Nachbarn Nr. 1/2016

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Nachbarn Familie ist kein Luxus! Die Armutszahlen zu Familien in der Schweiz sind beunruhigend: Rund eine Viertelmillion Eltern und Kinder sind arm. Schuld daran ist auch die vernach- lässigte Familienpolitik. Luzern Nr. 1 / 2016

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Das Magazin der Caritas Luzern zur Familienarmut

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Nachbarn

Familie ist kein Luxus!Die Armutszahlen zu Familien in der Schweiz sind beunruhigend: Rund eine Viertelmillion Eltern und Kinder sind arm. Schuld daran ist auch die vernach-lässigte Familienpolitik.

Luzern Nr. 1 / 2016

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Inhalt

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Inhalt

Schwerpunkt

Familie ist kein Luxus!

Familie darf kein Luxus sein. Und dennoch: Kinder zu haben, ist in der Schweiz ein Ar-mutsrisiko. Aktuelle Studien zeigen, dass Familien mit Kindern häufi ger in die Ar-mutsfalle geraten als ihre kinderlosen Mit-bürgerinnen und Mitbürger. So sind eine Viertelmillion Eltern und Kinder in der Schweiz arm. Besonders häufi g betroff en sind Einelternfamilien. Julia ist alleinerzie-hende Mutter und lebt mit ihrem Sohn seit bald zehn Jahren in prekären Verhältnissen. Ihre Lebensgeschichte führt vor Augen, wie ermüdend und endlos der Kampf gegen die Armut sein kann.

ab Seite 6

Für Familienarmut darf es in der Schweiz keinen Platz geben. Caritas fordert deshalb ein Umdenken in der Familienpolitik.

Editorial

3 von Thomas Thali Geschäftsleiter Caritas Luzern

Kurz & bündig

4 News aus dem Caritas-Netz

Schwerpunkt

6 Der lange Weg zurück ins Leben

Schwerpunkt

10 Familienarmut ist ein Problem

Persönlich

13 Was bedeutet dir deine Familie? Sechs Antworten

Regional

14 Working Poor mit Familie Was es heisst, trotz Volltätigkeit zu wenig zum Leben zu haben.

18 Immer wieder: Wohnen!

19 Mittendrin und nicht dabei

20 Damit das Miteinander gelingt Wo Caritas Luzern auch nach 2016 tätig ist.

21 Gesunde Ernährung darf kein Luxus sein

Kiosk

22 Muss ich die Sozialhilfe zurückzahlen?

Gedankenstrich

23 Armut fühlt sich anders an

Inhalt

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Liebe Leserin, lieber Leser

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In unserer Arbeit begegnen wir tagtäglich der Armut in unter-schiedlichster Form. Was uns immer wieder betroffen macht, ist der Zusammenhang von Familie und Armut. Es ist unfass-bar, dass in der reichen Schweiz 250'000 Eltern und Kinder in Armut leben.

In einer Familie zu leben ist etwas ungemein Bereicherndes. Partnerschaftliche Beziehungen zu pflegen, gemeinsam Schwierigkeiten zu überwinden oder besondere Erlebnisse zu teilen, gehört zu den alltäglichen Familienerfahrungen und macht eine Familie zu etwas ganz Speziellem. Die Familie ist aber nicht nur Ort individuellen Wohlbefindens und Rückzugs, sondern auch zahlreicher gesellschaftlicher Aufgaben und Leistungen. Hier werden Kinder grossgezogen, entwickeln jun-ge Menschen ihre Fähigkeiten und Potenziale und lernen, Ver-antwortung für sich und andere zu übernehmen. In der Familie wird der Sinn für Gemeinschaft und Solidarität gebildet. Hier werden Kranke und Ältere betreut und gepflegt. Hier findet ein emotionaler Ausgleich zum Erwerbsleben statt. Die Familie si-chert die wirtschaftliche Existenz ihrer einzelnen Mitglieder. Von diesen Leistungen profitiert die ganze Gesellschaft.

Jeder Mensch in Armut sollte uns betroffen machen, aber auch zum Nachdenken anregen. Wenn armutsbetroffenen Famili-en verunmöglicht wird, ihre gesellschaftliche Leistung zu er-bringen, wird uns das in Zukunft grosse Kosten verursachen. Gefragt ist mehr wirtschaftliches Denken in der Sozialpolitik. Jetzt investieren und später sparen. Damit könnten wir die Spi-rale der Armut durchbrechen. Und jeder Mensch, der eine neue Perspektive hat, ist ein Gewinn für uns alle.

Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre.

Editorial

«Nachbarn», das Magazin der regionalen Caritas-Organisationen, erscheint zweimal jährlich. Gesamtauflage: 38 970 Ex.

Auflage LU: 9 200 Ex.

Redaktion: Urs Odermatt (Caritas Luzern)Bojan Josifovic (national)

Gestaltung und Produktion: Urs Odermatt, Sina Bucher

Druck: Stämpfli AG, Bern

Caritas LuzernBrünigstrasse 25, Postfach6002 LuzernTel.: 041 368 51 00www.caritas-luzern.chPC 60–4141-0IBAN CH84 0900 0000 6000 4141 0

Thomas ThaliGeschäftsleiter Caritas Luzern

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Kurz & bündig

Kirchliche Sozialarbeit verstärkt

Drei neue Standorte im AargauDie Synode, das Aargauer Kirchenparlament, hat die Gesamtplanung zur Kirchli-chen Sozialarbeit für den Kanton Aargau genehmigt. Operativer Partner bei der Umsetzung ist Caritas Aargau.

Bis in wenigen Jahren soll kirchli-che Sozialarbeit in Form von Kirch-lichen Regionalen Sozialdiensten fl ächendeckend im ganzen Kan-ton Aargau angeboten werden. Umgesetzt wird dieses Gemein-schaft sprojekt von der röm.-kath. Landeskirche, dem Bistum, Kirch-gemeinden, Pfarreien und Caritas Aargau. Das Hilfswerk führt diese Stellen und das Personal und ge-währleistet im ganzen Kanton zeit-gemässe fachliche Standards und Methoden.Die Umsetzung schreitet rasch vo-ran. So wurden per 1. April 2016 in Wohlen und Bremgarten neue Standorte eröff net, Mitte Jahr kommt Brugg dazu. Damit sind bereits acht von zehn geplanten Standorten realisiert. Die Kirchli-chen Regionalen Sozialdienste bie-ten ergänzend zu anderen Stellen Sozialberatung in verschiedenen Sprachen an, realisieren Projekte und leisten Sensibilisierungsarbeit zu sozialen Fragestellungen.

www.caritas-aargau.ch

Vergünstigte Freizeitaktivitäten

KulturLegi ThurgauCaritas Thurgau bietet ab Frühsommer die Kul-turLegi an. Nutzen können diese Menschen mit schmalem Budget aus dem Kanton Thurgau.

«Schmales Budget, volles Programm» lautet das Leitmotiv der KulturLegi, das neu auch im Kanton Thurgau gilt. So hat Caritas Thurgau zahlreiche Veranstalter davon überzeugen können, das Projekt zu unterstützen. Konkret können ab diesem Frühsom-mer Menschen mit schmalem Budget eine KulturLegi bei Cari-tas Thurgau beantragen. Sie profi tieren dank lokaler und über-regionaler Veranstalter von stark vergünstigten Angeboten aus den Bereichen Theater, Kino, Bibliothek, Museum, Sport und Bildung.Caritas Thurgau konnte mit den Zusagen von verschiedenen Supporterinnen und Supportern die fi nanziellen Ressourcen für das Jahr 2016 sichern. Die Unterstützung erlaubt es dem Hilfs-werk, die KulturLegi zu lancieren sowie die Projektleitung zu einem Pensum von 20 Stellenprozenten einer Fachfrau zu über-geben. Die Einführung der KulturLegi Thurgau wird im Rahmen einer kleinen Festlichkeit gefeiert.

www.caritas-thurgau.ch

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Kurz & bündig

Ganz nah bei den Betroffenen

Mobile Sozial-beratung in ZürichIn der Region Zürich Nord unterstützt Caritas Zürich armutsbetroffene Fami-lien, indem sie in Quartierzentren Sozial-beratungen anbietet.

