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Leo Trotzki

Nationale Frage und nationaleMinderheiten

Inhalt:

Vorwort des Herausgebers 3

Die Kolonialvölker im Krieg 6Offener Brief an die indischen Arbeiter 14Zur nationalen Frage in Südafrika 28Die Zukunft Lateinamerikas 38Die Negerfrage in Amerika 41Aussichten und Aufgaben im Fernen Osten 55

Minderheiten und Emigrantenpolitik Vorwort von Peter Buch 76

Brief an die 'Klorkheit' und an die jüdischen Arbeiter in Frankreich 79

Grüße an 'Unser Kamf' (Unser Kampf)Jiddisch-sprachige Zeitung der USA 82

Tony Cliff:Die Permanente Revolution 85

22 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderheiten

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Vorwort des HerausgebersZum weiteren Verständnis von Trotzkis herausragendstem Werkder "Permanenten Revolution", veröffentlichen wir hier speziell dienationalen Frage betreffend einige Artikel, die weniger verbreitetsind als die zu China. Eine zusammenfassende Darstellung undeine kritische Beleuchtung dieser Theorie findet sich in dem ab-schließenden Aufsatz von Tony Cliff.

Trotzki fasste seine 1905 entwickelte Theorie 1929 zusammen.Seine Hauptaussage ist die der Unfähigkeit einer erst spät in dieweltgeschichtliche Arena eintretenden Bourgeoisie, eine vollständi-ge demokratische und revolutionäre Lösung für die Probleme derunterdrückten Nationen herbeizuführen. Cliff weist auf die richtigeEinschätzung von Trotzki in diesem Punkt hin, wobei hier auch dieGenialität Trotzkis deutlich wird. Gleichzeitig verweist er aberauch auf eine Schwäche seines Werkes, und zwar der These, dassdie entscheidende Rolle bei der politischen Befreiung der unter-drückten Nationen auch dem Proletariat zufallen wird.

Der Imperialismus hat seit 1929 noch eine überraschend große vi-tale Überlebensfähigkeit gezeigt. Alle bedeutenden Marxisten da-mals hatten dies nicht erwartet und konnten dies auch nicht sehen.Der Grund für das lange Überleben des Kapitalismus liegt im Rüs-tungskapitalismus. Die zusätzliche Rüstungsnachfrage, und sie isterst während des 2. Weltkrieges und besonders danach (Korea-Krieg, Vietnam) ins unermessliche gestiegen, hat zu einem langan-haltenden weltweiten Wirtschaftsaufschwung geführt.

In diesem Rahmen konnte in den meisten national unabhängigenLändern bis auf wenige Ausnahmen das nationale Kapital (Klein-und Mittelkapital, Kleinbürgertum) meistens in Gestalt stalinisti-scher Bürokraten die politische, nicht aber ökonomische Unabhän-gigkeit erkämpfen, also keine vollständige demokratische Lösung.Das Proletariat hat bis heute auch außer in Russland keine eigen-

33 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderheiten

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ständige Rolle gespielt sondern diente nur dem Kleinbürgertum alsHilfsarmee.

»Nur ein kühner, energischer Kampf des indischen Volkes fürseine wirtschaftliche und nationale Emanzipation kann Indien be-freien. Die indische Bourgeoisie ist zur Führung eines revolutionä-ren Kampfes unfähig.« schreibt Trotzki in dem ersten Artikel"Brief an die indischen Arbeiter". Politisch hat die indische Bour-geoisie Indien befreit, nicht aber wirtschaftlich, die Arbeitermas-sen, das Volk, dienten Gandhi und seinen Standesgenossen nur alsFußsoldaten.

Dennoch war es für Trotzki immer wichtig, die bürgerlichen nati-onalen Befreiungsbewegungen militärisch zu unterstützen, politischaber zu bekämpfen, eimmal weil auch eine bürgerliche Befreiungs-bewegung den Imperialismus schwächt und erst, wenn die eigeneBourgeoisie die Arbeiter unterdrückt, diese ihren wirklichen Feind- das Kapital - auch erkennen können werden.

1994 aber hat das Kapital endgültig abgewirtschaftet, die Weltla-ge sich total verändert. Überall herrscht Arbeitslosigkeit, und keinbürgerlicher Ökonom geht mehr davon aus, dass die Massenar-beitslosigkeit noch abgebaut werden kann, niemand kennt die Lö-sung für die Probleme der Erweiterung des Ozonlochs und die zu-nehmende Klimakatastrophe. Dem täglichen Hungertod von 50.000Kindern setzt man nur hilflosen Spendenaktionen entgegen, unddem täglich zunehmenden Morden der zerfallenden Staaten begeg-net man mit "Blauhelm rein - Blauhelm raus"-Spielchen, die dieFeuer eher noch anfachen als löschen.

Auch wenn die "Staaten" politisch nicht von Imperialismus be-herrscht sind, können sie keine politisch unabhängige Regierungmehr etablieren. Aktuelle Beispiele sind Afghanistan, Somalia, Li-beria usw. Die Bourgeoisie ist zu keinem Schritt mehr in dieseRichtung fähig. Der Imperialismus hat mit seiner Politik diese Län-der total ausgesaugt und zerschlagen. In der Ahnung, dass dieBourgeoisien keine Perspektiven mehr haben, versucht das schwar-ze Bürgertum in Südafrika und das Bürgertum in Palästina im letz-ten Moment der Weltgeschichte noch neue bürgerliche Staaten zu

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etablieren. Während in Südafrika vielleicht dieser Versuch nochgerade klappen wird, wird uns in Palästina die weitere Unmöglich-keit kapitalistischer Perspektiven dort täglich vorgeführt.

In Palästina und in der Zukunft weltweit wird in der Regel nurnoch das Proletariat auch die politische Unabhängigkeit erkämpfenkönnen. Den Arbeitern wird die entscheidende revolutionäre Rollezufallen. Das Werk von Trotzki über die nationale Frage und diepermanente Revolution, wird eine neue Bedeutung erlangen undnach dem endgültigen Zusammenbruch des Imperialismus seinevolle Gültigkeit erhalten. April 1994

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Leo Trotzki in Norwegen 1935/36bei Konrad Knudsen

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Die Kolonialvölker im Krieg11

Gerade durch die Schaffung enormer Schwierigkeiten und Gefah-ren für die imperialistischen Metropolen eröffnet der Krieg um-fangreiche Möglichkeiten für die unterdrückten Völker. Der Kano-nendonner in Europa verkündet die herannahende Stunde ihrer Be-freiung.

Wenn für die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder ein Pro-gramm der friedlichen gesellschaftlichen Umgestaltung utopischist, dann ist für die Kolonien das Programm der friedlichen Befrei-ung doppelt utopisch. Andererseits wurden vor unseren Augen dieletzten halbfreien zurückgebliebenen Länder (Äthiopien, Albanien,China ... ) versklavt. Der ganze gegenwärtige Krieg ist ein Kriegum Kolonien. Von einigen werden sie gejagt; von anderen, die sichweigern, sie aufzugeben, werden sie festgehalten. Keine Seite hatdie geringste Absicht, sie freiwillig freizugeben. Die niedergehen-den Metropolen sind gezwungen, soviel wie möglich aus den Kolo-nien herauszuziehen und ihnen dafür so wenig wie möglich zu ge-ben. Nur der direkte und offene revolutionäre Kampf der versklav-ten Völker kann den Weg zu ihrer Befreiung öffnen.

In den kolonialen und halbkolonialen Ländern ist der Kampf füreinen unabhängigen Nationalstaat, und damit folglich die "Vater-landsverteidigung", prinzipiell verschieden von dem der imperialis-tischen Länder. Das revolutionäre Proletariat der ganzen Welt un-terstützt bedingungslos den Kampf Chinas oder Indiens für die na-tionale Unabhängigkeit, denn dieser Kampf "versetzt den imperia-listischen Staaten mächtige Schläge, indem er die rückständigenVölker dem asiatischen System, dem Partikula-rismus und derFremdbestimmung entreisst" (Der Krieg und die IV. Internationa-le).

11 Kapitel aus "Manifest der IV. Internationale zum imperialistischen Krieg undKapitel aus "Manifest der IV. Internationale zum imperialistischen Krieg undzur proletarischen 'Weltrevolution". Das Manifest wurde auf der Notkonferenzzur proletarischen 'Weltrevolution". Das Manifest wurde auf der Notkonferenzder IV. Internationale (19.-26. Mai 1940)der IV. Internationale (19.-26. Mai 1940) , , in New York verabschiedet. Diesein New York verabschiedet. DieseFassung stützt sich auf die Fassung aus: "Schriften zum imperialistischen Krieg"Fassung stützt sich auf die Fassung aus: "Schriften zum imperialistischen Krieg"Frankfurt 1978 Frankfurt 1978

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Schlacht um Rangun 1824

Gleichzeitig weiß die IV. Internationale im voraus und warnt diezurückgebliebenen Nationen davor, dass ihre verspäteten National-staaten nicht mehr mit einer unabhängigen demokratischen Ent-wicklung rechnen können. Umgeben vom niedergehenden Kapita-lismus und in die imperialistischen Widersprüche verwickelt, wirddie Unabhängigkeit eines rückständigen Staates unweigerlich halb-fiktiv sein, und sein politisches Regime wird unter dem Einflussder internationalen Klassenwidersprüche und des Drucks von au-ßen unvermeidlich in eine Diktatur gegen das Volk verfallen - sowie das Regime der "Volks"partei in der Türkei, der Guomindangin China; Gandhis Regime wird morgen in Indien genauso ausse-hen.

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Ein Brite in Indien

Vom Standpunkt des revolutionären Proletariats ist der Kampf fürdie nationale Unabhängigkeit der Kolonien nur ein Übergangsstadi-um auf dem Weg, der die rückständigen Länder in die internationa-le sozialistische Revolution führt.

Die IV. Internationale macht keine eindeutigen starren Unter-schiede zwischen den rückständigen und den fortgeschrittenen Län-dern und der demokratischen und sozialistischen Revolution. Siekombiniert sie und ordnet sie dem weltweiten Kampf der Unter-drückten gegen die Unterdrücker unter. So wie die einzig wahre re-volutionäre Kraft unserer Epoche das internationale Proletariat ist,so ist das einzig reale Programm für die Beseitigung aller gesell-schaftlichen und nationalen Unterdrückung das Programm der per-manenten Revolution.

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Die große Lehre Chinas

Die tragische Erfahrung Chinas ist eine eindrucksvolle Lehre fürdie unterdrückten Völker. Die chinesische Revolution von 1925-27hatte jede Chance zum Sieg. Ein geeintes und verändertes Chinawürde heute eine mächtige Bastion der Freiheit im Fernen Ostendarstellen. Das ganze Schicksal Asiens und bis zu einem gewissenGrad der ganzen Welt hätte anders aussehen können. Aber derKreml, der kein Vertrauen in die chinesischen Massen hatte und dieFreundschaft der Generäle suchte, setzte sein ganzes Gewicht ein,um das chinesische Proletariat der Bourgeoisie unterzuordnen, undhalf dadurch Chiang Kai-shek, die chinesische Revolution nieder-zuschlagen. Enttäuscht, gespalten und geschwächt war China offenfür die japanische Invasion.

Tschiang-Kai ShekTschiang-Kai Shek 1887 - 1975

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Wie jedes zum Untergang verurteilte Regime ist die stalinistischeOligarchie bereits unfähig, aus den Lehren der Geschichte zu ler-nen. Zu Beginn des chinesisch-japanischen Krieges brachte derKreml die Kommunistische Partei wieder unter die Fuchtel vonChiang Kai-shek, indem er die revolutionäre Initiative des chinesi-schen Volkes im Keim erstickte. Dieser Krieg, der sich jetzt seinemdritten Jahrestag nähert, hätte schon längst durch eine wahre Kata-strophe für Japan beendet sein können, wenn China ihn als einenwirklichen Volkskrieg geführt hätte, der sich auf eine Agrarrevolu-tion gestützt und die japanische Soldateska mit seiner Glut in Brandgesetzt hätte. Aber die chinesische Bourgeoisie fürchtet ihre eige-nen bewaffneten Massen mehr als die japanischen Räuber. WennChiang Kai-shek, der unheilvolle Henker der chinesischen Revolu-tion, durch die Umstände zum Krieg gezwungen wird, wird seinProgramm wie vorher noch immer auf der Unterdrückung seiner ei-genen Arbeiter und einem Kompromiss mit den Imperialisten beru-hen. Der Krieg in Ostasien wird immer mehr mit dem imperialisti-schen Weltkrieg verknüpft werden. Das chinesische Volk wird nurunter der Führung des jungen aufopferungsvollen Proletariats, inwelchem das unerlässliche Selbstvertrauen durch die Wiedergeburtder Weltrevolution neu belebt wird, fähig sein, die Unabhängigkeitzu erreichen. Es wird eine feste Marschrichtung angeben. Der Gangder Ereignisse setzt die Entwicklung unserer chinesischen Sektionzu einer mächtigen revolutionären Partei auf die Tagesordnung.

