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N O C H M E H R Herausgeber: E c k a r t F r ü h Wien Oktober 2008 Karl Kraus im Gedicht (erweiterte Fassung) * gratis und franko

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N O C H M E H R

Herausgeber: E c k a r t F r ü h

Wien Oktober 2008

Karl Kraus im Gedicht

(erweiterte Fassung)

*

gratis und franko

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Bekannte und weithin unbekannte Gedichte, in denen Karl Kraus bei seinem Namen

genannt wird, machen den Inhalt dieses Heftes aus. Es sind gute und schlechte Verse, die hier wiedergegeben werden, gereimte und geleimte, verehrende, verklärende, kritische, ab-lehnende oder diffamierende, auf den Herausgeber der Fackel, gegen ihn, seine Feinde und seine anmaßenden Nachfolger; einige stehen unter einem Motto von Karl Kraus, andere in seiner Nachfolge. Daß es mehr gibt, ist keine Frage; diese Anthologie ist ein Beginn, ohne den nichts beginnt und nichts fortgesetzt werden könnte.

E. F.

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I n h a l t

A n o n m y m u s : Entdeckung (5) A n o n y m u s : [Grabrede] (6)

A n o n y m u s : Die groiße Affaire (7) O s k a r A n d r e a s : Zur zweihunderfünfzigsten Nummer der Fackel (8)

J o h a n n e s R. B e c h e r : Tod des Meisters / Das Wort das schweigt, wird zum Folterknecht (10)

B e d a (Fritz Löhner): Karl Kraus und die Sprache (13) W o l f g a n g B e n n d o r f : Schallplatte 1939 (14)

F r i e d r i c h B e r g a m m e r : Die Alice Schalek in New York (15) A l b e r t B l o c h : To Karl Kraus (16)

B e r t B r e c h t : Über die Bedeutung des achtzeiligen Gedichtes in der 888. Nummer der Fackel (17)

Über den schnellen Fall des Unwissenden (18) M a r t h a D e u t s c h :

Die letzten Tage der Menschheit (19) Karl Kraus (20)

E r w i n E n g e l : Kunststelle (21) H e i n r i c h F i s c h e r :

Die Bestattung (22) Karl Kraus (23)

H o l g e r F l i e ß b a c h : Zum 100. Geburtstag von Karl Kraus (24) E r i c h F r i e d : Für Karl Kraus. (25)

R u d o l f G e i s t : Ode an Karl Kraus. (26)

Für Karl Kraus (27) M i c h a e l G u t t e n b r u n n e r :

Denkmal (28) Erster Weg in Wien (29) Lyrik der Krausianer (30)

Die Bezüge (31) Der Verfälscher der Fackel (32)

15. Juli 1927 (33) Der arme B. B. (34)

Die Hand. (35) P a u l H a t v a n i : Zum Erscheinen eines Buches. (36)

H a n s H e i d e r : An Karl Kraus (37) O s k a r J e l l i n e k : Dank der deutschen Sprache an Karl Kraus (38)

H a n s J u s t : Dank an Mödling (40) A l f r e d K e r r : Caprichos (42)

Der Polemist ( 42) E r n e s t K l e e : An Karl Kraus (44)

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W e r n e r K r a f t : Das Schweigen (45)

Karl Kraus (46) T r u d e K r a k a u e r : Karl Kraus (47)

M a x i m i l i a n L a z a r o w i t z : Karl Kraus (49) J. L e s s e r : Huldigung (50)

M e c h t h i l d e L i c h n o w s k y : Karl Kraus (51) W o l f M a r t i n :

In den Wind gereimt (53) Zum Jahreswechsel (54)

R o b e r t N e u m a n n : Unter dem Wasserhahn (55) r. p. : Der grimme Bar-Bahr (56)

F r i e d r i c h P o d z u s : In memoriam Karl Kraus (57) P e K a (Karl P t a k):

Zwischen zwei Sonntagen. (58) Zwischen zwei Sonntagen. Dann ade! (59)

H e i n r i c h S. : Dank an Karl Kraus (60) F r a n z S c h ö f f e l : Der Reim. Ein Dank an Karl Kraus (61)

F r a n z S l o v e n č i k : Rückblick (62) Tröstung (62)

Am Grabe Karl Kraus’ (63) Der Schutzengel (63)

„Laß mich vor Gottes Thron als Fackel stehn.“ (63) H u g o S o n n e n s c h e i n : Zeitgeister (64)

G e o r g T r a k l : Karl Kraus (65) B e r t o l d V i e r t e l :

Karl Kraus (66) Totenmaske (67)

E r n s t W a l d i n g e r: Majdanek (68) H a n s W e i g e l : An Karl Kraus (69)

G u s t a v Z o r n : Karl Kraus (70) *

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Anonymus:

Entdeckung

Der Bielohlawek hat Intellekt – Ein Krausbub hat das neulich entdeckt. Doch Intellekt zu seltsam klingt. Viel besser lautet das Wort Instinkt.

(Neue Glühlichter, Wien, Nr. 127, 14. 2. 1901, S. 31)

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Anonymus:

[Grabrede]1

Wir fragen ihn, was all die Zeit er machte. Und bleibt er stumm, so sagen wir, warum er schweigsam wurde, da die Erde krachte: Er floh in Schlaf nur weil s e i n Wort nicht traf! Die Fackel starb. Die Sonne Hitlers lachte. Karl Kraus? Vorbei! Uns ist’s nicht einerlei, daß er entschlief, als Barbarei erwachte.

(Neue Deutsche Blätter (Prag), Nr. 3, 15. 11. 1933, S. 196)

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1 -: Zwei Grabreden auf Karl Kraus.– Die Glosse ist in unmittelbarer Reaktion auf die Fackel Nr. 888

vom Oktober 1933 entstanden. Der anonyme Verfasser nennt die hier (S. 1 – 3) abgedruckte „Rede am Grab“ von Adolf Loos „eine kleine Grabrede“, das Gedicht Man frage nicht, was all die Zeit ich machte (auf S. 4) eine „noch kleinere Grabrede von Karl Kraus auf Karl Kraus“. –„Auch wir“, heißt es weiter im Text, „wollen diesem großen Pamphletisten vergangener Zeiten, aus dem das Gewissen der Bourgeoisie sprach, solange sie eins hatte, eine Grabrede nicht schuldig bleiben:“ Es folgen die oben wiedergegebenen Verse.

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Anonymus:

Die groiße Affaire

War das ä Geserres, war das ä Geschra’. A Gemauschel und a Getöse, Zehn Tage hat er, der F r i e d m a n n , gekriegt, Man weiß, daß a Jüd nix auf’s Einkast’ln fliegt, Darüm war der F r i e d m a n n sehr böse. „Herr Richterleb’n!“ hat er ganz wanerlich g’schmußt, „Ä paar Patsch hob’ dem K r a u s jach gegeben – Denn hätt’ ich nix g’hobt meine Freund hinter mir, O hohes Gericht! Da stünd’ ich nix hier, Denn a l l a n wird’ ka Mensch das erleben! Daß jach setzt soll sitzen“, ruft F r i e d m a n n entsetzt, „Hat mer nix an der Wieg’ mir gesungen!“ Der A d l e r , der H a n d l , die schneid’n sich ä Krie, Der K a h a n e schreit wüthend: „Haßt ma ä Genie, Weg’n dem Chamer senn ’rein mer gesprungen!“ O F r i e d m a n n , Du Dichter, was hast Du gemacht, Blamirt bist Du vorn jetzt und hinten – Denn D u bist, Du Wüth’rich, der g’schlagene Mann Und sitzt durch Dein Dreieck zehn Tage sodann Im Vierreck erst recht in der Tinten!

(Kikeriki! Humoristisches Volksblatt, Wien, Nr. 44, 1. 6. 1899, S. 1.

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Oskar Andreas:

Zur zweihundertfünfzigsten Nummer der Fackel. X. Jahrgang Kein Tamtam tönt mit Pauken und Trompeten, Die Presse sendet keinen Lorbeerkranz. Noch immer gelten leider die Propheten Am wenigsten beim Volk des eignen Land’s.

Dem ungeachtet: Hurtig angetreten Mit Eleganz zum z e h n t e n Fackeltanz! Ein Vierteltausend Reigen sind geschlungen, Und jeder Gang ist meisterlich gelungen. Wie war’s doch damals, als die erste Nummer

Neun Jahre sind’s – ins Volk der Denker schlug, Und der Philister, aufgeschreckt vom Schlummer, Betroffen nach dem Attentäter frug, Der in die Redaktionen Wut und Kummer, In’s Publikum tollste Verwirrung trug? – Erst stand man starr! – Dann hat sich’s ‚rumgesprochen: „Revolverjud!“ „Der Kerl ist bestochen.“ Bestochen war er von den Liberalen, Gedungen von der hohen Klerisei, Die Roten sollen auch sehr nobel zahlen, Flugs stand es fest, daß er ein Sozi sei; Noch andere schlossen aus gewissen Malen, Er neige stark zur Morgenlandpartei, Weil er für Z i o n , das man jetzt erneuert, E r w e i s l i c h e i n e K r o n e beigesteuert.2 Und nicht nur das! Noch andre wollen schwören, Er sei ein ganz unreifer Gymnasiast, Der aus frivoler Freude am Zerstören, Alles, was Geltung hat, satanisch haßt, Und nachts mit Weibern, die ihm nicht gehören, In Kabarets sein Schweigegeld verpraßt; - Kurz: A u s w ü r f l i n g , den alle Laster zieren, Sein Lebensziel: die Dichtung d e m o l i e r e n ! 3 Er hat’s erreicht! G r i e n s t e i d l ist verschwunden, Der einst die Amme aller Dichter war, Die andachtsvoll in hehren Weihestunden Dem Papste lauschten mit der Lock’ im Haar; – Sie haben alle längstens heimgefunden Mit ihren Werken sich zum Antiquar – Nur er macht weiter rasende Geschäfte Vermittelst seiner heftig roten Hefte!

2 Anm. des Verfassers: Eine Krone für Zion. 3. Aufl. Wien 1898.

3 Anm. des Verfassers: Die demolierte Literatur. 5. Auflage. Wien 1897.

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„Ist d a s die Kunst? – Gut, seien wir noch röter!“ Ein Gentleman verbricht den Feuerschein Und der behende frische Fackeltöter4 Hofft sich vom Don Quixote ersprießliches Gedeih’n; Dem kläfft dann noch ein Rudel ekler Köter Mit Sturm, Skandal, Faust, Geißel hinterdrein,

Nachäffend plump, ein Schauspiel für die Götter , Die unerreichte Kunst des Spötters aller Spötter.

Ein S p ö t t e r nur? D e r hat ihn nie begriffen, Der sich nur stofflich um den Inhalt kehrt, Der nie sein W e r k z e u g , funkelnd z u g e s c h l i f f e n , Als h ö c h s t e S p r a c h k u n s t staunend liebt und ehrt, Der nie auf seines Geistes kühnen Schiffen Den Ozean des Denkens neu durchfährt, Um da, wo h ö h ’ r e W e r t e tosend branden, Im F a c k e l s c h e i n auf Z u k u n f t s l a n d zu landen!

