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SWR2 Essay Nach der Musik Gibt es eine anti-essentialistische Philosophie der Musik? Von Christian Grüny Sendung: Montag, 02.11.2020 Redaktion: Lydia Jeschke Produktion: SWR 2020 SWR2 Essay können Sie auch im SWR2 Webradio unter www.SWR2.de und auf Mobilgeräten in der SWR2 App hören oder als Podcast nachhören: https://www.swr.de/~podcast/swr2/programm/swr2-essay-podcast-104.xml Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de Die SWR2 App für Android und iOS Hören Sie das SWR2 Programm, wann und wo Sie wollen. Jederzeit live oder zeitversetzt, online oder offline. Alle Sendung stehen mindestens sieben Tage lang zum Nachhören bereit. Nutzen Sie die neuen Funktionen der SWR2 App: abonnieren, offline hören, stöbern, meistgehört, Themenbereiche, Empfehlungen, Entdeckungen … Kostenlos herunterladen: www.swr2.de/app

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SWR2 Essay

Nach der Musik

Gibt es eine anti-essentialistische Philosophie der Musik?

Von Christian Grüny

Sendung: Montag, 02.11.2020

Redaktion: Lydia Jeschke

Produktion: SWR 2020

SWR2 Essay können Sie auch im SWR2 Webradio unter www.SWR2.de und auf Mobilgeräten in der SWR2 App hören – oder als Podcast nachhören: https://www.swr.de/~podcast/swr2/programm/swr2-essay-podcast-104.xml

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1.

Christopher Small beginnt sein Buch Musicking mit einer Reihe kurzer Beschreibungen sehr

verschiedener musikalischer Praktiken vom Symphoniekonzert bis zum gedankenverlorenen

Singen beim Bettenmachen; am Ende des Buches kommt noch ein ziemlich romantisierter

afrikanischer Hirte mit seiner Flöte dazu.1

Ganz ähnlich geht Wolfgang Fuhrmann in seiner

systemtheoretischen Rekonstruktion der Musik als sozialer Praxis vor, wo der Bogen von den

Inuit bis zum nächtlichen Hören eines Stücks von Helmut Lachenmann im Radio gespannt wird.2

Auch Tim Rutherford-Johnson stellt höchst disparate Stücke an den Anfang seines Buchs über

Musik seit 1989, von Galina Ustvolskayas letzter Klaviersonate bis zu Merzbows Noisestücken,

die alle im Bereich oder zumindest an den Rändern der westlich beeinflussten Kunstmusik

stehen.3

Ziel all dieser Panoramen ist es daran zu erinnern, dass wir es mit einer sehr großen

Bandbreite an Praktiken und Stücken zu tun haben, mit der jede theoretische

Auseinandersetzung umgehen muss.

Es stellen sich hier sehr grundsätzliche Fragen: Kann es einen Begriff von Musik geben werden,

der all dem gerecht wird? Was heißt es überhaupt, einen Musikbegriff zu formulieren? Und wer

wäre dafür zuständig? Musikwissenschaftler*innen? Philosoph*innen? Oder doch nicht eher

Musiker*innen? Einigkeit dürfte bestehen, dass man sich nicht auf den Bereich der westlichen

Kunstmusik beschränken kann. Christian Kaden findet dazu deutliche Worte, wenn er von der

Gefahr spricht, »angesichts einer solchen Verengung des Gesichtsfeldes im Kreis des

Allzuvertrauten, im Wohnzimmer der Musikphilosophie eingeschlossen zu bleiben – und nur

Geläufiges, modisch frisiert, nachzuerzählen«4

. Die Metapher ist ziemlich harsch und entspricht

einem geläufigen Vorurteil, das Musikwissenschaftler*innen (und Wissenschaftler*innen

1 Vgl. Christopher Small, Musicking. The Meaning of Performing and Listening, Middletown, CT 1998, S. 1f., 201ff. 2 Vgl. Wolfgang Fuhrmann, »Toward a Theory of Socio-Musical Systems: Reflections on Niklas Luhmann’s Challenge to Music Sociology«, in: Acta Musicologia 83, 1 (2011), S. 135–159, hier S. 135. 3 Vgl. Tim Rutherford-Johnson, Music after the Fall. Modern Composition and Culture since 1989, Oakland 2017, S. 1 ff. 4 Christian Kaden, Das Unerhörte und das Unhörbare. Was Musik ist, was Musik sein kann, Stuttgart 2004, S. 9.

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überhaupt) gegen die Philosophie hegen: Während sie im Sessel sitzt und sich harmlose und

wirkungslose Gedanken macht, sind wir draußen unterwegs und erforschen die Welt. Und es ist

ja wahr, die Philosoph*innen sollten ihre Sessel bisweilen verlassen, sie sollten sich draußen

genau umsehen und auch die Berichte derer zur Kenntnis nehmen, die dies zu ihrem Beruf

gemacht haben. Genauso wahr ist allerdings, dass man nicht umhin kommt, sich gelegentlich in

den Sessel zurückzuziehen, um sich grundsätzliche Gedanken zu machen. Die Alternative ist

nicht die zwischen einem rigiden, anachronistischen und letztlich provinziellen Musikbegriff und

einer liberalen Offenheit, die vorurteilslos die Vielgestalt der Wirklichkeit erforscht und ohne

einen solchen Begriff auskommt. Irgendeinen Begriff davon, was wir eigentlich vor uns haben,

haben wir immer – die Frage ist nur, wie sehr wie uns seiner bewusst sind und zu welchem Grade

es uns möglich ist, ihn zu reflektieren, in Frage zu stellen und zu modifizieren. Ohne Begriff

wären wir dazu verdammt, staunend vor der Buntheit der Wirklichkeit stehenzubleiben, ohne

irgendetwas zu verstehen.

Dabei besteht immer die Gefahr des Essentialismus, also der Vorstellung, unser Begriff erfasse

das Wesen der Sache und erlaube uns, klar und ein für allemal zu sortieren, was dazu gehört und

was nicht. Diese Gefahr begleitet diejenigen, die frisch und scheinbar vorurteilsfrei ans Werk

gehen, ebenso wie diejenigen, die der Sache wirklich auf den Grund gehen wollen. Natürlich will

heute niemand mehr Essentialist sein, aber so einfach ist die Sache nicht. Ich würde hier in

vorsichtiger Analogie zu Ibram X Kendis These zum Rassismus argumentieren – vorsichtig, weil

es mir im Moment nicht um eine Analogisierung von philosophischem Essentialismus und

Rassismus geht (auch wenn sich dazu einiges sagen ließe), sondern lediglich um die Denkfigur.