In Zürich Nord leben zahlreiche armutsbetroff ene Familien zurückgezogen in ihren Siedlungen. Sie nehmen die Hilfsangebote der Regelstruktur aus verschiedenen Gründen nicht in Anspruch, verfügen über ein knappes Budget, pfl egen kaum Beziehungen zu ihrem Umfeld und sind oft mit der Alltagsbewäl-tigung überfordert. Diese Familien möchte Caritas Zürich erreichen, sie entlasten und gemeinsam mit ihnen Perspektiven entwickeln. Dazu hat Caritas Zü-rich im vergangenen Herbst die «Mobile Sozialbera-tung» ins Leben gerufen.

Seitdem besucht eine Sozialberaterin von Caritas Zürich wöchentlich jeweils drei Quartierzentren in Zürich Schwamendingen und nimmt sich Zeit für die anwesenden Familien.Die Kontaktaufnahme ist unkompliziert: Mütter oder Väter sprechen die Beraterin unverbindlich an, wenn sie Fragen haben oder Hilfe benötigen. Im Gespräch stellt sich heraus, wie die Beraterin die Familie unter-stützen kann. Ihr Ziel ist klar: Sie will die Betroff enen ermutigen, ihre eigenen Ressourcen und Handlungs-möglichkeiten zu nutzen, um ihre Situation nachhal-tig zu verbessern.

www.caritas-zuerich.ch

NEWS30 Jahre Caritas Bern

1986 wurde Caritas Bern als Fachstelle für Diakonie der röm.-kath. Landeskirche gegründet. Aus einer Or-ganisation mit zwei Angestellten ist bis 2016 ein über 100-köpfi ger Betrieb und damit eine der wichtigsten sozialen Organisationen im Kanton Bern entstanden. Caritas Bern bietet heute zahlreiche Hilfsangebote für armutsbetroff ene Menschen an und nimmt Mandate im Auft rag der öff entlichen Hand wahr. Im Jubiläums-jahr führt Caritas Bern verschiedene Aktivitäten durch, unter anderem mehrere öff entliche Anlässe und eine Plakatkampagne. www.caritas-bern.ch

Treff punkt Olten

Caritas Solothurn hat im Dezember einen Treff punkt für Flüchtlinge und Asylsuchende in Olten eröff net. Freiwillige betreiben diesen in den Räumen der Pfarrei St. Martin Olten. Jeden Freitagnachmitt ag ab 14 Uhr gibt es Kaff ee und Tee, Spiele und Informationen. Es ergeben sich Gespräche, Fragen werden gestellt und diskutiert. Die Freiwilligen sorgen dafür, dass eine At-mosphäre des Willkommens besteht. Sie unterstützen zudem die Asylsuchenden und Flüchtlinge bei der Kon-taktaufnahme mit der einheimischen Bevölkerung. www.caritas-solothurn.ch/fl uechtlinge

Tagung Familienarmut im Kanton Luzern

Caritas Luzern organisiert im Rahmen der Kampagne «Mitt endrin und nicht dabei» eine Austauschtagung. Diese will verschiedene Akteure über Tendenzen, Zah-len, Fakten und Massnahmen im Kanton Luzern infor-mieren und über die Alltagsrealitäten und Konsequen-zen für die Betroff enen sensibilisieren. Die Tagung fi ndet am 19. September 2016 im Quartierzentrum «DerMaiHof» in Luzern statt .www.caritas-luzern.ch/nicht-dabei

Koordinationsstelle Flüchtlinge in St. Gallen

Im Auft rag des Bistums St. Gallen hat Caritas St. Gal-len-Appenzell eine Koordinationsstelle geschaff en, welche für die katholische Kirche wesentliche Aufga-ben im Bereich der Flüchtlingshilfe übernimmt. Aktuell koordiniert Caritas die Hilfsangebote in den Pfarreien und stellt die direkten Kontakte zu Be hörden, Gemein-den und Kantonen sicher. Caritas vermitt elt Hilfsange-bote unkompliziert und zielgerichtet, damit sie am richtigen Ort zum Einsatz kommen. www.caritas-stgallen.ch

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Rubrik

Ein Leben in Armut bringt Eltern an den Rand der Verzweifl ung und lässt Kinderträume platzen.

Für ihren Sohn zog Julia einen Schlussstrich: Sie trennte sich von ihrem Ehemann. Doch damit geriet sie in den unbarmherzigen Sog der Armut.

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Schwerpunkt

Mit gesenktem Kopf geht sie langsamen Schrittes zum Eingangstor. Einzelne Strähnen ihrer langen Fransen kle-ben ihr im Gesicht, ihre Augen sind geschwollen, ihr Gesicht glänzt blass,

ist gezeichnet von schlafl osen Nächten. Sie betritt die psychiatrische Klinik und blickt in einen weitläufi gen Raum. Sie bleibt stehen, schliesst die Augen. Hundert Gedanken schiessen ihr durch den Kopf, treiben ihren Puls in die Höhe und versetzen ihr Stiche ins Herz. Die Lebensenergie ist aus ihr gewichen, Körper und Seele sind gebrochen, Freunde haben sich abgewendet, fi -nanziell ist sie ruiniert. Ihren 12-jährigen Sohn muss-te sie beim Exmann zurücklassen, dem sie nicht mehr über den Weg traut. Sie weiss: Sie ist am tiefsten Punkt angelangt. Verliebt und glücklich durchs LebenAls 21-Jährige verabschiedete sich Julia* von ihren El-tern und ihrer Heimat im Westen Deutschlands und brach mit drei Bananenkisten nach Zürich auf. Ihr damaliger Arbeitgeber hatte in der Zürcher Agglome-ration eine Textilfabrik eröff net und Julia als Textil-designerin engagiert. Julia verliebte sich in das neue

Zuhause. Sie ging off en auf Mitmenschen zu, war kre-ativ, abenteuerlustig und neugierig. Ihr Freundeskreis wuchs. Ferien verbrachte sie mit Reisen, immer mitten rein in fremde Kulturen, nah an fremden Menschen. Eines Tages verreiste sie ans Rote Meer. Am Strand entspannte sie im Liegestuhl, schlürft e einen Cosmo-politan und fl irtete mit dem attraktiven Hotelange-stellten – einem arabischen Junggesellen, der ihr Herz in Windeseile eroberte. Der seiner Heimat den Rücken kehrte, um bei ihr zu sein. Den sie heiratete, um unzer-trennbar zu bleiben. Der Tag und Nacht Deutsch lern-te, um in der Schweiz Fuss zu fassen. Monate und Jahre vergingen. Julia arbeitete unter-dessen als Filialleiterin eines internationalen Textil-designgeschäft s und führte ein sechsköpfi ges Team. Ihr Ehemann genoss ein ausgezeichnetes Renommee als Golflehrer. Gemeinsam entschieden sie sich, eine Golfschule zu eröff nen. Das Business boomte, das Geld fl oss, sie lachten viel, waren glücklich, reisten häufi g nach Ägypten zu seiner Familie. Julia wurde schwan-ger. Sie hing ihren Job als Filialleiterin an den Nagel, um mehr Zeit für die Familie zu haben. Doch just in dem Moment, als das Familienglück perfekt schien, schlug das Schicksal mit voller Härte zu.