Die Aufgaben der Revolution in Indien

In den allerersten Wochen des Krieges übten die indischen Mas-sen einen wachsenden Druck aus und zwangen die opportunisti-schen "nationalen" Führer, sich in ungewohnter Weise zu äußern.Aber wehe dem indischen Volk, wenn es Vertrauen in hochtraben-de Worte setzt! Hinter der Maske der Losung nationaler Unabhän-gigkeit hat Gandhi sich beeilt, seine Weigerung zu verkünden,Großbritannien während der jetzigen ernsten Krise Schwierigkeitenzu bereiten. Als ob die Unterdrückten irgendwo oder zu irgendeinerZeit jemals in der Lage gewesen wären, sich selbst zu befreien,ohne die Schwierigkeiten ihrer Unterdrücker auszunützen!

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Indische Massendemonstration im südindischenBangalore während der Quit-India-Kampagne 1942

Gandhis "moralische" Abkehr von der Gewalt spiegelt nur dieAngst der indischen Bourgeoisie vor ihren eigenen Massen wider.Sie haben gute Gründe für ihre schlimme Ahnung, dass der briti-sche Imperialismus sie mit in den Abgrund ziehen wird. Londonseinerseits warnt, dass es bei den ersten Widersetzlichkeiten "allenotwendigen Maßnahmen" ergreifen wird - was natürlich die Luft-waffe, die an der Westfront nicht stark genug ist, mit einschließt.

Es gibt eine klar umrissene Arbeitsteilung zwischen der kolonia-len Bourgeoisie und der britischen Regierung: Gandhi braucht dieDrohungen Chamberlains und Churchills, um die revolutionäre Be-wegung erfolgreicher zu paralysieren.

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Mahatma GandhiMahatma Gandhi 1869 – 1948

In naher Zukunft verspricht der Gegensatz zwischen den indi-schen Massen und der Bourgeoisie in dem Maße schärfer zu wer-den, wie der imperialistische Krieg für die indische Bourgeoisieimmer mehr zu einem gigantischen Handelsunternehmen wird. In-dem er einen außerordentlich günstigen Markt für Rohstoffe er-schließt, kann er möglicherweise die indische Industrie schnell an-kurbeln. Wenn die völlige Zerstörung des britischen Weltreichesdie Nabelschnur zerschneidet, die das indische Kapital mit der Lon-

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doner City verbindet, wird sich die nationale Bourgeoisie schnelleinen neuen Beschützer in der New Yorker Wall Street suchen. Diemateriellen Interessen der Bourgeoisie bestimmen ihre Politik mitder Kraft der Gravitationsgesetze.

Solange die Befreiungsbewegung von der Ausbeuterklasse ge-steuert wird, ist sie unfähig, aus der Sackgasse herauszukommen.Allein die Agrarrevolution unter dem Banner der nationalen Unab-hängigkeit kann Indien zusammenschweißen. Eine vom Proletariatgeführte Revolution wird sich nicht nur gegen die britische Herr-schaft richten, sondern auch gegen die indischen Prinzen, die aus-ländischen Konzessionen, die Oberschicht der nationalen Bour-geoisie und sowohl gegen die Führer der Kongress -Partei als auchgegen die Führer der Moslem-Liga. Der Aufbau einer gefestigtenund machtvollen Sektion in Indien ist eine dringende Aufgabe derIV. Internationale.

Die verräterische Politik der Klassenkollaboration, durch die derKreml in den letzten fünf Jahren den kapitalistischen Regierungenbei der Kriegsvorbereitung geholfen hat, wurde von der Bourgeoi-sie sofort abrupt liquidiert, als sie keiner pazifistischen Verkleidungmehr bedurfte. Aber in den kolonialen und halbkolonialen Ländern- nicht nur in China und Indien, sondern auch in Lateinamerika -lähmt der Betrug der "Volksfronten" weiter die werktätigen Mas-sen; er macht sie zu Kanonenfutter für die "progressive" Bourgeoi-sie und verschafft auf diese Weise dem Imperialismus eine einhei-mische politische Basis.

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Offener Brief an die indischen ArbeiterDie chinesische Revolution von 1949-50 nahm in wesentlichen

Punkten den von Trotzki prognostizierten Verlauf. Als der ZweiteWeltkrieg herannahte, wies er nachdrücklich auf die neuen Mög-lichkeiten hin, die sich allen kolonialen und halbkolonialen Völ-kern, vor allem Indien und China, für die Befreiung von der imperi-alistischen Herrschaft boten. Trotzki unterstützte von ganzem Her-zen das Streben aller unterdrückten Völker nach nationaler Unab-hängigkeit, wies aber auch darauf hin, dass der Kampf um die nati-onale Unabhängigkeit nur »eine Etappe auf dem Wege sein würde,auf dem die zurückgebliebenen Völker in die sozialistische Revolu-tion hineingerieten«. Im Juli 1939 richtete er von Coyoacán aus,dem Vorort von Mexico City, in dem er (seit Januar 1937) Zufluchtgefunden hatte, den folgenden "Offenen Brief“22 an die indischenArbeiter:

22 Indiya pered imperialistskoi voinoi" (Indien vor dem imperialistischen Krieg; Indiya pered imperialistskoi voinoi" (Indien vor dem imperialistischen Krieg; 25.7.1939). 25.7.1939). Russ in: 'Bulletin der Opposition', Nº 79 - 80, Aug.-Okt. 1939, S. 22-Russ in: 'Bulletin der Opposition', Nº 79 - 80, Aug.-Okt. 1939, S. 22-25. Engl.: "An Open Letter to the Workers of India", in: 'New International', 25. Engl.: "An Open Letter to the Workers of India", in: 'New International', September I939, S. 263-265. September I939, S. 263-265. "India Faced with Imperialist War", in: 'Writings of Leon Trotsky' (1939-40), New York (Pathfinder Press) 1973, S. 28-34-27.

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Liebe Freunde! Titanische und furchtbare Ereignisse nähern sich mit unerbittli-

cher Gewalt. Die Menschheit lebt in der Erwartung eines Krieges,der auch die kolonialen Länder in seinen Strudel ziehen und für ihrSchicksal entscheidend sein wird. Agenten der britischen Regie-rung schildern die Sache so, als solle der Krieg für die Prinzipiender »Demokratie« geführt werden, die vor dem Faschismus gerettetwerden müsse. Alle Klassen und Völker müssten sich um die»friedlichen«, »demokratischen« Regierungen scharen, um die fa-schistischen Angreifer zurückzuschlagen. Dann werde die »Demo-kratie« gerettet und der Friede für immer gesichert sein.

Dieses Evangelium ist eine bewusste Lüge. Wenn die britischeRegierung wirklich am Gedeihen der Demokratie interessiert wäre,gäbe es eine sehr einfache Möglichkeit, das zu beweisen, indem sieIndien die völlige Freiheit gewährte. Das Recht auf nationale Unab-hängigkeit ist ein demokratisches Grundrecht. Aber in Wirklichkeitist die Londoner Regierung33 bereit, für ein Zehntel ihrer Kolonienalle Demokratien der Welt zu verraten.

Wenn das indische Volk nicht in alle Ewigkeit versklavt bleibenwill, dann muss es jene falschen Prediger, die behaupten, der Fa-schismus sei der einzige Feind des Volkes, bloßstellen und von sichweisen. Hitler und Mussolini sind ohne Zweifel die härtesten Geg-ner der Werktätigen und Unterdrückten, - blutrünstige Henker, dieden stärksten Hass der Werktätigen und Unterdrückten der Weltverdienen. Aber sie sind vor allem die Feinde des deutschen unditalienischen Volkes, dem sie im Nacken sitzen. Die unterdrücktenKlassen und Völker müssen, wie Marx, Engels, Lenin und Lieb-knecht44 uns lehrten, ihren Hauptfeind immer zu Hause, in ihren un-

33 Englischer Ministerpräsident war seit Mai 1937 A. N. Chamberlain. Nach demEnglischer Ministerpräsident war seit Mai 1937 A. N. Chamberlain. Nach demScheitern seiner »Appeasement«-Politik (der Friedensrettung durch ZugeständScheitern seiner »Appeasement«-Politik (der Friedensrettung durch Zugeständ--nisse) gegenüber den faschistischen Regimen ging die Regierung im Mai I940 annisse) gegenüber den faschistischen Regimen ging die Regierung im Mai I940 andas Kriegskabinett unter W. Churchill über.das Kriegskabinett unter W. Churchill über.44 Karl Liebknecht (1871-1919), Sohn Wilhelm Liebknechts, Rechtsanwalt. AlsKarl Liebknecht (1871-1919), Sohn Wilhelm Liebknechts, Rechtsanwalt. AlsSozialdemokrat Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses seit 1908, seitSozialdemokrat Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses seit 1908, seit1912 im Reichstag. Vor dem 1. Weltkrieg Organisator der Sozialistischen Ju1912 im Reichstag. Vor dem 1. Weltkrieg Organisator der Sozialistischen Ju--

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mittelbaren Unterdrückern und Ausbeutern suchen. In Indien istdieser Feind vor allem die britische Bourgeoisie.

Der Sturz des britischen Imperialismus würde allen Unterdrü-ckern, einschließlich der faschistischen Diktatoren, einen furchtba-ren Schlag versetzen. Letzten Endes unterscheiden sich die Imperi-alisten voneinander der Form, nicht dem Wesen nach. Der deutscheImperialismus trägt, seiner Kolonien beraubt, die furchterregendeMaske des Faschismus mit den weit vorstehenden Hauern. Der bri-tische Imperialismus, der sich an seinen zahllosen Kolonien vollge-fressen hat, verbirgt die Hauer hinter der Maske der Demokratie.Aber diese Demokratie gibt es nur für das Mutterland, für45.000.000 Menschen im Mutterland, oder, genauer gesagt, nur fürdie dort herrschende Bourgeoisie. Indien ist nicht nur der Demokra-tie, sondern des elementarsten Rechts auf nationale Unabhängigkeitberaubt. Die imperialistische Demokratie ist daher eine Demokratievon Sklavenbesitzern, die sich am Blut der Kolonien mästen. AberIndien sucht seine eigene Demokratie und will nicht der Kehricht-haufen der Sklavenbesitzer bleiben.

gendinternationale. Stimmte im Dezember 1914 und im August 1915 gegen diegendinternationale. Stimmte im Dezember 1914 und im August 1915 gegen dieKriegskredite und wurde nach einer Kundgebung gegen den Krieg 1916 wegenKriegskredite und wurde nach einer Kundgebung gegen den Krieg 1916 wegenHochverrats zu 4 Jahren Zuchthaus verurteilt. Durch seine Opposition gegen denHochverrats zu 4 Jahren Zuchthaus verurteilt. Durch seine Opposition gegen denKrieg (»Der Hauptfeind steht im eigenen Land«) gewann er großes internationaKrieg (»Der Hauptfeind steht im eigenen Land«) gewann er großes internationa --les Ansehen. Am 9.11.1918 rief er die »Sozialistische Republik« aus. Mit Rosales Ansehen. Am 9.11.1918 rief er die »Sozialistische Republik« aus. Mit RosaLuxemburg in der Führung des Spartakusbundes, wurde er nach dem JanuaraufLuxemburg in der Führung des Spartakusbundes, wurde er nach dem Januarauf --stand 1919 von Regierungstruppen verhaftet und ermordet. stand 1919 von Regierungstruppen verhaftet und ermordet.

(Militarismus und Antimilitarismus, 1907; Klassenkampf gegen den Krieg, 1916,(Militarismus und Antimilitarismus, 1907; Klassenkampf gegen den Krieg, 1916,1919; Studien über die Bewegungsgesetze der kapitalistischen Entwicklung,1919; Studien über die Bewegungsgesetze der kapitalistischen Entwicklung,1922; Politische Aufzeichnungen [1917/18] aus dem Nachlass, 1921; Gesammel1922; Politische Aufzeichnungen [1917/18] aus dem Nachlass, 1921; Gesammel--te Reden und Schriften, Berlin 1958 ff.)te Reden und Schriften, Berlin 1958 ff.)..

