Nadja Capus · 2014-02-08 · trennt und letztere als V erbrechen gegen die Menschlich wurden und...
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Nadja Capus
Ewig still steht die Vergangenheit?
Der unvergängliche Strafverfolgungsan pruch nach schweizerischem Recht
ffi Stämpfli Verlag AG Bern · 2006
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Stämpfli Verlag AG Bern · 2006
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.BN 3-7272-9124-9
Dieses Buch ist während eines vom Schweizerischen Nationalf nds finanzier
ten Forschungsaufenthaltes am College de France in Paris entst nden.
V
VI. Verbrechen gegen die Menschlichkeit: unveijährbar, aber nicht verfolgt
VI. Verbrechen gegen die Menschheit: unverjährbar,
aber nicht verfolgt
Den Strafanspruch für Verbrechen gegen die Menschheit hat der Gesetzgeber in Art. 75bis Absatz 1 Ziffer 1 StGB für unvergänglich erklärt. Damit verjährt entsprechendes tatbestandsmässiges Unrecht nicht, und der Staat hat die Strafverfolgung auch noch nach Jahrzehnten aufzunehmen und Strafprozesse zu führen - sofern die mutmasslich verantwortlichen Personen noch am Leben sind.
Wie zuvor erwähnt359, hatte die Schweiz 1951 ihren Nicht-Beitritt zur Konvention der Verneinten Nationen zur Verhinderung und Repression von Genozid- Verbrechen damit begründet, dass sich solches in der Schweiz nicht zutragen könne und also ein Beitritt nicht notwendig sei .360 Das könnte sich als Irrtum erweisen, falls etwa das umstrittene, schweizweite Programm der Bekämpfung der Landstreicherei (Vagantität) und die damit verbundene Verfolgung von Jenischen Tatbestände der Verbrechen gegen die Menschheit erfüllen würden. Im folgenden Kapitel wird die aktuelle strafrechtliche Relevanz der damit verbundenen Handlungen und Unterlassungen geprüft.
Nach einer kurzen Einführung (1), in der der Kontext und der Gegenstand der Untersuchung erläutert werden, folgt die Prüfung des Tatbestandes der Unverjährbarkeit nach Art. 75bis Abs . 1 Ziff. 1 StGB (2.a). Dabei �ind in temporaler Hinsicht insbesondere die Rechtsfragen bezüglich Bezugsdaten und Übergangsregelungen zu beantworten (2.b). In einem weiteren Schritt wird beispielhaft und ohne Anspruch auf Vollständigkeit dargelegt, welche Delikte aus theoretischer Sicht tatsächlich unverjährt sind (3) . Dafür wird zuerst der Kontext der möglichen strafrechtlich relevanten Verhaltensweisen dargelegt (3.a) und ansebliessend juristisch bewertet (3.b). Danach werden die Schlussfolgerungen (4) gezogen.
1.
a.
Einführung
Sachverhalt
Als "Jenische" bezeichnen sich in der Schweiz, Deutschland und Österreich lebende Angehörige von Gruppen mit fahrender oder sesshafter Lebensweise,
359 Kapitel IV.4. 360 Bolle ZStrR 1977, S. 309.
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I
VI. Verbrechen gegen die Menschlichkeit: unverjährbar, aber mcnt ven01gr
die nicht Romanes sprechen. Es ist ein ethnischer Begriff361, wobei die Angehörigen der Bevölkerungsgruppe der Jenischen sowohl sesshafte wie auch halbsesshafte Kulturmuster praktizieren; einige wenige sind ganzjährig Fahrende. Das Reisen oder Fahren dient hauptsächlich der Ausübung ambulanter Gewerbe und erfolgt oft in Gruppen von zwei oder drei befreundeten Familien. Die meisten Jenischen, auch die sesshaft lebenden, haben Kenntnisse der jenischen Sprache. 362
Dahingegen wurde die Fremdbezeichnung "Zigeuner", die auf eine Vermengung der Roma mit der mittelalterlichen griechischen Sekte der Atsinganoi zurückgeht, in den ersten zwei Dritteln des 20. Jahrhunderts auch in der Schweiz als ethnographische bzw. anthropologische Kategorie verwendet, verbunden mit der Vorstellung, es handle sich dabei um eine eigene Rasse363; teilweise diente der Begriff auch als soziographische Kategorie, um eine Gruppe von Menschen und deren Lebensweise als deviant zu stigmatisieren. In diesem Sinn deckte sich die Zuschreibung nicht zwangsläufig und in jedem Fall mit der kulturellen Zugehörigkeit der betreffenden Personen.364
Die historische Forschung hat bisher - im Zusammenhang der Verfolgung der Jenischen in der Schweiz im Rahmen der Bekämpfung der Landstreichereiinsbesondere die Rolle der privaten Fürsorgestiftung "Pro Juventute " untersucht.365 Diese setzte ein nationales Programm zur Umerziehung fahrender oder jenischer Kinder in der Schweiz durch und richtete dazu ein spezielles " Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse" ein.366 Umerziehung bedeutete, dass die Kinder und Jugendlichen ihren Familien weggenommen und entfremdet, bei Pflegeeltern, in Waisenhäusern, Heimen, psychiatrischen Kliniken und Strafanstalten untergebracht wurden.367 Das Programm zeichnete sich durch die systematische Erfassung und Verfolgung aller Fahrenden aus, wobei der Familienname als Identifikationsmerkmal diente.368
Die Wegnahme erfolgte entweder aufgrund einer behördlichen Verfügung oder auf Zusehen hin, bei gleichzeitiger Einleitung von nachträglichen Verfahren zum Entzug der elterlichen Gewalt.369 Akteure waren neben den Ver-
361 Huonker, Ludi 200 1 , S. 1 3- 1 6. Zum Vernichtungsprogramm an den Zigeunern 1 939-1 945 in Deutschland: Auzias 1 999 oder Rose, Weiss 1 99 1 ; in Österreich: Freund 2003 , s. 263-295 .
362 Radgenossenschaft 1 990. 363 Freund 2003 , S. 264-267 . 364 Huonker, Ludi 200 1 , S . 1 3- 1 6. 365 Sablonier, Meier, Leimgrober 1 998. 366 Sablonier, Meier, Leimgrober 1 998, S. 26 367 Sablonier, Meier, Leimgrober 1 998, S . 41. 368 Sablonier, Meier, Leimgruber 1998, S. 33. 369 Sab1onier, Meier, Leimgrober 1 998, S . 34.
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antwortliehen der Fürsorgestiftung auch Beamte auf Bunde -, Kantons- und Gemeindeebene sowie andere Personen von Fürsorgeinst tutionen, Heime und weitere Privatpersonen, die dieses Programm aktiv u setzten, duldeten und unterstützten. Die Historiker verweisen diesbezüglich ausdrücklich auf eine Wissenslücke: "Die Verflechtungen zwischen der Pro tventute und den Kantonen, Bezirken und Gemeinden waren wesentlich inte1 siver als diejenigen mit dem Bund, weil die Gemeinden zuständig waren ··r die Vormundschaften und die verschiedenen Fürsorgeanstalten häufig kantonal geführt waren. In manchen Fällen vermittelte die Pro luventute bl ss oder gab den Anstoss für das Eingreifen der Behörden, ohne selbst die K der zu übernehmen. [ . . . ] Wie viele Kinder auf diese Weise plaziert wurd n, lässt sich aufgrund der Akten des «Hilfswerks» nicht eruieren "370.
Die Historiker haben aufgezeigt, dass nicht ein besseres Das in für die Kinder das Ziel war, sondern die Sesshaftmachung: Das Wandern Hein genügte als Grund für die Wegnahme der Kinder.371 Dabei ging man on nbar insbesondere aus psychiatrischer Sicht von einem "anererbten Wm dertrieb" aus.372 Massnahmen wie Kindswegnahme, Verwahrung, Sterilisi rung, Verhinderung von Eheschliessungen zwischen Jenischen, Forcier ng der Ehe mit nicht-jenischen Partnern sollten der Verbesserung des Erbgu es dienen.373
1 972 berichtete der "Schweizerische Beobachter" in mehre en Artikeln über das "Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse". In der F lge sah sich die Leitung der Pro Juventute gezwungen, das "Hilfswerk" 197 zu schliessen.374
b. Gegenstand und Gang der Untersuchung
Im Folgenden wird nicht auf Einzelfälle eingegangen, kön en nicht konkrete vorwerfbare Verhaltensweisen von einzelnen Personen unt r die damals geltenden Strafgesetze subsumiert werden. Dafür wären Nac forschungen und ein Studium von Akten notwendig, die nicht zugänglich s· d, da sie gernäss Anhang 3 der Verordnung zum Bundesgesetz über die Ar hivierung375 einer aussergewöhnlich langen Schutzfrist von 100 Jahren unterli gen.376
Es wird hier ausschliesslich die wesentliche Voraussetz ng analysiert, die erfüllt sein muss, damit überhaupt Ermittlungsverfahren ingeleitet werden
370
371 372
373 374 375 376
Sablonier, Meier, Leimgrober 1 998, S. 56 . Sab1onier, Meier, Leimgrober 1 998, S . 27 . Sablonier, Meier, Leimgrober 1 998, S. 6 1 . Huonker 1 987, S . 20f. Vgl. dazu auch: Waltisbüh1 1 944, S . 1 59. Sablonier, Meier, Leimgrober 1 998, S. 82. SR 152. 1 1 Archivierongsverordnung (VBGA) vom 8. Septembe 1 999. Anzeige des Bundesarchivs: http : //virtor.bar.admin.ch/de/rec/the 1ei.aspx
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VI. Verbrechen gegen Oie JV!enscnuc.:HKt:lt: UIIYClJ<llU val, av�· ... -... . -··-·o·
können. Die allenfalls begangenen Delikte der Täter und ihrer Helfer sind
heute nur noch verfolgbar, wenn sie nicht verjährt sind. Es wird also die Fra
ge der Strafverfolgungsverjährung behandelt, deren Eintritt die Aufnahme
strafrechtlicher Prozesse von vomeherein ausschliessen würde377, da die pro
zessrechtliche Komponente der Verjährung eine Anhebung von Strafverfah
ren verhindert.378 Daraus folgt, dass aufgrund der erheblichen Zeitspanne, die
im Kontext der Verfolgung der Jenischen allenfalls begangenen Delikte, heu
te nur strafrechtlich relevant sind, wenn sie unter einen der unverjährbaren
Tatbestände fallen.