(Wien, April 1908)

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4 Anm. des Verfassers: Moriz Frisch: Die Fackel ist tot.

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Johannes R. Becher:

XXIV

Tod des Meisters / Das Wort, das schweigt, wird zum Folterknecht5 Es starb George. Es starb kein Geist. Es starb ein dunkel Geraune. Prophetischer Schwindel, wenn einer ihn preist Als einer Zukunft Posaune. Er verstand die Kunst, mit erhabenem Getu Ein völliges Nichts zu verbergen. Triefäugiger Tiefsinn jubelt ihm zu, Und es sprechen ihn heilig die Schergen. Sein Jahr der Seele ist nicht das Jahr, Das unsere Herzen begeistert. Das Wort Georges das Wort nicht war, Das unsere Wirklichkeit meistert. Stefan-Georgische Zauberpracht, Phantasielose, alberne Sage: Er träumte von Tausendundeiner Nacht Und schändete unsere Tage. Mit Teppichen hat er das Leben verhängt. Der Meister war freudlos und düster. Er hat hypnotisch sich in sich versenkt Durch sein orakelnd Geflüster. Er hat den gewaltigen Hölderlin Für sich mißbraucht und mißdeutet. Es kam der Krieg. Der Krieg hat ihn Nicht gewandelt und nicht gehäutet. Er zeigt keine Menschen, nur launisch gereizt Blasse und kränkliche Schemen. Es ist zum Lachen, wie sie gespreizt Sich in seinen Riemen benehmen. Gern fragt ich den Meister, wär es erlaubt, Ich spart nicht mit Komplimenten, Ob allen Ernstes er daran glaubt, Wir lebten von Nichtstun und Renten ... Wie eng ist sein Raum, von dem er meint, Er sei der hehrste der Räume! Er hat nie gelacht, er hat nie geweint – Er hatte erhabene Träume.

5 Aus: Deutschland. Ein Lied vom Köpferollen und von den nützlichen Gliedern. Zürich (Ring-Verlag)

1934, S. 153 - 158. Mit dem Vermerk: „Geschrieben Januar – Februar 1934 zu Moskau“. – Jutta Bendt und ihrer Kollegin Susanne Rößler, beide von der Bibliothek des Deutschen Literaturarchivs in Marbach a. N., danke ich für die Zusendung einer Kopie dieses Gedichts.

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Das Weinen der anderen wird ihm zu Kristall. Das glänzt. Keine Träne stillt er. Er berauscht sich an ihrem Tränenfall, Er sucht Vergleiche und Bilder. Blutrünstig, mit Gift und Dolchen bewehrt, So kommt sein Gedicht geschritten. Es hat im Wahn ganze Länder verheert Und der Gefangenen Gurgeln durchschnitten. So ist sein Gedicht ein Stein im Bau, Den heute Herr Hitler errichtet. Er hat mit seiner Wesensschau Viel klares Denken vernichtet. Und schwieg er, so ist sein Schweigen bestimmt Kein Schweigen aus Haß gewesen. Wer heute ihn alles in Anspruch nimmt – Da kann man nur staunen und lesen. Stefan George! Es ist nicht die Zeit, Daß ich länger ein Grablied dir singe. Ich pfeife auf deine Feierlichkeit, Du Verächter der Menschen und Dinge! Es starb George. Aus seiner Gruft – Denn Grab wäre viel zu billig – Steigt eine entsetzlich modrige Luft. Wir atmen sie widerwillig. – Ein schweigender Hasser ist Karl Kraus. Es traf oft die Lauen und Feigen Sein treffendes Wort. Sein Wort blieb aus. Sie ermordeten ihn durch sein Schweigen. Ein Schweiger aus Haß ist Leonhard Frank. Wir wollen sein Schweigen wecken. Er wird sich nicht auf die lange Bank Zu ewigem Schweigen strecken. Es schweigt in Deutschland auch eine Zahl Von Dichtern mit knirschenden Zähnen. Denn wenn sie schreiben, auf einmal Schreiben sie Blut und Tränen. Wir rufen allen Schweigenden zu: Brecht euer Schweigen, ihr Schweiger! Foltert euch nicht eure Grabesruh?! Es rückt auf die Stunde der Zeiger! Dem Wort gebt die Macht, die gewaltige Macht, Die Worte in Taten verwandelt! Das Wort, von uns gefühlt und gedacht, Es zieht nach Deutschland und handelt!

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Nach Deutschland zieht es trotz alledem. Die Grenzen hats niedergerissen. Das heilige Wort, das rächende Wort, Deutschlands erwachtes Gewissen. Das rächende Wort wird dem Henker zum Strick. Das Wort hat den Knoten geschlungen. Das rächende Wort, das heilige Wort Aus Haß und Liebe gesungen. Aus der Arbeiterschaft wuchs ein Heldengeschlecht. Ihr verschweigt, was ihr schweigend bewundert. Das Wort, das schweigt, wird zum Folterknecht. Werft kühn euer Wort ins Jahrhundert! Ich lob mir den Haß eines Heinrich Mann. Er greift mit geschliffenen Sätzen Die Bestien, die wütenden, rücksichtslos an, Um sie mit Elan zu zerfetzen. Doch frag ich mich oft, warum ihm gelingt Nur das Zusammenhanglose. Warum er nicht die Wahrheit bringt, Die Wahrheit, die ganze und große? Er steht, ein Meister des rächenden Worts, Einsam in seinem Hasse. Er haßt die Klase, zu der er gehört, Nicht sich selbst als Klasse. Thomas Mann und Alfred Döblin Haben an Goebbels gerichtet Ein Telegramm, sie warben um ihn, Herr Goebbels sei falsch unterrichtet. Es sei ihr Name zu Unrecht genannt In der Zeitschrift, Die Sammlung geheißen. Sie haben sich damit selbst entmannt. Ihr Verleger nur wird sie noch preisen. Nicht alle, die Herr Hitler verbrannt, Sind unsere Bundesgenossen. Es hat schon mancher hinten herum Mit den Nazis ein Bündnis geschlossen. Schaut euch die Freunde noch besser an Als eure Feinde. Gewöhnlich Kommen wir immer zu spät darauf. Seid hart und unversöhnlich!6

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6 Aus: Deutschland. Ein Lied vom Köpferollen und von den nützlichen Gliedern. Zürich (Ring-Verlag)

1934, S. 153 - 158. Mit dem Vermerk: „Geschrieben Januar – Februar 1934 zu Moskau“. – Jutta Bendt und ihrer Kollegin Susanne Rößler, beide von der Bibliothek des Deutschen Literaturarchivs in Marbach a. N., danke ich für die Zusendung einer Kopie dieses Gedichts.

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Beda (Fritz Löhner):

Karl Kraus und die Sprache

Die Sprache ist mir weiches Wachs und Kohle,

Aus denen ich mir Form und Wärme hole.

Des Wortes Klang stimmt meine Leier lyrisch,

Des Wortes Spiel, es hazardiert satirisch.

Der Wortlaut klingelt mir auf allen Wegen

Und kommt entgegenkommend mir entgegen.

Das Wesen wird mir durch die Phrase kund,

Die Oberfläche spiegelt mir den Grund.

Den Dichter dichte ich durch sein Gedicht

Und in dem Sprachbild seh’ ich das Gesicht.

In jeder Zeile steht des Geistes Heim

Und jeder Reim ist des Gedankens Keim.

Ich habe meine Sach’ aufs Wort gestellt

Und baue aus der Sprache eine Welt.

(Wiener Sonn- und Montagszeitung, Nr. 14, 6. 4. 1925, S. 16)

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Wolfgang Benndorf:

Schallplatte 1939 Hier im abgelegnen Zimmer, wo uns nichts vermag zu stören, diese Stimme – es ist schlimmer nun als je! – noch einmal hören!

Schöne, längstverbannte Stimme, die uns einst, uns zu empören, aufgestört im Diesseitsgrimme, nun wie aus dem Jenseits hören!

Stimme, deren Wortgewitter längst in dieser Welt verhallt war, so erfolglos, wie kein Ritter von der traurigen Gestalt war,

Doch erhabner als Propheten, größer, mutiger, gerechter! – Gönnen wir’s dem Vielgeschmähten, fern zu sein der Welt der Schlächter!

Hör’ ich seine Worte rattern wieder von den Generalen, seh’ ich noch das Flügelflattern seiner Hände Raben malen. Raben werden wieder kreisen ob der Fülle großer Nahrung, und der Mensch wird heldisch heißen in bestialischer Gebarung. Hier an stillem Ort gewittert einmal noch des Geistes Stimme, und ich fühle tieferschüttert übermächtig alles Schlimme. Rettend dringt in unsre Dumpfheit niemals mehr ein Strahl des Schönen. Woran könnte sich die Stumpfheit von uns Knechten nicht gewöhnen?!

(Der Alleingang. Hrsg.: Michael Guttenbrunner und Paul Schick. Nr. 4, Juni 1964, S. 5.)

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Friedrich Bergammer:

Die Alice Schalek in New York7 Bei Karl Kraus bleibt sie ein Mythos. Nun sitzt eine arme, alte, mühselige, beladene Frau beim Nachmittagstee eines Pastors. Sie hat schlechtere Tage gekannt, die sie für ihre besseren hielt. F. W. Förster unterhält sich freundlich mit ihr – die Kriegsberichterstatterin, ein Star der Neuen Freien Presse, antwortet unruhig und verworren. Der Erste Weltkrieg liegt sehr weit zurück, auffindbar, doch fern ... Um die Sünden der Lügnerin wird es totenstill. Einer, der das Modell mit der Wirklichkeit verwechselt, attackiert die Hilflose ...

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7 Aus: Momentaufnahmen. Wien (Bergland) 1981, S. 20. Zuvor in: Lynkeus (Wien). Hrsg.: Hermann

Hakel, Nr. 14/15, 1981, S. 53. Nachdruck in: Kraus Hefte (München), Nr. 22/23, April/Juli 1982, S. 32, und ebd. Nr. 29, Januar 1984, S. 12.

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Albert Bloch:

To Karl Kraus8 Master to whom I owe my mind’s new birth, guide, whose example makes to shine so clear forgotten truth at which purblind this earth blinks unbelieving or with cynic leer; voice of the word, whose word and voice austere lash scathelessly the thick hide of unworth, martyr self-tortured, whose tormented jeer looses the mob’s misunderstanding mirth – This homage, now your summer’s leaves turn wan, take, as weak thanks, my deep debt to repay. Dream springtide still, though swift the fall come on; the while your sun must set, bright dawn your day! Full flare the flame from my banked fire stirred leaping to life by your enkindling word.

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* *

8 Aus: Stimmen über Karl Kraus zum 60. Geburtstag. Wien (Richard Lanyi) 1934, S. 9; nach dem

Gedicht ein Zitat aus dem Begleitbrief Blochs: „This lines are not written for the present occasion, but dedicated to Karl Kraus just six years ago, since then much revised, but never before published.“

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Bert Brecht:

Über die Bedeutung des zehnzeiligen Gedichtes in der 888. Nummer der Fackel (Oktober 1933)9

Als das dritte Reich gegründet war kam von dem Beredten nur eine kleine Botschaft. in einem zehnzeiligen Gedicht erhob sich seine Stimme, einzig um zu klagen daß sie nicht ausreiche.