Laut Kendi ist es nicht damit getan, sich zum Nicht-Rassisten zu erklären. Als strukturell wirkende

Ordnung, die tief in die Weltauffassung der Einzelnen eingelassen ist, durchdringt Rassismus die

Gesellschaft bis in ihre feinsten Verästelungen. Man kann sich ihm nicht einfach entziehen,

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sondern muss ihm aktiv entgegenwirken, und entsprechend gibt es nur die Positionen des

Rassismus und des Antirassismus.5

Der Titel meines Textes geht von dieser Konstellation aus: Antiessentialistisch vorzugehen ist

weder einfach noch versteht es sich von selbst. Eine antiessentialistische Musikphilosophie wäre

ein grundsätzliches Nachdenken über Musik, das sich nicht nur ausnahmsweise, sondern

systematisch von quer zu ihren Begriffen stehenden Phänomenen irritieren lässt. Wenn es die

Aufgabe der Philosophie ist, die Wirklichkeit zu ordnen, ist es die Aufgabe der Wirklichkeit,

diese Ordnung zu stören und herauszufordern.

Ich möchte die Sache hier in mehreren Schritten angehen: Zuerst wird es um das Musikalische

als Artikulations- und Kommunikationsform und um die Frage gehen, wie man sich von hier aus

den Übergang zur Musik als Kunstform denken kann. Dann werde ich mich den

Dezentrierungen eines traditionellen Musikbegriffs in der Neuen Musik und der musikalischen

Ethnologie zuwenden und dem Verdacht nachgehen, dass weiterhin ein Basisverständnis von

Musik im Spiel ist, das sich wesentlich der Idee der absoluten Musik verdankt. Zuletzt wird die

Frage zu stellen sein, ob der Begriff der Musik selbst nicht in gewisser Hinsicht ein Problem

darstellen könnte, dem auch mit Versuchen der Dezentrierung, Transformation oder

Erweiterung kaum beizukommen ist, ob wir also nicht zumindest die Frage nach einem Nach der

Musik stellen sollten.

2.

Mit der Betrachtung der Musik als Artikulationsform tritt das Problem der Essentialisierung ganz

real auf den Plan: Legt man ihren Ursprung so tief an, läuft man Gefahr, all das durch die

Hintertür wieder einzuführen, was eine historische, kulturvergleichende und von der

zeitgenössischen Praxis ausgehende Kritik in Frage gestellt hat, und in eine ahistorische und

differenzblinde Position zurückzufallen. Wenn die Musik menschheits- und

5 Vgl. Ibram X Kendi, How to be an Antiracist, London 2019.

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individualgeschichtlich derart fundamental ist, mag auch jeder Versuch, sie grundsätzlich zu

transformieren, zu erweitern oder gar aufzulösen, wie ein hochproblematisches Anrennen gegen

die Natur des Menschen erscheinen. Der Verdacht liegt nahe, dass hier einmal mehr mit

anthropologischen Mitteln eine bestimmte Musikauffassung verteidigt werden soll. Das ist aber

durchaus nicht zwingend.

Entscheidend ist zuerst einmal, dass die zentrale Vergleichsgröße hier die Sprache ist und nicht

die anderen Künste. Musik erscheint aus dieser Perspektive zuerst einmal als Symbolsystem, als

Kommunikations- oder Artikulationsform und (noch) nicht als Kunstform; einiges hängt an der

Frage, wie der Zusammenhang zwischen beiden gedacht wird.

Systematische Ansätze erscheinen hier problematischer als genetische, weil sie mit dem Konzept

einer feststellbaren und analysierbaren Ordnung arbeiten. Ob die Musik nun der Sprache mit

den Mitteln der generativen Grammatik der Sprache angeglichen wird wie bei Lerdahl und

Jackendoff6

oder sie als ikonische Ordnung gestischer Formen von ihr unterschieden wird wie

bei Bierwisch7

, stets steht ein sehr spezifisches Musikverständnis im Hintergrund – in der Regel

wenig überraschend das der westlichen notierten harmonisch-tonalen Musik. Bei Lerdahl und

Jackendoff ist dies explizit, bei Bierwisch, der tatsächlich deutlich offener ist, bleibt es

unausgesprochen. Da er sich aber überhaupt keine Rechenschaft darüber ablegt, inwiefern die

zugrundeliegende Auffassung historisch und kulturell spezifisch ist, setzt sich bei aller Offenheit

doch wieder ein Verständnis durch, das deutlich von der europäischen Kunstmusik geprägt ist –

ein schönes Beispiel dafür, dass Nicht-Essentialismus eine problematische Angelegenheit ist.

Problematisch kann aber auch der Fall sein, in dem der Begriff des Symbolsystems derart

eindeutig von der Sprache her gedacht ist, dass von dort aus bestimmte Formen der Musik zwar

nicht als widernatürlich, aber doch als sinnlos und daher als haltlose Experimente erscheinen –

siehe etwa Lévi-Strauss’ Urteil, dass die musique concrète »immer nur am Sinn vorbei[stolpert]«,

6 Vgl. Fred Lerdahl/Ray Jackendoff, A Generative Theory of Tonal Music, Cambridge, MA 1983. 7 Vgl. Manfred Bierwisch, »Musik und Sprache. Überlegungen zu ihrer Struktur und Funktionsweise«, in:

Jahrbuch Peters 1978, Leipzig 1979, S. 9-102.

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und seine Charakterisierung der seriellen Musik als Schiff ohne Segel auf einem ziellosen Kurs

aufs offene Meer.8

Insgesamt kann man sagen, dass bei einem Vergleich von Musik und Sprache kaum von einer

Begegnung auf Augenhöhe ausgegangen werden kann. Die klassische Frage lautet, ob Musik eine

Sprache ist, womit der Bezugspunkt der ganzen Diskussion von vornherein unmissverständlich

benannt ist. David Lidovs halb ironische Frage »Ist Sprache eine Musik?« weist auf dieses

Ungleichgewicht hin, wobei sein Ziel nicht dessen schlichte Umkehrung, sondern eine wirklich

allgemeine Semiotik ist.9

Auch wenn man von auf diese Weise von der allgemeineren Kategorie

des Zeichen- oder Symbolsystems ausgeht, zeigt sich vielfach eine deutliche Schlagseite in

Richtung Sprache. Susanne K. Langers Haltung, dass eine adäquate Konzeptualisierung

musikalischer Bedeutung der entscheidende Prüfstein für jede Symbolphilosophie sei, ist eine

ebensolche Ausnahme wie Lidovs Semiotik aus dem Geiste der Musik.10

Man kann noch einen

Schritt weitergehen: Die Kategorie des Symbolsystems selbst, wie auch immer man sie

zuschneidet, könnte für die Musik ein Prokrustesbett sein.