Sollte die Unverjährbarkeit mutmasslicher Delikte festgestellt werden, ist es
im konkreten Fall Aufgabe der Untersuchungs- und Anklagebehörden, die
Verdachtsgründe und das Beweismaterial zu untersuchen.379
2. Rechtsfragen
a. Der Tatbestand von Art. 75bis Absatz 1 Ziffer 1 StGB
Unvergängliche Strafansprüche existieren gernäss Art. 75bis Absatz 1 Ziffer 1
StOB für Verbrechen, die auf die Ausrottung oder Unterdrückung einer Be
völkerungsgruppe aus Gründen ihrer Staatsangehörigkeit, Rasse, Religion
oder ihrer ethnischen, sozialen oder politischen Zugehörigkeit gerichtet wa-
ren.
Diese in Ziff. 1 festgeschriebenen Delikte wurden in der bundesrätlichen
Botschaft Delikte oder Verbrechen gegen die Menschheit genannt.380 Auch in
den parlamentarischen Debatten ist die Differenzierung wieder zu finden:
unverjährbar sollen "Genozidfälle, Verbrechen gegen die Menschheit und
Kriegsverbrechen "381 sein. Roth und Jeanneret sehen darin eine schroffe
Gleichsetzung von Genozidverbrechen und crimes contre l'humanite.382
Es ist richtig, dass sich die Auffassung von Verbrechen gegen die Menschheit
seit 1 945 erheblich verändert hat. Wichtig ist dabei vor allem die Feststellung,
dass einerseits die Strafbarkeit des Völkermords von den Verbrechen gegen
377 Schmid 2004, S. 179 RN 539; zur Form vgl. FN 5 1 .
378 Trachsel 1 990, S . 43f.; Hauser, Schweri, Hartmann 2005 , S. 179 RN 1 5 zu den Fol-
gen.
379 Hauser, Schweri, Hartmann 2005, S. 1 40 RN 2 und S. 213ff.
380 Vgl. Überschrift von Abschnitt 3 1 2 der Zusatzbotschaft 1 977, S . 1 254.
381 Wortmeldung von Bundesrat Furgler in der Nationalratsdebatte, Amtliches Bulletin
vom 2 1 . Juni 1 979, S. 86 1 ; oder die Wortmeldung von Herrn Duboule, Berichterstat
ter der Kommission: .. [ . . . ] il s'agit veritablement de crimes qui peuvent aller jus
qu'au genocide [. . .]."Tm Nationalrat, Amtliches Bulletin vom 2 1 . Juni 1 979, S. 860.
382 Roth, Jeanneret 2002, S. 290.
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die Menschheit in internationalen Vertragstexten seit den trennt und letztere als V erbrechen gegen die Menschlich wurden und andererseits, dass sich auch das entspreche zept verändert und erweitert hat.383
990er Jahren abgeeit separat geregelt
e juristische Kon-
Offensichtlich bezeichnete der Begriff Verbrechen gegen die Menschheit bei Einführung der Unverjährbarkeit diejenigen Tatbestände, ie in Artikel II der Völkermordkonvention abschliessend384 aufgezählt sind385
a) die Ermordung von Mitgliedern einer Bevölkerungsgr 1ppe;
b) die schwere Beeinträchtigung der physischen oder eistigen Integrität von Mitgliedern der Gruppe;
c) die absichtliche Unterweifung der Gruppe unter E istenzbedingungen, die ihre vollständige oder teilweise Vernichtung zur F lge haben müssen;
d) Massnahmen zur Verhinderung von Geburten in der
e) die zwangsweise Verbringung von Kindern aus d r Gruppe in eine andere.
Im Folgenden ist deshalb zu unterscheiden zwischen de juristischen Konzept der Verbrechen gegen die Menschheit, das sich auf ie Tatbestände der Völkermordkonvention von 1 948 bezieht, und der juris ischen Konzeption von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, deren dog atischer Ursprung nach herrschender Lehre bei Grotius und ihre erste Posit vierung im Londoner Viermächteabkommen vom 8. August 1 945 (Nümbe ger Militärtribunalstatut) zu verorten sind.386 Abschnitt II, Art. 6 (c) di ses Statuts lautet: "CRIMES AGAINST HUMANITY: namely, murder, ext mination, enslavement, deportation, and other inhwnane[387] acts committ d against any civil-
383 Im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehe lige Jugoslawien von 1 993 (Art. 4 inkriminiert Völkermord, Art. 5 Verbrechen geg n die Menschlichkeit), im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda von 1 994 (Art. 2 behandelt den Völkermord, Art. 3 Verbrechen gegen die Menschlichke t) und schliesslich das Römer Statut zum Internationalen Strafgerichtshof von 1 998, i Kraft seit 1. Juli 2002 (Art. 6 Völkermord, Art 7 Verbrechen gegen die Menschlichk it).
384 Hübner 2004, S. 1 24. 385 Die Tatbestände der Völkermordkonvention sind in der Zusatz otschaft 1977, S . 1 254
abgedruckt. 386 Donnedieu de Vabres 1947, S. 1017 FN I; Bassiouni 1999, S. ff. 387 Zu den verschiedenen Sinninhalten des Begriffs "hwnanity" gl. Kapitel 11. 1 . Auch
als Adjektiv verwendet, gibt es die Unterscheidung "inhumm " und "inhumane"; in der Verwendung scheint es aber keine relevante Unterscheid ng zu geben (vgl. Oxford English Dictionary und Harrap' s Shorter Dictionnaire Fra c;:ais-Anglais , AnglaisFranc;:ais): beide Adjektive umschreiben ,.lacking tlze qualities if kidness and pity; not
caring about the sujfering of other people; veiJ• cruel", wo ei "inhuman" zudem
8 1
VI. Verbrechen gegen die Menschltch.kett: unverJanroar, aue• •ucm '""v'5'
ian population, before or during the war: or perse�ution� on politi�al, r�ci�l
or religious grounds in execution of or zn conne�tw� wzt!1 any crzme wzthz_n
the jurisdiction of the Tribunal, whether or not zn vwlatwn of the domestzc
[aw of the country where perpetrated."
Es ist überwiegen�e Lehre, d�ss G�
nozid eine spezifische Form dieser Verbrechen gegen dte Menschhchkett,
teilweise auch als Menschheitsverbrechen388 bezeichnet, darstellt.389 Tatsäch
lich haben einzelne Länder, zum Beispiel Frankreich (bis 1 994) und Kanada
(bis 2000), Genozid nicht speziell inkriminiert390, und der Vorwurf des Völ
kermords wurde bereits in den Nürnberger Prozessen unter dem Anklage-
punkt crünes contre l'humanite" erhoben.391 Inwiefern sich die Verbrechen "
'd 392 k gegen die Menschlichkeit von Völkermordverbrechen unterschet en , a�n
hier ausser Acht gelassen werden, da sich die folgende Untersuchung auf dte
Unverjährbarkeit der Delikte nach Art. 75b•s Absatz 1 Ziffer 1 StGB be-
schränkt.
In Bezug auf die darin verwendete Konzeption de_r Verbrechen �egen die
Menschheit ist es wichtig festzustellen, dass der Erfmder des Begnffs Geno
zid, Raphael Lemkin, trotz dieser BegriffswahP93, darunter nicht ausschliess
lich die unmittelbare Vernichtung eines Volkes verstand, sondern gene�ell
Taten wie zum Beispiel Vergewaltigungen, Zwangsinternierungen, Wirt
schaftliche Vernichtungsmassnahmen "u.dgl. barbarische Akte.
[. .. 1 g�ge� das Leben und die körperliche Unversehrtheit, gegen die körperlzche F_rezhezt
und die wirtschaftliche Existenzmöglichkeit des Menschen [ ... ]"), dte "�uf
die Ausrottung ethnischer, nationaler, konfessioneller, sozialer Menschhezts-
not human" meint. In den juristischen Vertragstexten finden sich beide Schreibwei
�en wieder, vgl. die englische Fassung des Römer Statuts: ,.Article 7 Crimes_ against
humanity, ( l)(k) Other inhumane acts [. . . ]" und ,.Article 8 War crimes, (2)(u) Tortu
re or inhuman treatment, including biological experiments;"
388 Stuby ( 1 995, s. 438f. und S. 445) verwendet die Begriffe Humanitäts- oder Mensch-
heitsverbrechen.
389 Donnedieu de Vabres 1 947 , S. 1 0 1 7 umschreibt ,.crilnes contre l'lzumanite" folgen-
derrnassen: ,. [ . . . ] [e recours, meme en temps de paix, ii des methodes d'extennination,
d'asservissement ou de persecution, employees pour des motifs raciaux, politiques ou
religieux, contre Ia vie, Ia sante, Ia liberte [. .. ]". Glaser 1 970, S. 100.
39° Ravigneaux 200 1 , S. 256ff.; Poilleux 200 1 , S. 263.
39! Hübner 2004, S. 58 . .
392 Shaw 1989, S . 803; Niggli 1 996, S. 256ff. und S . 260ff.; Vest ZStrR 1 999, S . 352ff.;
Stern 2002, S. VIIIf.; nach Cassese 200 1 , S. 253f. hat der Tatbestand des Genozids
schon bald einen selbständigen Status erhalten, was aus beweisrechtlicher Sicht wich
tig ist, da die Anklage keine weit verbreitete oder systematische Praxis beweisen
muss, um den Genozid-Nachweis zu erbringen.
393 Das englische Wort ,.genocide" leitete Lernkin aus dem griechischen Wort ,.gen�_s"
(Rasse, Stamm) und dem lateinischen Begriff "caedere" (töten) ab. Statt vteler: Hub-
ner 2004, S. 54; Hirschfeld 2003, S. 20ff.