Wenn die Greuel ein bestimmtes Maß erreicht haben gehen die Beispiele aus. Die Untaten vermehren sich und die Weherufe verstummen. Die Verbrechen gehen frech auf die Straße und spotten laut der Beschreibung.

Dem, der gewürgt wird bleibt das Wort im Halse stecken. Stille breitet sich aus und von weitem erscheint sie als Billigung. Der Sieg der Gewalt scheint vollständig.

Nur noch die verstümmelten Körper melden, daß da Verbrecher gehaust haben. Nur noch über den verwüsteten Wohnstätten die Stille zeigt die Untat an.

Ist der Kampf also beendet? Kann die Untat vergessen werden? Können die Ermordeten verscharrt und die Zeugen geknebelt werden? Kann das Unrecht siegen, obwohl es das Unrecht ist? Die Untat kann vergessen werden. Die Ermordeten können verscharrt und die Zeugen können geknebelt werden. Das Unrecht kann siegen, obwohl es das Unrecht ist. Die Unterdrückung setzt sich zu Tisch und greift nach dem Mahl mit den blutigen Händen.

Aber die das Essen heranschleppen vergessen nicht das Gewicht der Brote; und ihr Hunger bohrt noch wenn das Wort Hunger verboten ist.

Wer Hunger gesagt hat, liegt erschlagen. Wer Unterdrückung rief, liegt geknebelt. Aber die Zinsenden vergessen den Wucher nicht. Aber die Unterdrückten vergessen nicht den Fuß in ihrem Nacken. Ehe die Gewalt ihr äußerstes Maß erreicht hat beginnt aufs neue der Widerstand.

9 Ebd. S. 11 f.

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Als der Beredte sich entschuldigte daß seine Stimme versage trat das Schweigen vor den Richtertisch nahm das Tuch vom Antlitz und gab sich zu erkennen als Zeuge.

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Über den schnellen Fall des guten Unwissenden Als wir den Beredten seines Schweigens wegen entschuldigt hatten verging zwischen der Niederschrift des Lobs und seiner Ankunft eine kleine Zeit. In der sprach er. Er zeugte aber gegen die, deren Mund verbunden war und brach den Stab über die, welche getötet waren. Er rühmte die Mörder. Er beschuldigte die Ermordeten. Den Hungernden zählte er die Brotkrusten nach, die sie erbeutet hatten. Den Frierenden erzählte er von der Arktis. Denen, die mit den Stöcken der Pfaffen geprügelt wurden drohte er mit den Stahlruten des Anstreichers. So bewies er wie wenig die Güte hilft, die sich nicht auskennt und wie wenig der Wunsch vermag, die Wahrheit zu sagen bei dem, der sie nicht weiß. Der da auszog gegen die Unterdrückung, selber satt wenn es zur Schlacht kommt, steht er auf der Seite der Unterdrücker.

Wie unsicher ist die Hilfe derer, die unwissend sind! Der Augenschein täuscht sie. Dem Zufall anheimgegeben steht ihr guter Wille auf schwankenden Beinen.

Welch eine Zeit, sagten wir schaudernd wo der der Gutwillige, aber Unwissende noch nicht die kleine Zeit warten kann mit der Untat bis das Lob seiner guten Tat ihn erreicht! So daß der Ruhm, den Reinen suchend schon niemand mehr findet über dem Schlamm wenn er keuchend ankommt.

(Die Gedichte in einem Band. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1981, S. 505 f.)

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Martha Deutsch:

Die letzten Tage der Menschheit10 Ein Aufschrei ist’s für tausende Gequälte, Zerfetzt, zerschunden in dem Höllentrichter, Verreckt im Land der Henker und der Richter, Vergessen auch, wenn uns der Dichter fehlte, Der für sie alle sprach, für Ungezählte, Uns weisend ihrer Peiniger Gelichter: Gen’räle, Wuch’rer, Kaiser, Siegesdichter, Der von dem faulen Kern die Rinde schälte, Uns zeigend, wie sie uns hinabgezogen In ihren Sumpf, das Mark uns ausgesogen, Die Welt verseucht mit ihrer Kriegspest. Erlebtes wird Erlebnis – eingepreßt In unser Hirn gleich jenem Manifest: „Ich habe alles reiflich erwogen!“

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10

Aus: Der Tag, Nr. 143, 22. 4. 1923, Jugendbeilage, S. 13. Mit der redaktionellen Vorbemerkung: „Preisarbeit, ehrenvolle Erwähnung außer Wettbewerb.“

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Karl Kraus11

Ihr alle, die ihr in Kavernen, Die ihr in schmutzigen Kasernen Wart eingezwängt in blut’ge Bande, Ihr Opfer auf dem Feld der Schande, Streiter für Gott und für den Kaiser Für schmachvoll-düstre Lorbeerreiser, Ihr alle, Christen, Juden, Heiden, Ihr Frauen auch, zermürbt vom Leiden, Vom Harren, Hoffen, Warten, Sehnen – Ihr alle, alle, die ihr Tränen Habt durch den Wahnsinn Krieg vergossen, So sind sie nicht umsonst geflossen! Ihr Kinder all, betört, belogen, Um euer Jugendglück betrogen, Ihr Waisen, Witwen, Kranke, Krüppel, Ihr Opfer all’ von Knut’ und Knüppel, Ihr Opfer all’ von wilden Tieren, Von Schiebern, Priestern, Offizieren, Von gier’gen Bauern, grausen Henkern, Von feilen Richtern, Schlachtenlenkern, All’ ihr Verrat’ne, ihr Gehetzte, All’ ihr Verweste, ihr Zerfetzte, Zermalmt von jenes Unheils Tritten, So habt ihr nicht umsonst gelitten: Denn eure Seufzer, eure Klagen, Aus dieser Menschheit letzten Tagen, All’ eure Qualen, eure Sorgen, Sie ebnen uns ein neues Morgen, Geschaut von eurem großen Dichter, Der dieser Menschheit Sittenrichter.

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11

Ebd.

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21

[Erwin] Engel:

Kunststelle

Karl Kraus stritt gegen Doktor Bach, Da wurden seine Hörer gach. Die haben außer für Marx und Bebel Für Gräfin Mariza auch ein Faible. Drum haben ihm, von der Prosa befeuchtet, Im Arbeiterheim die Arbeiter heimgeleuchtet.

(Wiener Allgemeine Zeitung, Nr. 14263, 11. 12. 1925, S. 4)

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22

Heinrich Fischer:

Die Bestattung

Karl Kraus sprach die Worte, die wie Mutterhände Hinstrichen über Peters Haupt. Mädchen weinten. Und rings stand die Welt entlaubt, Als ob sie nimmer Mut zur Schönheit fände. Wir blieben lange, fröstelnd, und vergebens Beschien ein mildes Auge unsern Harm. Er aber flog mit einem Schrei des Lebens Dem erwachenden Abend in den Arm!

(Die Wage, Wien, Nr. 4, 24. 1. 1919, S. 93)

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Karl Kraus

Seine Geste, ein junger Sperber, schreckt Ihr Wort, verflatternde Taube. Auge: staunender Glaube. Nachts haben ihn Harpyien geweckt, sie schwirrten, bereit zum Raube, über sein bebendes Herz gestreckt – (Er lag, unter Gottes Mantel versteckt). Nun gräbt er die Welt aus dem Staube.

(Die Weltbühne, Berlin, Nr. 3, 20. 1. 1921, S. 69)

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Holger Fließbach:

Zum 100. Geburtstag von Karl Kraus12

DIES ABER weiß ich: es ist das Gericht ja der Welt bestimmt, doch lautlos.

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12

Das Ziegeneuter. Herausgeber: Michael Guttenbrunner. Wien, Nr. 21, Juni 1974, S. 27. Das Gedicht erschien dort unter dem Pseudonym Isaak Troptard.

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25

Erich Fried:

Für Karl Kraus13

Du warst der Kläger und du warst der Richter und eine Fackel in der Dämmerung. Verwachsen, alternd, bliebst du grad und jung, in kranker Zeit ein tiefgekränkter Dichter

voll Liebe noch in deinen Bitternissen und drum zu streng: nicht viel schien Liebe wert. Und so hast du uns Form und Spott gelehrt und schliffst uns scharf zur Schneide das Gewissen.

Du irrtest oft: es hat dich dein Verstand von Glück und Hoffnung sehr weit fortgetragen, doch öfter trafst du: Moder stand in Brand,

und rühmend kann man dieses von dir sagen: An ihren Worten hast du sie erkannt, mit ihren Worten hast du sie geschlagen.

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13

Aus: Gesammelte Werke. Gedichte 3. Hrsg.: Volker Kaukoreit und Klaus Wagenbach. Berlin (Wagenbach) 1993, S. 286.

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Rudolf Geist:

Ode an Karl Kraus14

Welch eine Welt! da ewigen Geistes Lied im ungeheuren Nachtrot den Tag erweist und tatenreich der göttliche Mensch seiner Umgebung Gestalt erleidet.

Hintorkelnd rollt die Kugel des Glücks ins Nichts; im Ungenügen heiser, verschreit der Fluch der Kameraden reineren Ruf. Du aber stehst und du führst die Zeiten!

Du führst die überstürzte Gewalt zurück und zähen Schrittes höher ins Reich die Schar; und prüft die Nacht dich, ruft dich schon Tag, sonniger hell, wie du ihn bereitest.

Nicht einen neuen Christus erkenn’ ich wo: Du, Held des Friedens, Dichter der Menschheit, machst O Tag! Ich nenne Himmlischer Dich geistiger fassen und trauter haben!

Wo sind die Dichter wahrlicher Größe hin, die dir, dir Mensch! zu singen bereit erstehn? O Tag! Ich nenne Himmlischer dich über den Sternen, die dich erschauen!

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14

Aus: Plan. Hrsg.: Otto Basil. Nr. 1, Oktober 1945, S. 69; mit dem Vermerk: „1923 geschrieben“.

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Für Karl Kraus15 † 12. Juni 1936

Aus Welt in Nacht dahin, ihr aus – aus Niemandsnacht ins Sternenhaus! Laß Gärten funkeln, Haus der Sterne! Gib ihm und uns und allen ferne den lichten Auferstehungsschein. Wir leben totallein.

Ein Geist starb hin, in fremder Zeit ein Herz von mir in Ewigkeit. Ihr mußte dieses Blut gerinnen! Es litt die Zeit am Bluten innen das niegelitt’ne große Herz; es litt den Tod zum Schmerz.

Die freie Völkerwelt langt nicht mit tausend Jahren, daß sie spricht, was Er dem Leben gab zu sagen. O Menschheit, lern’ die Fackel fragen, hol’ selbst sie dir ins dunkle Haus! Dahin ist Karl Kraus.

Erbaut euch, Wiener Seelen, still am Werk, das euch den Segen will. Die Sterne sind der Erde Zeugen: sie wird sich nie dem Tode beugen, wo Krieg ist, Lug nach Leben strebt! Er ruht, steht auf und lebt.