Der lange Weg zurück ins LebenJulias Leben lag in Trümmern. Was war passiert? Das Schicksal schlug zu und die Probleme häuften sich – bis die lebensfrohe Mutter erschöpft zusammenbrach.

Text: Bojan Josifovic Symbolbilder: Zoe Tempest

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Schwerpunkt

Als die Abwärtsspirale einsetzte Die Matratze in ihrem Zimmer ist unbequem hart, aber Julia geniesst die Stille in der Klinik. Sie weiss sich in guten Händen. Den ganzen Tag umschwirren sie Spezialisten in ihren weissen Kitteln. Sie machen ihr Hoff nung, hauchen ihr Lebensmut ein, vertreiben die Suizidgedanken und weisen ihr den Weg. Doch was war passiert, dass ihr Leben nun in Trümmern lag?

Fünf Tage nach der Geburt verstarb ihr Baby. Eine Welt ging unter, die jungen Eltern litten, kämpft en, litten noch mehr. Die Wunden heilten nur langsam, doch ga-ben sie den Traum einer eigenen Familie nicht auf. Zwei Jahre später erfüllte sich dieser, Julia gebar einen gesunden Sohn. Doch die Beziehung zu ihrem Ehe-mann hatte Kratzer abbekommen. Sie bemühten sich zwar, das Bild einer glücklichen Familie zu erhalten. Doch lief vieles schief: Vertrauen wurde missbraucht, Beschuldigungen ausgesprochen, Tränen vergossen, Leid und Schmerz zugefügt. Für Julia wurde das Ehe-leben mehr und mehr zur Qual. Sie fand Zufl ucht in einer gefährlichen Essstörung: regelrechte Fressatta-cken verdoppelten ihr Gewicht. Ihr Sohn Fynn*, unter-

dessen im Schulalter, verlangte viel Aufmerksamkeit, reagierte sensibel auf Stimmungsschwankungen, weinte häufi g, kränkelte andauernd. In der Schule kam er nicht nach. Julia erkannte, dass das Umfeld weder für sie noch für ihren Sohn gesund war. Sie trennte sich von ihrem Ehemann. Befreiungsschlag endet in IsolationJulia, die Geschäft sführerin, Kulturinteressierte und Abenteurerin, war nun ohne Beruf, ohne Partner, ohne Freunde, ohne Geld und ohne Bleibe. Die gemeinsame Wohnung war zu teuer, sie musste umziehen. Ihr Sohn zog sich zurück. Er verweigerte anfangs den Kontakt zum Vater, entwickelte psychische Störungen, zehrte an den Nerven und der Energie seiner Mutter. Julia be-warb sich als Putzfrau, um nur stundenweise arbeiten und möglichst viel Zeit ihrem Sohn widmen zu kön-nen. Fynn, damals kurz vor der Pubertät, sollte nicht bemerken, dass sie kaum Geld zum Leben hatten. Die Alimente des Exmannes reichten nicht aus. Julia kauf-te in Secondhandläden und Brockenstuben ein, achte-te auf Rabatte in Discountern, ging nicht aus, lernte keine neuen Freunde kennen, isolierte sich gänzlich.

Julias Sohn sollte nicht bemerken, dass sie kaum Geld zum Leben hatt en. Sie waren auf fremde Hilfe angewiesen.

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Schwerpunkt

Ihre Eltern legten mit ihrem dunkelblauen VW, vollbeladen mit Nahrungsmitteln und Haus-haltsartikeln, mehrmals die 750 Kilometer von ihrem Wohnort in Deutschland zu ihrer Tochter in der Schweiz zurück. Julia war nun vollends auf fremde Hilfe angewiesen. Sie wendete sich ans Sozialamt und suchte mit ihrem Sohn Rat bei verschiedenen Pädagogen und Therapeuten. Ihr Exmann setzte ihr weiter zu, übte Druck aus. Also erkämpft e sie das alleinige Sorgerecht vor Gericht, um sich und ihren Sohn zu schüt-zen. Doch die soziale Isolation, der fi nanzielle Ruin, die körperlichen Anstrengungen und die psychischen Probleme forderten endgültig ih-ren Tribut: Erschöpfungsdepression.Julia gab zum ersten Mal im Leben auf. Sie ver-schloss sich in den eigenen vier Wänden, öff -nete monatelang die Post nicht, denn die Mah-nungen und Betreibungen erdrückten sie. Nur für Fynn kämpft e sie sich aus dem Bett, berei-tete ihm Frühstück zu, kauft e das Nötigste an Nahrungsmitteln ein. Fynn war ihr einziger Le-benssinn. Sie war andauernd müde, antriebslos, verzweifelt. Sie hatte das Leben satt und wurde deshalb in eine psychiatrische Klinik eingewie-sen.

Hoffnung auf ein besseres LebenZwei Jahre ist es her, seit Julia nach kurzem Aufenthalt aus der Klinik entlassen wurde, ih-ren Sohn beim Exmann abholte und in die eige-ne Wohnung zurückkehrte. Täglich musste sie danach der Klinik telefonieren, um zu bestäti-gen, dass es ein guter Tag war, dass es sich zu leben lohnte. Heute geht es ihr besser. Sie nimmt an einem Berufsintegrationsprogramm von Caritas teil, um eine feste Tagesstruktur zu haben. Ihr Kör-per ist noch angeschlagen, doch hat sie mit ärzt-licher Hilfe ihr Gewicht von 110 Kilos beinahe halbiert. Fynn ist zum Jugendlichen herange-wachsen und sucht gerade eine Lehrstelle als Pfl egefachmann. Das Geld ist weiterhin knapp, Julia lebt von der Sozialhilfe und spart bei ihren Bedürfnissen, um ihrem Sohn ein normales Le-ben zu ermöglichen. Vor vielen Jahren wurden ihr Hoff nung und Vertrauen genommen. Müh-sam hat sie sich beides wiedererkämpft und wünscht sich nun einen Neuanfang: arbeiten gehen, fi nanziell unabhängig leben, den Weg in eine bessere Zukunft für Fynn ebnen, sich ver-lieben und das Leben endlich wieder geniessen.

* Namen zum Schutz der Personen geändert, Symbolbilder

LEBENSSITUATION VERBESSERN Eine Scheidung ist ein Armutsrisiko. Was raten Sie Mütt ern, die vor der Scheidung stehen?Eine gute Vorbereitung ist elementar. Neben all den emotionalen Aspekten, die verständlicherweise oft im Vordergrund stehen, sind insbesondere organisatori-sche Fragen wichtig. Denn plötzlich muss die Familie mit dem bisherigen Budget zwei Haushalte fi nanzieren. Das ist für alle eine Herausforderung. Ausserdem ist eine rechtliche Beratung zum Thema Scheidung/Trennung sehr hilfreich. Dafür vermitt eln wir jeweils an entspre-chende Fachstellen.

Was sind die grössten Herausforderungen für armuts-betroff ene Familien?Die knappen fi nanziellen Ressourcen sind sicher das grösste Problem; nicht zu wissen, ob das Geld bis Ende Monat ausreicht. Eine unerwartete Zahnarztrechnung kann da zur grossen Belastung werden. Weiter macht sich eine Perspektivenlosigkeit breit, die häufi g zu Span-nungen innerhalb der Familie sowie zu psychischen Pro-blemen führt. Auch tun sich die Eltern schwer damit, dass sie ihren Kindern nicht alles bieten können. So bleibt ihnen der Zugang zu Kultur, Sport oder Bildung häufi g erschwert.

