun-gen von indianischen Fachleuten selbst zusam-mengestellt und veröentlicht worden sind. Dashat schon rüh begonnen. Pauline Johnsons »Le-

 gends of Vancouver « erschienen vor dem ErstenWeltkrieg; dann kamen die Bücher von MariusBarbeau heraus. Barbeau war zwar nun kein In-dianer, aber er hat versucht, historisches undhalbhistorisches Material zu sammeln und sich

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zum Sprecher seiner indianischen Inormantenzu machen; er legte sozusagen seine eigene Ver-

sion dieser Mythologie vor.Weitaus interessanter sind jedoch Bücher wie» Men of Medeek«, das 196z in Kitimat verö-entlicht wurde und angeblich die wörtlicheWiedergabe dessen ist, was Walter Wright, einHäuptling der shimshian am mittleren Skeena,wörtlich berichtete, aber von einem anderen, ei-nem weißen Feldorscher, der noch nicht einmal

 vom Fach war, augenommen worden ist. Undsogar noch wichtiger ist das kürzlich erschieneneBuch von Häuptling Kenneth Harris, ebenalls

einem shimshian, das 1974 von ihm selbst her-ausgebracht wurde.Mit Hile dieses Materials können wir also eineArt Experiment versuchen und das von den Eth-nologen gesammelte Material mit demjenigen

 vergleichen, das von Indianern selbst gesammeltund publiziert worden ist. Ich sollte eigentlichnicht ›gesammelt‹ sagen, denn was uns mit die-sen Büchern vorliegt, sind nicht die zusammen-und nebeneinandergestellten Überlieerungen

mehrerer Familien, Clans oder Sippen, sondernin Wirklichkeit die Geschichte einer einzigen Fa-milie oder eines einzigen Clans, die einer ihrerNachkommen veröentlicht hat.Wir stehen nun vor olgendem Problem: Wo

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hört die Mythologie au, und wo ängt die Ge-schichte an? Eine Geschichte ohne Archive – was

ür uns völlig Neues – kennt selbstverständlichkeine geschriebenen Dokumente, sondern nureine verbale radition, die gleichzeitig Ge-schichte sein soll. Wenn wir nun die beiden Ge-schichtsdarstellungen, die vom mittleren Skeena,die Chie Wright gibt, und diejenige, die Chie Harris über eine Familie am oberen Skeena imHazelton-Gebiet geschrieben und veröentlichthat, miteinander vergleichen, so nden wir so-wohl Ähnlichkeiten wie Unterschiede. In derDarstellung von Chie Wright haben wir etwas

 vor uns, was ich die Genese einer Unordnungnennen möchte: Die Erzählung will eine Erklä-rung daür lieern, warum ein bestimmter Clan,eine bestimmte Sippe oder eine bestimmteGruppe von Sippen kurz nach ihrem Auauchen

zahllose Heimsuchungen, bekannte Periodendes Erolgs und des Mißerolgs durchlebt hatund schließlich ein schreckliches Ende and. Esist eine sehr pessimistische Erzählung, die Ge-schichte eines Untergangs. Bei Chie Harris da-

gegen herrscht eine ganz andere Auassung vor,denn sein Buch scheint hauptsächlich darau ab-zuzielen, den Ursprung einer sozialen Ordnungzu erklären, die die soziale Ordnung der Vergan-genheit war und die, wenn ich so sagen dar,

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noch immer in den verschiedenen Namen, itelnund Privilegien ortwirkt, die eine bestimmte

Person in hervorragender Stellung innerhalb sei-ner Familie und seines Clans durch Erbscha au sich vereinigt. Deshalb sieht es so aus, als würdeeine diachronische Abolge von Ereignissensimultan au die Leinwand der Gegenwart pro-

 jiziert, um eine vorhandene und durch dieNamens- und Privilegienliste einer bestimmtenPerson veranschaulichte synchronische Stück-ür-Stück-Ordnung wiederherzustellen.Beide Erzählungen, beide Bücher sind aszinie-rend und literarisch gesehen große Werke. Für

den Ethnologen sind sie jedoch hauptsächlichdeshalb interessant, weil sie die Merkmale einerGeschichte veranschaulichen, die von der unse-ren ganz verschieden ist. Geschichte, wie wir sieschreiben, gründet praktisch ausschließlich au 

geschriebenen Dokumenten, während ür diesebeiden Geschichtsdarstellungen keine oder nursehr wenige schriliche Dokumente vorliegen.Bei dem Versuch, sie zu vergleichen, ällt mir nunau, daß sie beide mit der Darstellung einer my-

thischen oder vielleicht auch historischen Zeitbeginnen (ich weiß nicht, um welche Zeit es sichhandelt, aber vielleicht wird die Archäologiediese Frage klären), als es am oberen Skeenanahe dem heutigen Hazelton eine große Stadt