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Wer dem Faschismus, der Reaktion und allen Formen von Unter-drückung ein Ende bereiten will, muss den Imperialismus stürzen.Es gibt keinen anderen Weg. Diese Aufgabe lässt sich aber nichtmit friedlichen Methoden, durch Verhandlungen und Gelöbnisseverwirklichen. In der Geschichte haben Sklavenbesitzer ihre Skla-ven noch nie freiwillig freigelassen. Nur ein kühner, energischerKampf des indischen Volkes für seine wirtschaftliche und nationaleEmanzipation kann Indien befreien. Die indische Bourgeoisie istzur Führung eines revolutionären Kampfes unfähig. Sie ist eng mitdem britischen Kapitalismus verbunden und von ihm abhängig. Siezittert um ihren eigenen Besitz. Sie fürchtet sich vor den Massen.Sie sucht um jeden Preis Kompromisse mit dem britischen Imperia-lismus zu schließen und lullt die indischen Massen mit Hoffnungenauf Reformen von oben ein. Der Führer und Prophet dieser Bour-geoisie ist Gandhi55. Ein falscher Führer und ein falscher Prophet!

55 Mahatma Gandhi (Karamchand Mohandas; 1869-1948), stammte aus der KasteMahatma Gandhi (Karamchand Mohandas; 1869-1948), stammte aus der Kasteder Kaufleute, war Rechtsanwaltder Kaufleute, war Rechtsanwalt und leitete 1893-1914 den Widerstand der indi und leitete 1893-1914 den Widerstand der indi--schen Einwanderer gegen diskriminierende Gesetze in Südafrika. Seit I914 leiteschen Einwanderer gegen diskriminierende Gesetze in Südafrika. Seit I914 leite--

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Gandhi und seine Standesgenossen haben eine Theorie entwickelt,der zufolge Indiens Lage sich ständig verbessern wird, seine Frei-heiten sich ständig vergrößern und Indien allmählich,ßern und Indien allmählich, auf dem Wegfriedlicher Reformen, ein sich selbst regierendes Land des Briti-schen Staatenbundes wird. Später kann es sogar die vollständigeUnabhängigkeit erlangen.

Diese ganze Perspektive ist von Grund auf falsch. Die imperialis-tischen Klassen konnten den kolonialen Völkern wie ihren eigenenArbeitern nur so lange Zugeständnisse machen, wie es mit dem Ka-pitalismus aufwärts ging, solange die Ausbeuter fest mit wachsen-den Profiten rechnen konnten. Davon kann heute keine Rede mehrsein. Der Weltimperialismus befindet sich im Niedergang. DieLage aller imperialistischen Nationen wird täglich schwieriger,während sich die Widersprüche zwischen ihnen mehr und mehrverschärfen. Ungeheure Aufrüstungen verschlingen einen immergrößeren Teil des Volkseinkommens. Die Imperialisten können we-der ihren eigenen arbeitenden Massen noch den Kolonien ernsteZugeständnisse machen. Im Gegenteil, sie müssen zu einer immerbestialischeren Ausbeutung ihre Zuflucht nehmen. Gerade darinkommt der Todeskampf des Kapitalismus zum Ausdruck. Um ihreKolonien, Märkte und Privilegien zu behalten, um sie vor Deutsch-land, Italien und Japan in Sicherheit zu bringen, ist die LondonerRegierung bereit, Millionen von Menschen niederzumähen. Kannman als vernünftiger Mensch überhaupt die Hoffnung hegen, dassdiese gierige und barbarische Finanzoligarchie Indien freiwilligräumen wird?

Es ist richtig: An die Stelle der Toryregierung könnte eine Regie-rung der sogenannten Arbeiterpartei [Labour Party] treten. Aberdas wird nichts ändern. Die Labour Party unterscheidet sich, wieihr früheres und das jetzige Programm beweisen, in der kolonialenFrage in keiner Weise von den Konservativen. Die Labour Partyvertritt in Wirklichkeit nicht die Interessen der Arbeiterklasse, son-

te er in Indien (als Führer der NationalKongress-Partei) den (gewaltlosen) Wite er in Indien (als Führer der NationalKongress-Partei) den (gewaltlosen) Wi--derstand gegen die britische Kolonialherrschaft (bürgerlicher Ungehorsam, Waderstand gegen die britische Kolonialherrschaft (bürgerlicher Ungehorsam, Wa--renboykott, etc.). Im Zweiten Weltkrieg forderte er für Indien die sofortige Unrenboykott, etc.). Im Zweiten Weltkrieg forderte er für Indien die sofortige Un--abhängigkeit. (J.M. Brown, "Gandhi's Rise to Power", Cambridge 1972.)abhängigkeit. (J.M. Brown, "Gandhi's Rise to Power", Cambridge 1972.)

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dern nur die Interessen der britischen Arbeiterbürokratie und Arbei-teraristokratie. Dieser Schicht kann die Bourgeoisie saftige Bissenzuspielen, weil sie selbst die Kolonien, vor allem Indien, rück-sichtslos ausbeutet. Die britische Arbeiterbürokratie - der LabourParty und der Gewerkschaft - ist an der Ausbeutung der Kolonienunmittelbar interessiert. Sie hat nicht das geringste Bedürfnis, andie Emanzipation Indiens zu denken. Alle diese feinen Herren -Major Attlee, Sir Walter Citrine & Co.66 - sind jederzeit bereit, dierevolutionäre Bewegung des Volkes als »Verrat«, als Unterstüt-zung Hitlers und Mussolinis zu brandmarken und sie militärisch zuunterdrücken.

Auch die Politik der heutigen Kommunistischen Internationale istum keinen Deut besser. Gewiss, vor zwanzig Jahren [1919] wurdedie Dritte oder Kommunistische Internationale als eine wahrhaft re-volutionäre Organisation gegründet. Eine ihrer wichtigsten Aufga-ben war die Befreiung der kolonialen Völker. Von diesem Pro-gramm77sind jedoch heute nur mehr Erinnerungen übrig geblieben.Die Führer der Kommunistischen Internationale sind seit langemlediglich Werkzeuge der Moskauer Bürokratie, die die sowjeti-schen Arbeitermassen erstickt und sich in eine neue Aristokratieverwandelt hat. In den Reihen der kommunistischen Parteien ver-

66 Clement R. Attlee (1883-1967), Rechtsanwalt, 1935-55 Führer der Labour ParClement R. Attlee (1883-1967), Rechtsanwalt, 1935-55 Führer der Labour Par--ty, 1940-45 im Koalitionskabinett Churchill, 1945-51 Premierminister der Laty, 1940-45 im Koalitionskabinett Churchill, 1945-51 Premierminister der La--bour-Regierung (Sozialisierungsmaßnahmen; Beginn des Abbaus des britischenbour-Regierung (Sozialisierungsmaßnahmen; Beginn des Abbaus des britischenKolonialreichs durch Aufgabe Britisch-Indiens und des Palästinamandats). 1951-Kolonialreichs durch Aufgabe Britisch-Indiens und des Palästinamandats). 1951-55 war Attlee Oppositionsführer, wurde 1955 geadelt und Mitglied des Oberhau55 war Attlee Oppositionsführer, wurde 1955 geadelt und Mitglied des Oberhau --ses.ses.

(E.F. Williams, "Twilight of Empire, Memoirs of Prime Minister C.A.", 1962.) (E.F. Williams, "Twilight of Empire, Memoirs of Prime Minister C.A.", 1962.)

Walter McLennan Citrine (geb. 1887), seit 1914 Gewerkschaftssekretär; vonWalter McLennan Citrine (geb. 1887), seit 1914 Gewerkschaftssekretär; von1926, als er den großen Generalstreik leitete, bis 1946 Generalsekretär der TUC1926, als er den großen Generalstreik leitete, bis 1946 Generalsekretär der TUC(des Dachverbands der engl. Gewerkschaften), von 1928-1945 Präsident des in(des Dachverbands der engl. Gewerkschaften), von 1928-1945 Präsident des in--ternationalen Gewerkschaftsbundes, I945-46 des Weltgewerkschafts-bundes.ternationalen Gewerkschaftsbundes, I945-46 des Weltgewerkschafts-bundes.77Vgl. die Verhandlungen des II. Kongresses der Komintern am 26. undVgl. die Verhandlungen des II. Kongresses der Komintern am 26. und28.7.1920, bes. den Bericht Lenins (S. 137-143) und die "Leitsätze über die Nati28.7.1920, bes. den Bericht Lenins (S. 137-143) und die "Leitsätze über die Nati--onalitäten- und Kolonialfrage" (S. 224-232), in: Protokoll des II. Weltkongressesonalitäten- und Kolonialfrage" (S. 224-232), in: Protokoll des II. Weltkongressesder Kommunistischen Internationale, Hamburg (Hoym) 1921 (Reprint: Erlangender Kommunistischen Internationale, Hamburg (Hoym) 1921 (Reprint: Erlangen1971).1971).

1919 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderheiten

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schiedener Länder - Indien eingeschlossen - gibt es zweifelsohneviele ehrliche Arbeiter, Studenten etc., aber sie bestimmen nichtdies Politik der Komintern. Das entscheidende Wort spricht derKreml, der sich nicht von den Interessen der Unterdrückten, son-dern von denen der neuen Aristokratie der UdSSR leiten lässt.

Stalin und seine Clique haben um des Bündnisses mit den imperi-alistischen Regierungen willen das revolutionäre Programm zurBefreiung der Kolonien völlig fallengelassen. Das wurde auf demletzten [18.] Parteitag der Stalin-Partei in Moskau im März diesesJahres [10. - 21.3.1939] offen eingestanden. Manuilski88, einer derFührer der Komintern, erklärte: »Die Kommunisten stellen sich andie vorderste Front des Kampfes um die Verwirklichung des Rechtsauf Selbstbestimmung von Völkern, die durch faschistische Regie-rungen versklavt werden. Sie fordern freie Selbstbestimmung fürÖsterreich ... , das Sudetengebiet ..., für Korea, Formosa, Äthiopi-en ... « Und wie steht es mit Indien, Indochina, Algerien und ande-ren Kolonien Englands und Frankreichs? Der Kominternvertreterbeantwortet diese Frage wie folgt: »Die Kommunisten ... fordernvon den imperialistischen Regierungen der sogenannten bürgerli-chen demokratischen Staaten die unmittelbare [sic] drastische [!]Verbesserung des Lebensstandards der werktätigen Massen in den8 Dimitri Z. Manuilski (1883-1 Dimitri Z. Manuilski (1883-1959), agitierte vor1905 an der Petersburger Universität, wurde 1905 verhaftet und verbannt, flohnach Paris, gehörte zu den Menschewisten. 1917 schloss er sich der Trotzki-Gruppe an und trat mit ihr der bolschewistischen Partei bei. 1924-42 war er Mit-glied des Komintern-Sekretariats. Beim VI. Welt-Kongress (1928) trat er alsHauptankläger gegen die Linke Opposition auf. Nach dem Sturz Bucharins warer 1929-34 I. Sekretär der stalinisierten Komintern, dann Stellvertreter Di-mitroffs. Als Vertrauensmann Shdanows hatte er großen Einfluss. Während undnach dem 2. Weltkrieg war er ukrainischer Außenminister, schließlich Uno-De-legierter.959), agitierte vor 1905 an der Petersburger Universität, wurde 1905verhaftet und verbannt, floh nach Paris, gehörte zu den Menschewisten. 1917schloss er sich der Trotzki-Gruppe an und trat mit ihr der bolschewistischen Par-tei bei. 1924-42 war er Mitglied des Komintern-Sekretariats. Beim VI. Welt-Kongress (1928) trat er als Hauptankläger gegen die Linke Opposition auf. Nachdem Sturz Bucharins war er 1929-34 I. Sekretär der stalinisierten Komintern,dann Stellvertreter Dimitroffs. Als Vertrauensmann Shdanows hatte er großenEinfluss. Während und nach dem 2. Weltkrieg war er ukrainischer Außenminis-ter, schließlich Uno-Delegierter.