Wie helfen Sie diesen Familien in der Beratung?Gemeinsam mit der Familie analysiere ich ihre Lebens-umstände und zeige ihnen Perspektiven auf. Es gibt im-mer Wege, die Situation zu verbessern. Häufi g sind aber einige Hürden zu nehmen. Ich mache die Familien auf Angebote von Caritas oder anderen Institutionen auf-merksam, die ihnen Zugang zu günstigen Lebensmitt eln, Haushaltsartikeln oder Freizeitaktivitäten ermöglichen. Auch berate ich die Familien in Bezug auf ihre Budgetsi-tuation oder innerfamiliäre Konfl ikte und leiste punktu-ell fi nanzielle Unterstützung.

«Ich zeige Perspektiven auf.»

Judith Meier Inhelder ist Geschäft sführerin von Caritas Thurgau. Als ausgebildete Sozial-pädagogin FH berät sie armuts-betroff ene Menschen aus dem Kanton Thurgau, die sich an Caritas wenden.

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Schwerpunkt

Die Armutszahlen zu Familien in der Schweiz sind beunruhigend. Rund eine Viertelmillion Eltern und Kinder sind arm. Jede vierte Grossfamilie mit drei oder mehr Kindern und sogar jede dritte Einelternfa-

milie ist von Armut bedroht. Diese Familien leben nur leicht – manchmal lediglich hundert Franken pro Mo-nat – über der Armutsgrenze. Es ist nicht übertrieben, zu sagen: Kinder zu haben, ist ein Armutsrisiko.

Familie erfüllt gesellschaftliche AufgabeDie Gesellschaft hat hohe Anforderungen an Familien, selbst an diejenigen, die unter prekären Umständen le-ben. Die Familie soll die wirtschaft liche Existenz aller Familienmitglieder sichern, die Kinder erziehen und bilden sowie die Älteren pfl egen und betreuen. Leider geht vergessen, dass häufi g die Rahmenbedingungen nicht gegeben sind, damit Familien diese gesellschaft -lichen Aufgaben übernehmen können.

Familienarmut ist ein ProblemEine Familie zu haben, darf kein Luxus sein. Doch zeigen aktuelle Studien in der Schweiz, dass das Armutsrisiko bei Erwachsenen steigt, sobald sie Kinder bekommen. Schuld daran trägt auch die vernachlässigte Familienpolitik.

Text: Marianne Hochuli, Leiterin Bereich Grundlagen bei Caritas Schweiz Illustration: Daniel Rött ele

��� ����Eltern und Kinder

in der Schweiz sind arm.

�����der Sozialhilfeempfänger sind

unter 18 Jahre alt.

� � � der Bevölkerung sind armutsgefährdet – das sind über 1 Million Menschen.

������der Alleinerziehenden

sind von Armut bedroht.

����� der Familien mit drei oder mehr Kindern sind arm

oder leben knapp über der Armutsgrenze.

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Schwerpunkt

So ist es insbesondere für Mütter weiterhin schwierig, Berufs- und Familienarbeit zu vereinbaren. Ein wich-tiger Grund ist, dass in der Schweiz die Familie vorwie-gend als Privatsache betrachtet wird. In diese hat sich der Staat nicht einzumischen. Entsprechend fallen die staatlichen Ausgaben im Familienbereich im europä-ischen Vergleich tief aus. Eltern müssen hier für die familienexterne Betreuung zwei- bis dreimal mehr be-rappen als anderswo, weil die öff entliche Hand Kinder-krippen wenig subventioniert. Familien mit kleinem Einkommen stossen an ihre fi nanziellen Grenzen und können sich eine Fremdbetreuung kaum leisten.

Politik hinkt hinterherJüngst hat es zudem die Politik versäumt, entschei-dende Lösungsansätze auf nationaler Ebene zu ver-wirklichen, um Familienarmut zu bekämpfen und ihr vorzubeugen: Der Familienartikel, der die Vereinbar-keit von Beruf, Ausbildung und Familie fördern soll-te, scheiterte im März 2013 trotz eines Volksmehrs an den Ständen. Auch die schweizweite Einführung von Familienergänzungsleistungen, welche Familien vor dem Gang aufs Sozialamt bewahren, war im Parlament nicht mehrheitsfähig.

Der Bund delegiert die Verantwortung für die Famili-enpolitik vorwiegend an die Kantone. Diese wiederum verzichten teilweise auf nötige Investitionen. Sie er-lassen sogar Sparprogramme, welche die Familien im Kern treff en. Beispielsweise haben die Kantone inner-halb der letzten drei Jahre 170 Millionen Franken an individuellen Prämienverbilligungen gestrichen.

Die familienpolitischen Ansätze in den Kantonen gleichen einem Flickenteppich, eine Gesamtübersicht fehlt. Nur allmählich wächst das Bewusstsein, dass Familienpolitik kein «Gärtlidenken» erlaubt. Es ist eine Gesellschaft spolitik, die unterschiedliche Berei-che wie Sozial-, Bildungs-, Gesundheits-, Wirtschaft s- und Wohnraumpolitik umfasst. Für Caritas ist es in-akzeptabel, dass so viele Familien in der Schweiz in Armut leben. Dies könnte verhindert werden – mit ei-ner umfassenden Familienpolitik.

Klare ForderungenFür Familienarmut darf es in der Schweiz keinen Platz geben. Cari-tas fordert deshalb ein Umdenken in der Familienpolitik. Diese soll Armut verhindern sowie bekämp-fen und sich an drei Pfeilern ori-entieren: Existenzsicherung, Ver-einbarkeit von Beruf und Familie sowie Chancengerechtigkeit.

Drei PfeilerLücken in der Existenzsicherung sind zu schliessen. So sollen Er-gänzungsleistungen für Familien schweizweit eingeführt werden. Diese verbessern die fi nanzielle Situation von armutsbetroff enen Familien entscheidend und redu-zieren ihre Abhängigkeit von der Sozialhilfe. Die Geschäft swelt ist aufgefordert, moderne Arbeitsmodelle anzubie-ten, welche die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen. Parallel dazu gilt es, preisgünstige Angebote der familienexternen Be-treuung fl ächendeckend sicherzu-stellen. Eine gute Ausbildung sowie ge-zielte Weiterbildung sind wichtige Voraussetzungen für ein ausrei-chendes Erwerbseinkommen. Es braucht deshalb insbesondere in der Sozialhilfe und der Arbeits-losenversicherung weitsichtige Bildungsmassnahmen und ein begleitendes Coaching. Auch ist es wichtig, bereits bei den Kleinen anzusetzen. Der Zugang zu früher Förderung ist entscheidend für ei-nen fairen Start ins Leben. Zudem sollen Jugendliche keine Sozialhilfe beziehen müssen, sondern mittels Stipendien und Begleitung geför-dert werden.

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Persönlich

Helena (13) aus Tagelswangen: «Einige Kinder bekommen alles, weil sich ihre Eltern das neuste iPhone, Klavierstunden, Inlineskates oder Tennisunterricht leisten können. Während andere Familien arm sind und fast nichts ha-ben. Ich fi nde das unfair. Alle Kinder sollten die gleichen Chancen haben.»