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gab, deren Namen Barbeau mit enlaham tran-skribiert, sowie mit einem Bericht über die dorti-

gen Ereignisse. In beiden Büchern wird praktischdas gleiche erzählt: Es wird berichtet, daß dieStadt zerstört wurde und daß die Überlebendenzur beschwerlichen Wanderscha den Skeenaentlang aurachen.Hier könnte es sich natürlich um eine historischeBegebenheit handeln, aber sobald wir die Artund Weise, wie sie erklärt wird, näher betrach-ten, bemerken wir, daß zwar die Grundorm derBegebenheit, nicht aber ihre Einzelheiten gleichsind. So ndet beispielsweise zu Anang ein

Kamp zwischen zwei Dörern oder, nach deranderen Version, zwischen zwei Städten statt.Die Ursache des Kampes war ein Ehebruch.Nun kann es aber heißen, daß entweder der Ehe-mann den Liebhaber seiner Frau tötete oder daß

die Brüder den Liebhaber ihrer Schwester töte-ten oder daß der Ehemann seine Frau tötete, weilsie einen Liebhaber hatte. Wie Sie sehen, habenwir einen Erklärungszusammenhang vor uns.Die grundlegende Struktur  ist gleich, nicht aber

ihr Inhalt , er kann variieren. Es handelt sich umeine Art Mini-Mythos, wenn ich so sagen dar,weil er sehr kurz und sehr gedrängt ist; aber erbehält immer noch die Eigenscha des Mythos,da wir ihn in verschiedenen Umgestaltungen er-

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kennen können. Ist ein Element transormiert, somüßten auch alle anderen Elemente entspre-

chend umgeordnet sein. Das ist der erste Aspekt,der mich an diesen Clan-Erzählungen interes-siert.Der zweite Aspekt ist, daß sie Geschichtsdarstel-lungen sind, die mit sehr vielen Wiederholungenarbeiten: Ein und derselbe ypus von Begeben-heiten kann mehrere Male zur Darstellung un-terschiedlicher Ereignisse verwendet werden. Esällt z. B. au, daß wir in den überlieerten Ge-schichten, die einerseits Chie Wright, und ande-rerseits Chie Harris erzählen, au Begebenhei-

ten stoßen, die einander ähnlich sind, jedochnicht am selben Ort stattnden, nicht dieselbenMenschen betreen und sehr wahrscheinlichauch nicht in denselben historischen Zeitraumallen.

Beim Lesen dieser Bücher entdecken wir, daß derGegensatz zwischen Mythologie und Geschichte

– jener einache Gegensatz, den wir gewöhnlichmachen – keineswegs eindeutig ist und daß eseine Zwischenstue gibt. Die Mythologie ist

statisch – wir sehen, daß ein und dieselben my-thologischen Elemente immer neu kombiniertwerden, aber gleichsam in einem geschlossenenSystem, im Gegensatz zur Geschichte, bei der essich um ein oenes System handelt.

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Der oene Charakter der Geschichte bleibt au-grund der unzähligen Möglichkeiten gewahrt,

nach denen die mythischen Grundeinheiten oderdie explanatorischen Grundeinheiten, die ur-sprünglich mythisch waren, angeordnet und um-geordnet werden können. Damit wird deutlich,daß auch bei Verwendung des gleichen Stos,der eine Art gemeinsames Erbe oder gemeinsa-mes Gut aller Gruppen, aller Clans oder allerSippen ist, eine unabhängige Darstellung ür jedeeinzelne Gruppe usw. möglich ist.Das Irreührende an den alten ethnologischenDarstellungen rührt daher, daß sie aus der radi-

tion und den Glaubensvorstellungen, die einerVielzahl verschiedener sozialer Gruppen zuge-hören, eine Art Einheitsbrei machten. Dadurchwurde ein grundlegendes Merkmal des Stoesunserem Blick entzogen: daß nämlich jeder