82
gruppen " gerichtet sind, "mögen dieselben politischen, re igiösen oder sonstigen Beweggründen entspringen " . 394
Inwiefern die internationale Gemeinschaft für die Tatbest" de, die nicht auf die u?mittelbare Vernichtung einer Gruppe durch Tötung ielen, eine eigene Bezetchnung verwendet hat, ist schwierig zu eruieren. R olutionstexte der Vereinten Nationen, die sich auf die Völkermordkonventio beziehen, könnt�n die Vermu
_tung bestä�ken, dass zwischen Genozid und erbrechen gegen
dte Menschbett Untersehteden wurde: "Recalling [. .. ] the 1948 Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genoc 'de, providing for extradition and punishment of criminals and of persans wl have committed crimes against humanity "395. Allerdings müsste erst ausge chlossen werden dass mit "crimes against humanity " nicht die Verbrechen gen die Mensch� lichkeit gernäss Art. 6 (c) des Statuts des Nürnberger Milir gerichts gemeint sind. Dafür müsste wiederum der Status dieser Verbreche geklärt werden, der bis heute umstritten ist.396 Dies liegt jedoch ausserhalb es hier zu untersuchenden Problems.
Es geht jedenfalls nicht nur um Formen des Genozids, di auf eine direkte phys�sche Vernichtung zielen, da der Konventionstext auch ie Zufügung von phystschem oder seelischem Schaden397 (lit. b), die Verbind rung von Geburten (lit. d) oder die zwangsweise Entfernung von Kindem a s ihre ursprünglichen Gruppe und ihre Verbringung in eine andere Grupp (lit. e) anführt. �an ist
_geneigt, aufgrund dieses letzten Tatbestandes, wel her in Bezug auf
dte Praxts der Wegnahme von Kindem aus jenischen Famili n relevant ist, zu folgern, dass die Völkermordkonvention damit auch den "k tlturellen " Genozid erfasse.398 Diese Interpretation ist aber umstritten399, we l die Analyse der
394 Alle Zitate sind einem Aufsatz von Lernkin aus dem Jahre 1 33 entnommen: So wiedergegeben bei Hübner 2004, S . 49. Zu Lernkin's These, vgl. evene 2005 , S . 42-5 1 .
395 s o zum Beispiel die Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen 2583 (XXIV) vorn 1 5 . Dezember 1969. http://da cessdds.un.org/doc/ RESOLUTION/GEN/NR0/257 / 1 7/IMG/NR0257 1 7 .pdf?OpenEle ent
396 Niggli 1 996, S. 260-262. 397 Die Zusatzbotschaft 1 977, S. 1 254 übersetzte ,.geistige Integritä ", so heute noch in
der französischen und italienischen Fassung des schweizeris hen Gesetzes (SR 0.31 1 . 1 1 ) : ,.l'integrite physique oumentale". In der deutschen Fa sung des schweizerischen Gesetzes wurde die Übersetzung von Deutschland (vgl. übner 2004, S. 103) der englischen Fassung übernommen: ,.hann" wurde als Schade und ,.mental" mit seelisch übersetzt.
398 Gschwend 2002, S. 383 in Bezug auf Aktionen innerhaJb des Pro rarums "Kinder der Landstrasse": "Dies ist die tatbestandsmässige Variante des kt Iurelien Genozids" unter Hinweis auf Schabas 2000, S . 178, welcher wiederum die nsicht der australischen "Human Rights and Equal Opportunities Commission" zitiert, wonach die
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VI. Verbrechen gegen die Menschlichkeit: unverjährbar, aber nicht verfolgt
Entwicklung des Konventionstextes eindeutig aufzeigt, dass der kulturelle Genozid aus dem Konventionstext gestrichen worden ist. Der Text ist in drei Entwürfen entstanden: der erste Entwurf des Sekretariats der Vereinten Nationen, der von Lemkin, Donnedieu de V abres und Pella ergänzt wurde, unterschied zwischen physischem, biologischem und kulturellem Genozid.400 Unter kulturellem Genozid wurde verstanden: Zwangsumsiedlung von Kindem, Verbot der Sprache, Zerstörung historischer und religiöser Denkmäler sowie Büchern und sonstiger Kunstwerke einer Gruppe.401 Der zweite Entwurf, von einem Sonderausschuss erarbeitet, unterschied zwischen physischem und biologischem Völkermord einerseits und kulturellem Genozid andererseits.402 Die gewaltsame Überführung von Kindern von einer Gruppe in eine andere wurde jedoch in keinen dieser summarischen Tatbestände aufgenommen.403 Im letzten Entwurf, jenem des Rechtsausschusses, kam es zur letzten Änderung: einerseits wurde der Artikel, der den kulturellen Völkermord definiert hatte, ersatzlos gestrichen, andererseits die zwangsweise Entfernung und Überführung von Kindem dank der Intervention Griechenlands wieder aufgenommen.404 Seither ist es eine umstrittene Frage, aber in diesem Fall unerheblich, ob die Täterschaft mit Erfüllung dieses Tatbestands eine Absicht des biologischen oder des kulturellen Genozids manifestiert. Eindeutig ist jedenfalls, dass eine solche Verhaltensweise den Zweck verfolgt, die Nachfahren der attackierten Gruppe andersartig zu sozialisieren und von der ursprünglichen Gruppe zu entfremden.
Des Weiteren stellt sich die Frage, inwiefern die innerstaatliche Klassifikation der Delikte relevant ist. Tatsächlich nimmt die Völkermordkonvention keine Einschränkung vor, sondern unterstellt generell alle Handlungen der Bestrafungspflicht, welche die erwähnten Tatbestände lit. a-e erfüllen.
Demgegenüber erwähnt der schweizerische Gesetzestext nur Verbrechen. Nach Wortlaut des Gesetzes sind nur solche Delikte unverjährbar, die mit Zuchthausstrafen bedroht sind405, während mit Gefängnisstrafen bedrohte
zwangsweise Wegnahme von indigenen Kindem mit dem Ziel sie in die nicht
indigene Gemeinschaft zu integrieren " [. .. ] so that their unique cultural values and
ethnic identities would disappear [ .. . ] is genocidal because it aims to destroy the ,cul
tural unit' which the Convention is concerned to preserve. "
399 Jurovics 2002, S. 305 geht unberechtigterweise soweit zu behaupten : "Le ,genocide
culturel' estjuridiquement w1 non-sens." Vgl. zu den Schwierigkeiten: Shaw 1 989, S .
809ff.; Shabas 2000, S . 175ff.
400 Hübner 2004, S. 65. 401 Hübner 2004, S . 67.
402 Shaw 1 989, S. 809.
403 Hübner 2004, S. 79f.
404 Schabas 2000, S. 175 . 405 Art. 9 Abs. 1 StGB.
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VI. Verbrechen gegen die Menschlichkeit: unve1jähr ar, aber nicht verfolgt
Delikte406 den üblichen Verjährungsfristen unterliegen u d also nicht mehr bestraft werden könnten.
Diese Beschränkung der Unverjährbarkeit auf Delikte, die das schweizerische Strafgesetzbu�� als
_ _Y�rbrechen ein�e�tuft hat, ist auf den Vorschlag der vor
beraten�.e� standeratliehen Komlllisswn zurückzuführen 407 Sie stand dem
bunde�ratli_chen Vorschlag zur Einführung der Unverjährb rkeit, wie erwähnt,
�hne�n lllit ernsten V�r�ehalten gegenüber.408 Der Bun srat hatte dagegen 1� semem Ent�urf e�pliz1t auch Vergehen miteinbezogen, weil Delikte gegen d1e Menschhe1t - w1e zum Beispiel Zwangsmassnahme zur Geburtenkontr_olle - offensic?tlich nicht nur durch Handlungen begang n werden könnten, d1e nach Schwelzer Strafgesetzbuch als Verbrechen klassi iziert sind, sondern ebenso durch blasse Vergehen.409
Vermutlich schwankte in der Folge die Regierung auf die Linie der Kommission ein, um die Vorlage nicht zu gefährden- vielleicht a eh im Bewusstsein dass die da�als geltende� Einstufungen von Verbreche und V ergehen i� Bezug auf d1e Gewaltdelikte ohnehin zur Revision ans anden. Tatsächlich fol_gte diese Revision wenige Monate später. Sie erhob n mentlich die Freiheitsberaubung vom Vergehen zum Verbrechen und war och vor Irrkrafttreten der Unverjährbarkeitsregel geltendes Recht.410
J?emnach läs�t sich die �nsicht vertreten, dass auch tatb standsmässige Delikt_e gegen d1e Menschheit gernäss Völkermordkonventio , die nach schweiz�nschem Strafrecht nur mit einer Gefängnisstrafe bedroh und also Vergehen smd, unter den Tatbestand der Unverjährbarkeit von Ve brechen gecren die Menschheit nach Art. 75b's Abs. 1 Ziff. 1 StGB subsumier werden kön�ten.
Zumindest drängt sich diese These aus völkerrechtlich Sicht auf, da die Bestrafungs- und Präventionspflicht gernäss der Völken ordkonvention die Unv
_erjährbar�eit
_sämtlicher Handlungen, also wohl auch von Vergehen, um
sc�hesst. Es 1st mcht konventionskonform, Handlungen v n der Bestrafungspflicht auszunehmen, weil sie verjährt sind. Folglich d""rfen die staatlichen Verjährungsfristen für sämtliche Handlungen cremäss de unbeachtlich ihrer staatsinternen Klassifikati;n - nicht diesem Sinn hat der Oberste Gerichtshof Argentiniens i
406 Vergehen, Art. 9 Abs . 2 StGB .
nwendbar sein. In Auslieferungsfall
407 Amtliches Bulletin der Bundesversammlung, Ständerat, 29. N verober 1 977, S. 634f. (Berichterstatter Leon Schlumpf).
408 Amtliches Bulletin der Bundesversammlung, Ständerat, 29. ovember 1977 , S . 6 1 7 (Wortmeldung Franeo Masoni); vgl. Kapitel V.2.