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Persönlich

Toni Bucher, pensionierter EDV-Experte und innovage-Berater, LuzernFamilie ist für mich ein kostbarer Schatz auf Lebenszeit und sicht-barer Lebenssinn. Der Zusam-menhalt muss nicht zwingend

durch Blutsverwandtschaft entstehen, sondern kann auch auf Gemeinsamkeiten oder erlebter Geschichte gründen. Die Unterstützung meiner Töchter mittels Betreuungsarbeit lässt mich meine Welt nochmals ganz neu entdecken – durch die Augen der Enkelkin-der. Das ist ein Gewinn für alle drei Generationen.

Mario Frei, Musiker und Tontechniker, EngelburgMeine Familie ist wohl der wich-tigste Teil meines Lebens. Sie unterstützt, berät und trägt mich in jeder Situation. Zu meiner Fa-milie gehören nicht nur meine

Frau, unsere beiden Kinder, meine Mutter und mei-ne Grossmutter, die mir viel bedeuten. Alle meine Freunde, die mich so akzeptieren, wie ich bin, sind für mich ebenfalls Teil meiner Familie. Ich bin über-zeugt: Ich habe die beste Familie der Welt.

Celine Pletscher, in Ausbil-dung, LanzenneunfornFür mich bedeutet die Familie, dass wir füreinander da sind. Dies in guten und in schlechten Zeiten. Es heisst, dass wir uns gerne ha-

ben auch dann, wenn wir uns heft ig auf die Nerven gehen. Wichtig ist auch ein Rückzugsort. Mit der Familie möchte ich es auch gerne lustig haben und manchmal etwas zusammen unternehmen.

Was bedeutet dir deine Familie?

Antworten von Passantinnen und Passanten aus der Deutschschweiz.

Dr. Elena Pribytkova, Juristin an der Universität Basel, aus SevastopolMeine Familie ist meine Heimat, meine Verbindung mit der Kultur und den Traditionen der Vorfah-ren, mein Stolz und meine Stüt-

ze. Das sind meine liebsten Menschen, die an mich glauben und mich in allem unterstützen. Das ist das Haus, in dem man immer auf mich wartet und wohin ich immer wieder zurückkomme. Meine Familie ist das Kostbarste, was ich habe.

Cosmo Tsoungui, Sechstklässler, Zürich Meine Familie ist für mich das Wichtigste auf der Welt! Ich will sie immer beschützen, schätzen und niemals verlieren. Und wenn

ich einmal gross bin, möchte ich ein guter Papi sein.

Abdirisaq Igal Mahamoud, lebt seit als Flüchtling in der SchweizMeine Familie bedeutet ganz viel für mich. Ich habe Somalia vor mehr als zehn Jahren verlassen. Manchmal raubt mir die Erinne-

rung an meine Familie den Schlaf. Ich habe telefoni-schen Kontakt zu meiner Familie, aber sehe sie dabei nicht. Kürzlich habe ich ein Foto von meiner Mutter erhalten. Ich habe sie nicht wiedererkannt.

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Caritas Sektion

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Caritas Luzern

Die kleinste Tochter ver-steckt sich schüchtern hinter dem Rücken ih-res Vaters. Sie ist 6-jäh-rig und macht erst nach

einer Stunde den Mund auf. «Aha! Du kannst ja sprechen!“» tue ich er-staunt und kann ihr doch noch ein Lächeln entlocken. «Sie ist nur bei Fremden so zurückhaltend, daheim ist sie sehr lebendig», sagt Herr B., und damit sind wir schon mitten im Thema. Die Familie mit drei Kindern im Alter von 6 bis 12 Jah-ren lebt in einer kleinen Dreizim-merwohnung, ohne Balkon oder Garten. Die Kids teilen sich zu dritt ein Zimmer, viel Platz zum Spielen bleibt da nicht. «Im Sommer gehen wir oft nach draussen, auf einen Spielplatz oder an den See. Jetzt im

Winter ist die Situation für die Kin-der mühsam, wir sitzen alle sehr eng aufeinander.» Herr B. ist vor rund 20 Jahren aus der EU in die Schweiz gekommen und hat bald Arbeit gefunden. Zuerst bei einem Landsmann, der ein Spezialitäten-geschäft betrieben hat, später in di-versen Restaurants.

Wenigstens eine AnstellungSeit mehr als 10 Jahren steht er hinter dem Buffet des gleichen Be-triebs in der Agglomeration von Luzern. Er nimmt Bestellungen entgegen, wäscht Gläser und Tas-sen, hat ein Auge auf die Anrichte und sorgt für Sauberkeit und Ord-nung. Von 17 Uhr bis nach Mitter-nacht, fünf bis sechs Tage die Wo-che, am Wochenende hat er immer

Dienst. Wenn Hochbetrieb ist, wird er zusätzlich aufgeboten und muss länger bleiben. «Mein Traumjob ist das nicht. Aber immerhin ist es eine Anstellung», sagt er. Herr B. hat ein gewinnendes Lächeln, sein Deutsch ist recht gut. Die Arbeit verrichtet er zuverlässig, die Che-fin ist zufrieden mit ihm, und doch: Sie bezahlt ihn schlecht, sein Lohn ist im untersten Bereich. Sein mo-natliches Einkommen beträgt net-to 4100 Franken, alles inbegriffen (Kinderzulagen, 13. Monatslohn). Davon gehen schon nur für die Mie-te und die Krankenkasse fast 1600 Franken drauf, auch mit Prämien-verbilligung. Lebensmittel kauft die Familie oft im Caritas-Markt und donnerstags erhalten sie in der Markuskirche Lebensmittel mit der

Working Poor mit FamilieHerr B. arbeitet Vollzeit. Sein Lohn ist so tief, dass das Geld trotz allen Bemühungen hinten und vorne nicht für die fünfköpfige Familie reicht.

Text: Christine Weber Symbolbilder: Kellenberger Kaminski

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Caritas Luzern

«Tischlein deck dich»-Karte. Die Kleider erhalten sie von Verwand-ten und ab und zu benutzen sie die KulturLegi und kaufen Kleider oder Schuhe im Laden von Caritas Wohnen. Ferien liegen keine drin und irgendwelche Extras für die Freizeit auch nicht. «Die Kinder be-kommen das am Rande mit. Gerade wenn andere von ihren Ferienplä-nen erzählen, sind sie manchmal schon traurig und merken, dass bei uns etwas anders ist als in anderen Familien», erzählt Herr B., der noch kein einziges Mal alleine oder mit der Familie in Urlaub gefahren ist.

Grosse Arbeit, kleiner LohnBei einem so kleinen Lohn helfen weder ein sorgfältiges Budget noch der haushälterische Umgang mit Geld – es reicht für eine fünfköpfige Familie schlicht nicht für einen ei-nigermassen adäquaten Lebensun-terhalt. «Ende Monat ist kein Geld mehr da. Ich muss fast immer mei-nen Arbeitskollegen um eine Über-

brückung bitten. Und das ist mir jedes Mal genau gleich peinlich. Aber anders geht es nicht», sagt Herr B. Schlimm wird es, wenn un-vorhergesehene Kosten wie zum Beispiel eine Zahnbehandlung oder der Selbstbehalt der Krankenversi-cherung dazukommen. Manchmal, wenn Herr B. nicht weiterweiss, geht er zu Caritas Luzern in die Be-ratung. Dort hilft man der Familie zwar so gut wie möglich, aber nach-haltig kann auch sie nichts an der Situation ändern. «Wir stellen ab und zu ein Gesuch für die Kosten-übernahme bei Extraausgaben wie bei den oben erwähnten Beispielen. Aber das ist nur ein Tropfen auf den heissen Stein: Dieser Lohn ist ein-fach zu klein für fünf Personen», sagt die zuständige Sozialberaterin der Caritas. Sie kennt und schätzt die Familie mit den herzigen Kin-dern und weiss um deren Sorgen und Nöte. «Gemeinsam überprü-fen wir regelmässig das Haushalts-budget der Familie. Aber da gibt es

schlicht und einfach nirgends mehr Möglichkeiten zum Sparen.» Für Herrn B. sind die Beratungen bei Caritas nicht nur wegen der kleinen Zustupfe wichtig. Hier ist für ihn auch eine Anlaufstelle, um jeman-dem von seinen Sorgen erzählen zu können. «Über unsere finanzi-ellen Probleme kann ich sonst mit kaum jemandem sprechen. Und manchmal tut es einfach gut, wenn jemand zuhört und zu helfen ver-sucht.»