Erzählungstypus zu einer bestimmten Gruppe,zu einer bestimmten Familie, zu einer bestimm-ten Sippe oder zu einem bestimmten Clan ge-hört, deren sei’s glückliches, sei’s unglücklichesSchicksal er erklären soll; oder er soll die Rechte

und Privilegien, wie sie gegenwärtig vorliegen,rechtertigen oder versuchen, den Ansprüchenau Rechte, die verlorengegangen sind, Nach-druck zu verleihen.Wenn wir au wissenschaliche Weise Ge-

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schichte betreiben wollen, betreiben wir dannwirklich etwas Wissenschaliches oder bleiben

wir mit dem Versuch, reine Geschichte zu betrei-ben, im Sattel unserer Mythologie? Es ist hoch-interessant, wenn man beobachtet, wie einMensch, der als rechtmäßiger Erbe eine be-stimmte Art der Mythologie oder der legendärenÜberlieerung seiner Gruppe vertritt – sei dasnun in Nord- oder Südamerika oder sonstwo inder Welt –, reagiert, wenn er die Version einesAngehörigen einer anderen Familie, einer ande-ren Sippe oder eines anderen Clans hört, die ineinigen Punkten gleich, in anderen jedoch völlig

unterschiedlich lautet. Uns mag es unmöglich vorkommen, daß zwei unterschiedliche Darstel-lungen zugleich wahr sein können, doch siescheinen manchmal als wahr akzeptiert zu wer-den – mit dem einzigen Unterschied, daß die eine

Darstellung ür besser und genauer als die an-dere gehalten wird. Ein anderes Mal mögenbeide Darstellungen als gleichermaßen gültig an-gesehen werden, weil die Unterschiede zwischenihnen nicht als solche augeaßt werden.

Wir sind uns in unserem Alltagsleben überhauptnicht bewußt, daß wir uns im Hinblick au dieunterschiedlichen Geschichtsdarstellungen ausder Feder unterschiedlicher Historiker in genauder gleichen Situation benden. Wir achten nur

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au das, was im Grunde ähnlich ist, und vernach-lässigen die Unterschiede, die dadurch aureten,

daß die Historiker in der Art und Weise, wie siedie Daten bearbeiten und interpretieren, nichtübereinstimmen. Nimmt man die Darstellungenzweier Historiker unterschiedlicher Denktradi-tion und unterschiedlicher politischer Richtungüber ein Ereignis – die Amerikanische Revolu-tion etwa, oder die Englische Revolution, derranzösisch-englische Krieg in Kanada oder dieFranzösische Revolution –, so schockiert es unsnicht sonderlich, wenn sie uns nicht genau das-selbe berichten.

Daher habe ich den Eindruck, daß wir durch einsorgältiges Studium jener Geschichte (im allge-meinen Sinne des Wortes), die uns die heutigenindianischen Autoren von ihrer Vergangenheitzu geben versuchen, und indem wir diese Ge-

schichte nicht als phantastische Darstellungbetrachten, sondern sehr sorgältig und unterZuhilenahme einer Art Bergungs-Archäologie

 vorgehen, welche jene Dörer, au die in den Ge-schichtsdarstellungen Bezug genommen wird,

ausgräbt, am Ende zu einem besseren Verständ-nis dessen, was eine historische Wissenschawirklich ist, kommen können. Dazu gehörtauch, daß wir so weit wie möglich zwischenden verschiedenen Darstellungen Verbindungen

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herstellen und herauszunden versuchen, waswirklich miteinander korrespondiert und was

nicht.Ich neige zu der Ansicht, daß in unseren Gesell-schaen die Geschichte die Mythologie abgelösthat und deren Funktion erüllt und es das Zielder Mythologie in Gesellschaen ohne Schriund ohne Archive ist, sicherzustellen, daß dieZukun der Gegenwart und der Vergangenheitso treu wie möglich olgt (eine völlige Überein-stimmung ist wohl nie möglich). Für uns hinge-gen soll sich die Zukun immer und zunehmendmehr von der Gegenwart unterscheiden, wobei

bestimmte Unterschiede natürlich von unserenpolitischen Vorentscheidungen abhängen. Den-noch können wir die Klu, die es in unseremDenken zwischen Mythologie und Geschichte ingewissem Maße gibt, wahrscheinlich dadurch

überbrücken, daß wir Geschichtsdarstellungenuntersuchen, die als keineswegs von der Mytho-logie getrennt, sondern als deren Fortührungbegrien werden.