1936

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15

Aus Rudolf Geist: Genius. Schriften für die Idee der Menschheit I. Gmunden-Wien-Zürich (Im weltweiten Verlag Kurt Zube) 1946, S. 17; ebd. die Anmerkung: „Das Gedicht erschien Juni 1937 in meinen Vorabdrucken Das neue Werk. Diese Schrift wurde nur in der Buchhandlung Lanyi aufgelegt; Herr Lanyi gab die Gedichtseite für den Todestag an das Schaufenster.“

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Michael Guttenbrunner:

Denkmal 16

Alois Jungmayr, einst Friseur in Salzburg, dann Salbentandler – wie er selbst sich nannte – Haargreisler, denn er handelte mit Salben und Zöpfen und mit echtem Kölnischwasser im Schatzdurchhaus; er war ein Philosoph und seine Kundschaft waren Bauernweiber. Sein andrer Umgang waren Hölderlin, Trakl und Kierkegaard. Von Anfang an las er die Fackel. Er stand bis zum Tode allein und frei in der verspielten Stadt. Er ließ mich in der Zeit der Henkersherrschaft die längstverbannte Geistesstimme hören: Karl Kraus, von einer Platte, die sich drehte, und einer Nadel, die drauf Kreise zog.

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16

Aus: Die lange Zeit, Hamburg (Claassen) 1965, S. 42.

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Erster Weg in Wien17

Als er zum erstenmal die Fackel nennen hörte, war ihr Herausgeber schon gestorben. Ein Jahr darauf kam er zum erstenmal nach Wien. Er fragte gleich auf dem Südbahnhof nach dem Zentralfriedhof und fuhr hinaus, am Arsenal vorbei, zum Ersten Tor, und ging hinein und suchte: Gruppe V, siebente Zeile links, Nummer 42. Eingegraben in Stein der einsilbige Name: Karl Kraus.

Das Zeichen seiner Jahre war so geformt, daß es ihn antrieb, Helden zu verehren, Verehrungswürdiges zweifellos zu stellen, in sich und vor der Welt.

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17

Ebd., S. 69.

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Lyrik der Krausianer18 Wer kann, ist ihr Mann und nicht einer, der muß, sie wandeln im Fackelscheine und balzen und schnalzen vor Hochgenuß an Weinheber, Werfel und Heine; auch gibt’s noch manche andre Wahl: den Gottfried Benn, den Hofmannsthal.

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18

Aus: Das Ziegeneuter. Hrsg.: Michael Guttenbrunner. Wien, Nr. 2, Oktober 1966, S. 17; vgl. Karl Kraus: Lyrik der Deutschen. – In: K. K.: Schriften, hrsg. von Christian Wagenknecht. Bd. 9: Gedichte. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1989, S. 385.

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Die Bezüge19

(diesbezüglich)

Heidegger und Hebel, Weinheber und Kraus: dicker Beziehungsnebel. Im deutschen Haus wird fest gemischt, was sich nicht bindet, und aufgetischt, was den Dank der Schweine findet: ästhetischer Esser, diplomatischer Herrn und Allesfresser mit Kreuz und Stern. Dekoriert steht die Lüge Im Ersten Glied. Hebt die Bezüge! Seht, wie sich’s bezieht! Das Nichts, es nichtet, sagt gewichtig der Wicht. Weinheber dichtet Bei Fackellicht. Heidegger baut seinen Holzweg aus, dazu braucht er Hebel; Weinheber braucht Kraus.

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19

Das Ziegeneuter. Hrsg.: Michael Guttenbrunner. Wien, Nr. 5, Juni 1967, S. 13.

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Der Verfälscher der Fackel20

Ach, der Arme will die Presse retten mit der Fackel in der Hand; fuchtelt gegen Russenketten im journalversklavten Abendland; brüstet sich in seiner Krummheit: der Vollender habe ihm erlaubt, daß sich Geltungssucht gepaart mit Dummheit dick auf sein Vermächtnis schraubt; schleppt es ab auf seinen Wegen; spielt gernwitzig mit dem Blitz; macht zum Funkelspiel den Schwefelregen und die Fackel zum Privatbesitz. Klein zerfitzelt er im Insgeheimen ihre Schrift, und er zerteilt den Schrei, rührt aus Heldenblut und Hurenfeimen einen langen, leeren Brei; führt ein wechselvolles Doppelleben, wortverkappt und wertertaubt; hebt mit seinem Phrasenschweben stolz sein längst entmanntes Haupt.

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20

Ebd.

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15. Juli 192721 Der Justizpalast brennt. Blindlings prügelnd und schießend wildert die Polizei durch die Stadt, trifft Waffenlose und Fliehende und viele, die nicht wissen, was geschieht, und streckt sie nieder. Der Asphalt ist mit Leichen besät. Da läßt ein Mann, Karl Kraus, ein Plakat anschlagen. Er fordert den Polizeipräsidenten auf, abzutreten, er beschuldigt ihn der Blutschuld und schweigt nicht. Doch jener, an seinem Sessel klebend, nahm das Ehrendoktorat.

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21

Aus: Der Abstieg. Pfullingen (Neske) 1975, S. 6. Nachdruck in: Politische Gedichte. Wien (Ephelant) 2001, S. 8.

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Der arme B. B.22 Als das Dritte Reich gegründet war und der Satiriker sich weigerte, auf die Apokalypse den Protest zu stülpen, trat mit Halbstarken und Ganzschwachen auch Brecht gegen ihn auf und gab sich zu erkennen als Verleumder: Kraus schilt auf jene, deren Mund verstopft ist; den Hungernden zählt er die Brösel vor; die Mörder rühmt er, tadelt, die sie morden. Zugleich entschuldigt er den Marodeur: unwissend und getäuscht durch den Augenschein, sei er dem Zufall ausgeliefert; dem Schöngeist fehlt das Rüstzeug der Partei, und außerdem: er selber ist ja satt. Armer B. B., gegen dich braucht Kraus keinen Verteidiger; doch wer schützt dich, wenn ich dir, auf die Zinne der Partei, mit einer Nadel bloß, rauchenden Ekel reiche?

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22

Ebd. S. 25. Zuvor in: Das Ziegeneuter. Hrsg.: Michael Guttenbrunner. Wien, Nr. 20, April 1974, S. 19. Nachdruck in: Politische Gedichte. Wien (Ephelant) 2001, S. 12.

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Die Hand23 Hitler ergriff die Macht und er protestierte nicht. Er sah des toten Wortes sonderbare Mienen. Die andern aber, die auf Pressefreiheit pochten, schmähten den Verstummten und forderten den Protest des Verräters. Er aber war die tatbereite Hand und ließ sich nicht zwingen. Er schwieg. Dann sagte er, warum; und starb.

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23

Aus: Politische Gedichte. Wien (Ephelant) 2001, S. 13. Zuvor (in anderer Fassung) in: Gedichte 1980 – 1990. Wien 1992, S. 59.

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Paul Hatvani:

Zum Erscheinen eines Buches24 Worte in Versen II von Karl Kraus Umkettet uns die Zeit mit Krieg und Fluch – So rettet sich die Seele in ein Buch. Die Landschaft dieses Buchs ist weit und mild: Hier ist der Mensch noch Gottes Ebenbild. Der Lärm der Welt kreischt Irrsinn in den Geist. Das Wort dem Sinn der Welt den Ton entreißt. In Krieg versunk’ne Welt: entflieh der Welt! Dein Widerhall betrüget dich um Geld. Kanonen heulen. Mensch ersäuft in Blut. Ein Liebeslied macht Alles wieder gut. „Als deine Sonne meinen Schnee beschien . . .“: Wie nahe ist das Wort! Wie weit war Wien! Am Ursprung war das Wort. Wort ist ein Friedenshort. Die dunkle Welt versinkt. Im Anfang war das Wort. Am Ende ist das Weh. Am Ende ist der Krieg. Am Ende ist das Blut. O Schmerzenstrom, versieg! Am Ende – ehe Jüngsten Tages Morgen tagt: Das Chaos wird von Versen überragt. Am Ende stehet Gott, verkündend seinen Fluch. Am Ende ist das Wort. Und dieses Buch!

(Die Schaubühne, Berlin, 27. 9. 1917, S. 299)

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24

Aus: Die Schaubühne (Berlin), 27. 9. 1917, S. 299.

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Hans Heider:

An Karl Kraus

Du bist der größte Dramaturg Im großen Welttheater Und in der deutschen Narrenburg Der einzige Psychiater! Es drängen sich alte Choristen an, Es stürmen dich junge Sänger – Du sprichst doch klar, was sie dich kann, Die Horde der Stürmer und Dränger. Und wenn du alle durchgesiebt, Die deinen Geist hochachten, So bleibt doch Einer, der ihn liebt Und küßt, wo andre schmachten. Sie sind die Nacht, die um dein Licht Tanzt ihren Mottenreigen Sie brüllen, wenn der Meister spricht – Mich übermannt dein Schweigen. Sie sind das Zuchthausvolk, das toll Bekränzt den strengen Richter. Ich aber grüße freundschaftsvoll Den Weisesten und Dichter.

(Ver! , Wien, Hrsg.: Karl F. Kocmata, Nr. 16/17, Juni 1918, S. 206.

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Oskar Jellinek:

Dank der deutschen Sprache an Karl Kraus25 Zu seinem sechzigsten Geburtstag

Mein großer Sohn, in treustem Lebensdienst Hast in Provinzen Du, wo, mißgetreten, Mein Leib dem Frevelsinn als Sockel diente, Mir die Regentschaft herrlich aufgerichtet, Flammenden Kündermunds und ehrfurchtsstark, Und trittst Du heut’ ins siebente Jahrzehnt, Ist es ein Festtag auch der deutschen Worte, Die Du gebunden hast zu Wünschelruten, Die Quellen der Gedanken aufzuspüren, Zu Ruten auch aus Stahl, damit zu geißeln Ungeist und Unrecht, Menschheitsgeißeln selbst, Gewunden zu der Verse Sternenkränzen, Durchschlungen von der Reime Liebesband, Auf Opferschalen eherner Gedichte Mir dargebracht, die Schenkerin beschenkend.

Der ersten Schöpfungstage denk’ ich heute, Da ich im Menschenmund noch ungeboren, Der erst durch mich als solchen sich beglaubigt. Und auch der letzten Menschheitstage denk’ ich, Da jenen letzten Hauch von Mann und Roß Du streichen ließest über Deine Saiten, Daß er mit Schauderhall die Welt erfüllte, Das Letzte erst beglaubigend als Letztes. Was zwischen Menschenauf- und niedergang Mein Wesen hat gewirkt in deutschen Lauten, Vom Ohr zum Auge hat’s Dein Herz gebracht Im Quaderbau des Domes Deiner Sätze, Und am Altar, den mir Dein Geist errichtet, Riefst Du gebieterisch zum Gottesdienst, Die Fackel fest in hocherhobnen Händen. Vom Priesterdienst zur Forscherqual getrieben – So wie von dieser Dich zu jenem hebend –, – Im Lampenlichte tiefster Einsamkeit Dich bohrend in die Schächte meiner Seele, Nach meinem Urgeheimnis ruhlos fahndend, Das ich Dir erst nur schattengleich gezeigt, Zwangst Du Dich stets zu immer härtrem Dienste, Bis Du bestanden alle Prüfungen: Bis Du erkannt als Stammhaupt das Subjekt, Dem erst die Zunge löst das Prädikat; Der Adjektive farbige Verführung – Ihr liederlich Begehr zu übermeistern;

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Aus: Stimmen über Karl Kraus zum 60. Geburtstag. Wien (Richard Lanyi) 1934, S. 44 f.