Ohne Chancen für die ZukunftHerr B. ist ratlos, wie er seine Si-tuation verbessern könnte. Viel-versprechende Optionen gibt es für den Familienvater tatsächlich nicht. Zwar habe er sich schon oft auf andere, etwas besser bezahlte Stellen beworben. Aber den Zu-schlag hat er nie bekommen und heute ist er entsprechend resig-niert. Ein Zusatzverdienst von seiner Frau ist kaum realistisch. Sie lernt Deutsch, ist jedoch ge-

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Caritas Luzern

sundheitlich angeschlagen. Darum hat sie auf dem Arbeitsmarkt kaum Chancen. «Manchmal macht es mich wütend, dass ich so viel arbeite und so wenig verdiene. Aber reklamieren darf ich nicht, ich bin von meiner Chefin abhängig und auf diese Stelle angewie-sen.» Vor zwei Jahren hat sich eine Arbeitskollegin ein-gesetzt, damit Herr B. eine Lohnerhöhung bekommt. Die Chefin hat sich durchgerungen und den Lohn um 150 Franken heraufgesetzt. Nach all den Jahren kon-tinuierlicher Arbeit im gleichen Betrieb ist das alles andere als grosszügig. Die Familie von Herrn B. gilt als Working Poor und sie ist leider bei weitem nicht die einzige. In vielen Gastro- und anderen Betrieben sind die Löhne für Hilfsarbeitende oft zu tief, die Arbeits-zeiten unregelmässig und die Arbeit streng. Das führt zu grossen Belastungen der Betroffenen und ist somit auch ein guter Nährboden für gesundheitliche und psychische Probleme – ein Teufelskreis, aus dem der Ausweg immer schwieriger wird.

Wie Sie helfen können

Die Sozial- und Schuldenberatung Caritas Luzern berät Menschen in schwierigen Lebenssituationen, bietet Informationen zu finanziel-len und sozialen Fragen und ver-mittelt den Kontakt zu Fachstellen und Behörden. In Notlagen vermit-telt sie einmalige Finanzhilfen. Diese Not- und Überbrückungshil-fe können Sie unterstützen:

PC 60-4141-0 Vermerk «Nothilfe»

Unsere Unterstützungsangebote

Neben der Sozial- und Schulden-beratung hat Caritas weitere An-gebote zur Unterstützung von Menschen in finanzieller Not.

Die «mit mir»-Patenschaften hel-fen Familien in belastenden Situa-tionen und bieten Kindern aus schwierigen finanziellen oder sozi-alen Verhältnissen Erlebnisse und neue Beziehungen an. www.caritas-luzern.ch/mitmir

Mit der KulturLegi erhalten Men-schen mit wenig Geld Ermässigun-gen von 30 bis 70 Prozent auf An-gebote wie Konzert und Theater, aber auch auf Sportveranstaltun-gen und Weiterbildungsangebote.www.kulturlegi.ch/zentralschweiz

Die Caritas-Märkte bieten ver-günstigte Grundnahrungsmittel, Frischprodukte wie Früchte und Gemüse und Dinge des täglichen Bedarfs zu günstigen Preisen. Unterstützen Sie uns mit einer Pa-tenschaft «Pro Caritas-Markt»! (vgl. S. 21) www.caritas-luzern.ch/markt

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Caritas Luzern

Immer wieder: Wohnen!Es ist ein immer wiederkehrendes Thema für Menschen mit wenig Einkommen: Eine günstige Wohnung findet sich nur durch Zufall. Und das Risiko, sie zu verlieren, droht stets.

Text: Urs Odermatt Bild: Conradin Frei

Wenn Wohnungen saniert werden, sind sie plötz-lich zu teuer, und einen

günstigen Ersatz zu finden, ist fast unmöglich. Da rückt man halt zu-sammen.

Frau C. hat psychische Probleme. Immer wieder kommt es zu Strei-tigkeiten mit dem Vermieter, bis dieser ihr die Wohnung kündigt. Sie findet auch nach längerem Su-chen keine Lösung, schliesslich kommt sie auf dem Bauernhof des Bruders unter. Die Wohnsituation bleibt prekär, der Hof liegt weitab und die Bausubstanz des Wohn-hauses ist schlecht.

Herr A. arbeitet schon mehrere Jahre in der Schweiz, er lebt in ei-ner kleinen Zweizimmerwohnung. Endlich kann er seine Familie nachkommen lassen, seine Frau und seine zwei Kinder. Sein Ein-kommen ist klein, er findet kei-ne geeignete Wohnung zu einem tragbaren Preis. So lebt die Famile in zwei Zimmern, mit einer engen Toilette und integrierter Dusche.

Es sind oft auch Brüche im Leben, die Auswirkungen auf die Wohnsi-tuation haben. Wie etwa bei Frau S., alleinerziehend mit ihrer klei-nen Tochter. Sie musste sich von ih-rem Ehemann und Vater der Toch-ter trennen, die Einkünfte wurden kleiner, die Miete zu teuer. Frau S.

bezieht jetzt wirtschaftliche Sozial-hilfe, aus der Wohnung müsste sie ausziehen. Der Mietzins übersteigt die vom Sozialamt festgelegte Limi-te massiv, sie ist für diese Gemein-de extrem tief angesetzt. So ist es praktisch aussichtslos, eine billige-re Wohnung zu finden. Einen Teil der Miete bezahlt jetzt Frau S. aus

dem Grundbedarf, dem Geld, das für den täglichen Lebensunterhalt für sie und ihre Tochter gedacht ist.

Es kommt immer wieder vor, dass Einzelpersonen oder Familien in Wohnungen leben, deren Mieten deutlich über den Limiten der Er-gänzungsleistungen oder der je-weils gültigen Sozialhilfe liegen.

Bei den Ergänzungsleistungen sind die Mietzsinslimiten zwar in Revi-sion und sollten bald angepasst werden.

Ein grösseres Problem zeigt sich bei der Sozialhilfe. Zu tiefe Miet-zinslimiten in etlichen Gemeinden haben einerseits eine abschrecken-

de Wirkung auf potenzielle Bezü-gerinnen und Bezüger von wirt-schaftlicher Sozialhilfe, anderseits müssen Betroffene deutliche Ein-bussen beim Grundbedarf in Kauf nehmen, wenn sie von der Sozial-hilfe abhängig werden.

Eine geeignete Wohnung zu finden, ist gerade für Alleinerziehende schwierig.