3.

Die Literatur in der Entwicklungspsychologie, der Linguistik, der Archäologie und der

Evolutionstheorie über den Ursprung der Musik ist mittlerweile sehr umfangreich. Ich möchte

hier nur zwei Beispiele nennen: die Wiederbelebung der Idee eines gemeinsamen Vorläufers

von Musik und Sprache, die sich bei Archäologen wie Stephen Mithen findet, und die These

einer »kommunikativen Musikalität«, die die Entwicklungspsychologen Colwyn Trevarthen und

Stephen Malloch formuliert haben.

8 Claude Lévi-Strauss, Das Rohe und das Gekochte, Frankfurt a. M. 1971, S. 41 u. 43. 9 Vgl. David Lidov, Is Language a Music? Writings on Musical Form and Signification,

Bloomington/Indianapolis 2005. 10 Vgl. Susanne K. Langer, Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst,

Frankfurt a. M. 1984, S. 216 f.

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Mithen, der Neurowissenschaftler Steven Brown und andere schließen an die alte Idee eines

menschheitsgeschichtlich gemeinsamen Ursprungs von Musik und Sprache an, den sie als

»musilanguage«, also „Musisprache“11

(Brown) bzw. als »Hmmmmm«, nämlich »[h]olistisch,

multi-modal, manipulativ, musikalisch und mimetisch«12

(Mithen) beschreiben. In der Reihe der

Adjektive irritiert das »musikalisch«, oder vielleicht umgekehrt das Fehlen von »sprachlich« – wie

dürfen wir es verstehen, dass der Vorgänger von Musik und Sprache bereits als musikalisch

beschrieben wird? Mithen begründet diese Charakterisierung damit, dass die so beschriebenen

Kommunikationssysteme »sich wesentlich auf Rhythmus und Melodie stützen und

Synchronisation und Turn-taking einschließen«13

.

Nehmen wir das Konzept einer ursprünglichen Kommunikationsform ernst, die weder Musik

noch Sprache ist, aus der aber beide hervorgehen, sollte hier schon aus systematischen Gründen

eher von protomusikalischen – und ebenso von protosprachlichen – Zügen die Rede sein. Sieht

man sich die einzelnen Bestimmungen genauer an, ist das in der Tat plausibel: Rhythmus und

Melodie sind hier in einem noch nicht eigentlich musikalischen, sondern deutlich weiteren Sinne

gemeint, der genauso auf andere Bereiche anwendbar ist; so hätte statt von Melodie ebenso gut

von Prosodie die Rede sein können, wie der linguistische Begriff für Intonation, Tonfall und

Rhythmus lautet. Synchronisation wiederum ist eine in aller Kommunikation feststellbare

Erscheinung, die sehr verschiedene Formen annehmen kann, etwa als mimetische Nachahmung

von Körpersprache und Körperhaltung. Und schließlich ist Turn-taking, also das genau

koordinierte Alternieren von Äußerungen, gar eine in erster Linie sprachliche Organisationsform

der Interaktion. Anders als in der Musik, wo zwar Call-and-response-Formen vorkommen, aber

die Verflechtung gleichzeitiger Äußerungen die Regel und nicht die Ausnahme ist, ist das Turn-

11 Steven Brown, »The ›musilanguage‹ model of music evolution«, in: Nils L. Wallin/Björn Merker/ders. (Hg.), The Origins of Music, Cambridge, MA u. London 2000, S. 271–300. 12 »Holistic, multi-modal, manipulative, musical and mimetic« (Steven Mithen, The Singing Neanderthals: The Origins of Music, Language, Mind and Body, London 2005, S. 172). 13 »make substantial use of rhythm and melody, and involve synchronization and turn-taking« (A. a. O., S. 121).

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taking die alternativlose Form sprachlicher Interaktion – gleichzeitig Singen, Spielen oder

Trommeln ist eine Form der Kommunikation, gleichzeitig Reden ihre Verweigerung.

Warum also „musikalisch“? Mithen bedauert in seinem Buch ausdrücklich, dass er in früheren

Rekonstruktionen der Menschheitsgeschichte die Musik ganz außen vor gelassen hatte, da er ihre

fundamentale Bedeutung verkannt habe. Die Überbetonung des Musikalischen an der frühen

Kommunikationsform bzw. deren Charakterisierung als musikalisch können vielleicht von hier

aus als eine Art Überkompensation verstanden werden, die sich nicht nur bei Mithen findet: Die

vormalige Sprachfixierung führt dazu, dass jetzt die protomusikalischen Züge überdeutlich

hervortreten bzw. hervorgehoben werden.

Wir finden dies in ganz analogem Sinne bei den Entwicklungspsychologen Colwyn Trevarthen

und Stephen Malloch mit ihrer These einer elementaren »kommunikativen Musikalität«. Sie

stützen sich dabei auf langjährige eigene Forschungen und Arbeiten zahlreicher Kollegen, die

auch für Mithen eine wichtige Quelle sind. Der Begriff ist prägnant und plakativ und dient

wiederum dazu, lange vernachlässigte Dimensionen besonders deutlich hervorzuheben. Auch

hier geht es um eine Form der Artikulation und Kommunikation, die den Beobachtern näher an

der Musik zu sein scheint als an der Sprache, weil sie von den protomusikalischen Zügen eher

überrascht werden als von den protosprachlichen; auch hier markiert sie den gemeinsamen

Ursprung beider.14

Die Arbeiten von Trevarthen und Malloch sind bedeutsam für ein

Verständnis der elementaren menschlichen Kommunikationsformen in ihrer unerwarteten

Differenziertheit und ihrer grundlegenden Rolle für die Ausbildung von Personalität und

Sozialität. Diese Formen bilden einen Möglichkeitsraum, in dem und von dem aus Musik,

Sprache und vielleicht noch ganz andere Kommunikationsformen bestimmte Züge hervortreten

lassen und weiterentwickeln. Die suggestive Rede von Musikalität steht einer nüchternen

14 Vgl. Stephen Malloch/Colwyn Trevarthen (Hg.), Communicative Musicality. Exploring the Basis of Human Companionship, Oxford 2009.

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Untersuchung dieser Ausdifferenzierung allerdings eher im Wege, als dass sie sie befördern

würde.