2020 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderheiten

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Kolonien und die Gewährung breiter demokratischer Rechte undFreiheiten für die Kolonien« (Prawda Nr. 70 vom 12. März 1939).Mit anderen Worten: Was die Kolonien Englands und Frankreichsbetrifft, ist die Komintern völlig auf Gandhis Position, also auf dieder kompromisslirischen Kolonialbourgeoisie überhaupt einge-schwenkt. Die Komintern hat auf den revolutionären Kampf um In-diens Unabhängigkeit völlig verzichtet. Sie »fordert« (auf den Kni-en) die »Gewährung« »demokratischer Freiheiten« für Indiendurch den britischen Imperialismus. Die Worte »unmittelbaredrastische Verbesserungen des Lebensstandards der werktätigenMassen in den Kolonien« klingen besonders verlogen und zynisch.Der moderne Kapitalismus - im Niedergang begriffen, verfaulendund verfallend - ist mehr und mehr gezwungen, selbst die Stellungder Arbeiter im Mutterland zu verschlechtern. Wie kann er also dieLage der Werktätigen in den Kolonien verbessern, denen er denLebenssaft abzapfen muss, um sich selbst aufrechtzuerhalten? DieVerbesserung der Lebensbedingungen der arbeitenden Massen inden Kolonien ist nur über den völligen Sturz des Imperialismusmöglich. „

Aber die Kommunistische Internationale ist auf diesem Weg desVerrats sogar noch weiter gegangen. Kommunisten, sagt Manuil-ski, »ordnen die Verwirklichung dieses Sezessionsrechts [des kolo-nialen Volkes aus dem Imperium] ... dem Ziel der Niederschlagungdes Faschismus unter«. Mit anderen Worten: Das indische Volkmuss im Kriegsfall ... seine jetzigen Sklavenhalter, die britischenImperialisten, unterstützen. Das heißt, sie dürfen ihr Blut nicht fürdie eigene Befreiung, sondern müssen es für die Erhaltung derHerrschaft der »City« über Indien vergießen. Und diese leichtkäuflichen Schurken wagen es, Marx und Lenin zu zitieren! Tat-sächlich ist ihr Lehrer und Führer kein anderer als Stalin, dasHaupt einer neuen bürokratischen Aristokratie, des Schlachtersder Bolschewistischen Partei, des Henkers von Arbeitern und Bau-ern. Die Stalinisten maskieren die Politik ihrer Unterwerfung unterden britischen, französischen und amerikanischen Imperialismusmit der Formel einer »Volksfront«. Was für eine Verhöhnung desVolkes! »Volksfront« ist nur ein neuer Name für jene alte Politik,

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deren Keim die Kollaboration der Klassen, eine Koalition zwi-schen dem Proletariat und der Bourgeoisie ist. In jeder solchenKoalition liegt die Führung unweigerlich in den Händen des rech-ten Flügels, das heißt der besitzenden Klasse. Die indische Bour-geoisie will einen Kuhhandel und keinen Kampf. Eine Koalition mitder Bourgeoisie führt dazu, dass das Proletariat auf den revolutio-nären Kampf gegen den Imperialismus verzichtet. Koalitionspolitikheißt: auf der Stelle treten, abwarten, falsche Hoffnungen nähren,leere Manöver und Intrigen. Infolge dieser Politik werden die Ar-beitermassen unvermeidlich enttäuscht, während die Bauern demProletariat den Rücken kehren und in Apathie verfallen. Die deut-sche Revolution, die österreichische Revolution, die chinesischeRevolution und die spanische Revolution - sie alle sind infolge die-ser Koalitionspolitik zugrunde gegangen. Dieselbe Gefahr drohtauch der indischen Revolution, sofern die Stalinisten unter demDeckmantel einer »Volksfront« eine Politik der Unterordnung desProletariats unter die Bourgeoisie treiben. Das bedeutet praktischdie Ablehnung des revolutionären Agrarprogramms, die Weige-rung, die Arbeiter zu bewaffnen, die Ablehnung des Kampfes umdie Macht, den Verzicht auf Revolution.“

Wenn sich die indische Bourgeoisie je gezwungen sieht, auch nurden winzigsten Schritt zum Kampf gegen Englands Willkürherr-schaft zu tun, wird das Proletariat natürlich einen solchen Schrittunterstützen. Aber es wird ihn mit seinen eigenen Methoden unter-stützen: mit Massenversammlungen, kühnen Parolen, Streiks, De-monstrationen und noch entscheidenderen Kampfmaßnahmen, jenach dem Kräfteverhältnis und den Umständen. Um das zu tun,muss das Proletariat die Hände frei haben. Eine völlige Unabhän-gigkeit von der Bourgeoisie ist für das Proletariat unerlässlich, vorallem, um Einfluss auf die Bauernschaft, die Hauptmasse der indi-schen Bevölkerung, auszuüben. Nur das Proletariat ist in der Lage,ein kühnes, revolutionäres Agrarprogramm voranzutreiben, Millio-nen und Abermillionen von Bauern wachzurütteln, um sich zuscheren und gegen die einheimischen Unterdrücker und britischenImperialisten in den Kampf zu führen. Das Bündnis der Arbeiterund der armen Bauern ist das einzige ehrliche, zuverlässige Bünd-

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nis, das den endgültigen Sieg der indischen Revolution garantierenkann.

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2323 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderheiten

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Britisches Weltreich/Kriege des Britischen Weltrei-ches Wikipedia-Liste

Schlacht bei Malplaquet

1. Neunjähriger Krieg (Irland) (1594–1603)

2. Englische Powhatankriege (1608–1646)

Englisch-Niederländische Seekriege (17. und 18. Jahrhundert)

1. Englisch-Niederländischer Krieg (1652–1654)

2. Englisch-Niederländischer Krieg (1665–1667)

3. Englisch-Niederländischer Krieg (1672–1674)

4. Englisch-Niederländischer Krieg (1780–1784)

Englisch-Spanische Kriege

5. Englisch-Spanischer Krieg (1655–1660)

6. Englisch-Spanischer Krieg (1727–1729) War of Jenkins’ Ear (1739–1742)

Tod James Wolfes in der Schlacht auf der Abraham-Ebene

12. Spanischer Erbfolgekrieg (1701–1714)

13. Österreichischer Erbfolgekrieg (1740–1748)

14. Karnatische Kriege

1. Erster Karnatischer Krieg (1744–1748)

2. Zweiter Karnatischer Krieg (1751–1754)

3. Dritter Karnatischer Krieg (1758–1763)

15. Franzosen- und Indianerkriege

1. King William’s War (1689–1697)

2. Queen Anne’s War (1702–1713)

3. King George’s War (1744–1748)

4. Siebenjähriger Krieg in Nordamerika (1754–1763)

2424 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderheiten

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16. Siebenjähriger Krieg (1756 bis 1763)

17. Amerikanischer Unabhängigkeitskrieg (1775–1783)

Schlcht von Trafalgar Koalitionskriege (1792 bis 1815)

25. Zweiter Marathenkrieg (1803 bis 1805)

26. Britische Invasionen am Río de la Plata (1806/07)

27. Britisch-Niederländischer Krieg um Java (1811)

28. Britisch-Amerikanischer Krieg (1812–1815)

29. Gurkha-Krieg (1814–1816)

30. Dritter Marathenkrieg (1817–1818)

Niederlage der britischen Truppen bei Gandamak

32. Anglo-Birmanische Kriege

1. Erster Anglo-Birmanischer Krieg (1824–1826)

2. Zweiter Anglo-Birmanischer Krieg (1852–1853)

3. Dritter Anglo-Birmanischer Krieg (1885)

33. Anglo-Afghanische Kriege

1. Erster Anglo-Afghanischer Krieg (1839–1842)

2. Zweiter Anglo-Afghanischer Krieg (1878–1881)

3. Dritter Anglo-Afghanischer Krieg (1919)

34. Opiumkriege

1. Erster Opiumkrieg (1840–1842)

2. Zweiter Opiumkrieg (1856–1860)

Schlacht von Balaklawa

43. Neuseelandkriege (1845–1872)

44. Sikh-Kriege

1. Erster Sikh-Krieg (1845–1846)

2525 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderheiten

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2. Zweiter Sikh-Krieg (1848–1849)

45. Krimkrieg (1853–1856)

46. Anglo-Persischer Krieg (1856 - 1857)

47. Sepoy-Aufstand (1857)

48. Schweinekonflikt (1859)

49. Britische Äthiopienexpedition von 1868 (1868)

Aschanti-KriegeSchlacht bei Isandhlwana Zulukrieg (1879)

53. Burenkriege

1. Erster Burenkrieg (1880/81)

2. Zweiter Burenkrieg (1899–1902)

54. Besetzung Ägyptens / Urabi-Bewegung (1881–1882)

55. Mahdi-Aufstand (1881–1898)

56. Gordon Relief Expedition (1884/85)

57. Britisch-Sansibarischer Krieg (1896)Schlacht von Tel-el-Kebir

61. Zweiter Matabelekrieg (1896)

62. Boxeraufstand (1899/1900)

63. Feldzüge in Somaliland (1902–1920)

64. Erster Weltkrieg (1914–1918)

65. Irischer Unabhängigkeitskrieg (1919–1921)

66. Irakischer Aufstand (1920)

67. Zweiter Weltkrieg (1939–1945)

68. Koreakrieg (1950–1953)

69. Sueskrise (1956)

2626 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderheiten

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70. Nordirlandkonflikt (1969–1998)

71. Falklandkrieg (1982)

Ende Wikipedia-Liste

Arthur Wellesley führt seine Truppen in die Schlachtvon Assaye, Maratha, Zentralindien.

2727 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderheiten

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Zur nationalen Frage in SüdafrikaBemerkungen zum Thesenentwurf der "Wor-

kers' Party of South Africa" (SüdafrikanischeArbeiterpartei)

Die Thesen sind zweifellos auf der Grundlage ei-ner ernsthaften Untersuchung der ökonomischenund politischen Bedingungen in Südafrika sowieeines eingehenden Studiums der Literatur desMarxismus und des Leninismus geschrieben worden. Eine ernsthaf-te Herangehensweise an allen auftauchenden Fragen ist eine derwichtigsten Voraussetzungen für den Erfolg einer revolutionärenOrganisation. Das Beispiel unserer südafrikanischen Freunde bestä-tigt wiederum die Tatsache, das in der gegenwärtigen Epoche nurdie Bolschewiki-Leninisten, d.h. die unbeirrbaren proletarischenRevolutionäre eine ernsthafte Einstellung zur Theorie aufweisen,die Realitäten analysieren und zuerst selbst lernen bevor sie ande-ren etwas beibringen. Die stalinistische Bürokratie hat schon seitlangem den Marxismus durch eine Kombination von Unwissenheitund Unverfrorenheit ersetzt.

In den folgenden Ausführungen möchte ich einige Bemerkungenzu dem Thesenentwurf machen, der der "Worers' Party of SouthAfrica" als Programm dienen wird. Ich unterbreite diese Bemer-kungen keineswegs in einer ablehnenden Haltung bezüglich des In-halts der Thesen. Ich bin zu wenig mit den Verhältnissen in Süd-afrika vertraut, um mir eine abschliessenne Meinung zu einer gan-zen Reihe von praktischen Fragen zu machen. Nur an einigen Stel-len sehe ich mich gezwungen, meine abweichende Haltung zu be-stimmten Aspekten des Thesenentwurfs zum Ausdruck zu bringen.Aber auch hier haben wir, soweit ich das aus der Ferne beurteilenkann, keine prinzipiellen Differenzen mit den Autoren der Thesen.Es ist vielmehr eine Frage gewisser polemischer Übertreibungen,die sich aus dem Kampf mit der schädlichen stalinistischen Politikzur Nationalitätenfrage ergeben haben. Aber im Interesse der Sachedarf man auch keine kleinen Ungenauigkeiten der Darstellung be-mänteln, sondern muss sie im Gegenteil in die offene Auseinander-

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setzung einbeziehen, um so zu einem äußerst klaren und einwand-freien Text zu gelangen. Dies ist das Ziel der folgenden Ausführun-gen, die von dem Willen geleitet werden, unseren südafrikanischenBolschewiki-Leninisten eine gewisse Hilfestellung zu leisten beidieser großen und verantwortungsvollen Aufgabe, die sie sich vor-genommen haben.

Die südafrikanischen Besitzungen Großbritanniens sind nur vomStandpunkt der weißen Minderheit ein 'Dominion' (ein sich selbstregierendes Land des britischen Staatenbundes, Vorgänger desCommonwealth, d. Red.). Vom Standpunkt der schwarzen Mehr-heit ist Südafrika eine Sklavenkolonie.

Eine soziale Umwälzung (in erster Linie eine Agrarrevolution) istbei einer Aufrechterhaltung der imperialistischen Herrschaft Groß-britanniens in dem südafrikanischen Dominion undenkbar. DerSturz des britischen Imperialismus in Südafrika ist für den Sieg desSozialismus in Südafrika genauso unerläßlich wie für den in Groß-britannien selbst.