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Kinder zu haben, ist in der Schweiz ein Armutsrisiko. Besonders gefährdet sind Al-

leinerziehende und Familien mit drei und mehr Kindern. Rund eine Viertelmillion Eltern und Kinder leben heute unter der Armutsgren-ze. So sind Familien mit drei oder mehr Kindern mehr als doppelt so häufig von Armut betroffen wie kin-derlose. Hier trifft es jede sechste Familie. Ein Drittel aller Sozialhil-febeziehenden sind Kinder und Ju-gendliche. Auch im Kanton Luzern ist die Armut von Familien eine Re-alität. Laut dem Statistischen Amt wurden im Jahr 2014 insgesamt 8469 Personen mit wirtschaflicher Sozialhilfe unterstützt. Ein Drittel davon sind Kinder und Jugendliche bis zu 17 Jahren.

Die Caritas Luzern ist in der täg-lichen Arbeit besonders häufig mit Familienarmut konfrontiert. Neben Familien, die Anrecht auf Sozialhilfe haben, sind es oft Wor-

king-Poor-Familien, die sich mehr schlecht als recht über Wasser hal-ten. Das äusserst knappe Budget, häufig verbunden mit einer Schul-denspirale, hat grossen Einfluss auf die Entwicklung der Kinder. Budgetbelastend sind immer wie-der die Krankenkassenprämien und die jährlich höhere Schwelle zu den Prämienverbilligungen.

Familienarmut muss zum Thema werdenMit der aktuellen Kampagne will die Caritas Luzern für die Proble-matik sensibilisieren. Sie bietet Pfarreien, Vereinen und Gemein-den Fachwissen und Materialien an, um Familienarmut zu thema-tisieren und erfahrbar zu machen.Eine Tagung im September vermit-telt Informationen und Wissen zu Familienarmut im Kanton Luzern, bietet eine Diskussionsplattform und ermöglicht Vernetzung.www.caritas-luzern.ch/nicht-dabei

Mittendrin und nicht dabeiArmut bei Familien ist auch im Kanton Luzern eine Realität. Die aktuelle Kampagne der Caritas Luzern will für die Problematik sensibilisieren.

Text: Urs Odermatt Bild: KellenbergerKaminski

FAMILIENARMUT IM KANTON LUZERNTagung am 19. September 2016

13.30–17.30 Uhr «Der MaiHof», LuzernDie Tagung vermittelt Zahlen, Fak-ten und aktuelle Entwicklungen zur Familienarmut in der Schweiz und im Kanton Luzern.

ReferentinnenBettina Fredrich, Leiterin Fachstel-le Sozialpolitik, Caritas SchweizEdith Lang, Leiterin Dienststelle Soziales und Gesellschaft Kanton Luzern

Workshop-BlockGegenseitiger Austausch mit Sichtweisen und Problematiken aus der Praxis

Anmeldungwww.caritas-luzern.ch/nicht-dabei

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Soziale und berufliche Integration wird durch Bildung und Sprachförderung möglich. Die frühe Förderung von Kindern hilft, Defizite zu vermeiden. Freiwilligen-projekte bauen Brücken.

Der Dolmetschdienst unterstützt Fachstellen mit Dol-metschenden in rund 50 Sprachen. Die interkulturell Vermittelnden sind zudem in der Fach- und Bildungs-arbeit tätig.

Beratung bei Schulden und sozialen Fragen hilft, das Leben wieder aus eigener Kraft zu meistern. Coaching und Standortbestimmung in beruflichen Fragen för-dern den Wiedereinstieg.

In den Programmen zur beruflichen Integration für versicherte Erwerbslose und Ausgesteuerte bieten Werkstätten und Betriebe realistische Arbeitsbedin-gungen.

Damit das Miteinander gelingtNach Abgabe der Aufträge im Asylwesen wird die Caritas Luzern Ende 2016 bedeutend kleiner. Doch es bleiben wesentliche Aufgaben. Weiterhin engagiert sie sich mit einer breiten Palette von Angeboten in der beruflichen und sozialen Integration.

Bilder: Priska Ketterer, Pia Zanetti, Jutta Vogel

Caritas Luzern

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Diverse Studien zeigen einen Zu-sammenhang zwischen Einkom-men und Ernährungsweise be-ziehungsweise Übergewicht und sozialer Herkunft auf. Gerade Kin-der leiden oft ein Leben lang un-ter den Folgen der Fehlernährung. Hier setzen die Caritas-Märkte an, indem sie armutsbetroffenen Men-schen helfen, sich mit wenig Geld gesund, frisch und ausgeglichen zu ernähren. Im Caritas-Markt kön-nen Menschen mit niedrigem Ein-kommen einkaufen. Dazu müssen sie nur die KulturLegi-Karte, wel-che von Sozialdiensten, verschie-denen Beratungsstellen und natür-lich der Caritas ausgestellt wird, vorweisen.

Die Caritas-Märkte in Luzern, Sur-see und Baar sind ansprechend eingerichtet und haben nebst Le-bensmitteln auch Hygiene- und Haushaltsartikel im Sortiment. Wie ein ganz normaler Super-markt eben, jedoch mit einem we-sentlichen Unterschied: Die ange-

botenen Waren sind rund um die Hälfte günstiger. Einerseits kauft die Caritas selber Produkte ein und verkauft diese im Laden zum Einstandspreis. Und andererseits stammen die Produkte von gross-zügigen Herstellern aus Überbe-ständen, weisen Mängel wie etwa

eine falsche Etikette oder eine leicht schadhafte Verpackung auf.

Im Caritas-Markt Luzern können Jugendliche eine Attestausbildung machen und Erwerbslose mit ei-nem Arbeitseinsatz ihre Chancen für den Wiedereinstieg in den Ar-beitsmarkt verbessern.

Möglich ist dies dank all jenen, die das Projekt «Pro Caritas-Markt» mit einer Patenschaft unterstüt-zen. Sie leisten damit einen bedeut-samen Beitrag zur Chancengleich-heit – auch in Gesundheitsfragen.

Herzlichen Dank, auch im Namen der Betroffenen!

Gesunde Ernährung darf kein Luxus seinDie Patenschaft «Pro Caritas-Markt» ermöglicht armutsbetroffenen Menschen den Zugang zu gesunden und frischen Produkten.

Text: Sina Bucher Bild: Urs Siegenthaler

Caritas Luzern

PATENSCHAFT «PRO CARITAS-MARKT» Menschen in Not brauchen Vitamin B

Helfen Sie mit nur 1 Franken pro Tag! Übernehmen Sie eine Patenschaft «Pro Caritas-Markt», damit auch armutsbetroffene Menschen in Ihrer Region gesund und günstig einkaufen können. Mit dem beigelegten Einzahlungsschein können Sie Ihren Patenschaftsbeitrag direkt überweisen. Nach Erhalt Ihrer Zahlung von 90, 180 oder 360 Franken senden wir Ihnen die Unterlagen für eine regelmässige Unterstützung zu. Weitere Informationen finden Sie auch im beigelegten Flyer oder unter www.caritas-luzern.ch/patenschaft

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Kiosk

AGENDAVereinsversammlung am 7. Juni

«Der MaiHof» ist erneut der Treffpunkt für die Vereinsversammlung der Caritas Lu-zern. Vereinsmitglieder sind zum statutari-schen Teil auf 16 Uhr eingeladen. Der zweite Teil ab 17.30 Uhr ist öffentlich und beleuch-tet Aspekte des vergangenen Jahres. Der Jahresbericht 2015 wird wieder online pub-liziert und ist ab Anfang Mai aufgeschaltet. Eine Einladung folgt.www.caritas-luzern-jb.ch