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Den Herrschergenius des Imperativs, Der Konjunktive märchenweite Meere; Bis Du erfühlt das Bis als Pfeil des Weges, Das Und als schmale, schicksalsvolle Brücke, Des dumpfen Oder grauen Zweifelsgraben, Durchlauscht den Vogelstimmwald der Vokale, In dem die Konsonanten baumstark ragen – Als all die Erbpracht, all die Zärtlichkeit, Die mir im Blute drängt, in Deinem wallte, Da zog ich Dich an meine strenge Brust, Mein Ritter Du, mein Künstler und mein Sohn.

Nun will ich Dir an Deinem Gipfeltage, Den fernere Tage übergipfeln mögen, Ein Wort des Dankes sagen gradezu, Daß, der das Leben stets im Wort empfangen, Im Wort empfange auch des Lebens Lohn. Ganz schmucklos sei es, Rede nicht, nur Herz, Wie jenes Lebewohl, das Du so liebst, Des Taurerkönigs an die Priesterjungfrau. So sag’ ich nichts zu Dir als: Habe Dank.

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Hans Just:

Und weil die Blätter falb, soll es mich laben, innen und außerhalb Frühling zu haben!

Karl Kraus26

Dank an Mödling27

Köstlich, in freien verflossenen Jahren sonntags zu dreien nach Mödling zu fahren!

Fröhliche Wanderfahrt in frischer Frühe! Daß uns die Gegenwart voller erblühe,

sprang uns der Mödlingbach auf stillen Wegen munter und morgenwach murmelnd entgegen. Steil auf den Frauenstein steigende Stufen, Südwind und Sonnenschein, lockendes Rufen:

Droben ist’s wunderfein, bleibt nicht im Tale! Wollt ihr nicht Gäste sein in unserem Saale?

Schläfernde Melodie wiegender Äste, flüsternde Harmonie grüßte uns Gäste.

Südlich und sommerlind braust’s durch die Föhren: Stille, du Menschenkind, willst du mich hören!

Märchenerzähler Wind, sanfter Versöhner, nirgends wo Menschen sind fand ich es schöner.

Lagen eratmend wir rücklings im Grase, kroch oft ein Krabbeltier keck auf die Nase,

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Karl Kraus Schriften, hrsg. von Christian Wagenknecht, Bd. 9: Gedichte. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1989, S. 203. 27

Hans Just: Geständnis für alle. Wien (Verlag Brüder Hollinek) 1971, S. 42 – 44.

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doch wir verweilten je länger, je lieber. Stunden enteilten. Wir blickten hinüber zu den Ruinen und sanken in Träume. Geister erschienen, durchwallten die Räume, bis wir erwachten mit frischen Gesichtern, scherzten und lachten. – Mit schrägeren Lichtern malte die Sonnenhand abends die Pfade. Heimwärts den Schritt gewandt, Klara28 – wie schade! Aber mit frohem Mut, Lachen und Scherzen trugen wir Sonnenglut heim in den Herzen. Licht, das uns nie verglomm, Stern unsrer Seele, rein sei bewahrt und fromm, was uns auch quäle, du unsrer holden Zier Abglanz und Schimmer! – Mödling, wir danken dir heute und immer.

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28

Hans Justs Frau Klara.

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42

Alfred Kerr:

Caprichos29

(...)

V.

Krätzerich; in Blättern lebend Nistend, mistend, ausschlag-gebend.

Armer Möchtegern! Er schreit: „Bin ich ä Perseenlichkeit! ...“

Wie der Sabber stinkt und stiebt, Wie sich’s Kruppzeug Mühe gibt!

Reißen Damen aus und Herrn, Glotzt der arme Möchtegern.

Vo dem Duft reißt mancher aus, Tachtel-Kraus, Tachtel-Kraus.

Armes Kruppzeug – glotzt und schreit: „Bin ich ä Perseenlichkeit! ...“

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Der Polemist30

I. Wenn ich diesen Burschen lese, Mahnt mich immer was an Käse. Wie er schabt und wie er schuftet, Silben dreht und Worte klaubt, Wie er schweißverweslich duftet, Wie er glubscht, ob man ihm glaubt. Wie er mistet, rabulistet! Allemal Stellt das Kruppzeug sich „entrüstet Aus Moral“. Sittlich die Empörungsmiene Polemistviech mit Routine).

29

Aus: Pan (Berlin), 1. 7. 1911. Zitiert nach: Die Fackel. Hrsg.: Karl Kraus. Nr. 326 – 328, 8. 7. 1911, S. 30. – Nachdruck in: Békessy’s Panoptikum (Budapest). Hrsg.: Emmerich Békessy. Nr. 1 – 5, April – Mai 1928, S. 132. 30

Aus: Neues Wiener Journal, Nr. 12352, 13. 4. 1928, S. 9. Veröffentlicht unter der Überschrift: Wen meint Alfred Kerr? Mit dem Zusatz: „Alfred Kerr veröffentlicht soeben die folgenden Stachelverse:“ Und dem Schlußkommentar: „Mit einem Worte, so ein Polemist ist Alfred Kerr – geradezu krauslich.“ Siehe dazu Karl Kraus in F 781, S. 37 f.

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II. Sätze pflücken, Sinn verrücken, Fetzen fälschen, Finten fädeln, Letzte Journalistentücken Mit dem Brustton eines Edeln, Winkelanwalt, Kniffgruppierer. Täuschen ist sein Tagewerk. Ehrenschänder. Schmähschriftschmierer, Aufgeblähter Jammerzwerg. Auf spottbilligen Gebieten An dem kleinsten Auswuchs klebt er. Parasit an Parasiten. (Darin lebt er: davon lebt er.) Firm in fälschender Gemeinheit, Schmierian wie eh und je, Kämpferich für Recht und Reinheit Mit dem Dreh. Schwindelschwätzer: u für x. Richterpose; Gaunertricks. Eine pathosmieße, fette, Krüppelkrumme, lügenlahme, Kleine Querulantenklette Mit dem Hunger nach Reklame. III. Ohne Hemmung, ohne Störung,

Täuscht und arrangschiert er plump. Immer Brustton der Empörung; –

Ein gerechter Lump. IV. Düfte dringen, Lügen klingen . . . Lächelnd ruft man dann und wann Götz von Berlichingen An.

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Ernest Klee:

An Karl Kraus Die Größe sucht nach kalter Einsamkeit Und strebt Vollendung an in lichten Kreisen. Doch Sphinx bleibt Sphinx. Der Wahn ist Eitelkeit. Die Narren spotten und die Toren preisen. Das ist ein ewiges Um im All der Zeit. Der Zweck ist unklar. Dunkle Rätsel schweigen. Da kommt ein Tag, ein Licht, das glüht und weiht Und will aus Sümpfen leuchtend aufwärts steigen. Der Spott wird Kraft. Der Sinn hat Wirklichkeit. Es ist ein Hammer da, der Trümmer schlägt, Und eine Flamme, die den Toren blendet . . . O seid i h r blind! Ahnt nicht, was e r vollendet, Wo jedes Wort den Keim zur Goldfrucht trägt! E r löst die Sphinx – und das ist euer Leid.

(Teplitzer Zeitung, Teplitz-Schönau, 10. 12. 1911)

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Werner Kraft:

Das Schweigen31 George Das Schweigen des Meisters? Jacke wie Hose! Was könnte er denn sagen zu der Chose! Mit Dantes Gebärde Prägt man kein Merde. Karl Kraus Welche Freiheit ist im Zwang! Dieses Schweigen hat den Rang Tiefer Stille. Sie spricht. Rein wird das Gericht.

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31

Aus: Marbacher Magazin 75 / 1996: Werner Kraft. 1896 – 1991. Bearbeitet von Jörg Drews. Marbach a. N. 1996, S. 50. - Zitiert wird die Reinschrift der Gedichte, Beilage zu einem Brief an den Verlag Die Fackel vom 6. November 1933.

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Karl Kraus32 Nicht vorgesehn in deinem Arbeitsplan Ist dennoch er gekommen, weh, der Tod. Nun öffnet meinem Fuß die leere Bahn Der leere Raum der leeren Zeit: die Not. Nun ist es endlich und für immer Nacht. Dahin mein Tag mit deines Geistes Thau! Wie hab’ zu stillem Troste ich gedacht, Wo alles wankt, an deines Satzes Bau, In dem du lebtest, an der Sprache Wand ... Dich suchte Nacht für Nacht das Gute heim. Der Segen floß in deine reine Hand. Bricht sie zusammen, birst der Schöpfung Reim. Was ist geschehen? Der Lebendige ging. In seinem Athem Gottes war ein Rest. Die Asche, die von dir die Glut empfing Des Geistes, nun den Guten hinterläßt Das Böse und die Schwäche, ihm zu stehn. Wer aber hielte der Versuchung stand! Verlassen, will ich zu mir übergehn Ohne den Segen, ohne deine Hand. Und schlägt nicht dir im Übergang mein Herz? Aus weiter Ferne zieht mich nach dein Wort. Will ich es fassen, ist es fort. Du schweigst. Ich spreche. Beinern. Welch ein Schmerz!

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Aus: das silberboot. Zeitschrift für Literatur (Salzburg). Herausgeber: Ernst Schönwiese. Heft 4, Juni 1946, S. 169 f. Abdruck auch in: Marbacher Magazin, Beiheft 75: Eines schönen Tages. Gedichte und Prosa. Ausgewählt von Volker Kahmen und Friedrich Pfäfflin. Marbach a. N., 1996, S. 47.

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Trude Krakauer:

Karl Kraus33

I. Mit unsrer Kindheit starb die ganze Welt Im großen Krieg. Es stieg das Blut, der große Ekel stieg, Die Preise stiegen. Leben fiel im Feld. Wir wuchsen doch. Wir wollten längst nicht mehr, Wir fühlten Scham, Daß es mit uns nicht auch ein Ende nahm ... Leer war die Welt; Kopf, Herz und Magen leer. Da endlich: einer Menschenstimme Laut: Uns ward Beruf Von dir, der neu die alte Welt erschuf, Dir haben wir uns gläubig anvertraut. Den Hingegebnen gabst du dich im Wort, Es ward erhört; Fern war die Welt, sie hat uns nicht gestört, Dein eignes Wort wies uns ins Leben fort. Nicht nur zu Wahlen, nein, zur großen Wahl Ruft die Partei Im Zeitungslärm verklingt der Zeiten Schrei, Der Mißton übergellt dir den Choral. Du bist der Eine. Wir gehen Hand in Hand, Auch das ist viel; Du bist am Ziel, wir kommen nie ans Ziel, Doch sind wir einem Ziele zugewandt. Wir kämpfen fern, doch immer wieder rürhrt Dein Wort uns neu. Du bleibst dir selbst, wir unsrer Sache treu, Bis unser Weg zu deinem Standpunkt führt. II. (Vorlesung Karl Kraus: Aus Grimms Märchen) Ruft diese Stimme noch in einen Saal, Die uns befreite, als sie uns befahl, Die Welten stürzte und Gespenster bannte, Als sie die wahren Namen laut bekannte? Wenn diese Stimme Märchen uns erzählt, Versinkt ins Nichts, was uns zutiefst gequält, Wir finden wieder, was wir stets entbehrt: Im Märchen gibt es Wahrheit, Sinn und Wert.