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Mythos und Musik 

Die Beziehung zwischen Mythos und Musik, au der ich im Einleitungsteil von »Das Rohe und das Gekochte« und auch im Schlußkapitel von»Der nackte Mensch« so sehr bestanden habe,war wahrscheinlich das Tema, das – insbeson-dere in der englischsprechenden Welt, aber auchin Frankreich – die meisten Mißverständnissehervorrie, weil man diese Beziehung ür ganzund gar willkürlich hielt. Ich dagegen meinte,daß es nicht nur eine einzige Beziehung, sondern

zwei verschiedene Arten von Beziehungen gäbe –eine der Ähnlichkeit und eine der Kontiguität –und daß es sich in Wirklichkeit um ein und die-selbe handelt. Aber das war mir nicht vonAnang an klar, und es war die Beziehung der

Ähnlichkeit, die mir zuerst auel. Ich möchte versuchen, das olgendermaßen zu erklären.Was den Aspekt der Ähnlichkeit betri, so ver-trat ich die Ansicht, daß ein Mythos ebensowe-nig wie eine Musikpartitur als kontinuierliche

Abolge zu verstehen sei. Deshalb müßten wir,wenn wir versuchen, einen Mythos wie einenRoman oder eine Zeitung zu lesen, d. h. Zeile ürZeile, von links nach rechts, uns bewußt sein,daß wir den Mythos so nicht verstehen können.

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Wir müssen ihn statt dessen als ein Ganzes be-greien und gewahr werden, daß die eigentliche

Bedeutung des Mythos nicht durch die Abolgeder Ereignisse, sondern – wenn ich so sagen dar – durch Ereignisbündel vermittelt wird, auchwenn diese Ereignisse an unterschiedlichen Stel-len der Erzählung aureten. Deshalb müssen wirden Mythos mehr oder weniger wie eine Orche-sterpartitur lesen, nicht Notenlinie ür Notenli-nie, sondern in dem Bewußtsein, daß wir dieganze Seite zu erassen haben und verstehenmüssen, daß das, was in der ersten Notenlinieoben au der Seite steht, nur dadurch seine Be-

deutung erhält, daß wir es als wesentlichen Be-standteil dessen begreien, was weiter unten au der zweiten Notenlinie, der dritten Notenlinieund so ort steht. Wir düren also nicht nur vonlinks nach rechts, sondern müssen gleichzeitig

 vertikal, von oben nach unten, lesen. Wir müs-sen begreien, daß jede Seite ein Ganzes ist. Undnur dann, wenn wir den Mythos wie eine Orche-sterpartitur behandeln, Notenzeile ür Noten-zeile geschrieben, können wir ihn als Ganzes

begreien und die Bedeutung eines Mythos er-schließen.Warum und au welche Art und Weise ist dasmöglich? Es ist, so meine ich, der zweite Aspekt,der Aspekt der Kontiguität, der hierzu den ent-

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scheidenden Fingerzeig lieert. Als in der Renais-sance und im Verlau des 17. Jahrhunderts das

mythische Denken – ich möchte nicht sagen: ver-schwand, aber – im westlichen Denken in denHintergrund rückte, tauchten anstelle der Erzäh-lungen, deren Auau noch immer dem Modellder Mythologie geolgt war, die ersten Romaneau. Und genau zur gleichen Zeit erleben wir dasAuauchen der großen musikalischen Stile, diedas 17., besonders aber das 18. und 19. Jahrhun-dert kennzeichnen.Es scheint, als hätte die Musik ihre traditionelleGestalt vollkommen verändert, um die – intel-

lektuelle wie auch geühlsmäßige – Rolle zuübernehmen, die das mythische Denken unge-ähr im gleichen Zeitraum augab. Wenn ich hier

 von Musik spreche, so muß ich den Ausdruck natürlich näher bestimmen. Die Musik, die die

traditionelle Funktion der Mythologie über-nahm, ist nicht die Musik schlechthin, son-dern jene Musik, wie sie mit Frescobaldi im rü-hen 17. Jahrhundert und mit Bach im rühen18. Jahrhundert in der westlichen Zivilisation

aufam, eine Musik, die ihren Höhepunkt mitMozart, Beethoven und Wagner im 18. und19. Jahrhundert erreichte.Um das Gesagte zu erläutern, möchte ich einkonkretes Beispiel heranziehen; ich habe es