409 Zusatzbotschaft 1 977, S. 1253f. 41 0 Die Botsch
_aft .. (79.089) über die Änderung des Schweizeris hen Strafgesetzbuches
und des M1htarstrafgesetzes (Gewaltverbrechen) erschien be eits am 1 0. Dezember 1 979, BBI 1 980, S. 1 24 1 ff.
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VI. Verbrechen gegen die Menschlichkeit: unverjährbar, aber nicht verfolgt
"Erich Priebke" und im Fall "Arancibia Clavel" entschieden.411 Gegen diese Interpretation spricht nicht etwa, dass die UNO erst zwanzig Jahre nach der UNO-Völkermordkonvention eine Konvention betreffend Unverjährbarkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen ( 1 968) lancierte, denn diese enthält eine weiter gefasste Kategorie "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" als die Tatbestände der Verbrechen gegen die Menschheit der Völkermordkonvention. Zudem erfasst der Konventionstext explizit auch Handlungen, die von keinem Straftatbestand nach innerstaatlichem Recht erfasst sind.412
Auch der Bundesrat vertritt in seiner Botschaft zur Völkermordkonvention die Meinung, dass die Pflicht, den Strafanspruch bezüglich Völkermord (bzw. Verbrechen gegen die Menschheit) in unvergänglicher Weise aufrechtzuerhalten, bereits von der Konvention von 1 948 statuiert worden ist. Darin wird in Bezug auf die nationale Gesetzeslage festgestellt, dass "die schweizerische Rechtsordnung der Genozidkonvention bereits in verschiedener Weise Rechnung [trägt}. So legen Artikel 75bis StGB [und Artikel 56bis des Militärstrafgesetzes} die Unverjährbarkeit des Völkermorddelikts fest"413• Der Vernehmlassungsentwurf zur Änderung von Art. 75bis Abs. 1 StGB vom August 2005 enthält keine vorangehende Einschränkung auf Verbrechen mehr, wobei neu vorgesehen ist, die einzelnen Tatbestände explizit und als Verbrechen ins Strafgesetzbuch einzuführen.414
Schliesslich hindert auch die Tatsache, dass die Schweiz der Völkermordkonvention erst im Jahr 2000 beigetreten ist, die Annahme der These nicht. Nach überwiegender Ansicht, so hat der Internationale Gerichtshof bereits 1 95 1 in einem Gutachten festgehalten, kodifiziert die Konvention lediglich bereits zuvor kraft Völkergewohnheitsrecht geltendes Völkerrecht.415 Mit Sicherheit aber ist die Konvention spätestens seit ihrem Inkrafttreten am 1 2 . Januar 1 95 1 zwingendes Gewohnheitsrecht. Auch die Schweiz hat die darin enthaltenen
411 Corte Suprema de Justicia Ia Naci6n, Arancibia Clavel, Enrique Lautaro s/homicidio calificado y asociaci6n ilicita y otros, Fall N° 259, Entscheid vom 24.8.2004: Imprescriptibilidad de los crfmenes intemacionales . A. 533. XXXVIII. Erwägung 25 (mit Verweis auf den Fall Erich Priebke (3 18 :2 148), s. Corte Suprema de Justicia de Ia Naci6n, 2 . November 1 995, Jurisprudencia Argentina, 1 996, I, S. 33 1 ff.
412 Art. I lit. b dieser Konvention, Treaty Series, Vol. 754, S. 73ff. 413 Botschaft (99.033) betreffend das Übereinkommen über die Verhütung und Bestra
fung des Völkermordes sowie die entsprechende Revision des Strafrechts vom 3 1 . März 1 999, BB1 1 999, S . 5344.
414 Änderung von Art. 264 StGB, Einführung von Art. 264bis S tGB, Art. 264'er StGB, etc . Vgl. Vernehmlassungsentwurf zum Bundesgesetz über Änderungen des Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes sowie weiterer Bundesgesetze zur Umsetzung des Römer Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs , Bern, August 2005, S. 3ff.
415 Shaw 1 989, S. 800; Hübner 2004, S. 1 02 .
86
VI. Verbrechen gegen die Menschlichkeit: unverjähr ar, aber nicht verfolgt
Pflichten als zwingendes Völkerrecht (ius cogens und e ga mnnes416) anerkannt. Dies hat zur Folge, dass selbst Staaten an die Pflic ten gebunden sind, die die Konvention nicht ratifiziert haben. Die Schwei unterliegt diesen Pflichten also seit 195 1 .417 Dies ist konform der monisti chen Tradition der Schweiz, welche die Vorherrschaft des internationalen echts vor Landesrecht anerkennt - sei es nun Vertrags- oder Gewohnheitsr ht.418
Allerdings könnte diese These nicht aufrechterhalten we den, wenn sie dem grundlegenden Prinzip der Gesetzlichkeit, nullum delictu , nulla poena sine praevia lege poenali widersprechen würde.419 Um das he uszufinden, ist die innere Begründung dieses "Glaubenssatzes des Strafrech s" zu berücksichtigen: Neben anderen Einflüssen, die hier nicht von Bedeut ng sind, war insbesondere Anselm Feuerbachs Theorie des dem Strafrecht i newohnenden psychologischen Zwanges rnitbestimmend.420 Demnach kan die Abschreckung durch das Strafrecht nur wirksam sein, wenn die Mensch n gesetzliche Klarheit besitzen. Nur wenn ein gesetzlich festgehaltenes Deli t verübt wird, kann der Staat seinen Strafanspruch gegenüber dem Bürger aus· ben.421
Damit wird bereits deutlich, dass es diesen verfassungs ässigen Grundsatz nicht verletzt, wenn auch Vergehen im Sinne von Art. 5bis Abs. 1 Ziff. 1 StGB unverjährbar sind: Die Handlungen waren bereits trafbar zu der Zeit, als sie begangen wurden. Es werden keine Handlungen im Nachhinein als strafbar erklärt, die zuvor straflos waren. Was sich än ert, ist die Verjährungsregelung dieser Vergehen. Dass auch die Verjähru gsregelung in den Schutzbereich des Grundsatzes nulla poena sine lege falle soll, ist denn auch umstritten, denn der Freiheitsspielraum des Einzelnen, dessen Schutz der Grundsatz bezweckt, ist davon nicht tangiert422: schliessli h wird keine Strafbarkeit begründet, sondern die Strafverfolgung bereits str fbarer Handlungen ermöglicht. Das ist legitim angesichts der Tatsache, da s es immerhin um Vergehen geht, die zu den schwerwiegenden tatbestan mässigen Delikten gernäss Art. 75bis Abs. 1 Ziff. 1 StGB gehören.
416 Dazu B assiouni 1 999, S. 2 11ff. 417 Botschaft (99.033) betreffend das Übereinkommen über die erhütung und Bestra
fung des Völkermordes sowie die entsprechende Revision d s Strafrechts vom 3 1 . März 1 999, BBI 1 999, S . 5332.
418 Henzelin 2003, S. 1 60. 419 Zur Entstehung dieses Satzes: Binding 1 885 , S . 1 7ff. 420 Hafter 1 946, S. 10 . 421 "Das Recht, eine Handlung z u bestrafen, setzt das Gesetz vora s und gründet sich auf
die Androhung des Übels und die Einwilligung des Verbrech rs in das Übel, welche er durch die Tat erklärt. Wo also kein Gesetz ist, da ist auc keine Strafbarkeit der Handlung und kein Rech/ des Stames zur Slrafe." Feuerbach nselrn, 1798, publiziert in: Küper 1 993, S. 1 58 .
422 Stratenwerth 2005, S.79f. §4 RN 3-5.
87
VI. Verbrechen gegen die Menschlichkeit : unverjährbar, aber nicht verfolgt
Diese Taten, seien es nun Verbrechen oder Vergehen, sind aber jedenfall.5 nur dann tatbestandsmässig im Sinne von Art. 75bts Abs. 1 Ziff. 1 , wenn sie auf die Ausrottung oder Unterdrückung einer Bevölkerungsgruppe aus Gründen ihrer Staatsangehörigkeit, Rasse, Religion oder ihrer ethnischen, sozialen oder politischen Zugehörigkeit gerichtet waren. Mit anderen Worten: Es muss eine diesbezügliche Absicht nachweisbar sein, damit der Strafanspruch unvergänglich wird.
Der Wortlaut von Ziff. 1 lehnt an den Wortlaut von Art. li des Übereinkommens an: " In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören "423.
Es sind folgende Unterschiede zwischen der Völkermord-Konvention und dem schweizerischen Strafrecht festzustellen: Die Unverjährbarkeitsregelung nach schweizerischem Strafecht spricht nicht von Zerstörung, sondern von Ausrottung sowie von Unterdrückung und geht zudem in Bezug auf die geschützten Bevölkerungsgruppen über den Konventionstext hinaus, indem auch soziale424 und politische425 Gruppen erfasst sind.426
Als Zwischenfazit lässt sich also festhalten, dass Verbrechen - und nach der hier vertretenen These auch Vergehen - unverjährbar sind, die darauf ausgerichtet sind, eine bestimmte Bevölkerungsgruppe aus Gründen ihrer spezifischen Zugehörigkeit auszurotten oder zu unterdrücken.
b. Bezugsdaten und Übergangsregelung
In temporaler Hinsicht ist zu bemerken, dass der Gesetzgeber die Unverjährbarkeit nicht nur für Taten einführen wollte, die erst nach lokrafttreten der Unverj ährbarkeitsregel begangen wurden. Zudem wollte man auch nicht rückwirkend Delikte mit bereits abgelaufener Verj ährungsfrist erfassen.427 Daher wurde bestimmt, dass Artikel 75bis StGB für Delikte gilt, deren Verjährungsfrist zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung der Strafe nach bisherigem, also nach damals geltendem Recht, am 1 . Januar 1 983 noch nicht abgelaufen war.428 Folglich sind gernäss Übergangsbestimmung von Art. 1 09 Abs.
423 SR 0.311.11. Im französischen Originaltext: "dans l'intention de detruire, en tout ou
en partie".