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Aus: Mit der Ziehharmonika. Zeitschrift für Literatur des Exils und des Widerstands. Wien, Nr. 3, November 1994, S. 9.

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Was bleib ich fern, wenn solcher Zauber lockt, Was steh ich abseits, einsam und verstockt? Kurz ist das Leben und der Mensch so schwach, Süß ist Vergessen, wenn der Mut zerbrach ... Vergessen? Nein! Weh mir, wenn ich vergaß: Für Wert und Unwert fand ich hier ein Maß. Mag sein, daß ich die Wahrheit nie erfaßt. Hier lernte ich, wie man die Lüge haßt. Ruft diese Stimme noch aus einem Grab Und nimmt zurück, was sie uns einstens gab: Den Sänger meidend, der sich selbst verriet, Wahr ich die Treue seinem Wort und Lied. III. Das letzte Wort Und immer hat der Tod das letzte Wort, Das Schweigen heißt, und keine Antwort dringt Zu ihm, und Frage, Klage, Vorwurf sinkt Auf uns zurück, von seinem Hauch verdorrt. All unser Maß zerschellt in seinem Port. Wenn unser Grübeln den Beweis erbringt, Daß wir im Recht sind, der Beweis mißlingt, Denn der im Unrecht war, ist nichts als fort. Wie eine Kerze langsam niederbrennt, Muß selbst die Liebe vom Geliebten lassen, Den sie nicht findet und nicht wiedererkennt; Wer könnte hier noch fordern oder hassen? Vor dem Geheimnis, das wir nicht erfassen, Gilt einzig jenes Schweigens Argument.

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49

Maximilian Lazarowitz:

Karl Kraus34

Nicht, daß du ein Künstler bist, macht dich so groß, da doch die Menschlichkeit wächst in deiner Kunst begnadetem Schoß. Wetter und Stürme schneiten die Hütte ein – da tratst du mit leuchtender Miene herein und gabst, was keiner mir gab, zum Gebind: den Glauben an mich, daß ich mich selber find‘.

Daß ich mir selber glaub‘, und deckten mich Zweifel zu! s o will ich dich sehn, du großer Erlöser, du! Und anders noch! Es ist die Erde aufgetan, du stehst in ihrem Schoß und von dem Nabel Hölle bandst du das Wörtchen „Menschheit“ los. Du trägst es durch den schweren Raum Und rufst und rufst und frohnst – sie aber hört dich kaum . . . O, Karl Kraus, du rufst umsonst . . . Und noch einmal:

Da seh‘ ich dich, wie du aus einer andern Zeit hineinwächst in die Ewigkeit, in der die Menschen alle sind wie du . . . wie du, so sind.

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* *

34

Aus: Ver!, Wien, Hrsg.: Karl F. Kocmata, Nr. 16/17, Juni 1918, S. 206.

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50

J. Lesser:

Huldigung35 (Zu Karl Kraus’ Tod am 12. Juni 1936)

1.

Du gingst von uns, wir bleiben hier verwaist, Und dreimal dunkler ist uns jetzt die Welt, Weil sie nicht mehr durchpulst dein starker Geist, Weil deine Seele sie nicht mehr erhellt.

2.

Du ließest Pech und Schwefel niederregnen Auf die gottfremde und entmenschte Erde, Wo Leben nur ein grauser Schauder ward. Sie alle traf dein ursprunghafter Fluch: Die feilen Händler und die eitlen Täter, Der Werte Fälscher und der Sprache Schänder Und alles Widergeistes feiste Fröner, Den Aberwitz der Greuel ohne Maß, Des Geistes Unzucht und der Seele Leid: Dein überlebensgroßes Donnerwort Verzehrte alles, starke Flamme du. Du sagtest nein zum Schein, weil unbeirrbar Dein großes Herz dem heiligen Ja erglühte. Und sank, was an dir sterblich war, dahin, Dein selig-weher Traum von Geist und Sprache Blüht alterslos im Reich der ewigen Bilder, Unirdisch reiner Ton des Gotteslieds.

3.

Du gabst die Glut, die tief im Blut uns brennt, Den sterngegönnten Gottesweg uns weitet. Du gabst die Scheu, die, feind dem Trug des Tags, Sich unbedingtem Wert demütig beugt. Du gabst das Maß, den Blick für echt und unecht, Empfängniswillig folgten wir dir treu. Du gabst das Wort, das ehrfürchtig und wach Die Erde neu geheiligt durch die Liebe.

*

* *

35

Aus: Die Glocke. Wiener Blätter für Kunst und geistiges Leben. Hrsg.: Kurt Roger. Nr. 31, 1. Oktober 1936, S. 3.

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51

Mechthilde Lichnowsky:

(Akrostichon)36 1 Keiner litt noch so vom Sehen Alles Daseins Glück und Leid. Reifsten Denkens lösten Wehen Leben ihn in Einsamkeit, „Königlicher Einsamkeit“ Ruft er, und im Nu vergehen Allen Schwätzern (o, verzeiht) Unaufhaltsam Hör’n und Sehen, So vor Furcht, als auch vor Neid. 2 Klar erspäht sein weites Auge Alles in Natur und Kunst, Rücksichtslos in scharfe Lauge Legt er giergefälschte Brunst, Kniet vor Gott, den Geld verhunzt, Rettet, was für’s Herz ihm tauge, Aus der Goldlust Feuersbrunst, Und wie gab aus Herzerbarmen So viel Liebe er und Gunst. 3 Körperlich nicht übertrieben, Aber seelisch hoch im Flug, Ragt er wie der ersten sieben Langen Schöpfungstage Zug. Kein Ding ist ihm klein genug, Reisst er’s nicht, ganz nach Belieben, Aus des minus grauem Trug Uns in’s plus. Muss man nicht lieben Solchen Herzens Recht und Fug? 4 Kinder liebt er, Bäume, Tiere, Alles Echte scheint ihm so Reich an Schönheit, dass Satire Leuchtend lyrisch wird und froh. Kaisern, Protzern, Lügnern, roh Reibt er weg die falsche Schmiere; Auf den Presse-Romeo Und die schäumenden Barbiere Sprüht er Feuer lichterloh.

36

Karl Kraus und Mechthilde Lichnowsky. Briefe und Dokumente. 1916 – 1958. Hrsg. von Friedrich Pfäfflin und Eva Dambacher. Beiheft 3 zum Marbacher Katalog 52 der Deutschen Schillergesellschaft. Marbach a. N., 2000, S. S. 14 – 17. – Das Akrostichon entstand 1917.

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52

5 Kaum ist ihm ein Werk entsprossen, Als auch schon ein Wicht spaziert, Rechtsum kehrt macht, blind verschossen, Links nicht mehr von rechts entwirrt. Kleines Schäflein wie der Hirt Reimen muss; auch auf den Sprossen Andrer Leitern, ungeniert, Und so hat er unverdrossen, Sicherlich noch oft plagiiert. 6 Kann denn keiner von den Wichten Abgeschlossen seinen Mund Ruhig halten und verzichten Lieber als, ganz ohne Grund, Knochen kauen wie ein Hund, Radebrechen in Gedichten? Aber nein, sie tuns mitnichten Und – Exhibitionieren Schund Schamlos vor den Blick des Lichten. 7 Kühn geschwindelt sind Ekstasen, Angeklebt der Reim mit List; Rüsselartig dreh’n die Phrasen Losgelöst vom Sinn in Mist. Keinem schlägt, der Tinte pisst, Rein das Herz, so, wie dem Hasen, Ausser, wenn er furchtsam ist. Und dann wird Alarm geblasen: Seht, wie sich der Kraus zerfrisst. 8 Kassiopeïa und der Wagen, Auch Orion, schief und schlank, Reizen meiner Augen Klagen, Lassen mich vor Sehnsucht krank. Keinem aber so mein Dank Reulos gilt seit tausend Tagen, Als ihm, dem das Herz nie sank, Unter Qual und furchtlos Wagen, Stark sein Geist die Zeit bezwang. 9 Kümmerliche Verse bringen Aus Neunzeilern ein Oktett; Reiner könnt’s in Achtern klingen, Leider ist’s von A bis Z Kaum erkennbar als Porträt. Reime, Verse, Strophen singen Arm in Arm mir im Falsett. Um in Form an’s Herz zu dringen, Schreibt man besser ein Sonett.

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53

Wolf Martin

In den Wind gereimt37 Das macht den Charme der Linken aus: Sie lasen alle Karl Kraus! Der haute ständig in die Fresse Die große Neue Freie Presse. Heut ist die größte, zweifelsohne, die Zeitung, die Du liest, die Krone. Und unsre kleinen, linken Mäuse Sind alle Mini-Karl-Kräuse, und alles, was der Kraus verachtet, wird auch von ihnen scheel betrachtet, und also schreiben diese Wichte die literarische Geschichte.

*

* *

In den Wind gereimt38

Kein Zweifel, daß es sich nicht schickt, wenn man wen in die Eier zwickt, wie Jörg Haiders treuster Mann, Herr Gernot Rumpold, hat getan. Zwar auch der Kaiser Wilhelm Zwo traktierte sein Gefolge so. Doch über ihn goß Karl Kraus auch Spott für alle Zeiten aus.39 Zudem hat er den Krieg verloren. Drum schreibt’s euch hinter eure Ohren: Wer andern faßt an das Gemächt, dem geht’s bald selber äußerst schlecht!

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* *

37

Wolf Martin (recte Wolfgang Martinek) in: Neue Kronen Zeitung, Wien, Nr. 13520, 2. 1. 1998, S. 4. 38

Neue Kronen Zeitung, Wien, Nr. 13653, 16. 5. 1998, S. 2. 39

Vgl. z. B. Karl Kraus: Schriften. Hrsg.: Christian Wagenknecht. Bd. 10: Die letzten Tage der Menschheit. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1986, S. 532 – 536.

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54

Zum Jahreswechsel40 [...] Der höchste Preis der Welt verliehn ward heuer einer Dichterin, die tut, als wäre Österreich noch heut dem Dritte Reiche gleich, weshalb sie es so hasst wie dieses, als ewig Braunes, Böses, Mieses. Das Komitee, im selben Wahn, sah sie als Dissidentin an, und solchen wird, wie jeder weiß. heut gern verliehen jener Preis. Gern auch verpasste Österreich man damit einen Backenstreich. Mit Karl Kraus ist einzuschärfen: Auch Zwerge lange Schatten werfen, sofern genügend niedrig nur der Stand der Sonne der Kultur. [...]