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Wagners etralogie »Der Ring des Nibelungen«entnommen. Eines der wichtigsten musikali-

schen Temen dieser etralogie ist jenes, dasman au ranzösisch la thème de la renonciacionà l’amour  nennt – das »Entsagungsmotiv«. Die-ses Tema taucht, wie Sie wissen, zum erstenMal in »Rheingold « au und zwar in dem Mo-ment, als Alberich von den Rheintöchtern er-ährt, daß er das Gold nur erobern kann, wenn eraller menschlichen Liebe entsagt. Dieses höchstüberraschende musikalische Motiv ist ür Albe-rich ein Zeichen, es erklingt genau in dem Au-genblick, als er sagt, er werde das Gold nehmen,

der Liebe jedoch ein ür allemal entsagen. Alldas ist ganz klar und einach; die eigentliche Be-deutung des Temas ist: Alberich entsagt  derLiebe.Zum zweiten Mal taucht das Tema in aual-

lender und bedeutsamer Weise in der »Walküre«au, und zwar bei einer Gelegenheit, wo man nurschwer versteht, warum. Genau in dem Augen-blick, als Siegmund entdeckt, daß Sieglinde seineSchwester ist, sich in sie verliebt und im Begri 

steht, sich mit ihr inzestuös zu verbinden, tauchtdurch das Schwert, das im Baum verborgen istund das Siegmund aus ihm herausreißt, das Ent-sagungsmotiv wieder au. Das ist nicht recht ver-ständlich, entsagt doch Siegmund in diesem Au-

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genblick keineswegs der Liebe – im Gegenteil, erlernt zum ersten Mal in seinem Leben zusammen

mit seiner Schwester Sieglinde die Liebe ken-nen.Ein drittes Mal erklingt das Tema im letztenAkt der »Walküre«: Wotan, der König der Göt-ter, verurteilt seine ochter Brünnhilde zu einemlangen magischen Schla und umgibt sie mitFeuer. Zwar könnten wir annehmen, daß auchWotan der Liebe entsagt, weil er seiner Liebe zurochter entsagt, aber das ist nicht sehr überzeu-gend.Wie Sie sehen, begegnet uns hier genau das glei-

che Problem wie in der Mythologie, das heißt,wir haben ein Tema – in diesem Fall ein musi-kalisches anstelle eines mythologischen –, das andrei verschiedenen Stellen einer sehr langen Ge-schichte auaucht, einmal zu Beginn, einmal in

der Mitte und einmal am Ende (wenn wir unseinachheitshalber au die ersten beiden Operndes »Rings« beschränken). Ich möchte zeigen,daß wir die rätselhae Wiederkehr des Temasnur dann verstehen können, wenn wir die drei

Ereignisse, wie verschieden sie auch immer er-scheinen mögen, zusammenassen, aueinander-schichten und herauszunden versuchen, ob sieals ein und dieselbe Begebenheit behandelt wer-den können.

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Dabei stellt sich heraus, daß es in allen drei Fäl-len einen Schatz gibt, der von dem Ort, an dem er

estgehalten wird, herausgeholt werden muß:das Gold, das in den ieen des Rheins versenktist; das Schwert, das im Baum – einem symboli-schen Baum, Lebensbaum und Baum des Welt-alls – verborgen ist; und die Frau Brünnhilde, diekünig einmal aus dem Feuer herausgeholt wer-den muß. Die Wiederkehr des Temas weist unsalso darau hin, daß Gold, Schwert und Brünn-hilde eigentlich ein und dasselbe sind: das Goldals Mittel, Macht zu erringen, das Schwert alsMittel, Liebe zu erringen, wenn ich so sagen