424 Vorschlag des Nationalrates, s. del Pero 1993, S. 32. 425 Vorschlag des Bundesrates, s. Zusatzbotschaft 1977, S . 1254. 426 Für eine Kommentierung des Konventionstextes vgl. Shaw 1989, S. 806ff. 427 Zusatzbotschaft 1977, S. 1258. 428 Zusatzbotschaft 1977, S. 1261.
VI. Verbrechen gegen die Menschlichkeit: unverjä bar, aber nicht verfolgt
2 lit. a IRSG zu Art. 75bis StGB sämtliche Verbrechen und (wenn man der unter zuvor dargelegten Meinung folgt, auch alle Vergeh n) heute noch strafrechtlich relevant, deren Verj ährungsfristen am 3 1 . 1 2 . 1 82 nicht abgelaufen waren.429
Nach damals geltendem Strafrecht verjährte die Strafver olgung nach 20 Jahren bei mit lebenslangem Zuchthaus bedrohten Taten, n eh 1 0 Jahren, wenn Zuchthausstrafen drohten, und nach 5 Jahren bei Taten, ie mit einer anderen Strafe bedroht waren.430 Die wesentlichen Bezugsdaten si d also entweder det 3 1 . 1 2. 1 972 oder der 3 1 . 1 2. 1 977.431 Wichtig ist selbstverständlich der Zeitpunkt, zu dem die e Verjährungsfristen zu laufen beginnen. Dieser Aspekt wird ausführlicher nter Kapitel VI. 3 .b. ausgeführt. An dieser Stelle sei zunächst erwähnt, das Ausgangspunkt die Zeit der Tatverübung ist.432
3. Unverjährte Delikte
a. Der Sachverhalt
Wie bereits dargelegt, hat die historische Forschung in B zug auf das "Hilfswerk für Kinder der Landstrasse" festgestellt, dass Kin er zwangsweise der elterlichen Gewalt entzogen wurden; man hat sie in Hei en, psychiatrischen Anstalten, Gefängnissen, Pflegefamilien untergebracht der Bauernfamilien als Arbeitskräfte zur Verfügung gestellt . Manche Kin er wurden sexuell, physisch und psychisch misshandelt. Die Eltern hatten a s diskriminierte und stigmatisierte Bevölkerungsgruppe nur beschränkte Mö lichkeiten, sich zut Wehr zu setzen, zudem wurden sie mit verschiedenen M tteln gezwungen, die Wegnahme hinzunehmen; der Kontakt zwischen Eltern nd Kinder wurde in der Regel unterbunden. Noch nicht untersucht wurde aber, inwiefern solche z angsweise Wegnah· men von Kindern und Jugendlichen durch Behörden r Kantone und Ge·
429 Während diese Übergangsbestimmung im Rechtshilfegesetz om 20. März 1981 nocl als Teil des Textes des Gesetzesartikels stand (BBl 1981 I 7 1-822, S. 821), befinde sie sich heute im Strafgesetzbuch nur noch in einer Fussnote Im revidierten Strafge setzbuch hingegen ist sie zurecht wieder in den Artikel int griert worden (Art. 10: Abs. 3 revStGB).
430 Hafter 1946, S. 433. Die relevanten Art. 9, 70 und 7 1 sind b s zur Revision der Ver jährungsartikel2001, in Kraft seit 1. Oktober 2002 unverände geblieben.
431 Der Tag, mit dem die Verjährungsfrist beginnt, wird nicht m tgezählt. Kommentar z1 Art. 71 StOB in der kommentierten Orell Füssli-Ausgabe, 7. ull. Zürich 1973.
432 Art. 7 1 Abs. 1 StGB (Ausgabe Orell Füssli, 7. Aufl. Zür eh 1973); Hafter 1946 s. 432.
8�
VI. Verbrechen gegen die Menschlichkeit: unverjährbar, aber nicht verfolgt
meinden vorgenommen wurden. Ebenfalls unklar ist, inwiefern auch Bekämpfungsmassnahmen wie Verwahrungen, Inhaftierungen und Zwangssterilisierungen vorgenommen wurden.
Die praktizierten Kindeswegnahmen und Fremdplatzierungen könnten allenfalls als Wohltätigkeit des Staates und des Hilfswerks Pro Juventute betrachtet werden, deren Ziel die Linderung der sozialen Not der Gesamtbevölkerung war. Diesem Einwand steht die von Historikern festgestellte Tatsache gegenüber, dass die Handlungen ausschliesslich auf jenische Familien zielten und spezifisch nach Trägern jenischer Familiennamen gesucht wurde. Die Kinder wurden systematisch jenischen Familien weggenommen und in nicht-jenische Familien platziert.433 Die strukturvernichtende Zwangsintegration der jenischen Kinder war also einerseits ein Mittel, die "Plage der grossen Stämme des fahrenden Volkes ", die traditionelle "Vagantität " zu bekämpfen, diente aber offensichtlich auch dem Zweck, die Jenischen als Gruppe zu vernichten, denn auch sesshaften Jenischen wurden die Kinder weggenommen und fremdplatziert.434 Der Verband der Fahrenden sollte "gesprengt", also zerstört werden, denn sie seien eine "gefährliche Macht ".435 Gegen fürsorgerische Motive sprechen zudem die verschiedenen Formen von Ausbeutungen und Missbrauch, die mit den Fremdplatzierungen zusammenhingen und den zuständigen Personen bekannt waren.
Ohne Aktenstudium und Zeugenbefragungen kann die komplexe Sach- und Rechtslage nicht rekonstruiert werden. Im historischen Bericht wurde festgestellt, dass das Recht sehr situativ beigezogen wurde; ebenso, dass in der Praxis der Fürsorgearbeit eine beträchtliche Kluft zwischen theoretischem Recht und täglicher Praxis herrschte436, und dass trotz des grossen rechtlichen Spielraums einzelne Massnahmen eindeutig illegal waren.437
Selbst bei formal korrekt vollzogenen Massnahmen ist aber aufgrund des damals geltenden zwingenden völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts die Legalität fragwürdig . Insofern wäre ihre Tatbestandsmässigkeit nach strafrechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen.
433 Gschwend 2002, S. 389. 434 Vortragsmanuskript von Siegfried Alfred aus : Dokument 10 , Auszüge aus : "Über die
Bekämpfung der Vagantität in der Schweiz" . Vortrag von Dr. Alfred Siegfried, Leiter der Abteilung , Schulkind' des Zentralsekretariates Pro Juventute. Gehalten in der Cadonaufonds-Kommission Pro Juventute am 9. Juli 1943 in Zürich, veröffentlicht auf der Internet-Seite http://www.mypage.b1uewin.ch/thata/index.html .
435 Ibid. ; Geschwend 2002, S. 377.
436 Sablonier, Meier, Leimgruber 1 998, S. 45f. 437 Sablonier, Meier, Leimgruber 1 998, S. 25 und 5 1 .
90
VI. Verbrechen gegen die Menschlichkeit: unverjähr ar, aber nicht verfolgt
b. Juristische Bewertung
Folgende Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit llfällig begangene Delikte heute noch strafrechtlich verfolgt werden können: i) Das Verhalten (Handlungen oder Unterlassungen) uss objektiv und
subjektiv tatbestandsmässig, rechtswidrig, also nicht erechtfertigt, sowie schuldhaft sein.
ii) Ein solches strafrechtlich verpöntes Verhalten muss zudem in der vom Ges�tzgeber in Art. 75b's Abs . 1 Ziff. 1 StGB umschri benen genozidalen Absicht begangen worden sein.
iii) Die Verj�rungsfrist der Delikte darf am 1 . 1 . 1 983 n cht abgelaufen ge-wesen sem.
Zur ersten Voraussetzung (i) ist klarzustellen, dass - wie ereits erwähnt _ im Rahmen d�eser Untersuchung auf Grund fehlender Inform tionen die allfällig strafrechtlich relevanten Verhaltensweisen nicht unter i Frage kommende Tatbestände konkret subsumiert werden können; ebenso ann keine Beurteilung der Rolle als Täter, mittelbarer Täter, Anstifter oder ehilfe vorgenommen werden. Selbst ohne Akteneinsicht und Zeugenbefr gung, sondern nur auf Grund der beschränkten historischen Forschung kan jedenfalls festgestellt werden, dass genügend Indizien bestehen, die einen zureichenden Verdacht begründen, um entsprechende Untersuchungsverfahr n zu eröffnen. Hi
_er :Vird aus theoret�scher Sicht und nicht mit Anspruch auf Vollständigkeit
skizziert, welche Dehkte nach damals geltendem und im Vergleich zu heute noch fragmentarischen Strafrecht438 in Betracht zu ziehen ind. Zunächst die Verbrechen:
�reiheitsberaubungen, wenn mit Unzuchtsahsicht be angen (sei es, um eigenhändig zu missbrauchen oder auch der Unzucht zu überliefern; Art. 1 82 Ziff. 2 Abs. 1 StGB) ; Freiheitsberaubungen von fälschlicherweise als ge · teskrank ausgegebenen Personen (Art. 1 82 Ziff. 2 Abs . 2 StGB) ; Freiheitsberaubungen, die länger als einen Monat ged uert haben oder bei denen die Opfer grausam behandelt wurden (Art. 82 Ziff. 2 Abs . 3 StGB) ;
Entführungen von Frauen, älter als 1 6 Jahre oder v n Willenlosen oder Wehrlosen, sofern sie zur Unzucht missbraucht ode der Unzucht überliefert worden sind (Art. 1 83 Abs . 3 und Art. 1 84 Abs 2 StGB) ;
438 Ausgabe Orell Füssli, 7 . Aufl. Zürich 1973.
9 1
VI. Verbrechen gegen die Menschlichkeit: unverjährbar, aber nicht verfolgt
Entführungen von Mädchen oder Jungen unter sechzehn Jahren waren mit Zuchthausstrafe bedroht, wenn damit Gewinn aus den Kindern gezogen werden sollte oder eine Lösegeld- oder Unzuchtsahsicht damit verbunden war (Art. 1 85 StOB) ;
fehlten diese Absichten oder waren die Kinder älter, aber noch nicht
·volljährig, kommt Art. 220 StOB in Betracht, der eine Gefängnisstrafe
vorsah. Weiter könnte als Vergehen die Tatbestandsvariante des Entziehens und Vorenthaltens von Unmündigen des erwähnten Art. 220 StGB berücksichtigt werden, wenn der hier vertretenen These (II.l .b) gefolgt wird. Demnach macht sich strafbar, wer eine unmündige Person dem Inhaber der elterlichen oder vormundschaftlichen Gewalt entzieht oder vorenthält. Weitere allenfalls in Frage kommenden Vergehen wären:
Drohung (Art. 1 80 StOB) ;
Nötigung (Art. 1 8 1 StOB) ; Freiheitsberaubung, wenn nicht qualifiziert (Art. 1 82 Ziff. 1 StGB);
Entführungen von Frauen, älter als 1 6 Jahre, wenn ohne Unzuchtsahsicht begangen (Art. 1 83 Abs. 1 StGB);
Entführungen von willenlosen oder wehrlosen Frauen, wenn ohne Unzuchtsabsicht begangen (Art. 1 84 Abs. 1 StGB);
Es kann nur noch einmal wiederholt werden: Diese Aufzählung is t nicht abschliessend. Vielleicht wurden im Zusammenhang mit den Kindeswegnahmen Urkunden gefälscht, vielleicht kann in Einzelfällen Amtsmissbrauch, vielleicht Normbruch von Nebenstrafgesetzen nachgewiesen werden.