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40

Neue Kronen Zeitung, Wien, Nr. 16039, 1. 1. 2005, S. 4.

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55

Robert Neumann:

Unter dem Wasserhahn41

Nach Karl Kraus

Wer vor mir ließ von diesem Wasserhahn das klare Kalt sich leiten an die Lippe? Lust ohne Leid, so reibt der rauhe Zahn sich glatt am glatten Rand der Eisenpipe. Fester gefackelt! Blitzender geblitzt! Da wird zum Dichter fast schon der Verdichter. Nicht mehr gewitzelt! Heut steh‘ ich gewitzt Vorm Sphärenaug‘ des Herrn als Splitterrichter. Und blieb die Welt mir wie ein fremdes Thier, und wiesen Wort und Weib auch nur die Waden – hier endlich ist noch niemand außer mir, hier will ich frei von mir mich baden! Bin ich nicht ich, so bin ich nicht mehr nichtig. Brenn‘ ich auch nicht, so bin ich doch gebrannt. Worth ist nicht Werth. So ward der Wicht zu wichtig. So also hat der Wasserhahn Bestand!

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41

Aus: Vorsicht Bücher. Parodien – samt einem Lese-Leitfaden für Fortgeschrittene. München etc. (Kurt Desch), 1969, S. 60.

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56

r. p.:42

Der grimme Bar-Bahr. E i n e k r a u s l i c h e B a l l a d e .

Es war ein Ritter mit Feder und Blei, Der wollt’ zum Kampf ausreiten, Er zündete sich eine F a c k e l an, Um im Finstern nicht auszugleiten.

Besonders war es ein grimmer Bar- B a h r , Dem er blutige Rache geschworen, Denn längst schon hatte er mit der Z e i t Vor ihm jede Achtung verloren.

Dem rückte er umsonst an den Leib Und sprach vom G e b e n und N e h m e n : Vom Geben der Stücke nach blinder Wahl, Vom Nehmen der Tantièmen.

Auch war noch manches schöne Wort In blutiger Fehde zu hören, Von K r i t i k und von A n t i k r i t i k , Von Pro- und Contra- C l a q u e u r e n .

Er sprach auch von einem Ehrenworte, Da hörte man B u c o – W i t z e , Die kehrten gegen die Dichter selbst Zur Abwehr die giftige Spitze.

Es hieß da: „Klopft so ein Dichtersmann Mit Thränen an uns’re Pforte, So wirft man ihm halt einen V o r s c h u ß hin, Doch niemals E h r e n w o r t e .“

Die Meinung, die ich in diesem Fall Von der ganzen Affaire hege: „Schimpf nie, wenn Du nicht Zeugen hast, Sonst bist Du am H o l z e r – Wege.“

D’rum ging es schlimm unser’m Rittersmann, Er bestand den Kampf nicht in Ehren, Er sank getroffen auf den Plan, Durchbohrt von n e u n h u n d e r t Speeren!

Und die Moral schreibt Euch heraus, Auf daß Ihr sie wohl bewahret: „Der Ritter trieb die Sache zu k r a u s , D’rum liegt er jetzt aufge – b a h r e t !

(Deutsches Volksblatt, Nr. 4364, 26. 2. 1901, S. 4)

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42

Mit diesen Initialen zeichnete ein gelegentlicher Mitarbeiter des Blattes etliche Feuilletons und Thea-terkritiken; der vollständige Name war bisher nicht zu eruieren.

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Friedrich Podszus:

In memoriam Karl Kraus43 War es genug? Wir, ach, noch hier gefangen, Wir wanken weiter in den nächsten Schlag. Schluchzt nicht die Amsel? Uns wird wieder Tag. Du bist zu den Wundern heimgegangen. Ein Dickicht tut sich auf: Vom Laub verschwiegen Lang wartet dort die Vorbestimmte schon, Und Echo ruft den ungebornen Sohn. Die Winde summen, sanft ihn einzuwiegen. Herbei im schnellen, leichten Lauf die Hunde, Von ferne haben sie dich treu erkannt. Nur Frieden atmet weit das neue Land. Dort kränkt dich keine Narbe, keine Wunde. Die Sonne rückt nicht weiter, und es spielen Die Falter, sie, voran ein Admiral. Es läutet blau durchs Glockenblumental. Die Wälder auferstanden, die einst fielen. O Wunder, was nur Zeit war, ist vergangen: Verlassene, ihr seid nicht mehr allein. Was einst euch trennte, will vergessen sein, Und wer noch fragt, wird nie um Antwort bangen. Genug und nicht genug! Nun hingegangen Dahin! Ins Ende? Du hast angefangen!

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43

Aus: Der Freund der Erde. München (Karl Alber) 1946, S. 53. Zitiert wird der Marbacher Katalog 52. Hrsg.: Ulrich Ott und Friedrich Pfäfflin. Marbach a. N. 199, S. 492.

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Pe Ka (Karl Ptak):

Zwischen zwei Sonntagen44

Jedes Ding hat seine Zeit. Beten, Fasten, Kegelschieben, Trinken, Fechten, Schimpfen, Lieben, Winterrock und Frühlingskleid – Jedes Ding hat seine Zeit. Zeugdruck auch am Stubenring – Zeitgemäßer war kein Ding! Ein Zehntausendtel von Wien Pilgert ins Museum hin. Sieht der Stoffe Formengebung Und des Blutdrucks Stoffbelebung. Jeder denkt, wenn er dort guckt: „Ach, was wird für Zeug gedruckt!“ Zu den Axiomen zähle Diesen Satz, geliebte Seele: Ach, was wird für Zeug gedruckt! Sieh nur, wie die Bücherladen Sind von Drucken überladen Für der Langeweil’ Hausbedarf. Urtheil’ aber ja nicht scharf. Eh’ du schimpfst, mit Sorgfalt späh’, Ob kein Autor in der Näh’. Jener Jüngling mit der Fackel Mußte schmählich unterliegen; K r a u s birn sind ihm aufgestiegen; Denn der Dichter war ein Lackel, Hat den armen Mann, o Graus! Sich gekauft im Kaffeehaus, Und – bevor er noch gemuckt – War schon die Kritik gedruckt. Ritter heißt es drum vom Geist!

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44

Aus: Deutsche Zeitung, Nr. 9832, 14. 5. 1899, S. 4. – Anlaß des Gedichts war die Affäre Friedmann – Kraus.

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W i e n, 12. October.

Zwischen zwei Sonntagen.45 Dann ade! (Nach bekannter Weise.)

Wenn des Rechtes Praktikanten Aus dem Stamm, dem interessanten, Finden sich verblüfft geblufft, Wenn die Wiener Allgemeine Darob anhebt ein Geweine, Und nach Hilfe, Hilfe ruft: Dann ade, ade, ade, dann ade, ade, ade, Dann ade! Schatz! lebe wohl!

Wenn mit alt und neuen Fackeln Von verwitzten Judenlackeln Die Satire wird verhunzt; Wenn der Frisch den Kraus will tödten, Der Humor jedoch bei jedem Niemals war wie Gold gepunzt: Dann ade, ade, ade, dann ade, ade, ade, Dann ade! Schatz! lebe wohl!

Wenn das kleinste der Tenörchen Stolz spazieret gleich den Störchen, Weil ’s Sanct Theobald kennt schon; Wenn der Graf den Bürgermeister Will brüskieren noch viel dreister Als der Wasser-Pump-Baron: Dann ade, ade, ade, dann ade, ade, ade, Dann ade! Schatz! lebe wohl!

(Deutsche Zeitung, Nr. 10697, 13. 10. 1901, S. 3)

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45

Aus: Deutsche Zeitung, Nr. 10697, 13. 10. 1901, S. 3.

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Heinrich S.:

Dank an Karl Kraus46 Wie lange wärmt und leuchtet noch das Feuer, das deine Fackel in uns angefacht? Vier Tage Licht – und nun ist wieder Nacht. Licht, kehr’ zurück! Die Nacht ist schwarz und ungeheuer. O Glanz der bessern Welt, den du gebracht! Wir wahren uns Erinnerung mit scheuer Liebe, als an ein süßes Abenteuer, das nie zuvor ein Traum gedacht. Dein Licht erlosch, dein Wort verklang! Wie bang und schwer werden wir nun die lange Nacht durchwachen, die deinem Donner, deiner Milde wir gelauscht, willig nach deinem Wort und Wink vertauscht den heiligen Ernst mit dem unheilig-heiligen Lachen ... Du weißer Engel auf dem roten Meer.

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46

Aus: Die Weltbühne (Berlin), Nr. 21, 23. 5. 1918, S. 390. - Das Gedicht wurde von einem sechzehn-jährigen Gymnasiasten verfaßt.

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Franz Schöffel, Oblt. (im Felde):

Der Reim47

Ein Dank an Karl Kraus

Barein, im Walde, Ostgalizien, 8. Februar 1917 abends. Nach der Lektüre der Fackel.

Was leicht durch dich erworben, wie schwer trug ich’s im Herzen; was du gebarst mit Schmerzen, bleibt starr in mir gestorben.

Dir in der Hand zerflossen, nachdem Du’s schon gestaltet, bleibt‘s tausendfach verwaltet in starre Form gegossen.

Im Gaukelspiel der Worte erhaschst du den Gedanken; du hältst ihn nicht in Schranken, verschließt du nicht die Pforte –

Der da kam ungerufen, doch wartet er schon lange an des Bewußtseins Stufen, wie kauerte er bange.

Des Wortspiels Abenteuer mußt du getreulich beichten. Zum Fesseln des Erreichten, kein Opfer sei zu teuer.

Wer biegt dort um die Ecke? du hast ihn wohl gesehen; er muß mit dir vergehen, bringst du ihn nicht zur Strecke!

In hunderttausend Köpfen mußt du sein Abbild prägen; mußt wagen, darfst nicht wägen bei neunzigtausend Tröpfen.

So bleibt was du geboren und lebend hast gefangen, erstarrt in Hirnen hangen, zur E w i g k e i t erkoren.

Es fanden sich Geschwister, die nur als Alpdruck lebten, als Seufzer leicht entschwebten: Wo steckst du? Und: hier ist er!

B e f r e i e r der Gedanken! Indem du sie g e f a n g e n ! Ich folge dem Verlangen: Des W o r t e s H e r r n zu danken.

47

Aus: Ver!, Hrsg. Karl F. Kocmata, Nr. 16/17, Juni 1918, S. 198.

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Franz Slovenčik:

Rückblick48

Als Du noch Deinen Karl May verschlangst und herzhaft in den Apfel beißen konntest; als Dir kein Baum zu hoch war und du über die Schuppendächer ranntest, im wilden Fangerlspiel mit Deinen Gefährtinnen, bewegten Dich schon die großen Fragen unseres Seins. Dein Herz war noch ungetrübt in seiner Gottvertrautheit. Es war rein wie der Bergsee unter dem Himmel. Dann kam der große Krieg und Deine Fragen wurden immer brennender, bis Du sie in einem ebenso großen und reinen Herzen gelöst fandest.49 Das war Deine große geistige Vermählung, der Du treu bliebst bis in den Tod. Ich aber wurde der Nutznießer dieser platonischen Ehe.