Um die Ausdifferenzierung genauer zu charakterisieren, finde ich Langers Unterscheidung von

diskursiven und präsentativen Symbolen immer noch produktiv. Bezeichnet werden damit

Typen von Symbolen bzw. Symbolsystemen, die auf genau entgegengesetzte Organisationsweisen

setzen. Auch wenn sich das Diskursive in der Sprache und das Präsentative in der Musik

paradigmatisch realisiert finden, macht sie doch deutlich, dass beide niemals in Reinform

vorliegen. Am angemessensten und ganz in unserem Sinne ist es, sie als Modi der

Ausdifferenzierung zu verstehen – einmal in Richtung auf identifizierbare, replizierbare und nach

Regeln kombinierbare Einheiten und auf propositionale Gehalte, einmal in Richtung auf

holistische Darstellungen, in denen jede innere Differenzierung zählt und deren gestische

Formen das verkörpern, was sie darstellen.15

Wenn wir dieser Ausdifferenzierung in Abgrenzung

zur Sprache etwas weiter nachgehen, treffen wir noch immer nicht auf eine universale Grundlage

der Musik, sondern auf musikalische Kommunikationsformen, die offen für sehr verschiedene

Ausprägungen sind.

An dieser Stelle würde ich in einem terminologisch ein wenig präziseren Sinne vom

Musikalischen sprechen und darunter eine gleichzeitig sinnliche, leibliche und soziale

Artikulationsbewegung verstehen, deren Ausdruck auf eine systematische Gliederung nach

Rhythmus und Intensität setzt, sich dabei wesentlich, aber nicht ausschließlich, auf das Klangliche

und dessen innere Gliederbarkeit stützt und so Formen des sich zur Welt Verhaltens verkörpert

und darstellt. Damit soll eine Ebene benannt werden, die jenseits des angenommenen

gemeinsamen Ursprungs von Musik und Sprache liegt, aber sich noch diesseits der Fixierung zu

einer bestimmten Form von Musik hält. Dieses Musikalische können wir nicht so rekonstruieren,

als liefe es eindeutig auf das zu, was »wir« heute als Musik verstehen – wen auch immer dieses

Wir umfasst. Wie eng oder weit der zeitgenössische Musikbegriff ist oder auch ob es überhaupt

15 Vgl. Langer, Philosophie auf neuem Wege, Kap. 4.

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einen Begriff von Musik als identifizierbarer und eigenständiger Praxis gibt, lässt sich von hier

aus noch nicht sagen.

4.

Wie können wir uns nun über die Ausdifferenzierung der Artikulationsformen hinaus ihre

reflexive Kultivierung in einem eigenen Feld denken, das für gewöhnlich das der Kunst genannt

wird? Hilfreich sind hier die grundsätzlichen Überlegungen von Alva Noë (so unscharf und

problematisch seine Bemerkungen zur Musik selbst auch sein mögen). Was ich aus Noës

Theorie der Strange Tools hier benutzen möchte, ist die kategoriale Unterscheidung zwischen

künstlerischer Arbeit und den vorkünstlerischen Praktiken, von denen sie ausgeht und auf die

sie sich bezieht; mit meinen Folgerungen werde ich mich eher von ihm entfernen.

Noë beschreibt unsere Interaktion miteinander und mit der Welt als »Organisation«: Wir werden

durch unsere Interaktionen organisiert, eher als dass wir sie organisieren. Als menschliche Wesen

sind wir nur zu verstehen aus diesen für uns konstitutiven Organisationsweisen, die Werkzeuge,

Techniken und Kommunikationsmodi einschließen. Von hier aus können wir auch die

musikalische oder protomusikalische Interaktion als eine solche Organisationsform beschreiben.

Zwischen diesen Formen und der Kunst besteht nun Noë zufolge keine einfache Kontinuität,

sondern ein Bruch: »Man könnte Choreographie als Unterbrechung (oder Subversion) des

Tanzens bezeichnen. Genauso wie die Malerei die Unterbrechung des Bildermachens ist.«16

Die

Künste unterbrechen eine interaktive Organisationsweise, um sie in ihren möglichen und

unmöglichen Formen darzustellen. Insofern sind sie reflexive und potentiell kritische Weisen

der Selbstverständigung, die sich auf Interaktions- und Artikulationsformen beziehen, die ihnen

vorausgehen. Kunstmusik würde sich also nicht dadurch vom alltäglichen Musikmachen

abgrenzen, dass sie besonders komplex oder raffiniert ist, sondern dadurch, dass sie sozusagen

16 »Choreography, in a sense, is the interruption (or subversion) of dancing. Just as […] painting ist he interruption of picture making.« (Alva Noë, Strange Tools. Art and Human Nature, New York 2015, S. 103)

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eine Metaperspektive auf das Musikalische einnimmt und es als solches vorführt, deformiert, an

seine Grenzen bringt und über sich hinausführt.

Natürlich ist die Vorstellung von Kunst als reflexiver Auseinandersetzung mit unserer eigenen

Praxis nicht neu. Neu ist hier vielmehr die Idee, dass Kunst wesentlich als reflexive, kritische

Darstellung protokünstlerischer Praktiken verstanden werden soll und nicht als ihre bloße

Fortsetzung.

Man muss aufpassen, hier keine allzu strikte kategoriale Trennung einzuziehen, die kaum der

Wirklichkeit entspricht; wichtig ist aber, dass sich die Modi jener Darstellungen nicht einfach aus

der Untersuchung vorkünstlerischer Praktiken ableiten lassen. Die Art und Weise der Reflexion

und die Formen, in denen sie stattfindet, ergeben sich nicht aus dem zu Reflektierenden.

Nehmen wir als Beispiel das Bildliche, das auf einer ähnlich elementaren Ebene angesiedelt

werden kann wie das Sprachliche und das Musikalische: Aus der Errungenschaft, innerhalb einer

visuellen Erscheinung eine innere Differenz zwischen einer Darstellung und ihrer materiellen

Verkörperung, zwischen Bildobjekt und Bildträger ziehen zu können, lassen sich weder

Voraussagen noch normative Folgerungen in Bezug auf die Arbeit der bildenden Kunst oder die

innere Gliederung ihres Feldes ziehen. Sehen wir uns den aktuellen Stand dieses Feldes an, so

kann nicht einmal mehr davon die Rede sein, dass wir es in jedem Fall mit Reflexionen des

Bildermachens zu tun haben; eher geht es um Darstellung allgemein und die Frage ihrer

(institutionellen, diskursiven, materiellen) Rahmung. Warum sollte das beim Musikalischen

grundlegend anders sein?