Bezüglich der zweiten Voraussetzung (ii) kann festgestellt werden, dass diese deliktischen Handlungen als Verbrechen gegen die Menschheit zu qualifizieren sind, soweit sie mit der Absicht begangen wurden, die Gruppe der Jenischen wegen ihrer sozialen, bzw. ethnischen Zugehörigkeit zu zerstören. Dabei ist die Zahl der unmittelbaren Opfer nicht massgebend.439
Ethnische Gruppen unterscheiden sich voneinander durch eine gemeinsame Geschichte und ein gemeinsames System von Einstellungen und Verhaltensnormen.440 Die Zugehörigkeit ergibt sich einerseits aus dem gruppeninternen Selbstverständnis, indem sie sich selbst als distinktive Gruppe versteht und
439 Botschaft (99.033) betreffend das Übereinkommen über die Verhütung und Bestra
fung des Völkermordes sowie die entsprechende Revision des Strafrechts vom 3 1 . März 1999, BB1 1 999, S . 5339.
440 Schleiminger BSK 2003, Art. 261 bis StOB N. 14.
92
VI. Verbrechen gegen die Menschlichkeit: unverjähr I ar, aber nicht verfolgt
vom Rest der Bevölkerung als solche wahrgenommen ird44 1 ; andererseits unterliegt sie der Definitionsmacht der Täter, indem sie s eh aus der von ihnen vorgenommenen sozialen Zuschreibung ergeben k n.442 Die meisten Jenischen betrachten ihre Gruppe als eine eigenständige thnie mit eigener Sprache und Kultur. Der Untertitel der Zeitschrift der Je ischen, "Scharotl " (Jenisch für: Wohnwagen) , herausgegeben von der D horganisation der Jenischen in der Schweiz (Radgenossenschaft der Lands asse), lautet: "Die Zeitung des jenischen Volkes " . Auch nach Meinung vo Historikern bildet die jenische Minderheit in der Schweiz eine eigene ethnisc e Gruppe.443
Da Art. 75bis Abs. 1 Ziff. 1 StOB sich auf die Völkermord onvention bezieht sind damit nicht nur Absichten erfasst, die auf eine dire te physische Ver� nichtung oder Gefährdung zielen (lit. a-c), sondern ebens die indirekte Vernichtung durch Angriffe auf spezifische Eigenheiten der Gruppe (lit. d und e).444 Ob man dafür nun den Begriff "kultureller " Geno id verwendet oder nicht: Es bestehen Hinweise, dass die damaligen Aktione , insbesondere die Wegnahme der Kinder aus jenischen Familien und ihre Fremdplatzierung, darauf zielten, zu verhindern, dass sie jenisch sozialisiert urden.445 Der objektive Tatbestand ist diesbezüglich mit der abgeschlossen n Überführung der Kinder in die andere Gruppe vollendet und beendet.446
Die subjektive Perspektive, die neben dem Vorsatz auch d e Absicht der Zerstörung umfassen muss, ist selbstverständlich für jede ver ächtigte Person zu untersuchen. Das ist schwierig, denn es bedeutet, dass ei e Absicht nachgewiesen werden muss, die auf ein Ziel gerichtet ist, die übe die Erfüllung des objektiven Tatbestandes hinausgeht. Zum jetzigen Zeitp nkt und mit dem aktuellen Wissensstand lässt sich nur feststellen, dass Indi ien bestehen, dass es zumindest eine kollektive Absicht auf Zerstörung der G uppe im Sinne der Konvention gab.447
In diesem Zusammenhang könnte überlegt werden, ob die Delikte nicht auch ohne Nachweis dieser spezifischen genozidalen Absicht verjährbar wären. Dies wäre aber nur der Fall, wenn der Argumentation folgt würde, dass
441 Niggli 1996, S. 114 N. 434. 442 Vest ZStrR 1999, S. 358 . 443 Huonker, Ludi 2001, S . 15f. 444 Gschwend 2002, S. 383 . 445 V gl. Ausführungen unter II. l .b ; Gschwend 2002, S . 386f. 446 Ebenso Gschwend 2002, S. 392 in Bezug auf die Aktion " Kind r der Landstrasse " . 447 Kapitel VI.3 .a und vgl. die Resultate der in diesem Text zitiert Arbeiten von Sablo-
nier, Meier, Leimgruber 1998, Huonker 1987 und Gschwend 2 02. Nach Vest ZStrR 1 999, S. 354 verlagert sich das kollektive Element, das die " (n rmalen) Humanitätsverbrechen " im objektiven Tatbestand typisiert, beim Genozid somit in den subjektiven Tatbestand.
93
VI. Verbrechen gegen die Menschlichkeit: unverjährbar, aber nicht verfolgt
Art. 75bis Abs. l Ziff. 1 StGB sich zwar auf die Tatbestände der Völkermor�
konvention bezieht, damit aber auch Verbrechen gegen die Menschlic�elt,
wie sie das Nürnberger Militärgerichtsstatut umschrieben hat, für unverjähr
bar erklärt weil diese die genozidalen Tatbestände umschliessen. Dagegen
spricht jed�ch der Wortlaut des Artikels, da die A��icht ausdrückli_ch aufge
nommen wurde: "auf die Ausrottung oder Unterdruckung [. . . ] gerzchtet wa-
ren.
Die dritte Voraussetzung (iii) schliesslich betrifft die Verjährungsf�st: �ei
che Delikte waren am Tag des Inkrafttretens des Unverjährbarkettsartlkel
nicht verjährt? Die Frage, ob die Verj ährungsf�ist d�r d�liktische�. H�ndlun
gen und Unterlassungen über den 3 1 . 12 . 1 982 ht?a�shef, ts� grundsatzhch von
den Untersuchungsbehörden von Amtes wegen m jedem Emzelfall konkret zu
überprüfen und festzustellen.448 Grundsätzlich l�sst sic�.?ier aber festhalten:
Alle Verbrechen449 sind zu diesem Zeitpunkt mcht verjährt gewesen, sofern
sie am 3 1 . 12 . 1 972 oder danach begangen wurden. Alle Vergehen (Art. 9 Abs .
2 StGB) sind nicht verjährt, sofern sie am 3 1 . 1 2 . 1 977 oder danach begangen
wurden.
Nun wurde das Hilfswerk 1 973 eingestellt, was erstens nichts über den ":er
lauf derjenigen Fälle aussagt, die ausserhalb des Hilfs�erks ges_chehen smd;
zweitens ist im Historikerbericht zu lesen, dass zu dtesem Zeitpunkt noch
verbleibende Vormundschaftsfälle einfach anderen Organisationen übergeben
wurden450 und dass zum Beispiel der Grosse Rat des Kantons Graubünden
bis 1 97 8 Kredite "zur Bekämpfung des Vagantentums" bewilligte45 1 . �rittens
ist es eine Tatsache, dass die Zahl der sogenannt hilfsbedürftigen Jemschen,
die sich 1988 noch immer in Heimen, Anstalten und Pflegeinstitutionen be�
fanden, auf rund 1 00 geschätzt wird.452
Selbst für die Fälle im Rahmen des Hilfswerks ist festgehalten worden: "Die
hier und dort in den Jahresberichten der Pro luventute oder in den Mittei
lungen des <<Hilfswerks» genannten Zahlen sind wenig verlässlich und _ erla�
ben keine Auswertung. So ist denn auch nicht bekannt, wie lange steh dte
Kinder unter den Fittichen des <<Hilfswerks» befanden, wie viele wann un� weshalb aus der Vormundschaft entlassen wurden, geschweige denn, was mzt
diesen nach einem Ausscheiden von Alfred Siegfried oder Clara Reust als
Vormund geschah, ob sie dann für mündig erklärt wurden oder einfac� unter
die Obhut eines anderen Vormunds gerieten. All diese Fragen lassen steh nur
448 Hauser, Schweri, Hartmann 2005, § 41 RN 1 3 .
449 Art . 9 Abs. 1 StGB. 450 Sablonier, Meier, Leimgruber 1998, S. 82. 451 Sablonier, Meier, Leimgruber 1 998, S. 6 1 . 452 Sablonier, Meier, Leimgruber 1998, S . 1 78.