dar. Und die atsache, daß eine Art Verschmel-zung zwischen dem Gold, dem Schwert und derFrau stattndet, ist eigentlich die beste Erklä-rung daür, warum das Gold am Ende der »Göt-terdämmerung « eben durch Brünnhilde wieder

in den Rhein zurückkommt: Sie sind schon im-mer dasselbe gewesen, nur wurden sie aus unter-schiedlichen Blickwinkeln betrachtet.Auch andere Einzelheiten der Handlung werden verständlich: Alberich zum Beispiel kann, ob-

wohl er der Liebe entsagte, später dank des Gol-des eine Frau verühren, die ihm einen Sohn, Ha-gen, gebiert. Dank der Eroberung des Schwertszeugt auch Siegmund einen Sohn, den späterenSiegried. Die Wiederkehr des Temas zeigt uns

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also etwas, was in der Sage nie erklärt wird, daßes nämlich eine Zwillingsbeziehung zwischen

Hagen, dem Verräter, und Siegried, dem Hel-den, gibt. Sie stehen in einer sehr engen Parallel-beziehung. Damit wird auch klar, warum Sieg-ried und Hagen, oder richtiger, zuerst Siegriedin eigener Gestalt und dann als Hagen an ver-schiedenen Stellen im Verlau der ErzählungBrünnhilde erobern wird.Ich könnte in dieser Art und Weise noch sehrlange ortahren, aber vielleicht reichen dieseBeispiele aus, um die methodische Ähnlichkeit

 von Mythenanalyse und Musikverständnis deut-

lich zu machen. Beim Musikhören olgen wirletztlich einer Sache, die von einem Anang zueinem Ende ortschreitet und sich in der Zeit ent-wickelt. Eine Symphonie z. B. hat einen Anang,eine Mitte, ein Ende. Dennoch würde ich nichts

 von einer Symphonie begreien und ihr keinerleimusikalisches Vergnügen abgewinnen, könnteich nicht in jedem Augenblick das, was ich kurz

 vorher gehört habe, und das, was ich gerade jetzthöre, zusammenbringen und mir der musikali-

schen Gesamtheit bewußt bleiben. Man kannzum Beispiel das musikalische Prinzip vonTema und Variationen nur dann wahrnehmenund ühlen, wenn man sich bei jeder Variationan das zuvor gehörte Tema erinnern kann; jede

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Variation hat eine ihr eigentümliche Färbung,wenn man sie unbewußt einer vorausgegange-

nen Variation, die man bereits gehört hat, hinzu-ügen kann.So ndet im Geiste desjenigen, der Musik hört,sowie desjenigen, der einer mythischen Erzäh-lung zuhört, eine Art ununterbrochene Rekon-struktion statt. Dabei handelt es sich nicht nurum eine globale Ähnlichkeit. Es sieht tatsächlichso aus, als habe die Musik damals, als sie die ein-zelnen Satzormen einührte, nur jene Struktu-ren wiederentdeckt, die bereits im Bereich desMythos vorhanden gewesen waren.

Es ist zum Beispiel auallend, daß die Fuge, diezu Bachs Zeit ihre este Form erhielt, den Verlau bestimmter Mythen getreu wiederholt, in denenzwei Personen oder zwei Personengruppen vor-kommen. Wir wollen einmal vereinachend an-

nehmen, daß die eine gut, die andere böse sei.Die Erzählung, wie sie der Mythos darstellt, istdie der einen Gruppe, die vor der anderenGruppe zu iehen und sich in Sicherheit zu brin-gen sucht; eine Gruppe wird also von einer ande-

ren Gruppe gejagt, wobei einmal die Gruppe Adie Gruppe B einholen, ein anderes Mal dieGruppe B entiehen kann – ganz wie in einerFuge. Wir nennen das au ranzösisch le sujet et la réponse. Die Antithese oder Antiphonie zieht

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sich durch die gesamte Erzählung hindurch, bisbeide Gruppen nahezu vollständig vermischt

und durcheinandergebracht sind – das ent-spricht der Stretta in der Fuge. Dann erolgt eineabschließende Lösung oder ein abschließenderHöhepunkt dieses Koniktes durch die Vereini-gung jener beiden Prinzipien, die den ganzenMythos hindurch einander gegenüberstanden.Es konnte sich dabei um einen Konikt zwischenden oberen und den unteren Mächten, zwischenHimmel und Erde, zwischen der Sonne und denunterirdischen Mächten oder ähnliches mehr ge-handelt haben. Die mythische Lösung der Ver-

einigung ist struktural den Akkorden sehr ähn-lich, die ein Musikstück abschließen und been-den, denn auch sie stellen eine Vereinigung vonExtremen dar, die diesmal zusammengeührtwerden. Es läßt sich überdies auzeigen, daß es