Wenn, wie man durchaus annehmen kann, die Revolution zuerstin Großbritannien beginnt, so wird die Niederlage der britischenBourgeoisie im eigenen Land um so schneller eintreten, je wenigerUnterstützung sie in den Kolonien und den Dominions, einschließ-lich einer so wichtigen Besitzung wie die Südafrikas, finden wird.Der Kampf für die Vertreibung des britischen Imperialismus inSüdafrika kann das Ergebnis einer militärischen Niederlage Groß-britanniens und der Desintegration des britischen Empires sein; indiesem Fall können die südafrikanischen Weißen noch für eine ge-wisse, aber wohl kaum sehr lange Periode ihre Herrschaft über dieSchwarzen aufrechterhalten. Eine andere Möglichkeit, die in derPraxis mit der ersten verbunden sein kann, ist eine Revolution inGroßbritannien und seinen Besitzungen. Drei Viertel der Bevölke-rung Südafrikas (fast 6 Mio. von insgesamt fast 8 Mio.) besteht ausNicht-Europäern. Eine siegreiche Revolution ist ohne die Bewusst-werdung der eingeborenen Massen undenkbar; umgekehrt wird dieRevolution ihnen genau das verleihen, was ihnen heute fehlt: Ver-trauen in ihre Kraft, ein höheres persönliches Bewusstsein, eine

2929 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderheiten

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kulturelle Entfaltung. Unter diesen Bedingungen wird die südafri-kanische Republik in erster Linie als eine "schwarze" Republik ent-stehen; dies schließt natürlich weder eine volle Gleichberechtigungfür Weiße noch brüderliche Beziehungen zwischen den beiden Ras-sen aus (was hauptsächlich von dem Verhalten der Weißen abhän-gig sein wird). Aber es ist vollkommen offensichtlich, dass die vonsklavischer Abhängigkeit befreite überwältigende Mehrheit der Be-völkerung dem Staat einen gewissen Stempel aufdrücken wird.

Insofern als die siegreiche Revolution nicht nur die Beziehungzwischen den Klassen, sondern auch zwischen den Rassen radikalverändern wird und den Schwarzen den Platz im Staat einräumenwird, der ihrer numerischen Bedeutung entspricht, wird die sozialeRevolution in Südafrika auch einen nationalen Charakter haben.Wir haben nicht den geringsten Grund, unsere Augen vor diesemAspekt der Frage zu verschließen oder ihre Bedeutung herabzumin-dern. Im Gegenteil, die proletarische Partei sollte in Worten undTaten offen und mutig die Lösung des nationalen (Rassen-)Pro-blems in die Hand nehmen.

Nichtsdestoweniger kann und muss die proletarische Partei dasnationale Problem mit seinen eigenen Methoden lösen.

Die historische Waffe der nationalen Befreiung kann nur derKlassenkampf sein. Die Komintern hat seit 1924 das Programm dernationalen Befreiung der Kolonialvölker in eine leere demokrati-sche Abstraktion transformiert, die über die Realität der Klassenbe-ziehungen hinausgehoben ist: im Kampf gegen nationale Unterdrü-ckung lösen sich verschiedene Klassen zeitweilig von materiellenInteressen und werden "anti-imperialistische" Kräfte; um die imma-teriellen, geistigen Kräfte zu bewegen, ihre Aufgaben, die ihnen dieKomintern zugedacht hat, tapfer zu erfüllen, verspricht man ihnenals Belohnungen geistigen "national-demokratischen" Staat (mitdem unvermeidbaren Bezug auf Lenins Formel: "demokratischeDiktatur der Arbeiter und Bauern").

Die Thesen (der Workers' Party of South Africa; d.Red.) hebenhervor, dass Lenin 1917 kategorisch die Losung der "demokrati-schen Diktatur der Arbeiter und Bauern" als eine notwendige

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Bedingung für die Lösung der Agrarfrage ablehnte. Dies ist voll-kommen richtig. Aber um Mißverständnisse zu vermeiden, sollteman hinzufügen: (a) Lenin sprach immer von einer revolutionärenbürgerlichen demokratischen Diktatur und nicht von einem ideellen"Volksstaat"; (b) im Kampf für eine bürgerliche demokratischeDiktatur bot er keinen Block aller "antizaristischen Kräfte" an, son-dern betrieb eine unabhängige Klassenpolitik des Proletariats. Ein"antizaristischer" Block war die Idee der russischen Sozial-Revolu-tionäre und der linken Kadetten, d.h. der Parteien der Klein- undMittelbourgeoisie. Gegen diese Parteien führten die Bolschewikieinen unversöhnlichen Kampf.

Da, wo die Thesen darlegen, dass die Losung einer "schwarzenRepublik" für die revolutionäre Sache genauso schädlich sei wiedie Losung eines "Südafrika für die Weißen" können wir dieserAusführung nicht zustimmen; während die zweite Losung die totaleUnterdrückung billigt, werden mit der ersten Losung die erstenSchritte zur Befreiung vertreten. Wir müssen mit aller Entschieden-heit und ohne jegliche Vorbehalte das völlige und bedingungsloseRecht der Schwarzen auf Unabhängigkeit akzeptieren. Nur auf derGrundlage eines gemeinsamen Kampfes gegen die Herrschaft derweißen Ausbeuter kann die Solidarität von schwarzen und weißenArbeitern gefördert und gestärkt werden. Es ist möglich, dass dieSchwarzen nach dem Sieg es nicht für nötig erachten werden, einenseparaten Staat in Südafrika zu bilden; sicherlich werden wir sienicht zwingen, einen separaten Staat zu errichten; aber lasst sie die-ses Zugeständnis frei und auf der Grundlage ihrer eigenen Erfah-rungen machen und nicht unter der Peitsche ihrer weißen Unterdrü-cker. Die proletarischen Revolutionäre dürfen nie und nimmer dasRecht der unterdrückten Nationalitäten auf Selbstbestimmung ein-schließlich des Rechts auf völlige (nationale) Lostrennung überge-hen und dürfen nicht die Pflicht des Proletariats der unterdrücktenNation vergessen, dieses Recht wenn nötig mit Waffengewalt zuverteidigen.

Die Thesen heben ganz richtig die Tatsache hervor, dass die Lö-sung der nationalen Frage in Russland durch die Oktoberrevolutionzustande kam. National demokratische Bewegungen als solche wa-

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ren nicht in der Lage, es mit der zaristischen nationalen Unterdrü-ckung aufzunehmen. Nur auf Grund der Tatsache, dass sowohl dieunterdrückten Nationalitäten als auch die Landbewegung der Bau-ern dem Proletariat die Möglichkeit der Machtergreifung und derErrichtung seiner Diktatur verlieh, fanden die nationale und dieLandfrage eine entschlossene und entscheidende Lösung. Aber ge-rade die Verbindung der nationalen Bewegungen mit dem Kampfdes Proletariats um die Macht war politisch nur möglich gewordendank der Tatsache, dass die Bolschewiki durch ihre ganze Ge-schichte hindurch einen unversöhnlichen Kampf gegen die großrus-sischen Unterdrücker geführt haben und immer und ohne Vorbehaltdas Recht der unterdrückten Nationalitäten auf Selbstbestimmungeinschließlich einer Lostrennung von Russland unterstützt haben.

Die Politik Lenins in Bezug auf die unterdrückten Nationen hattejedoch nichts gemein mit der Politik der Epigonen. Die Bolsche-wistische Partei verteidigte das Recht der unterdrückten Nationenauf Selbstbestimmung mit den Methoden des proletarischen Klas-senkampfes und wies dabei kategorisch die schwindlerhaften "anti-imperialistischen" Blöcke mit den zahlreichen "nationalen" Partei-en des zaristischen Russlands (die Partei Pilsudskis im zaristischenPolen, Dashnaki in Armenien, die ukrainischen Nationalisten, denjüdisch-zionistischen Block; d.Red.) zurück.

Die Bolschewiki haben diese Parteien immer schonungslos ent-larvt genauso wie die Russischen Sozial-Revolutionäre, derenSchwankungen und Abenteurertum. Ganz besonders aber gilt es fürderen ideologische Lüge, sie stünden über dem Klassenkampf. Le-nin hörte mit seiner rückhaltlosen Kritik auch nicht einmal dannauf, als die Umstände ihm diese oder jene vorübergehende aus-nahmslos praktische Übereinkunft mit ihnen aufzwang.

Die Frage einer dauernden Allianz mit ihnen unter dem Bannerdes "Anti-Zarismus" stellte sich für ihn gar nicht. Nur auf Grundseiner unversöhnlichen Klassenpolitik konnte der Bolschewismuszur Zeit der Revolution erfolgreich die Menschewisten, die Sozial-Revolutionäre, die kleinbürgerlich nationalen Parteien zur Seite

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drängen und die Massen der Bauern und der unterdrückten Natio-nalitäten um das Proletariat sammeln.

»Wir dürfen nicht«, heißt es in den Thesen, »mit dem African Na-tional Congress auf der Ebene nationalistischer Losungen konkur-rieren, um die eingeborenen Massen zu gewinnen«. Der Gedankeals solcher ist richtig, benötigt aber eine konkrete Erweiterung. Daich nur unzureichend mit den Aktivitäten des National Congressvertraut bin, kann ich nur auf der Grundlage von Analogien unserePolitik umreißen, die wir ihm gegenüber entfalten sollten, wobeiich von vornherein meine Bereitschaft bekunde, meine Ratschlägemit allen notwendigen Modifikationen zu ergänzen.

11 Die Bolschewiki-Leninisten verteidigen den Congress in allen Fällen, in deDie Bolschewiki-Leninisten verteidigen den Congress in allen Fällen, in de--nen er von den weißen Unterdrückern und ihren chauvinistischen Agenten in dennen er von den weißen Unterdrückern und ihren chauvinistischen Agenten in denReihen der Arbeiterorganisationen angegriffen wird.Reihen der Arbeiterorganisationen angegriffen wird.

3333 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderheiten

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22 Die Bolschewiki-Leninisten werten die progressiven Tendenzen im ProDie Bolschewiki-Leninisten werten die progressiven Tendenzen im Pro--gramm des Congress höher als die reaktionären.gramm des Congress höher als die reaktionären.

33 Die Bolschewiki-Leninisten entlarven vor den eingeborenen Massen die TatDie Bolschewiki-Leninisten entlarven vor den eingeborenen Massen die Tat--sache, dass der Congress auf Grund einer oberflächlichen, versöhnlerischen Polisache, dass der Congress auf Grund einer oberflächlichen, versöhnlerischen Poli--tik noch nicht einmal in der Lage ist, die Verwirklichung seiner eigenen Fordetik noch nicht einmal in der Lage ist, die Verwirklichung seiner eigenen Forde--rungen durchzusetzen. Die Bolschewiki-Leninisten entwickeln im Gegensatzrungen durchzusetzen. Die Bolschewiki-Leninisten entwickeln im Gegensatzzum Congress ein Programm revolutionären Klassenkampfes.zum Congress ein Programm revolutionären Klassenkampfes.

44 Gesonderte Übereinkünfte mit dem Congress sind, wenn die Umstände dies Gesonderte Übereinkünfte mit dem Congress sind, wenn die Umstände dieserfordern, zulässig, aber nur im Rahmen genau definierter praktischer Aufgabenerfordern, zulässig, aber nur im Rahmen genau definierter praktischer Aufgabenund der Beibehaltung völliger und uneingeschränkter Unabhängigkeit unserer eiund der Beibehaltung völliger und uneingeschränkter Unabhängigkeit unserer ei--genen Organisation und der Freiheit der politischen Kritik.genen Organisation und der Freiheit der politischen Kritik.

Die Thesen stellen als zentrale politische Losung nicht einen "na-tional-demokratischen Staat" heraus, sondern einen südafrikani-schen "Oktober". Die Thesen beweisen und belegen überzeugend:

aa dass die nationale Frage und die Landfrage in ihren Grundlagen zusammendass die nationale Frage und die Landfrage in ihren Grundlagen zusammen--gehören;gehören;

bb dass diese beiden Fragen nur auf revolutionäre Weise gelöst werden können;dass diese beiden Fragen nur auf revolutionäre Weise gelöst werden können;

cc dass die revolutionäre Lösung dieser Fragen unweigerlich zur Diktatur desdass die revolutionäre Lösung dieser Fragen unweigerlich zur Diktatur desProletariats führt, das die eingeborenen Bauernmassen anführt;Proletariats führt, das die eingeborenen Bauernmassen anführt;

dd dass die Diktatur des Proletariats eine Ära eines Sowjetregimes und des sozidass die Diktatur des Proletariats eine Ära eines Sowjetregimes und des sozi--alistischen Wiederaufbaus eröffnen wird. Diese Schlussfolgerung ist der Grundalistischen Wiederaufbaus eröffnen wird. Diese Schlussfolgerung ist der Grund--stein für die ganze Struktur des Programms. Hierin stimmen wir voll überein.stein für die ganze Struktur des Programms. Hierin stimmen wir voll überein.

Aber die Massen müssen zu dieser allgemeinen strategischen For-mel über eine Reihe taktischer Losungen hingeführt werden. DieseLosungen können zu jedem einzelnen Zeitpunkt nur ausgearbeitetwerden, wenn man die konkreten Lebens- und Kampfbedingungendes Proletariats und der Bauern und die ganze innenpolitische undinternationale Situation analysiert. Ohne hier tief in die Materieeinzusteigen, möchte ich kurz auf die wechselseitigen Beziehungenzwischen nationalen Losungen und Losungen zum Agrarproblemeingehen.