94
VI. Verbrechen gegen die Menschlichkeit: unverjäh ar, aber nicht verfolgt
beantworten mit einer genauen Analyse jedes Falls unte Einbezug aller nur möglichen Informationsquellen "453•
Aus strafrechtlicher Sicht sind zudem zwei Aspekte zu be chten:
Bei Dauerstraftaten bildet die zeitliche Fortdauer des rec tswidrigen Zustandes noch tatbestandliebes Unrecht, bis er beseitigt ist.454 llendet sind Delikte bei Verwirklichung aller Tatbestandsmerkmale455, wob i der Zeitpunkt der Vollendung nicht interessiert; worauf es ankommt, ist de Zeitpunkt der Beendigung.456 Mit den Worten des Gesetzgebers beginnt ie Verj ährungsfrist erst " . . . wenn das strafbare Verhalten dauert, mit dem ag, an dem dieses Verhalten aufhört" (Art. 7 1 Abs. 3 StGB). Bis zu dies m Zeitpunkt waren auch entscheidende Tatbeiträge von Gehilfen möglich, de en Verjährungsfrist ebenfalls erst mit Beendigung des unrechtmässigen Zust ndes zu laufen begann. Als Dauerdelikte gelten in der Rechtsprechung zu Beispiel Freiheitsberaubung (Art. 1 82 StGB) oder das Vorenthalten von Un ündigen (Art. 220 StGB).457 Erst wenn dieser unrechtmässige Zustand aufg hoben ist, die Person also frei oder die zuvor unterlassene Zurückgabe der nmündigen Person vollbracht ist, ist das Delikt beendet und beginnt die Verj 'hrungsfrist zu laufen.
Schliesslich ist zu bedenken, dass damals noch die Rechts igur des fortgesetzten Delikts anerkannt wurde. Nach dieser Rechtsfigur um asst das fortgesetzte Delikt mehrere selbständige strafbare Handlungen.
Die Tateinheit ist bei ihm nur fingiert.458 Das hat zu Folge, dass es entbehrlich ist, jeden Einzelakt zu ermitteln und nachzuweisen, "we gleichartige oder ähnliche Handlungen, die gegen dasselbe Rechtsgut ge 'chtet sind, auf ein und denselben Willensentschluss zurückgehen "459. Von Bedeutung ist die Rechtsfigur aber vor allem in verjährungstechnischer Hin icht: wird ein Fortsetzungszusammenbang angenommen, wie es das Bunde ericht in ständiger Praxis getan hat460, hatte das zur Folge, dass der Beginn der Verjährung dadurch, dass erst der letzte Teilakt massgebend sein soll, entsprechend lange hinausgezögert wurde (in BGE 72 IV 1 79ff. um mehr als 0 Jahre).461
453 Sablonier, Meier, Leimgruber 1 998, S. 32.
454 Stratenwerth 2005 S . 303 § 1 2 RN 10.
455 BGE 99 IV 1 24; BGE 1 06 IV 296.
456 B inding 1 885, S. 836.
457 BGE 1 3 1 IV 87 E. 2. 1 .2 mit Hinweisen auf Urteile. 458 BGE 1 1 7 IV 408, S . 4 1 1 .
459 BGE 1 1 7 IV 4 1 0f. 460 Stratenwerth 2005, S. 493 § 19 RN 1 5 .
461 Hinweis BGE 1 1 7 IV 408, S. 4 1 1 .
95
VI. Verbrechen gegen die Menschlichkeit: unverjährbar, aber nicht verfolgt
Diese Rechtsfigur und jene der verjährungsrechtlichen Einheit sind jedoc)l beide unterdessen vom Bundesgericht aufgegeben worden ( 1 99 1462, bzw. 2004463), was für mutmassliche Täter eine günstige Rechtsprechungsänderung darstellt. Betreffend Gesetzesänderungen hat der Gesetzgeber in Art. 2 Abs. 1 StGB festgelegt, dass neue Gesetze keine Rückwirkung haben dürfen: nach neuen Gesetzen wird beurteilt, wer nach deren Inkrafttreten ein Delikt verübt hat. Art. 2 StGB bezieht sich aber nicht auf Praxisänderungen.464 Folgt man dieser Meinung, könnten die Rechtsfiguren des fortgesetzten Delikts oder der verjährungsrechtlichen Einheit in einem aktuellen Prozess nicht beigezogen werden, auch wenn sie zur Tatzeitbegehung herrschende Praxis waren.
4. Fazit: Der Strafanspruch ist nicht untergegangen
Der Gegenstand der Untersuchung wurde auf die Klärung der Voraussetzungen der Unverjährbarkeit eingeschränkt (l .b). Nach Auslegung des Art. 75b•s Abs. 1 Ziff. 1 StGB lautete ein erstes Zwischenfazit (2.a), dass sämtliche Verbrechen, die darauf ausgerichtet sind, eine bestimmte Bevölkerungsgruppe aus Gründen ihrer spezifischen Zugehörigkeit auszurotten oder zu unterdrücken, unverjährbar sind. Der Strafanspruch wird aber auf Grund völkerrechtlich zwingenden Gewohnheitsrechts auch in Bezug auf Vergehen (mit entsprechender Absicht) für unvergänglich erachtet. Dem steht auch das Gesetzlichkeitsprinzip, bzw. Rückwirkungsverbot nicht entgegen.
Unter Berücksichtigung der gesetzlichen Übergangsregelung465 , in Anbetracht der Tatsache, dass offenbar auch nach 1 973 Kinder der elterlichen Gewalt entzogen waren und eventuell auch die Verjährungsfrist von anderen Delikte auf Grund ihres Charakters als Dauerdelikt nicht abgelaufen war, kann theoretisch von einer Unverjährbarkeit dieser Delikte ausgegangen werden, sofern die Absicht eines (kulturellen) Genozids - wofür die historische Forschung erhebliche Indizien festgestellt hat - und die im Einzelfall nachzuweisende Tatbestandsmässigkeit erfüllt sind (3.b).
Zwei Schlussfolgerungen drängen sich auf: Erstens scheint es aus theoretischer Sicht möglich, dass Delikte begangen wurden, die unverjährbar sind, weil sie Verbrechen gegen die Menschheit darstellen. Zweitens hat schon eine rudimentäre historische Forschung starke Hinweise darauf gefunden, dass tatsächlich solche Delikte begangen wurden. Folglich haben Untersuchungs-
462 In Bezug auf die Konkurrenzen bereits 1990 (BGE 1 1 6 IV 1 23f.) und schliesslich in
BGE 117 IV 412 hinsichtlich der Verjährung. Stratenwerth 2005 , § 1 9 RN 16. 463 BUE 1 3 1 IV 83. 464 Trechsel 1997 Art. 2 RN 1. 465 Gernäss Art. 109 Abs . 2 l i t . a IRSG zu Art. 75bis Abs. 1 Ziff. I StGB, vgl . Vl.2.b.
96
VI. Verbrechen gegen die Menschlichkeit: unverjä bar, aber nicht verfolgt
und Anklagebehörden bezüglich dieser Delikte Unters hungen einzuleiten und das archivierte Beweismaterial zu sichten. Erst dann ird man wissen ob in der Schweiz in Fällen durch staatliche Hand begang nen oder zumindest ermöglichten Unrechts tatsächlich nur symbolische finan ielle Wiedergutmachung möglich ist, oder ob bei gegebener Sachlage au h Anklage erhoben und eventuell verurteilt wird.466
466 Vgl. Liste des Bundesamtes für Kultur, wonach 1 988-1 993 eine Fondskommission symbolische Wiedergutmachungszahlungen verteilt hat, ht p://www.bak.admin.ch! bak/themen/sprachen_und_kulturelle_minderheiten/00507 /00512/00563/?lang=de Im Fall des jüdischen Flüchtlings J. Springer, der im Novemb r 1943 von schweizerischen ?renzbeamten den deutschen Behörden ausgeliefert w rden ist, hat das Bundesgencht - entgegen der Radbruch' schen Formel - extremes Unrecht Recht sein lassen, dem geschädigten Kläger aber als Parteientschädigung e akt die eingeklagte Genugtuungssumme von 1 00'000 Fr. zugesprochen (BGE 126 II 45ff vom 21.1.2000).
97
VI. Verbrechen gegen die Menschlichkeit: unverjährbar, aber nicht verfolgt
98
VI Schlussfolgerungen
VII. Schlussfolgerungen
In der rechtsvergleichenden Untersuchung wurde festges eilt, dass andere Länder die Verjährung gar nicht kennen. Das Konzept der nvergänglichkeit von Strafansprüchen kann also nicht von vomeherein recht staatlich zweifelhaft sein. Allerdings hat der historische Abriss und haben ie rechtsdogmatischen und straftheoretischen Untersuchungen ebenfalls gez igt, dass mit der Unverjährbarkeit des Strafanspruches das Risiko besteht, d ss die Bestrafung in ihrer U nbegrenztheit wieder das Wesen einer "Triebha zdlung "467 erhält. Dieses Risiko ist umso höher, als über das Wesen der (Un) erjährbarkeit oft Verwirrung besteht. So hat Bentham im Zusammenhang m t der Verjährung von "pardon " gesprochen und sah darin einen Handel, den er mit den Urhebern schwerwiegender Delikte nicht eingehen wollte: "Po nt de traite avec des mechans de ce caractere. Que le glaive vengeur reste t ujours suspendu sur leur tete "468• Mit diesem zeitlich unbegrenzten Strafans ruch könnte also der Anspruch auf "ewige Rache "469 aufleben - ein Anspro h, der dem Staat angesichts der Endlichkeit des Seins nicht zusteht.
Die Unverjährbarkeit darf, mit anderen Worten, nicht dazu führen, dass auf Verbrechen ohne "Menschenwitz und staatlicher Klugheit "470, aber immer mit Strafe reagiert wird. Dabei ist zu bedenken, dass das Erl · sehen der Strafgewalt durch Zeitablauf ein Grundsatz ist, der sich aus der rfahrung entwikkelt hat, und der gerechtfertigt ist, weil das Sühnebedürfnis , wie alle sozialen Bedürfnisse, nicht ein absolutes, sondern ein relatives ist.471 a es zudem um die Aufrechterhaltung des staatlichen Strafanspruchs geht, uss sich dessen Ausgestaltung am obersten Zweck der Vereinigung zum taat ausrichten: "Die Erhaltung der Freiheit und Sicherheit ist der oberste weck der Vereinigung aller einzelnen Bürger zum Staate. Sie ist das höc ste Gesetz, dem jede gesellschaftliche Einrichtung unterworfen werden mus Das Strafrecht, das im Namen des Volks gegen diejenigen ausgeübt wird, die sich an der geselligen (!) Ordnung vergreifen, ist nicht selbst Zweck, so dern blos Mittel jenes obersten Zweckes. Das Gesetz muss also das Strafrec t mit all seinen Mitteln diesem höchsten Princip unterordnen "472•
467 Von Liszt 1 882, S. 1 33ff. 468 Bentham 1 820, S. 1 49 . 469 Befürchtung von Nationalrat Claudius Alder, Amtliches Bulletin om 1 2. Juni 1 979,
s. 65 1 . 470 Von Liszt 1 882, S . 1 34. 471 Stooss ZStrR 1 889, S. 248 . 472 Kuhn B .F. Verfasser des Kommissionsberichts des Grossrathes zum Helvetischen
Strafgesetzbuch, in Strickler' s Actensammlung, S. 4 1 5 .