Gerade die bildende Kunst sollte uns zur Vorsicht davor anhalten, die Aufteilungen eines

ausdifferenzierten Kunstsystems auf jene elementaren Organisationsformen zurückzuprojizieren,

als seien auf einer vorkünstlerischen Praxisebene Tanz, Musik, sprachliche Kommunikation etc.

immer klar als solche identifizierbar, differenzierbar und überdies getrennt und würden erst in

künstlerischen Darstellungen ausnahmsweise zusammengebracht und dann auch noch in

Unordnung gebracht.

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So weit, so gut. Die Frage mag nun sein, inwiefern all dies zur gegenwärtigen Diskussion um den

Musikbegriff und die Form und gesellschaftliche Rolle der zeitgenössischen Kunstmusik

beitragen kann. Der Ertrag ist zuerst einmal ein negativer, die Einsicht nämlich, dass eine

Erforschung der Musik als Kommunikationsform weder essentialistisch vorgehen noch zu einer

Reessentialisierung eines zeitgenössischen Musikverständnisses führen muss. Sie bespielt

tatsächlich ein anderes Feld. Umgekehrt können die aktuelle Debatte und auch die historische

und kulturvergleichende Perspektive zur Vorsicht davor anhalten, das Musikalische

überzudeterminieren, indem man einen bestimmten Begriff von Musik in die menschheits- und

individualgeschichtliche Frühzeit zurückprojiziert, um ihn dann wieder daraus ableiten zu

können – auch wenn man sich von solchen Projektionen vielleicht nie ganz befreien kann.

Protomusikalische Kommunikationsformen umschreiben ein Feld von Möglichkeiten, ihre

allmähliche Ausdifferenzierung zum Musikalischen in seinen unterschiedlichen Spielarten eine

Entwicklungsrichtung. Beide sind keine Fakten über »die Musik«.

Während man sich also bei derartigen Untersuchungen davor hüten sollte, mit normativen

Vorstellungen an die Sache heranzugehen oder normative Folgerungen zu erwarten, sind wir bei

der zeitgenössischen Musik und der Kunst insgesamt in einem Bereich, der durch und durch

normativ geprägt ist – so wie es kulturelle Fragen insgesamt sind. Wenn hier um den Musikbegriff

gerungen wird, so geht es nicht darum, was Musik ist, sondern was sie sein kann bzw. sollte.

Verhandelt wird so immer auch, was akzeptiert wird und legitim ist.

Vor diesem Hintergrund sind auch philosophische Auseinandersetzungen mit dem Musikbegriff

nicht neutral, sondern greifen in eine Diskussion ein, in der sie nolens volens selbst Stellung

beziehen. Essentialisierungen sind dann vor allem Versuche, diese Positionierung zu verschleiern

bzw. die eigene Position mit philosophischen Mitteln zu bewaffnen und so gegen Widerspruch

abzudichten. Trotzdem wird sich die Philosophie nicht damit begnügen, das Verschiedene zu

katalogisieren und zu sortieren. Ihr Ziel ist es, es verständlich zu machen. Es ist kein

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bedauerlicher Unfall, sondern unvermeidlich, dass es hier einen spekulativen Überschuss gibt

und dass das Ergebnis eine nicht neutrale eigene Position ist. Nur sollte man dazu stehen.

5.

Von hier aus scheint meine vollmundige Formulierung »nach der Musik« auf eine weitreichende

historische These zurückzugehen, mit der ein weiteres Mal das Ende einer grundlegenden

kulturellen Praxis verkündet werden soll. Was ist in den vergangenen Jahrzehnten nicht schon

alles zu Ende gegangen? Zuallererst die Kunst selbst, und das schon vor 200 Jahren bei Hegel.

Natürlich sollte man mit solchen Proklamationen vorsichtig sein, aber sie können auch dazu

beitragen, die Luft zu klären und eine Debatte neu zu figurieren. Wenn ich allerdings hier nach

der Behandlung des Vormusikalischen in der Tat die Frage stelle, ob wir uns nicht in einem

bestimmten Sinne in einer Zeit nach der Musik befinden, so verbindet sich damit keine

übermäßig starke geschichtsphilosophische These, und ich habe auch an dieser Stelle für den

Moment nicht mehr zu bieten als einige skizzenhafte Gedanken und Fragen.

Natürlich ist die Musik nicht verschwunden und wird auch nicht verschwinden. Was allerdings

verloren gegangen ist, ist die Selbstverständlichkeit, mit der man davon ausgehen kann, dass im

Kontext von Musikinstitutionen Arbeiten präsentiert werden, deren Zentrum die Konstruktion

klanglicher Ereignisse – The music itself (TMI) – ist, und deren wichtigster Bezugspunkt die

Musik der klassisch-romantischen Tradition und ihre Ausläufer sind. Die Einbeziehung oder gar

Dominanz anderer Medien, wozu auch ein veränderter Umgang mit der medialen Konstellation

Partitur-Aufführung-Aufnahme gehört, die Anerkennung und der Ausbau verschiedener

konzeptueller Dimensionen, die Kultivierung des Performativen sind keine vorübergehenden

Moden, und sie lassen sich auch nicht über Kategorien wie Musiktheater als Spezialbereich in

die Peripherie abschieben. Wie auch immer man dies bewertet, es ist eine Entwicklung, die man

vielleicht ignorieren, aber nicht leugnen kann.

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Auch wenn hier in erster Linie von bestimmten Entwicklungen in der zeitgenössischen westlichen

Kunstmusik die Rede ist, also von einem höchst speziellen und spezialisierten Bereich, ist all dies

nicht auf ihn beschränkt; eher könnte man sagen, dass es für die alles dominierende Popmusik

seit jeher Alltag ist: Hier ist TMI nur eine Dimension einer multimedialen Konstellation mit

deutlichen konzeptuellen Anteilen. Allerdings bleibt die Frage, ob dies den Begriff von Musik so

sehr in Mitleidenschaft zieht, dass man in der Tat von einer Lage »nach der Musik« sprechen

sollte. Man könnte den Musikbegriff erweitern, umbauen, flexibilisieren oder auch für aufgelöst

erklären.17

Wenn eine Praxis sich wahrnehmbar und nachhaltig verändert hat, so kann man sagen,

dass auch ihr Begriff nicht mehr der gleiche ist und dass die Eule der Minerva dieser Veränderung

diskursiv Rechnung tragen muss.

In der Tat scheint mir hier einiges zu tun zu sein. Der Standardbegriff von Musik ist und bleibt

derjenige organisierter Klanglichkeit, so oft die Hanslicksche Formulierung der »tönend

bewegten Formen« auch kritisiert worden sein mag. Carl Dahlhaus hat die Idee der absoluten

Musik auf den Nenner gebracht, »daß Musik ein tönendes Phänomen und nichts sonst sei«18

. Das

würde heute insofern niemand mehr vertreten, als das »nichts sonst« deutlich zu stark erscheint.