Die Thesen unterstreichen mehrfach, dass die Agrarforderungenund nicht die nationalen Forderungen an erster Stelle stehen müs-sen. Dies ist eine sehr wichtige Frage, die eine ernsthafte Beschäfti-gung verdient. Würde man nationale Losungen beiseite schiebenoder abschwächen, weil man nicht im Widerspruch zu den weißen

3434 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderheiten

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Chauvinisten in den Reihen der Arbeiterklasse stehen möchte, sokäme dies natürlich einem verbrecherischen Opportunismus gleich,was den Verfassern und Vertretern der Thesen völlig fremd ist; diesgeht ganz deutlich aus dem Text der Thesen hervor, die vom Geistdes revolutionären Internationalismus durchdrungen sind.

Die Thesen stellen in bewundernswerter Weise klar fest, dass wirdiejenigen »Sozialisten«, die für die Privilegien der Weißen kämp-fen »als die größten Feinde der Revolution betrachten müssen«.Wir müssen deshalb nach einer anderen Erklärung suchen, die indem Text selbst angedeutet wird; die rückständigen eingeborenenBauernmassen fühlen sehr viel direkter die Unterdrückung als Bau-ern als die nationale Unterdrückung. Dies ist sehr wohl möglich;die Mehrheit der Eingeborenen sind Bauern; der weitaus größteTeil des Landes befindet sich in den Händen einer weißen Minder-heit.

Die russischen Bauern setzten während ihres Kampfes um Landlange Zeit ihr Vertrauen in den Zaren und weigerten sich hartnä-ckig, politische Schlussfolgerungen zu ziehen. Von der traditionel-len Losung der revolutionären Intelligenz "Land und Freiheit" ak-zeptierte der Bauer lange Zeit nur den ersten Teil. Es bedurfte Jahr-zehnte des Aufruhrs auf dem Land und des Einflusses und der Ak-tion der städtischen Arbeiter, um die Bauernschaft in die Lage zuversetzen, dass sie beide Losungen miteinander verband.

Der arme versklavte Bantu verbindet kaum mehr Hoffnungen mitdem britischen König oder mit dem Ministerpräsident von Großbri-tannien MacDonald.

Aber seine extreme politische Rückständigkeit kommt auch inseinem mangelnden nationalen Selbstbewusstsein zum Ausdruck.Gleichzeitig fühlt er sehr krass die Land- und Steuersklaverei. Un-ter diesen Bedingungen kann und muss die Propaganda auf den Lo-sungen der Agrarreform aufgebaut werden, damit Schritt für Schrittauf der Grundlage der Kampferfahrungen die Bauernschaft zu dennotwendigen politischen und nationalen Schlussfolgerungen heran-geführt werden kann. Wenn diese hypothetischen Überlegungenrichtig sind, dann geht es für uns nicht mehr um das Programm als

3535 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderheiten

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solches, sondern um die Art und Weise, in der dieses Programm indas Bewusstsein der eingeborenen Massen getragen wird.

Angesichts der kleinen Zahl revolutionärer Kader und der extre-men Zerstreuung der Bauernschaft wird es, zumindest in der nahenZukunft, möglich sein, die Bauernschaft hauptsächlich, wenn nichtausschließlich, über die fortgeschrittenen Arbeiter zu beeinflussen.Es ist deshalb äußerst wichtig, die fortgeschrittenen Arbeiter imSinne eines klaren Verständnisses von der Bedeutung der Agrarre-volution für das historische Schicksal Südafrikas zu erziehen. DasLandproletariat besteht aus rückständigen schwarzen Parias und ei-ner privilegierten, arroganten Kaste von Weißen. Darin liegt diegrößte Schwierigkeit der ganzen Situation. Wie die Thesen richtigausführen, müssen die ökonomischen Zuckungen des verfaulendenKapitalismus die alten Verhältnisse heftig erschüttern und die Ar-beit revolutionärer Verschmelzung erleichtern. In jedem Fall wärees für einen Revolutionär das größte Verbrechen, den Privilegienund Vorurteile der Weißen auch nur die geringsten Zugeständnissezu machen. Wer immer dem Teufel des Chauvinismus seinen klei-nen Finger gibt, ist verloren. Die revolutionäre Partei muss jedenweißen Arbeiter vor folgende Alternative stellen: entweder mit dembritischen Imperialismus und der weißen Bourgeoisie Südafrikasoder mit den schwarzen Arbeitern und Bauern gegen die weißenFeudalherren und Sklavenhalter und ihre Agenten in den Reihender Arbeiterklasse.

Der Sturz der britischen Herrschaft über die schwarze Bevölke-rung Südafrikas bedeutet natürlich keinen ökonomischen und kul-turellen Bruch mit dem früheren Mutterland, wenn letzteres sichvon der Unterdrückung durch die imperialistischen Räuber befreit.Ein Sowjetengland wird einen mächtigen ökonomischen und kultu-rellen Einfluss auf Südafrika ausüben können und zwar über jeneWeiße, die wirklich im tatsächlichen Kampf ihr Schicksal mit demder heutigen Kolonialsklaven verbunden haben werden. Dieser Ein-fluss wird nicht auf Herrschaft, sondern auf proletarischer, gegen-seitiger Hilfe beruhen.

3636 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderheiten

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Aber aller Wahrscheinlichkeit nach wird der Einfluss, den ein So-wjetafrika auf den ganzen schwarzen Kontinent ausüben wird, vielbedeutender sein. Den Negern zu helfen, mit der weißen Rassegleichzuziehen, um gemeinsam, Hand in Hand mit ihnen, zu neuenkulturellen Höhen aufzusteigen, das wird eine der großen und be-sonderen Aufgaben eines siegreichen Sozialismus sein.

Zum Schluss möchte ich ein paar Worte zur Frage einer legalenund einer illegalen Organisation (in Bezug auf den Parteiaufbau)sagen.

Die Thesen haben ganz richtig die untrennbare Verbindung zwi-schen der Organisation, den revolutionären Aufgaben und der Er-gänzung des legalen Apparates durch einen illegalen. Niemandschlägt natürlich vor, einen illegalen Apparat für die Funktion zuschaffen, die unter den gegebenen Umständen von legalen Organenausgeführt werden können. Aber unter den Bedingungen einer na-henden politischen Krise müssen spezielle illegale Ansätze des Par-teiapparates geschaffen werden, die sich entsprechend den Erfor-dernissen entwickeln werden. Ein gewisser und übrigens ein sehrwichtiger Teil der Arbeit kann unter keinen Umständen öffentlich,d.h. vor den Augen des Klassenfeindes ausgeführt werden.

Dennoch ist in der heutigen Periode die wichtigste Form der ille-galen oder halblegalen Arbeit der Revolutionäre die Arbeit in denMassenorganisationen, besonders in den Gewerkschaften. DieGewerkschaftsführer sind die inoffizielle Polizei des Kapitalismus;sie führen einen gnadenlosen Kampf gegen die Revolutionäre. Wirmüssen die Fähigkeit haben, in Massenorganisationen zu arbeitenund dabei nicht unter den Schlägen des reaktionären Apparatsniederzugehen. Dies ist ein sehr wichtiger, in der gegenwärtigenPeriode der wichtigste Teil der illegalen Arbeit. Eine revolutionäreGruppe in einer Gewerkschaft, die in der Praxis alle erforderlichenRegeln der konspirativen Arbeit gelernt hat, wird in der Lage sein,ihre Arbeit in einen illegalen Status zu transformieren, wenn dieUmstände es erfordern. Home

20. April 1933 aus: 'Workers' Voice', Kapstadt, Nov. 1944, Vol. 1 Nº 2)20. April 1933 aus: 'Workers' Voice', Kapstadt, Nov. 1944, Vol. 1 Nº 2)

3737 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderheiten

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Die Zukunft LateinamerikasDie Zukunft Lateinamerikas99

Im Mai 1940, kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, nahm dievon Trotzki gegründete Vierte Internationale das Manifest über den im-perialistischen Krieg und die proletarische Revolution an. Zu den Aus-sichten einer lateinamerikanischen Revolution enthielt das Dokument diefolgenden Passagen:

Das ungeheuerliche Anwachsen der Rüstung in den VereinigtenStaaten bereitet eine gewaltsame Lösung der komplizierten Wider-sprüche auf der westlichen Halbkugel vor und dürfte bald auch dieFrage nach dem Schicksal der lateinamerikanischen Staaten offenaufwerfen. Das Zwischenspiel der Politik der "guten Nachbar-schaft" nähert sich dem Ende. Roosevelt oder sein Nachfolger wirdbald die Eisenfaust aus dem Samthandschuh ziehen. Die These derVierten Internationale lautet: »Süd- und Zentralamerika könnensich von Rückständigkeit und Versklavung nur durch eine Vereini-gung aller Staaten in einem mächtigen Bund befreien.

Diese grundlose historische Aufgabe zu lösen, ist nicht die ver-spätete südamerikanische Bourgeoisie, die durch und durch korrup-te Agentur des ausländischen Imperialismus, berufen, sondern dasjunge südamerikanische Proletariat, der berufene Führer der unter-drückten Massen. Daher lautet die Parole für den Kampf gegen Ge-walt und Intrigen des Weltkapitalismus und gegen die blutige Ar-beit der einheimischen Kompradorencliquen: Die Vereinigten So-wjetstaaten von Süd- und Zentralamerika.10 Diese Zeilen, die vor

99 “Manifest Chetvertogo Internatsionala. “Manifest Chetvertogo Internatsionala. Imperialistskaya voina iproletarskaya Imperialistskaya voina iproletarskaya revolyutsiya". revolyutsiya". (Manifest der Vierten Internationale: Der imperialistische Krieg (Manifest der Vierten Internationale: Der imperialistische Krieg und die proletarische Revolution; angenommen von der Not-Konferenz der IV. und die proletarische Revolution; angenommen von der Not-Konferenz der IV. Internationale in New York am 26.5.1940.) Russ. in: "Bulletin der Opposition", Internationale in New York am 26.5.1940.) Russ. in: "Bulletin der Opposition", Nr. 84, Aug.-Okt. 1940, S. 11-28. Nr. 84, Aug.-Okt. 1940, S. 11-28. Engl.: "Writings of Leon Trotsky (1939-40)", New York (Pathfinder Press)Engl.: "Writings of Leon Trotsky (1939-40)", New York (Pathfinder Press)1973, S. 183-222. 1973, S. 183-222. Dt.: "Manifest. Der imperialistische Krieg und die WeltrevoluDt.: "Manifest. Der imperialistische Krieg und die Weltrevolu--tion"; in: 'Unser Wort', 8. Jg., New York, Dezember 1940 Auszug: "Was birgttion"; in: 'Unser Wort', 8. Jg., New York, Dezember 1940 Auszug: "Was birgtdie Zukunft für Lateinamerika?" (S. 5 f.): (Übersetzung vom Herausgeber revidie Zukunft für Lateinamerika?" (S. 5 f.): (Übersetzung vom Herausgeber revi --diert.)diert.)1010 Zitat aus: Trotzki, "Die Vierte Internationale und der Krieg" (Chetvertyi InterZitat aus: Trotzki, "Die Vierte Internationale und der Krieg" (Chetvertyi Inter--natsional i voina; 10.6.1934), These Nr. 17. natsional i voina; 10.6.1934), These Nr. 17. Engl. in Writings of Leon TrotskyEngl. in Writings of Leon Trotsky(1933-34), New York (Pathfinder) 1972, S 306.(1933-34), New York (Pathfinder) 1972, S 306.

3838 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderheiten

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sechs Jahren geschrieben wurden, haben heute brennende Aktuali-tät.

Nur unter seiner eigenen revolutionä-ren Führung ist das Proletariat der Ko-lonien und Halbkolonien imstande, dieunbesiegbare Zusammenarbeit mit demProletariat der Metropolen und derWelt-Arbeiterklasse in Gang zu brin-gen. Nur diese Zusammenarbeit kannden unterdrückten Völkern völlige undendgültige Emanzipation durch denSturz des Imperialismus auf der ganzenWelt bringen. Ein Sieg des internationa-len Proletariats wird die kolonialenLänder vor den langen Qualen der kapitalistischen Entwicklung be-wahren und ihnen die Möglichkeit eröffnen, Hand in Hand mit demProletariat der fortgeschrittenen Länder zum Sozialismus zu kom-men.

Die Perspektive der permanenten Revolution bedeutet keinesfalls,dass die rückständigen Länder auf das Signal der fortgeschrittenenwarten müssen oder dass die Kolonialvölker geduldig auf das Pro-letariat der kapitalistischen Zentren als auf ihren Befreier wartensollen. Wer sich selbst hilft, dem wird geholfen. Die Arbeiter müs-sen den revolutionären Kampf in jedem Lande, ob kolonial oderimperialistisch, entfalten, wo günstige Bedingungen dafür entstan-den sind, und dadurch den Arbeitern anderer Länder ein Beispielgeben. Nur durch Initiative und Aktivität, Entschlossenheit undKühnheit lässt sich die Parole "Proletarier aller Länder, vereinigteuch!" verwirklichen.