9 9
VII. Schlussfolgerungen
Die Unvergänglichkeit von Strafansprüchen ist demnach notwendig und gerechtfertigt bei Delikten,
deren Dimension die Grundfesten der Menschheit zu erschüttern vermögen, indem sie die Ordnung gesellschaftlichen Zusammenlebens und ihr Selbstverständnis der Gleichwertigkeit der Menschen, das Kollektiv über die individuelle Betroffenheit hinaus verletzen;
die grundsätzlich in einem Kontext stattfinden, in der die gerechte Ausübung der Strafgewalt nicht funktionieren kann, weil entweder die ordnungsgemässe, strafrechtliche Aufarbeitung der Delikte durch staatliche Organe auf Grund faktischer Machtlosigkeit nicht möglich ist, oder weil die Aufarbeitung nicht unternommen wird, da die Delikte im Schutze eben dieser staatlicher Organe stattgefunden haben.
Bei Delikten dieser Dimension ist es angebracht, den Strafanspruch unbegrenzt aufrecht zu erhalten, um die angemessene strafrechtliche Aufarbeitung des Unrechts zu einem Zeitpunkt und unter Umständen stattfinden lassen zu können, in denen unparteiische und faire Prozesse geführt werden können.
Damit kann das Unrecht, das an den Opfern begangen wurde, festgestellt und eventuell verurteilt werden, indem aufgezeigt wird, was geschehen ist, und indem dieses Geschehen als unrechtmässig und kriminell gewertet wird. Allerdings sind strafrechtliche Prozesse kontradiktorische Verfahren. Auch gegenteilige Sichtweisen werden angehört; darin liegt die Herausforderung an die Opfer, sich in einem solchen Prozess zu exponieren, denn es besteht in jedem strafrechtlichen Prozess das Risiko, dass ihre "dritte Wahrheit" vom Gericht nicht angenommen wird.473 Man kann die Funktion solcher Prozesse durchaus in der Wiedergutmachung sehen, die für die Opfer darin liegt, dass ihre Verletzungen dauerhaft anerkannt werden. Ein Strafrechtsurteil fixiert tatsächlich " Ia realite dure des Jaits, qui ne s 'effacent pas ' "474• Wenn also die Annahme stimmt, dass die Verj ährung "moyen subtil de l 'oubli " ist, liegt der Beitrag strafrechtlicher Prozesse bei unverjährbaren Verbrechen darin, dass das Unrecht nicht vergessen wird und zukünftig nicht negiert werden kann.475
473 Roth 2004, S. 4. Die gängige Unterscheidung liegt in der materiellen und formellen
Wahrheit. Der Grundsatz der materiellen Wahrheit bezeichnet den Anspruch, dass
dem Urteilsspruch diejenigen Verhältnisse zugrunde liegen sollten, wie sie zur Zeit
der Tat bestanden haben. Die formelle Wahrheit, die möglicherweise den tatsächli
chen Begebenheiten nicht entspricht, entsteht durch die strengen Vorgaben an die
Beweis- und Prozessführung. Vgl. Hauser, Schweri , Hartmann 2005 S. 24 1 RN 1-3
und RN 6. 4 7 4 Roth 2004, S. 8 . 475 Zitat des französischen Juristen Jean Carbonnier ( 1 908-2003), wiedergegeben bei
Roth 2004, S. 9 . In Bezug auf die Kriegsverbrecherprozesse in Deutschland nach dem
Zweiten Weltkrieg hat Telford Taylor, Mitglied der amerikanischen Anklagevertre-
ll. Schlussfolgerungen
Aber man darf darüber nicht aus den Augen verlieren, das der Ausgang eines �trafproze.sses �n der Feststellung der Schuld oder Unsch ld der Angeklagten hegt: das 1st pnmärer Gegenstand der Verhandlungen. D in liegt gerade ihr besonderer Wert.476
Bei der I?urchführung dieser Prozesse sind selbstverstä dlich die negativen :'-spekte m Re�hnung �u . stellen, die das Vergehen der Zeit zur Folge hat, msbesondere d1e Schw1engkeit der Wertung von Tatsac n und der Beweis�chwund, �eil die Vergangenheit eben nicht " ewig still teht "477 • Allerdings IS� unbestreitbar, dass der Umstand, dass die Tat von ein m Gericht bewertet w1rd, welches erst Jahre nach den zu beurteilenden Ere gnissen zu urteilen hat, auch positive Wirkungen haben kann.478
tung im Nürnberger Haupt�iegsverbrecherprozess und Haup nkläger in den Folgeprozessen der Jahre 1 946 b1s 1949 geschrieben, es sei " Sinn nd Zweck dieser Straf
verfolgung, eme gut dokumentierte historische Darstellung de sen zu erarbeiten, was
nach unserer Uberz�ugung ein grossangelegter, konzertierter Plan war, die Aggres
swnen und Barbarezen anzuzetteln und zu verüben, die die elt schockiert haben. "
Zitat wiedergegeben bei Stuby 1 995, S. 437. Vgl. auch Jean, S las 2002. 476 E h ntsprec end hat Hannah Arendt in ihrer Vorlesung zu Fragen der Ethik 1 965 in New
York (2006, S. 20-22) die Wichtigkeit strafrechtlicher Prozes e (neben ihrer moralische� Wirkung) darin gesehen, dass es um die individuelle erantwortlichkeit geht. Das 1st auch der Grund, weshalb Opfer sich nicht mit alte nativen Verfahren vor Wahrheits- oder Wiedergutmachungskommissionen zufried n geben. Vgl. Koude 2006 Rev.trim.dr.h . , S. 4 l l ff. , insbesondere S. 4 1 6 und FN 5 1 , S. 4 1 8 mit Hinweisen auf solche alternativen Verfahren in Südamerika, Südafrika, Ruanda (gacaca) Ma-rokko, Tschad und Algerien.
'
477 Frie�ch Schiller hat das Gedicht Spruch des Konfuzius (vg . Anmerkung in FN 5) um em we1teres ergänzt, das im " Musenalmanach für das Ja r 1800 ", erschienen ist und mit dem Vers endet: " Nur Beharrung führt zum Ziel, Nur die Fülle führt zur Kla heit, Und im Abgrund
wohnt die Wahrheit. " ·
478 Dies zeigt zum Beispiel der Fall von Helene Castel : Sie wurd als vermutete Terroristin
. (�nhängerin der Gruppe " action directe ") 1984 in Abw enheit zu lebenslanger
F�e!he1�sstrafe wegen Beteiligung an einem Bankraub am 30. ai 1 980 in Paris verurteilt. E1mge Tage vor
. Eint�tt der (in diesem Fall: Strafvolls reckungs-) Verjährung
wurde sie m Mexiko mhaftiert und nach Frankreich ausgelie ert, wo ihr in Paris erneut der Prozess gemacht wurde. Im Gegensatz zu anderen nhaftierten der action directe" konnte sie sich in Freiheit bewähren, was ihr vor Gericht zu Gu�� kam. http://www.humanite .fr/journal/2006-0 1 -09/2006-0 1 -09-82 1 4 3 und http://www. humanite.presse.fr/joumal/2006-0 1 -04/2006-0 1 -04-82 1 1 48. F · r das deutlich mildere Urteil vom 6. Januar 2006 (eine bedingte zweijährige Freihei strafe) war aber sicher auch der gewandelte Zeitgeist verantwortlich. Insofern stim t die Behauptung von Hannah Arendt (2006, S. 2 1 ) : "Alle n icht spezifischen, abst akren Rec!Jrjerrigungen
brechen zusammen - alles, angefangen beim , Zeitgeist ' [. . . " nur bedingt: Richter smd vor den Emflüssen des Zeitgeists nicht gefeit. Vgl. zu de Schwierigkeiten straf-
1 0 1
VII. Schlussfolgerungen
Ist aber die Unverjährbarkeit bestimmter Delikte einmal Gesetz, muss die entsprechende Regelung im konkreten Fall tatsächlich angewendet werden: bei der Hilfeleistung zur Ausübung fremder Strafansprüche im Rahmen des Auslieferungs- und Rechtshilferechts, wie auch bei der unvergänglichen Geltendmachung des eigenen Strafanspruchs im materiellen Strafrecht. Es liegt nicht in der Kompetenz von Strafverfolgern, Richtern, Parlamenten oder Regierungen zu entscheiden, ob Ermittlungen und Verfahren durchzuführen sind oder nicht, weil etwa dadurch der Rechtsfriede mehr gestört als wiederhergestellt würde. Hierzu abschliessend noch einmal Feuerbach: "Nach meiner einfältigen Meinung muss das Gesetz angewendet werden, sobald der Fall da ist, auf den es die Strafe angedroht hat, und der Richter, der dagegen handelt und das Gesetz bekrittelt und auf Erfahrungen horcht, von denen erst die Gültigkeit des Gesetzes für diesen Fall abhängen müsse, dieser Richter ist ein Verbrecher an den Gesetzen des Staates "479•
rechtlicher B eurteilung (historischer) Vergangenheit und die Rolle der Richter: Roth
2004, S. 3ff. , insbesondere S. 8. 4?9 Paul Johann Anselm Feuerbach, 1 804 in Küper 1993, S. 1 65 .
1 02
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