Die gegenwärtige, liberal reformierte Fassung der Idee lautet, dass Musik vieles sonst sei – vor

allem und im Kern aber weiterhin ein tönendes Phänomen. Recht klar kann man dies etwa bei

Alva Noë sehen, wenn er, auf den Reaktionär Roger Scruton reagierend, über die Band Nirvana

schreibt: »Es geht nicht um die Musik; es geht um Cobain oder um den Charakter, den Cobain

über den Song darstellt«19

. »Musik« steht auch hier offensichtlich für TMI, die strukturierte

Klanglichkeit, die Scruton wenig überraschend als primitiv kritisiert hatte. Noë behauptet, dass

es schlicht um die Person des Sängers und Gitarristen (und nichts sonst) geht, nimmt dies dann

aber sofort zugunsten einer interessanten Formulierung zurück: Die Darstellung eines

17 Vgl. zuletzt Johannes Kreidler, »Der aufgelöste Musikbegriff. Zerfalls- und Konsolidierungsmomente des Begriffs der ›Musik‹ heute«, in: Musik&Ästhetik 80 (2016), S. 85–96. 18 Carl Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, Kassel 1978, S. 13. 19 »it’s not about the music; it’s about Cobain, or the character Cobain manifests through song« (Noë, Strange Tools, S. 169).

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bestimmten Charakters oder vielleicht besser einer Persona im und durch den Song scheint

gerade nicht zur Musik zu gehören. Einmal davon abgesehen, dass es bei Nirvana natürlich sehr

wohl um die klangliche Kombination von Lautstärke, Rauheit und Eingängigkeit geht, könnte die

klanglich-gestische Darstellung einer Persona doch geradezu als eines der Definitionsmerkmale

von Musik selbst verstanden werden, oder zumindest als eine Möglichkeit, die in der Popmusik

– aber auch etwa im Akia-Gesang der Suya in Brasilien, von dem Anthony Seeger berichtet20

besonders deutlich realisiert ist.21

Nun ist Noë im Hinblick auf die Musik offensichtlich kein Experte, sondern eher interessierter

Laie, aber gerade dies macht seine Aussage exemplarisch. Sie zeigt, dass die reformierte Idee der

absoluten Musik weit über Fachkreise hinaus das Grundverständnis dessen darstellt, was Musik

ist. Daran haben offenbar die Entwicklungen und Diskussionen der letzten Jahrzehnte nichts

Grundsätzliches ändern können. Es stimmt vermutlich nicht mehr, dass »das Wort Musik mit

›Musikwerke in der westlichen Tradition‹ gleichgesetzt wird«22

, wie Small schreibt. Trotzdem lässt

die Struktur von Zentrum und Peripherie, die sich sowohl in Bezug auf Medien und Praktiken

als auch in geographischer Hinsicht zeigt, meine Skepsis wachsen, ob der Musikbegriff als solcher

nicht ein unüberwindbares Problem darstellt.

In einer anderen kulturellen Situation hat Stanley Cavell vor mehr als fünfzig Jahren einen sehr

wichtigen Punkt festgehalten: Es ist nicht wirklich etwas gewonnen, wenn man den Musikbegriff

großzügig erweitert und Grenzfälle anerkennt. Die Herausforderungen, die von radikal neuen

Praktiken – und auch, was er nicht im Blick hat, von ethnologischen Beobachtungen – ausgehen,

werden durch eine derart liberale Haltung nicht geklärt, sondern zugedeckt. Sie betreffen nicht

die Randgebiete des Musikbegriffs, sondern sein Zentrum: »Darin liegt der entscheidende

Grund, warum Neudefinitionen und Grenzfälle hier nicht relevant sind. Denn die Frage, die

20 Zit. bei Kaden, Das Unerhörte und das Unhörbare, S. 21 ff. 21 Das ist die These von Philip Auslander, »Musical Personae«, in: The Drama Review 50, 1 (2006), S. 100–119. 22 Small, Musicking, S. 3.

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diese neuen Gegenstände für mich aufgeworfen haben, ist gerade, ob sie zentral sind und auf

welche Weise sie dies sein können.«23

Wenn dies so ist, müssen wir den Begriff von innen

umbauen und nicht bloß äußerlich erweitern – insofern wir jene »neuen Gegenstände«, was auch

immer sie jeweils sein mögen, als legitim anerkennen. Damit müsste sich notwendigerweise unser

Blick auf das gesamte Feld dessen verändern, was wir bis dahin Musik genannt haben.

6.

Cavells Forderung nach einer Transformation oder Verschiebung des Zentrums führt uns

unmittelbar zur heutigen Debatte um Dekolonisierung. Was Chakrabarty für die

Geschichtsschreibung festhält, gilt auch für unsere Diskussion: »›Europa‹ bleibt das souveräne

theoretische Subjekt aller Geschichte, auch jener, die wir ›indisch‹, ›chinesisch‹, ›kenianisch‹, usw.

nennen.«24

Ihrem eigenen Selbstverständnis nach hat die Musikethnologie hier bereits eine Art

Kopernikanische Wende vollzogen, wie Philip Bohlman schreibt: »Hier hat also eine

Umkehrung des Kanons stattgefunden, nach der die wirkliche Musik des Anderen die westlichen

Kunstmusik ist.«25

Mein Verdacht ist, dass der Begriff der Musik selbst trotz aller Anstrengung

die Zentrierung wieder herstellt.

Musikethnologische Forschungen sind fortwährend mit der Frage konfrontiert, wie sie ihren

Gegenstand zuschneiden und beschreiben; Texte, die ihre Arbeit und Disziplin reflektieren,

halten immer wieder fest, dass die meisten Kulturen der Welt keinen unserem Musikbegriff

analogen Begriff haben, dass sich aber in jeder von ihnen Praktiken finden, die wir als musikalisch

bezeichnen würden. Man kann sich diesen Praktiken beobachtend nähern und/oder indem man

23 »This is the essential reason that redefinitions and boderline cases are irrelevant here. For the question raised for me about these new objects is exactly whether they are, and how they can be, central.« (Stanley Cavell, »A Matter of Meaning it«, in: ders., Must We Mean What We Say? A Book of Essays, New York 1969, S. 213–237, hier S. 215) 24 Vgl. Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000, S. 27. 25 Philip V. Bohlman, »Ethnomusicology’s Challenge to the Canon; the Canon’s Challenge to Ethnomusicology«, in: Katherine Bergeron u. ders. (Hg.), Disciplining Music. Musicology and Its Canons, Chicago u. London 1992, S. 116–136, hier S. 121.