*

* *

Tröstung50

Mit dem Sichelmond gehe ich nach Hause, wo die Leere in den Wänden wohnt: Meine letzte Klause. In ihr hängt an einer Wand seine Totenmaske und ihr Bild;51 gnadenvoll mir zugewandt, ewig jung und abschiedsmild. Stoßen mir die Tore auf meiner Einsamkeiten – und da liegen sie zuhauf: Frühe Kostbarkeiten.

*

* *

48

Aus: Grablicht. Gedichte. Wien (Ernst Schwarcz) 1976, S. 15. – Das Gedicht erinnert an Franz Slovenciks Frau Steffi. 49

Bei Karl Kraus. 50

Ebd. S. 24. 51

Auf der folgenden Seite sieht man Aufnahmen der Totenmaske von Karl Kraus und von Steffi Slovencik.

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Am Grabe Karl Kraus’52

Zwei Worte stehen im Stein, kaum sichtbar. Stein vom Stein, wie Licht vom Lichte: Karl Kraus. Seine Stimme ist erloschen, doch sein Wort leuchtet weiter in unsere Dunkelheit wie jenes, das am Anfang war und immer wieder zu uns kommt in der Gnade des Vaters.

* * *

Der Schutzengel53

Er hatte keine Schwanenflügel, aber einen Bauernkittel, den er über mich warf. So blieb ich unsichtbar unter der Menge und vor dem Feind. Ich passierte alle Kontrollen, brachte Blumen den jüdischen Freunden und verschloß ihnen nicht meinen Garten. Ich las die Fackel im offenen Coupee, als die Militärpolizei kam. Sie ging an mir vorüber, als wär’ ich gar nicht im Zuge. O ihr Törichten, die ihr nicht an Engel glaubt! Meiner gab mir eine Tarnkappe Und ließ mich die sieben bösen Jahre überleben.

* * *

„Laß mich vor Gottes Thron als Fackel stehn!“54 Welch großes Wort, welch flammendes Begehren! Ein Dichter, längst vergessen, sprach es aus. Gelebt, erfüllt, erlitten hat es Karl Kraus. Er konnte sich des Feuers nicht erwehren. Wir sehen ihn als Gottesstreiter nicht müde werden bis zu seinem Tod: Es leuchtet seine Fackel rot, den späten Enkeln noch ein Wegbereiter. Im Pfingstgeist jeder sich darin erkenne, wer horcht, gehorche diesem Wort! Es scheucht die Eintagsgötzen fort. Vom Himmel kam sein Feuer, daß es brenne!

*

52

Ebd. S. 25. 53

Franz Slovencik: Wandel des Zeitlichen. Wien (Verlag Ernst Schwarz) 1976, S. 11. 54

Ebd. S. 21.

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Hugo Sonnenschein:

Zeitgeister55

Dem Karl K r a u s und ähnlichen Helden der Gesinnung und des Geistes zugedacht.

„Nun rühre nimmer an den Schlaf der Welt.“

Die Führer, Werkzeug morscher Mächte, Sind auserwählte Henkersknechte, Im Sinnbild des Schafotts regierend, In dem des Kreuzes Mordhaß schürend: Sie hüten wie die Feuerdrachen Den Schlaf der Welt, Profit zu machen.

Wann wird vom Schlaf die Welt erwachen?

Der Laune feisten Goldes dienen Die Dichter mit Erlösermienen, Die Leisetreter, Nurpoeten, Nicht Dichter: Konjunkturästheten, Die, Schatten niedriger Gewalten, Den Mythos jeder Fron gestalten.

Wann wird vom Schlaf die Welt erwachen?

Die Wissenschaft zum Takt der Führer Erfinden Denker, Spekulierer, Die mit abstrakten Kauderwelchen Den Geist des Lebenden verfälschen. Sie hüten mit den Feuerdrachen Den Schlaf der Welt, Profit zu machen. Doch morgen wird die Welt erwachen! Schon morgen wird man sie zertreten, Die Zuhälter der Macht, Poeten. Denn morgen wird der Mensch marschieren, Um an den Schlaf der Welt zu rühren.

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55

Arbeiter-Zeitung (Brünn), Nr. 30, 15. 9. 1934; gez. Sonka.

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Georg Trakl:

Karl Kraus56

Weißer Hohepriester der Wahrheit, Kristallene Stimme, in der Gottes eisiger Odem wohnt, Zürnender Magier, Dem unter flammendem Mantel der blaue Panzer des Kriegers klirrt.

*

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56

Georg Trakl: Die Dichtungen. Salzburg, Otto Müller, (1952) S. 130.

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Berthold Viertel

Karl Kraus57

I. Ist nun dieser Zorn beschwichtigt? Hat den widerspenstigen Mahner, Besseren Lebens unverwandten Ahner, Nun der leidige Tod berichtigt?

Diese Stirne, die uns ragte, Eingesunken, die gerechte Waage? Kläger, der uns bei uns selbst verklagte! Seine Nächte waren jüngste Tage.

II. Geht nun frei der Unband, oft getroffen Vom verzehrenden Gedankenblitze? Steht die Sprache jedem Unglimpf offen, Länger nicht bewacht von deinem Witze?

Und du ungekühlter Hasser, Mußtest bis ans Herz erfrieren? Stieg in deinem Leib das Wasser, Ging die Sintflut dir bis an die Nieren?

Zeit, die dich tobsüchtig überboten, Wie ein Maelstrom übertobt ein Wehr: Wirft sie dich nun zu den vielen Toten Und es scheut dich keiner mehr?

III. Hingegangne Anmut blickte Dich von Deines Zimmers Wänden an, Da der böse Pendel tickte Und die letzte Frist verrann. Aus der Knabenzeit die schöneren Tage Folgten dir mit immergrüner Spur, Dem getreuen Hüter einer Sage: Große Kunst und ewige Natur. Deinen Ursprung rein dir zu bewahren, Hast du nur der Sprache zugetraut. Wollte sich ein Reim in deinem Herzen paaren, Zuflucht fanden Bräutigam und Braut. Weil du stets an deinem Ursprung bliebest, Warst gerichtet du auf unser Ziel. Ewiges Wortspiel, das du triebest, Unser Einsatz war in diesem Spiel.

57

Berthold Viertel: Studienausgabe in vier Bänden. Bd. 3: Das graue Tuch. Gedichte, hgg. von Konstantin Kaiser. Wien (Verlag für Gesellschaftskritik) 1994, S. 168 f.

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IV. Dein verfrühter Geist erschaute, Was entsetzensvoll geschah, Nur weil dir wie keinem graute, Sahst du, als noch keiner sah. Die Meduse, sie versteinet, Doch du hiebst nach ihrem Haupt. Wer da blutet, wer da weinet, Du warst schon von ihm beraubt. So durchglüht und so durchschauert, Opfertest du deine Frist. Lange hat dein Widerspruch gedauert, Bis auch er erloschen ist.

*

Totenmaske58 In memoriam Karl Kraus Daß dieses nur ein Abguß deines Angesichtes, Nur Gips sein soll, von kalten Zügen abgehoben: Woher – aus hohler Form? – dies Übermaß gelösten Lichtes? Oder geruhet hier dein Geist, was er gelebt, zu loben? Kindliches Lächeln. Spiel verschmitzter Amoretten Um die geschlossenen Lider und die einverstandenen Lippen, Auch auf den wieder jungen Wangen, sie von aller Müh zu glätten Und sorgenlos von der gewölbten Stirn Gedankenseligkeit zu nippen. Dein Blick darf feiern und dein Mund darf fürder schweigen Nach überstandenen Kämpfen und bei fortgelegten Waffen. Gingst du ins Innere heim, dem Ursprung den vollbrachten Weg zu zeigen? Uns ließest du, was du zeitlebens gegen deine Zeit geschaffen.

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58

Ebd. S. 361.

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Ernst Waldinger

Majdanek59

„Zu Hitler fällt mir nichts ein ...“60

(Karl Kraus)

Ach, hier versagt das Wort: Wer redet frech hier noch von Übertreibung? Kein Dante wagt sich an die Erdbeschreibung Der Überhölle hier; denn dieser Ort, Der Name schon, scheucht jeden Zweifel fort: Nicht Gott hat je die Hölle aufgerichtet, Der Mensch erschuf sie, wie er sie erdichtet. Ach, hier versagt das Wort: Die Technik tötet sprachlos – Kinder? Greise? Wen schert das hier im letzten Höllenkreise? Kain triumphiert, und unser Herz verdorrt. Doch Glaube sucht nach einem Heil und Hort: Und zag durchraunt ein Echo die Verliese Und träumt im Schlachthaus noch vom Paradiese.

*

* *

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Zeitspiegel (London), Nr. 51/52, 23. 12. 1944. 60

Richtig: „Mir fällt zu Hitler nichts ein.“ Vgl. Karl Kraus: Schriften, hgg. von Christian Wagenknecht, Bd. 12: Dritte Walpurgisnacht. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1989, S. 12. – Das Motto fehlt in der Buch-veröffentlichung: Die kühlen Bauernstuben. Wien (A. Sexl) 1947, S. 109.

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Hans Weigel

An Karl Kraus

als er in Nummer 1 der Presse vom 26. Jänner im Feuilleton genannt wurde

Der Menschheit letzte Tage brachen an, von Dir gestaltet, wenn auch vordatiert; die letzte Nacht war um – da kräht ein Hahn, und es ward Licht, als wäre nichts passiert. Im Meer von Blut und Dreck treibt unser Kahn, das langsam sinkt; wo Boden sichtbar wird, ist er wie einst, durchpflügt vom alten Wahn: kleinere Übel, rehabilitiert. Sieh, auch die Presse tritt erneut ins Licht, nicht neu mehr und nicht frei, Die Presse schlicht, und Du, o Wunder, wirst von ihr genannt. Ist sie so klein geworden, Du so groß? Ist’s späte Reue, ist’s gedankenlos? Kommt doch ein neuer, erster Tag ins Land?

(Plan, Wien, Nr. 4, Februar 1946, S. 338)

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Gustav Zorn:

Karl Kraus61

(Geschrieben anläßlich des 60. Geburtstags) Der Untergang der Zeit gab Dir das Wort, dem Du entrafftest siegende Gestalt. Und Deine Welt war neu, die andre alt, und neuer Tugend war Dein Werk ein Hort. Zwar unbesiegt, doch kampflos ruht Dein Schwert; ein wirres Treiben leugnet Dein Vermächtnis. Ein Wort, ein Klang erbt späterem Gedächtnis: Karthagos Sturz war einen Tonfall wert. Sie kannten wenig Dich, die heut’ Dich tadeln; Gesinnung wollten Sie von Dir und Richtung. Den Schaffenden befruchtet solche Dichtung, doch jene bannt der Stoff, der ihre Schmach. Du aber gabst vom hohen Maß nichts nach: Dein Schweigen wird Dein Wort unnahbar adeln.

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Aus: Stimmen über Karl Kraus zum 60. Geburtstag. Wien (Richard Lanyi) 1934, S. 46.

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