Mythen oder Gruppen von Mythen gibt, derenAuau dem einer Sonate oder einer Symphonie,eines Rondos, einer okkata oder dem einer an-deren jener vielen Satzormen gleicht, die vonder Musik nicht eigentlich entdeckt wurden,

sondern die die Musik unbewußt der Strukturdes Mythos entlehnt hat.Ich möchte Ihnen eine kleine Geschichte erzäh-len: Als ich »Das Rohe und das Gekochte«schrieb, entschloß ich mich, jeden Abschnitt des

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Bandes durch eine Satzorm zu kennzeichnenund einen Abschnitt »Sonate«, einen anderen

»Rondo« und so ort zu nennen. Dann aber stießich au einen Mythos, dessen Struktur ich zwarsehr gut verstehen, ür dessen mythische Formich jedoch keine entsprechende Satzorm ndenkonnte. Deshalb rie ich meinen Freund, denKomponisten René Leibowitz, an und legte ihmdas Problem vor. Ich beschrieb ihm die Strukturdes Mythos: Am Anang stehen zwei vollkom-men verschiedene Erzählungen, scheinbar ohne jede Beziehung zueinander, die sich ortschrei-tend verechten und miteinander verschmelzen,

bis sie am Ende nur noch ein einziges Tema bil-den. Wie würden Sie ein Musikstück mit einerderartigen Struktur nennen? Nach einigemNachdenken sagte er mir, daß es in der gesamtenMusikgeschichte kein ihm bekanntes Musik-

stück gäbe, das eine solche Struktur habe. Des-halb gibt es keinen Namen daür. Ein derartstrukturiertes Musikstück war aber oensicht-lich möglich: Einige Wochen später schickte ermir eine Partitur, die er komponiert hatte und

deren Struktur der des Mythos, den ich ihm er-zählt hatte, entlehnt war.Nun, ein Vergleich zwischen Musik und Spracheist eine sehr heikle Angelegenheit, da die Ähn-lichkeiten in gewisser Hinsicht sehr groß sind, es

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andererseits aber auch sehr große Unterschiedegeben kann. Zeitgenössische Linguisten haben

uns beispielsweise gesagt, daß die Grundele-mente der Sprache Phoneme seien – d. h. jeneLaute, die wir ungenau durch Buchstaben wie-dergeben –, denen an sich keine Bedeutung zu-kommt, die aber zusammengeügt werden, unddann eine Bedeutung erhalten. Ein on A, B, C,D usw. hat an sich keine Bedeutung; er ist nureine Note. Erst durch den Zusammenschluß vonönen kann Musik entstehen. Daher könnteman vielleicht sagen, daß es in der Musik etwasgibt, was ich in Anlehnung an die Phoneme als

dem Grundmaterial der Sprache im Französi-schen soneme (im Englischen vielleicht toneme)nennen würde. Es handelt sich hierbei also umeine Ähnlichkeit.Faßt man jedoch den nächsten Schritt oder die

nächste Ebene ins Auge, so wird man eststellen,daß die Phoneme verbunden werden, um Wörterzu bilden, und Wörter wiederum werden ver-bunden, um Sätze zu bilden. In der Musik dage-gen gibt es keine Wörter: Das Grundmaterial –

die öne – wird miteinander verbunden, aberman erhält sogleich einen Satz , eine Melodie.Während man also in der Sprache drei ganz ver-schiedene Ebenen hat – Phoneme, die zu Wör-tern verbunden werden, Wörter, die zu Sätzen

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 verbunden werden –, hat man zwar logisch gese-hen in der Musik so etwas wie Phoneme, aber

keine Ebene der Wörter: Man kommt unmittel-bar zum Satz.Nun kann man die Mythologie sowohl mit derMusik als auch mit der Sprache vergleichen, je-doch mit olgendem Unterschied: In der Mytho-logie gibt es keine Phoneme; die einachsten Ele-mente sind die Wörter. Nehmen wir aber dieSprache zum Paradigma, so setzt sich dieses Pa-radigma erstens aus Phonemen, zweitens ausWörtern und drittens aus Sätzen zusammen. Inder Musik ndet sich ein Äquivalent ür die