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sie lernt, und auf dieser Ebene gibt es gar nicht unbedingt ein wirkliches Problem. Dieses fängt

dort an, wo man die Sache benennen will, oder vielleicht besser: sich über die eigene

Kategorisierung Rechenschaft ablegt.

In gewisser Weise setzen auch Ethnologen so bei aller Offenheit immer schon voraus, was sie

suchen: Musik. Man kann dies besonders gut einem so einflussreichen Text wie John Blackings

How musical is man? von 1973 sehen. Blacking plädiert ausdrücklich für eine Dezentrierung der

europäischen Perspektive und fordert ein Verständnis, das über eine Betrachtung von

Klangstrukturen hinausgeht. Selbst die Forderung, jeden musikalischen Stil nach seinen eigenen

Kriterien zu betrachten und ihm nicht ein westlichen Verständnis überzustülpen, reicht ihm

zufolge nicht aus: »Wir müssen erkennen, dass kein musikalischer Stil ›seine eigenen Kriterien‹

hat: Seine Kriterien sind diejenigen seiner Gesellschaft und Kultur und der Körper jener

Menschen, die ihn hören, produzieren und aufführen.«26

Die Identifikation eines musikalischen

Stils als isoliert beschreibbare Entität oder Praxis löst ihn aus seiner kulturellen und

gesellschaftlichen Einbettung heraus und produziert so schon von Anfang an eine systematische

Verzerrung.

Auf der anderen Seite aber reproduziert Blacking in der Beschreibung des

Forschungsgegenstandes ungebrochen die liberal reformierte Idee der absoluten Musik, wenn

wiederum die systematische »klangliche Ordnung«27

unangefochtenes Zentrum und letzter

theoretischer Bezugspunkt der Theorie bleibt. Er operiert sogar unbefangen mit der Kategorie

des Außermusikalischen – das bisweilen sogar seiner eigenen Beobachtung zufolge für die

Organisation der Praxis bedeutsamer sein kann als das Klangliche – und unterscheidet

»biologische, psychologische, soziologische, kulturelle oder rein musikalische Prozesse«28

. Wo

hier das Zentrum liegt und wo Reinheit zu suchen wäre, auch wenn es sie niemals gibt, bleibt

eindeutig klar.

26 John Blacking, How Musical is Man?, Seattle 1973, S. 25. 27 A. a. O., S. 11. 28 A. a. O., S. 25.

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Es geht nicht einmal unbedingt darum, dass indigenen Praktiken mit dieser Kategorisierung

Gewalt angetan wird. Die »Erforschung der Musik als menschliches Verhalten«29

, um einen

Klassiker der Disziplin, Alan Merriam, zu zitieren, ist tatsächlich etwas grundlegend anderes als

die ungefilterte Projektion eines westlichen Musikbegriffs auf andere Kulturen und hat in der

Folge auch auf die Haltung zur westlichen Kunstmusik zurückgewirkt. Kehrt man Merriams

Formulierung allerdings um, so trifft dies die Kehrseite dieser Forschungspraxis: Nicht nur wird

Musik als menschliches Verhalten betrachtet, bestimmte Typen menschlichen Verhaltens

werden als Musik untersucht. Das ist keineswegs trivial – auch dann nicht, wenn Musik als

Ehrentitel betrachtet wird, der klanglichen Praktiken anderer Kulturen verliehen und entzogen

werden kann.

Man könnte dies mit einem Feld von Eisenspänen vergleichen, in dem ein Magnet platziert wird:

Alles richtet sich auf diesen Magneten aus, und gerade weil dies geschieht, erscheint er

legitimerweise und kaum bestreitbar als Zentrum. Diese Ausrichtung prägt die Perspektive auf

jeden einzelnen Span, kann aber auch ganz praktische Auswirkungen haben, indem sich

Praktiken in ihrem Selbstverständnis neu ausrichten oder gewaltsam ausgerichtet werden, wenn

die Zentrierung also von einer Beobachtungs- zu einer Selbstbeobachtungskategorie wird. Von

einer Provinzialität des Zentrums kann man hier insofern sprechen, als von diesem aus gesehen

das Problem nicht einmal sichtbar wird.

Eine analoge Erfahrung macht man, wenn man den Musikbegriff in die Debatte um die sich

intern verschiebende Gliederung des Felds der Künste einspeist: Er polarisiert jede Diskussion

sofort, produziert Rechtfertigungsdruck und lenkt einen fast unweigerlich in Fahrwasser, denen

man gerade entkommen will. Sine ira et studio scheint man nach der Musik kaum fragen zu

können. Die Krise, die der Neuen Musik in jüngerer Zeit vielfach attestiert wurde, ist sicherlich

auch eine des Begriffs. Und aus der Perspektive der Diskussion um die zeitgenössische Kunst

erscheint sein spezielles Zentrum in der Tat einigermaßen provinziell.

29 Merriam, The Anthropology of Music, Evanston 1964, S. viii.

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Selbst Smalls musicking, das ja in seinem Vorschlag, Musik verbal zu begreifen, als Aktivität,

ebenfalls deutliche Kritik an der Zentrierung um einen westlichen Kanon von Werken übt,

entgeht dem nicht vollständig. Es ließe sich fragen, ob nicht bereits seine Grundbestimmung ein

Problem darstellen könnte: »To music is to take part, in any capacity, in a musical performance,

whether by performing, by listening, by rehearsing or practicing, by providing material for

performance (what is called composing), or by dancing«30

, also »Musicking ist, in welcher

Eigenschaft auch immer an einer musikalischen Aufführung teilzunehmen, sei es durch Spielen,

Zuhören, Proben oder Üben, indem man Material für die Aufführung bereitstellt (was man

Komponieren nennt) oder durch Tanzen.« Dass das Tanzen in diese Reihe aufzunehmen ist, ist

schwer zu bestreiten, da es in vielen Kulturen (unsere eigene eingeschlossen) eine der wichtigsten

Verhaltensweisen zur Musik darstellt. Nur: Indem wir Tanz als Dimension des musicking

verstehen, schneiden wir Praktiken, in denen Musik und Tanz untrennbar miteinander verknüpft

sind, auf sehr spezifische Weise zu. Man könnte sie mit ebenso großer Berechtigung unter

dancing subsumieren und würde damit einen vollkommen anderen Schwerpunkt legen, in dem

Klanglichkeit ein Begleitaspekt von Bewegung wäre.