Der folgende Text einer Diskussion, die Arne Swabeck, Mitgrün-der der KP der USA (CPUSA) und der Strömung der antistalinisti-schen Linken Opposition zugehörenden "Communist League ofAmerica" (CLA) am 28.2.1933 mit Leo Trotzki in dessen Exil aufder türkischen Insel Prinkipo führte, erschien erstmals am

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12.4.1933 in der Nr.12 des 'Internal Bulletin' der CLA. Er ist Teilder bei "Pathfinder Press" (New York, Toronto) erschienen Bro-schüre "Leo Trotzky on Black Nationalism & Self-Determination".Ihr sind auch die meisten der in den Anmerkungen enthaltenen In-formationen entnommen.

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I

Arne Swabeck

1890 – 1986

Arne Swabeck worked together with James P. Cannon and otherAmerican Trotskyists to create the Socialist Workers Party.

Swabeck visited Leon Trotsky in his exile in Turkey in 1933.

4040 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderheiten

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Die Negerfrage11 in AmerikaSwabeck: In dieser Frage haben wir innerhalb der Amerikani-

schen Liga keine nennenswerten Differenzen; wir haben aber auchnoch kein Programm formuliert. Ich stelle deshalb nur die Gedan-ken vor, die wir generell dazu entwickelt haben.

Wie müssen wir die Position des amerikanischen Negers1 be-trachten: Als die einer nationalen oder einer rassischen Minderheit?Das ist für unser Programm von größter Wichtigkeit.

Die Stalinisten haben noch immer als ihren Hauptslogan den derSelbstbestimmung für die Neger und fordern damit im Zusammen-hang einen getrennten Staat und staatliche Rechte für die Neger imSchwarzen Gürtel. Die praktische Anwendung dieser letzten Forde-rung hat viel Opportunismus an den Tag gebracht. Auf der anderenSeite gebe ich zu, dass die (Kommunistische) Partei in der prakti-schen Arbeit unter den Negern trotz vieler Fehler einiges erreichthat. Zum Beispiel bei den Streiks in der Textilindustrie im Süden,wo die Farbschranken in großem Maße zusammengebrochen sind.

Weisbord12 stimmt, soweit ich weiß, mit der Parole der Selbstbe-stimmung und des Rechts auf einen eigenen Staat überein. Er be-hauptet, dass sei die Anwendung der Theorie der permanenten Re-volution auf Amerika.

Wir wollen von der wirklichen Situation ausgehen: Es gibt unge-fähr 13 Millionen Neger in Amerika; die Mehrzahl davon in denSüdstaaten (dem Schwarzen Gürtel). In den Nordstaaten sind dieNeger als Industriearbeiter in den industriellen Gemeinden konzen-triert; im Süden sind sie hauptsächlich Bauern und Naturalpächter.

Trotzki: Pachten Sie ihr Land vom Staat oder von privaten Ei-gentümern?

1111 Der Begriff "Neger" wurde zu dieser Zeit auch von den amerikanischen Der Begriff "Neger" wurde zu dieser Zeit auch von den amerikanischen Schwarzen bzw. Afroamerikanern selbst verwandt.Schwarzen bzw. Afroamerikanern selbst verwandt.1212 Albert Weisbord (1900-77), ehemals Gewerkschaftsorganisator der CP, warAlbert Weisbord (1900-77), ehemals Gewerkschaftsorganisator der CP, warder Führer einer kleinen Gruppe namens "Communist League of Struggle", dieder Führer einer kleinen Gruppe namens "Communist League of Struggle", die1931-37 existierte, und die sich 1933 kurzfristig als Anhänger der Internationa1931-37 existierte, und die sich 1933 kurzfristig als Anhänger der Internationa--len Linken Opposition bezeichnete, ohne dieser allerdings beizutreten. len Linken Opposition bezeichnete, ohne dieser allerdings beizutreten.

4141 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderheiten

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Swabeck: Von privaten Eigentümern, von weißen Farmern undPlantagenbesitzern; einige Neger besitzen das Land, auf dem sie ar-beiten, selbst.

Die Negerbevölkerung des Nordens wird ökonomisch, sozial undkulturell niedergehalten; im Süden geschieht das durch die unter-drückerischen Jim Crow Bedingungen. Sie sind von vielen wichti-gen Gewerkschaften ausgeschlossen. Während und seit dem Krieghat die Migration vom Süden her zugenommen; heute leben viel-leicht vier bis fünf Millionen Neger im Norden. Die Negerbevölke-rung im Norden ist überwiegend proletarisch, aber auch im Südennimmt die Proletarisierung zu.

Heute hat keiner der Staaten im Süden eine Negermehrheit. Dasunterstreicht die große Wanderung in den Norden. Wir stellen dieFrage folgendermaßen: Sind die Neger in einem politischen Sinneine nationale Minderheit oder eine rassische? Die Neger sind völ-lig assimiliert, amerikanisiert worden, und ihr Leben in Amerikahat die Traditionen der Vergangenheit überwunden, modifiziert,verändert. Wir können die Neger nicht als eine nationale Minder-heit in dem Sinn betrachten, dass sie eine eigene Sprache hätten.Sie haben keine besonderen nationalen Sitten, oder eine eigene na-tionale Kultur oder Religion, und sie haben auch keine besonderennationalen Minderheitsinteressen. In diesem Sinn kann man un-möglich von ihnen als nationale Minderheit sprechen. Wir sind des-halb der Meinung, dass die amerikanischen Neger eine rassischeMinderheit sind, deren Stellung und Interessen den Klassenbezie-hungen im Land untergeordnet und von ihnen abhängig sind.

Für uns stellen die Neger einen wichtigen Faktor im Klassen-kampf, fast einen ausschlaggebenden, dar. Sie sind ein wichtigerTeil des Proletariats. Es gibt in Amerika auch eine Neger-Klein-bourgeoisie, aber nicht so mächtig oder einflussreich, und sie spieltauch nicht die Rolle, die die Kleinbourgeoisie und die Bourgeoisiebei den national unterdrückten (kolonialen) Völkern spielt.

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Der stalinistische Slogander "Selbstbestimmung" be-ruht hauptsächlich auf einerEinschätzung der amerikani-schen Neger als nationaleMinderheit, die als Verbün-deter zu gewinnen sei. Füruns stellt sich die Frage:Wollen wir die Neger alsVerbündete auf solch einerBasis gewinnen, und wen wollen wir gewinnen, das Neger-Proleta-riat oder die Neger-Kleinbourgeoisie? Uns scheint es, dass wir mitdiesem Slogan vor allem die Kleinbourgeoisie gewinnen werden,und wir können kein großes Interesse daran haben, sie auf dieserGrundlage als Verbündete zu gewinnen. Wir wissen, dass die ar-men Bauern und Naturalpächter die engsten Verbündeten des Pro-letariats sind, aber wir sind der Meinung, dass sie als solche vor al-lem auf der Basis des Klassenkampfes gewonnen werden können.Ein Kompromiss in dieser prinzipiellen Frage würde die kleinbür-gerlichen Verbündeten dem Proletariat und auch den armen Bauernvorziehen. Wir erkennen die Existenz bestimmter Phasen der Ent-wicklung an, die auch besondere Slogans erfordern. Aber der stali-nistische Slogan scheint uns direkt zur "demokratischen Diktaturder Arbeiter und Bauern"13 zu führen. Die Einheit der Arbeiter, derschwarzen und weißen, müssen wir vorbereiten, indem wir von ei-ner Klassenbasis ausgehen, aber dabei ist es notwendig, auch dieRassenprobleme anzuerkennen und zusätzlich zu den Klassenslo-gans auch Slogans zur Rassenfrage vorzubringen. Wir sind derMeinung, dass in dieser Hinsicht der Hauptslogan sein sollte "sozi-ale, politische und ökonomische Gleichheit für die Neger" sowieauch weitere Slogans, die sich davon ableiten. Dieser Slogan ist na-

1313 Die Stalinisten benutzten diesen Begriff in den 20er und 30er Jahren, um ihreDie Stalinisten benutzten diesen Begriff in den 20er und 30er Jahren, um ihreUnterstützung für gewisse bürgerliche Kräfte vorallem im Fernen Osten zu rechtUnterstützung für gewisse bürgerliche Kräfte vorallem im Fernen Osten zu recht--fertigen. Sie behaupteten, dass Tschiang Kai-scheks Sieg in der zweiten chinesifertigen. Sie behaupteten, dass Tschiang Kai-scheks Sieg in der zweiten chinesi--schen Revolution von 1925-27 eine solche Diktatur zum Ergebnis haben werde,schen Revolution von 1925-27 eine solche Diktatur zum Ergebnis haben werde,während sie in Wirklichkeit zu einer konterrevolutionären bürgerlichen Militärwährend sie in Wirklichkeit zu einer konterrevolutionären bürgerlichen Militär--diktatur über die Arbeiter und Bauern führte.diktatur über die Arbeiter und Bauern führte.

4343 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderheiten

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türlich ganz verschieden von dem stalinistischen Slogan der Selbst-bestimmung für eine nationale Minderheit.

Die Führer der (Kommunistischen) Partei behaupten, dass dieNeger-Arbeiter und -Bauern nur auf der Basis dieses Slogans zugewinnen seien. Am Anfang wurde er für die Neger im ganzenLand vorgebracht, jetzt aber nur noch für die in den Südstaaten.Wir meinen, dass wir die Neger-Arbeiter nur auf einer Klassenbasisgewinnen können, wobei wir auch die Rassenslogans für die not-wendigen Zwischenetappen der Entwicklung vorbringen. Wir glau-ben, dass so auch die armen Neger-Farmer am besten als direkteVerbündete gewonnen werden können.

Trotzki: Die Ansicht der amerikanischen Genossen scheint mirnicht völlig überzeugend zu sein. Das Selbstbestimmungsrecht isteine demokratische Forderung. Unsere amerikanischen Genossenstellen die liberale Forderung dieser demokratischen Forderung ge-genüber. Diese liberale Forderung ist darüber hinaus kompliziert.Ich verstehe, was politische Gleichheit bedeutet. Aber was bedeutetökonomische und soziale Gleichheit innerhalb der kapitalistischenGesellschaft? Bedeutet das eine Forderung an die öffentliche Mei-nung, dass alle den gleichen Schutz des Gesetzes genießen sollen?Aber das ist politische Gleichheit. Der Slogan "politische, ökono-mische und soziale Gleichheit" klingt unbestimmt und ist somitfalsch.

Die Neger sind eine Rasse und keine Nation. Nationen erwachsenunter bestimmten Bedingungen aus rassischem Material. Die Negerin Afrika sind noch keine Nation, aber sie befinden sich auf demWeg, eine zu schaffen. Die amerikanischen Neger haben ein höhe-res kulturelles Niveau. Da sie aber dem Druck der Amerikaner un-terworfen sind, interessieren sie sich für die Entwicklung der Negerin Afrika. Der amerikanische Neger wird Führer für Afrika entwi-ckeln, das kann man mit Sicherheit sagen, und das wird wiederumdie Entwicklung des politischen Bewusstseins in Amerika beein-flussen.

Wir verpflichten natürlich die Neger nicht, eine Nation zu wer-den; ob sie eine sind, ist eine Frage ihres Bewusstseins, das heißt,

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was sie möchten und wofür sie kämpfen. Wir sagen: Wenn die Ne-ger das wollen, dann müssen wir bis zum letzten Blutstropfen ge-gen den Imperialismus kämpfen, damit sie ihr Recht erhalten, woauch immer und wie auch immer sie wollen, ein Stück Land fürsich abzutrennen. Die Tatsache, dass sie heute in keinem Staat eineMehrheit stellen, ist nicht von Bedeutung. Es ist nicht eine Frageder staatlichen Autoritäten, sondern eine der Neger. Dass es in Ge-bieten, die überwiegend von Negern bewohnt werden, Weiße gibtund weiter geben wird, steht nicht in Frage, und wir brauchen unsnicht die Köpfe über die Möglichkeit zu zerbrechen, dass irgend-wann die Weißen von den Negern unterdrückt werden könnten.Auf jeden Fall treibt ihre Unterdrückung die Neger dazu, eine poli-tische und nationale Einheit zu suchen.