Sätze, aber kein Äquivalent ür die Wörter. ImMythos ndet sich ein Äquivalent ür die Wör-ter, aber kein Äquivalent ür die Phoneme. Inbeiden Fällen ehlt also eine Ebene.Wollen wir die Beziehung zwischen Sprache,

Mythos und Musik verstehen, so können wir dasnur tun, indem wir die Sprache zum Ausgangs-punkt nehmen. Dann läßt sich zeigen, daß beide,die Musik wie die Mythologie, von der Spracheabstammen, aber unterschiedliche Richtungen

eingeschlagen haben; daß die Musik das on-hae hervorhebt, das bereits in der Sprache vor-handen ist, wohingegen der Mythos den Sinn,die Bedeutung betont, die ebenalls in der Spra-che verankert sind.

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Es war Ferdinand de Saussure, der uns darau aumerksam gemacht hat, daß die Sprache aus

unzertrennlichen Elementen besteht, Laut undBedeutung. Und mein Freund Roman Jakobson veröentlichte gerade kürzlich ein kleines Buchmit dem itel »Le son et le Sens« als den beidenuntrennbaren Seiten der Sprache. Es gibt denLaut, der Laut hat eine Bedeutung; ohne Laut,der die Bedeutung zum Ausdruck bringt, kann eskeine Bedeutung geben. In der Musik überwiegtdas Lautliche, das onelement, im Mythos dasBedeutungselement.Seit meiner Kindheit habe ich davon geträumt,

Komponist oder wenigstens Dirigent zu werden.Ich habe mich als Kind sehr ernstha bemüht,ür eine Oper, zu der ich bereits das Libretto ge-schrieben und das Bühnenbild gemalt hatte,auch die Musik zu komponieren, aber ich war

dazu einach nicht in der Lage, weil mir daüretwas im Kope ehlt. Nur von der Musik undder Mathematik läßt sich, glaube ich, sagen, daßsie wirklich angeboren sind; man braucht einegewisse genetische Ausrüstung, um sie zu betrei-

ben. Ich erinnere mich ganz deutlich an das Din-ner mit dem großen ranzösischen KomponistenDarius Milhaud in New York, wo ich währenddes Kriegs als Flüchtling lebte. Ich ragte ihn:»Wann ist Ihnen klar geworden, daß Sie Kompo-

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nist werden würden?« Er beschrieb mir, daß erals Kind im Bett beim Einschlaen eine Musik 

 vernahm und ihr zuhörte. Es war eine Musik, diezu keiner ihm bekannten einen Bezug hatte; spä-ter stellte er est, daß das bereits seine eigene Mu-sik gewesen war.Seit mir augegangen ist, daß Musik und Mytho-logie sozusagen zwei von der Sprache gezeugteSchwestern sind, die auseinandergetrieben wur-den und unterschiedliche Richtungen einschlu-gen – so wie in der Mythologie die eine Personnach Norden, die andere nach Süden geht, umeinander nie wieder zu treen –, hoe ich, daß

ich vielleicht, wenn es mir schon nicht mit önengelingt, mit Bedeutungen komponieren kann.Die von mir gezogene Parallele bezieht sich, wieich bereits sagte, aber noch einmal hervorhebenmöchte, meines Wissens nur au die westliche

Musik, wie sie sich in den letzten Jahrhundertenentwickelt hat. Heute beobachten wir jedoch et-was, das logisch gesehen jenem Vorgang sehrähnlich ist, als der Mythos als literarische Gat-tung verschwand und durch den Roman ersetzt

wurde. Wir beobachten das Verschwinden desRomans überhaupt. Und es ist durchaus mög-lich, daß das, was im 18. Jahrhundert geschah,als die Musik die Struktur und die Funktion derMythologie übernahm, sich heute wieder ereig-

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net, und zwar in der Form, daß die sogenannteserielle Musik den Roman als Gattung eben in

dem Augenblick ablöst, da dieser aus der literari-schen Szene verschwindet.

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