Vielleicht könnten wir uns auch einen Musikbegriff vorstellen, der nicht organisierte

Klanglichkeit, sondern rhythmisch-gestische kommunikative Körperbewegung als eigentlichen

Kern der Musik in den Mittelpunkt stellt; er hätte Anhalt in den protomusikalischen

Kommunikationsformen, die Trevarthen, Malloch und andere erforscht haben und wäre gar

nicht so weit entfernt vom klassisch griechischen Begriff der mousiké.31

Ob sich unser

Standardmodell derart verschieben lassen wird, kann vielleicht bezweifelt werden. Interessant

wäre eine solche Verschiebung nicht, weil sie die Struktur von Zentrum und Peripherie aufhebt

– das kann kein Begriff –, sondern weil sie das Zentrum verlagert und damit das ganze Feld neu

orientiert.

30 Small, Musicking, S. 9 (im Original kursiv). 31 Vgl. Frieder Zaminer, »Μουσική. Zur frühen Wort- und Begriffsgeschichte«, in: Albrecht Riethmüller (Hg.), Sprache und Musik. Perspektiven einer Beziehung, Laaber 1999, S. 157–163.

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Das bedeutet natürlich nicht, dass wir damit einen Kurzschluss zwischen dem Vor und einem

möglichen Nach der Musik herstellen können, als müsse man nun die Entwicklung der

westlichen Kunstmusik als bedauerlichen Irrweg erkennen und könne zu einem

ursprünglicheren Musikverständnis zurückkehren. Ein solcher Zug wäre schlicht reaktionär.

Vielmehr zeigt sich in den protomusikalischen Kommunikationsformen und in der

Ausdifferenzierung des Musikalischen ein Möglichkeitsraum, von dem aus ein Musikverständnis,

das um die liberal reformierte Idee der absoluten Musik zentriert ist, nur ein möglicher Weg ist.

Insofern geht es nicht um die Rückkehr zu einem phantasierten Ursprung, sondern um das

Gewinnen neuer Offenheit.

7.

Man könnte vielleicht an dieser Stelle einwenden, dass die Diskussion um die Dekolonisierung

der Musik andere Probleme hat. Es geht um die Aufwertung nicht-akademischer, populärer,

indigener Musikformen, die Frage der Aneignung minoritärer kultureller Praktiken durch den

Mainstream, die Anerkennung und Erforschung der Rolle von Musik im politischen Widerstand

etc. All dies nun nicht mehr Musik zu nennen wird keine dieser Fragen und keins dieser

Probleme lösen.

Wenn wir uns aber in einer grundsätzlichen Diskussion bewegen, können die Zweifel an der

Universalität bzw. Universalisierbarkeit des Begriffs der Musik nicht als irrelevant beiseitegelegt

werden. Die Forderung nach einer Provinzialisierung Europas erscheint mir unabweisbar, und

gerade auch die Philosophie muss sich ihr stellen. Das aber bedeutet, dass es rein systematische

Fragen nicht mehr gibt. Es reicht auch nicht aus, sich um historische Tiefe zu bemühen – was

traditionellerweise damit gleichbedeutend ist, die eigene Vorgeschichte zu reflektieren –, und

auch nicht, lediglich einen bunten Strauß an kultureller Diversität versammeln. Stattdessen ist die

Aufgabe, ernsthaft an der eigenen Dezentrierung zu arbeiten bzw. mitzuarbeiten, denn allein

können wir sie nicht vollziehen.

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Die Frage sollte von daher weniger sein, ob eine bestimmte Praxis Musik »ist«, sondern was es

mit ihr und ihrem Verständnis macht, wenn sie im institutionellen und diskursiven Feld der

Musik stattfindet, was geschieht, wenn wir etwas als Musik bezeichnen und es so in einen

bestimmten Vergleichshorizont rücken, der mit TMI, Werk- und Ausdrucksbegriff deutliche

Gravitationszentren hat. Natürlich kann der Musikbegriff auch strategisch eingesetzt werden, um

interessante Reibungen und Interferenzen zu produzieren. Darüber hinaus ist die Frage der

Institutionen, die ich hier ganz ausgespart habe, in Bezug auf die künstlerische Produktion der

Gegenwart zumindest genauso wichtig wie das Selbstverständnis und die diskursive Verortung

der Produzent*innen bzw. sie ist untrennbar mit ihnen verflochten.

Was also bedeutet das für die Musikphilosophie? Man kann sich an einer Philosophie des

Musikalischen als Kommunikationsform versuchen oder sich mit möglichst weitem Blick der

zeitgenössischen Situation der Musik im künstlerischen Feld zuwenden. Oder man fokussiert

sich auf spezifische musikalische Figurationen, ohne diese Spezifik zu verschleiern, oder

untersucht Übergänge und Transformationen, oder man arbeitet aktiv an der Figuration eines

Nach der Musik mit. Diese möglichen Musikphilosophien werden aus guten Gründen davon

Abstand nehmen, eine Philosophie »der Musik« formulieren zu wollen, und sich für

Herausforderungen von den Rändern her offenhalten, Cavells Einschätzung folgend, dass diese

vermeintlichen Ränder für die Sache zentral sind. DIE MUSIK in Großbuchstaben, unsere große

westliche Tradition, die das nicht verdrängbare Zentrum des Musikbegriffs bildet und Kadens

Wohnzimmer möbliert, sollte dabei zumindest philosophisch deutlich weniger wichtig

genommen werden.

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Musikliste

1. Galina Ustvolskaya: Préludes, No. 1 2. Maximilian Marcoll: Amproprification #6.1: Kyrie, Missa Papae Marcelli, Giovanni Pierluigi da Palestrina (2016) Privataufnahme des Komponisten 3. Helmut Lachenmann: Kinderspiel, 1. Hänschen klein Yukiko Sugawara, Klavier 4. Ryoji Ikeda: Contexture, von: 0°C, Touch 7130088 (1998) 5. Black Dice: Island, von: Creature Comforts, DFA Records 2137 (2004) 6. Aka Pygmys: Bossobe, von: Pierre-Laurent Aimard / Aka Pygmys: African Rhythms, Teldec Classics 8573 86584-2 (2003) 7. Jennifer Walshe: Anonymous: Gregorian Chant, Mass for Christmas Day, Introit: Puer Natus Est Nobis, von: A Late Anthology of Early Music, Vol. 1: Ancient to Renaissance, Tetbind Records 212 (2020) 8. Hannes Seidl: Heroes, aus: Für uns. Für uns, aufgenommen von Hannes Seidl und Julia Mihály (2020) Privataufnahme des Komponisten