«nextbike» neu auch in Hergiswil

Diesen Frühling ist das «nextbike», das at-traktive Veloverleihsystem, in die 7. Saison gestartet. Mit dabei ist neu auch die Ge-meinde Hergiswil mit zehn Standorten. Da-neben stehen auch in Luzern mit Kriens, Horw und Emmen sowie in Sursee nextbikes zur Ausleihe bereit. Pendler, Stadtbewohner/-innen, Park&Ride-Kunden sowie Touristinnen und Touristen können so an über 75 Stationen vom günstigen, un-komplizierten Verleih mit rund 250 Velos profitieren.www.nextbike.ch

«Familienarmut» im Kanton Luzern

Die Tagung findet am 19. September statt. Weitere Infos finden Sie auf Seite 19.www.caritas-luzern.ch/nicht-dabei

Vorschau: Luzerner Theatergala

Am 28. Oktober findet die 23. Theatergala statt. Sie ist ein Höhepunkt des kulturellen Lebens und ein zentraler Anlass für ein kari-tatives Engagement im Kanton. Merken Sie sich schon jetzt das Datum vor, eine Einla-dung folgt im Sommer. www.caritas-luzern.ch/theatergala

Caritas-Restaurant A15

Hinter der Hofkirche befindet sich im Haus der Caritas Schweiz an der Adligenswiler-strasse 15 das Restaurant A15. Es ist öffent-lich zugänglich und lädt zum Essen und Ver-weilen ein. Wenn es Frühling wird, ist ein Aufenthalt auf der Terrasse besonders at-traktiv.Weitere Infos und Menuplan unter:www.caritas-restaurant.ch

MITGLIEDSCHAFT Seit zwei Jahren können Einzelpersonen Mitglied bei der Caritas Luzern werden und so Armutsbetroffene in der Zentralschweiz un-terstützen und die Geschicke des Vereins mitbestimmen. Die Mit-gliedschaft steht Institutionen und Einzelpersonen offen, die die In-halte des Leitbildes teilen. Ab Fr. 50.– sind Sie dabei. Weitere Informationen und direkte Anmeldung unter www.caritas-luzern.ch/mitgliedschaft

Liebe Caritas, muss bezogene Sozialhilfe zurückgezahlt werden?

Grundsätzlich ja. Doch fehlt in der Schweiz eine einheitliche gesetzliche Regelung für die Sozialhilfe. Die einzige nationale Referenz sind die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos). Diese haben jedoch blossen Empfehlungs-charakter. Jeder Kanton, teilweise jede Gemeinde, kann somit selbst festlegen, ob und wie viel Sozialhilfe zurückgezahlt wer-den muss. Und genau das wird getan.

Die Skos-Richtlinien sehen eine Rückerstattung der Sozialhilfe vor, aber nur wenn die Bezügerin oder der Bezüger von einem grösseren Vermögensanfall profi tiert, etwa von einer Erbschaft oder einem Lotteriegewinn. Natürlich auch dann, wenn die Leis-tungen widerrechtlich bezogen wurden. Hingegen empfehlen die Richtlinien, dass auf eine Rückerstattung aufgrund späteren Erwerbseinkommens verzichtet werden soll, um die wirtschaft -liche Unabhängigkeit der Betroff enen nicht zu gefährden. Die Handhabung in den Kantonen variiert stark: Im Kanton Genf wurde die Rückerstattung gänzlich abgeschaff t, während sich der Kanton Bern an den Skos-Richtlinien orientiert. Die Sozial-ämter in St. Gallen, Thurgau oder Aargau entscheiden aufgrund der «Zumutbarkeit». Der Ermessensspielraum ist gross, wes-halb für die Sozialhilfebeziehenden häufi g nicht nachvollziehbar ist, weshalb sie die bezogenen Leistungen zurückzahlen müs-sen.

Die ungleiche Handhabung auf kantonaler Ebene ist für die So-zialhilfeempfängerinnen und -empfänger nicht fair. Caritas for-dert deshalb ein Rahmengesetz auf Bundesebene, das nicht nur die Rückerstattung, sondern generell die Sozialhilfe überkan-tonal regelt. Damit würde Rechtsgleichheit für alle Betroff enen gelten.

Haben Sie eine Frage an uns? Senden Sie diese per E-Mail an [email protected]. Gerne beantworten wir sie in der nächsten Ausgabe.

Kiosk

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Gedankenstrich

Armut fühlt sich anders an

Fa m i l i e n a r m u t . Ein Wort aus zwei Teilen. Kein Fremdwort. Und doch ein fremdes

Wort für mich. Ein Wort, mit dem ich keine Erfah-rung verbinde. Ich habe Familienarmut noch nie erfahren. Ich werde sie nie erfahren. Weil ich keine Fa-milie habe.

Natürlich habe ich eine Fa-milie. Es gibt Menschen, die für mich Familie sind. Aber ich habe keine Kinder. Bedeutet nicht Familienar-mut in erster Linie Kinder-armut, dass Kinder von der Armut ihrer Eltern be-trof-fen sind?

Ich war noch nie arm. Nicht als Kind. Nicht als Er-wachsene. Es gab Zeiten, als meine Einkünft e unter-halb der Armutsgrenze lagen. Aber ich habe mich nicht arm gefühlt. Ich war noch jung und hatte das Gefühl, mich im Übergang zu befi nden. Hatte eine Ausbildung und niedrige Fixkosten. War für niemanden verant-wortlich, ausser für mich. Ich habe wie eine Studentin gelebt. Wie eine Studentin ohne Kinder. Gesellschaft en defi nieren Armut. Aber Armut fühlt sich nicht immer gleich an.

Es ist möglich, dass ich mich einmal arm fühlen werde. Es ist denkbar, dass ich nicht vom Schreiben leben kann und keinen Job mehr fi nde, kein Aus-kommen. Dass ich krank werde, nicht ausreichend versichert bin, dass mein bisschen Erspartes aufge-braucht sein wird. Dass ich unter der Armutsgrenze leben muss, ohne mich wie eine Studentin fühlen zu können.Aber niemals werde ich kein Geld haben, um ein Geburtstagsgeschenk für mein Kind zu kaufen, ich werde nicht im Wohnzim-mer auf der Couch schla-

fen, damit meine Kinder in Betten liegen können, ich werde nicht Schulden machen müssen, um das Geld für die dringend notwendigen Medikamente vorstrecken zu können oder um ihre Nachhilfe zu fi nanzieren. Ich werde mir nicht überlegen, ob ich eine Beziehung mit einer Person eingehen soll, die ich schätze, aber nicht liebe, weil sie meine Kinder mag und wohlhabend ist. Ich werde mich nicht entscheiden müssen, ob ich der Tochter die Schulreise ermögliche oder das Fahrrad des Sohnes reparieren lasse. Meine Armut wird nur mich selbst betreff en. Und sie wird sich anders anfühlen. Familienarmut ist für mich nur ein Wort.

Ulrike Ulrich (48) lebt als freie Schrift stellerin in Zürich. Nach den Romanen «fern bleiben» und «Hinter den Augen» ist 2015 ihr erster Erzählband «Draussen um diese Zeit» erschienen. Sie ist Mitherausgeberin der Anthologie «60 Jahre Menschenrech-te – 30 literarische Texte» und engagiert sich für Schrift steller/-innen, die staatlichen Repressionen ausgesetzt sind. www.ulrikeulrich.ch

Illustration: Devika Hasler

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Menschen in Not brauchen Vitamin BDie Caritas Luzern hilft Menschen in Not. Und sie führt Caritas-Märkte in Luzern, Sursee und Baar für eine gesunde und günstige Ernährung. Das können Sie unterstützen: mit einer Projektpatenschaft. Mit 1 Franken pro Tag sind Sie dabei. www.caritas-luzern.ch/patenschaft PC 60-4141-0 Herzlichen Dank!