Dass der Slogan der "Selbstbestimmung" das Kleinbürgertumeher als die Arbeiter für sich gewinnen wird, dieses Argument giltauch für den Slogan der Gleichheit. Es ist klar, dass jene Neger-Elemente, die eine größere öffentliche Rolle spielen (Geschäftsleu-te, Intellektuelle, Anwälte etc.) aktiver sind und aktiver auf Un-gleichheit reagieren. Man kann sagen, dass die liberale Forderungebenso wie die demokratische zunächst vor allem das Kleinbürger-tum anziehen wird und erst später die Arbeiter.

Wenn die Situation so wäre, dass in Amerika gemeinsame Aktio-nen von weißen und schwarzen Arbeitern stattfänden, dass dieKlassenverbrüderung also schon ein Fakt wäre, dann hätten die Ar-gumente unserer Genossen vielleicht eine Basis (ich will nicht sa-gen, dass sie dann richtig wären), dann würden wir vielleicht dieschwarzen Arbeiter von den weißen spalten, wenn wir anfingen denSlogan der "Selbstbestimmung" zu propagieren.

Aber heute sind die weißen Arbeiter in Beziehung zu den Negerndie Unterdrücker, die Lumpen, die die schwarzen und gelben Ar-beiter verfolgen, auf sie herabsehen und sie lynchen. Wenn die Ne-ger-Arbeiter sich mit ihren eigenen Kleinbourgeois vereinigen,dann deshalb, weil sie noch nicht weit genug sind, um ihre elemen-taren Rechte zu verteidigen. Für die Arbeiter in den Südstaatenwürde die liberale Forderung gleicher Rechte zweifellos Fortschritt

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bedeuten, aber die Forderung nach Selbstbestimmung wäre einnoch größerer Fortschritt. Mit dem Slogan "gleiche Rechte" jedochkönnen sie leichter in die Irre geführt werden ("dem Gesetz nachhabt ihr diese Gleichheit").

Wenn wir so weit sind, dass die Neger sagen "wir wollen Autono-mie", dann nehmen sie eine dem amerikanischen Imperialismusfeindliche Position ein. In diesem Stadium werden die Arbeiterschon sehr viel entschlossener sein als das Kleinbürgertum. Die Ar-beiter werden dann sehen, dass das Kleinbürgertum unfähig ist zukämpfen und es zu nichts bringt, aber sie werden auch gleichzeitigerkennen, dass die weißen kommunistischen Arbeiter für ihre For-derungen kämpfen, und das wird sie, die Neger-Arbeiter, zumKommunismus bringen.

Weisbord hat in gewissem Sinn Recht, wenn er sagt, dass dieSelbstbestimmung der Neger zur Frage der permanenten Revoluti-on in Amerika gehört. Die Neger werden durch ihr Erwachen,durch ihre Forderung nach Autonomie und durch die demokrati-sche Mobilisierung ihrer Kräfte in Richtung auf eine Klassenbasisgeschoben. Das Kleinbürgertum wird die Forderung nach gleichenRechten und Selbstbestimmung aufnehmen, wird aber im Kampfabsolut versagen; der Neger-Proletarier wird über die Kleinbour-geoisie hinwegmarschieren in Richtung auf die proletarische Revo-lution. Das ist für sie vielleicht der wichtigste Weg. Ich kann des-halb keinen Grund erkennen, warum wir nicht die Forderung nachder Selbstbestimmung erheben sollten.

Ich bin nicht sicher, ob die Neger im Süden nicht doch ihre eige-ne Negersprache sprechen. Heute, wo sie fürchten, gelyncht zuwerden, nur weil sie Neger sind, haben sie natürlich Angst, ihreNegersprache zu sprechen; aber wenn sie erst mal frei sind, wirdihre Negersprache wieder zu Leben erwachen. Ich würde den ame-rikanischen Genossen empfehlen, diese Frage sehr sorgfältig zustudieren, auch die der Sprache in den Südstaaten. Aus all diesenGründen würde ich in dieser Frage eher zum Standpunkt der (Kom-munistischen) Partei neigen, natürlich unter Beachtung dessen, dass

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ich diese Frage nie studiert habe und dass ich hier von allgemeinenErwägungen ausgegangen bin.

Ich fuße hier nur auf den Argumenten der amerikanischen Genos-sen. Ich finde sie unzureichend und betrachte sie in gewisser Hin-sicht als Konzessionen gegenüber dem amerikanischen Chauvinis-mus, und das scheint mir eine gefährliche Angelegenheit zu sein.

Was können wir bei dieser Frage verlieren, wenn wir mit unserenForderungen weiter gehen als die Neger selber es heute tun? Wirzwingen sie nicht, sich staatlich zu trennen, aber sie haben das vol-le Recht dazu, und wir werden sie mit allen uns zur Verfügung ste-henden Mitteln bei der Gewinnung dieses Rechts unterstützen undverteidigen, genauso wie wir alle unterdrückten Völker verteidigen.

Swabeck: Ich gebe zu, dass Sie schwerwiegende Argumente vor-gebracht haben, aber ich bin noch nicht völlig überzeugt. Die Exis-tenz einer besonderen Neger-Sprache in den Südstaaten ist mög-lich, aber im Allgemeinen sprechen alle Neger Englisch. Sie sindvollständig assimiliert. Ihre Religion ist das amerikanische Baptis-tentum und die Sprache in ihren Kirchen ist ebenfalls Englisch.

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Wirtschaftliche Gleichheit verstehen wir keineswegs im Sinnerechtlicher Gleichheit. Im Norden (wie natürlich auch in den Süd-staaten) sind die Löhne für die Neger stets niedriger als für die wei-ßen Arbeiter, und ihr Arbeitstag ist meistens länger; das wird sozu-sagen als natürlich akzeptiert. Darüber hinaus bekommen die Negerdie unangenehmsten Arbeiten. Wegen dieser Bedingungen ist es,dass wir ökonomische Gleichheit für die Neger-Arbeiter verlangen.

Wir bestreiten den Negern nicht ihr Recht auf Selbstbestimmung.Das ist nicht der Punkt unserer Meinungsverschiedenheit mit denStalinisten. Aber wir bestreiten, dass es richtig ist, den Slogan derSelbstbestimmung zu propagieren, um die Massen der Neger zu ge-winnen. Die Neger-Bevölkerung wird zuerst einmal in RichtungGleichheit im sozialen, politischen und wirtschaftlichen Sinn ge-trieben. Gegenwärtig stellt die Partei den Slogan der Selbstbestim-mung nur für die Südstaaten auf. Man kann natürlich kaum erwar-ten, dass die Neger aus den Industrien im Norden den Wunsch ha-ben sollten, in den Süden zurückzukehren, und es gibt auch wirk-lich keinerlei Hinweise auf solch ein Verlangen. Im Gegenteil. Ihrnicht ausgesprochener Wunsch ist auf der Basis der Bedingungen,unter denen sie leben, der nach gesellschaftlicher, politischer undwirtschaftlicher Gleichheit. Das gilt auch für den Süden. Aus ebendiesem Grund glauben wir, dass das der wichtige Rassen-Sloganist. Wir betrachten die Neger nicht als im gleichen Sinn wie die un-terdrückten Kolonialvölker national unterdrückt. Wir sind der Mei-nung, dass der Slogan der Stalinisten dazu tendiert, die Neger vonder Klassenbasis fort mehr zur Rassenbasis zu führen. Das ist derHauptgrund, weshalb wir dagegen sind. Wir glauben, dass der Ras-sen-Slogan wie er von uns vorgeschlagen wird direkt zur Klassen-basis führt.

Frank:14: Gibt es in Amerika besondere Neger-Bewegungen?

1414 Pierre Frank, Mitbegründer der Französischen Linken Opposition, war 1932-Pierre Frank, Mitbegründer der Französischen Linken Opposition, war 1932-33 Trotzkis Sekretär in der Türkei. Nach dem 2. Weltkrieg war er Mitglied des33 Trotzkis Sekretär in der Türkei. Nach dem 2. Weltkrieg war er Mitglied desInternationalen Sekretariats der IV.Internationale, dann des "Vereinigten SeInternationalen Sekretariats der IV.Internationale, dann des "Vereinigten Se--kretariats" .kretariats" .

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Swabeck: Ja, mehrere. Zunächst hatten wir die Bewegung vonGarvey, deren Ziel die Auswanderung nach Afrika war15. Sie hatteeine große Gefolgschaft, zerplatzte aber schließlich als ein Schwin-del. Heute ist davon nicht mehr viel übrig geblieben. Ihr Sloganwar die Schaffung einer Neger-Republik in Afrika. Andere Neger-Bewegungen beruhen hauptsächlich auf Forderungen nach gesell-schaftlicher und politischer Gleichheit, wie z.B. die "League (Nati-onal Association) for the Advancement of Colored People"16 Dasist eine große rassische Bewegung.

Trotzki: Ich glaube auch, dass die Forderung nach gleichenRechten bleiben soll, und ich spreche nicht gegen diese Forderung.Sie ist in dem Maße fortschrittlich, wie sie nicht realisiert wordenist. Genosse Swabeck's Erklärung betreffs der Frage der ökonomi-schen Gleichheit ist sehr wichtig. Aber das alleine entscheidet nochnicht die Frage des Schicksals der Neger als solche, die Frage nachder Nation usw. Den Argumenten der amerikanischen Genossenzufolge könnte man z.B. sagen, dass Belgien auch keine Rechte alsNation hat. Die Belgier sind Katholiken und ein großer Teil von ih-nen spricht Französisch. Was wäre, wenn Frankreich sie mit so ei-nem Argument annektieren wollte? Auch das Schweizer Volk fühltsich durch seine historischen Verbindungen als eine Nation, trotzverschiedener Sprachen und Religionen. Ein abstraktes Kriteriumist in dieser Frage nicht ausschlaggebend; sehr viel ausschlagge-bender ist das historische Bewusstsein einer Gruppe, ihre Gefühle,ihre Impulse. Aber auch das wird nicht vom Zufall bestimmt, son-dern eher durch die Situation und alle dazugehörigen Umstände.Die Frage der Religion hat absolut nichts mit dieser Frage der Nati-onalität zu tun. Der Baptismus des Negers ist was völlig anderes alsder Baptismus Rockefellers17. Das sind zwei verschiedene Religio-nen.

1515 Die "Universal Negro Improvement Association" wurde 1914 von MarcusDie "Universal Negro Improvement Association" wurde 1914 von MarcusGarvey (1887-1940) in seinem Heimatland Jamaica und 1916 in den USA orGarvey (1887-1940) in seinem Heimatland Jamaica und 1916 in den USA or--ganisiert. Sie wurde zu einer internationalen "Zurück nach Afrika"-Bewegungganisiert. Sie wurde zu einer internationalen "Zurück nach Afrika"-Bewegungmit einer Anhängerschaft, die auf ihrem Höhepunkt zwischen dem 1. Weltmit einer Anhängerschaft, die auf ihrem Höhepunkt zwischen dem 1. Welt--krieg und den Mitt-Zwanziger Jahren in den USA Hunderttausende zählte. krieg und den Mitt-Zwanziger Jahren in den USA Hunderttausende zählte.

1616 Die NAACP wurde 1909 von Liberalen, Sozialdemokraten und libertären BürDie NAACP wurde 1909 von Liberalen, Sozialdemokraten und libertären Bür--gerrechtlern, darunter W.E.B.Du Bois, gegründet.gerrechtlern, darunter W.E.B.Du Bois, gegründet.

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Das politische Argument, das die Forderung der Selbstbestim-mung zurückweist, ist Doktrinarismus. Das ist es, was wir in Russ-land immer bezüglich der Selbstbestimmungs-Frage gehört haben.Die russische Erfahrung hat uns gezeigt, dass Gruppen, die als Bau-ern leben, ihre Besonderheiten bewahren - ihre Sitten, ihre Spracheusw. - und, dass sich diese Charakteristika weiterentwickeln, wennihnen die Gelegenheit gegeben wird.

Die Neger sind noch nicht erweckt worden, und sie sind nochnicht mit den weißen Arbeitern vereint worden. 99,9 % der ameri-kanischen Arbeiter sind Chauvinisten; in Bezug auf die Neger sindsie ebenso Henker wie auch in Bezug auf die Chinesen usw. Es istnotwendig, ihnen verständlich zu machen, dass der amerikanischeStaat nicht ihr Staat ist und dass sie nicht die Wächter dieses Staa-tes sein brauchen. Die amerikanischen Arbeiter, die sagen: "DieNeger sollten sich trennen, wenn sie es möchten, und wir werden

1717 Der Ölbaron John D. Rockefeller (1839-1937) oder sein Sohn J.D.R, Jr. (1874-Der Ölbaron John D. Rockefeller (1839-1937) oder sein Sohn J.D.R, Jr. (1874-1960).1960).

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sie dann gegen unsere amerikanische Polizei verteidigen" - das sinddie Revolutionäre, in sie habe ich Vertrauen.

Das Argument, dass der Slogan der Selbstbestimmung vom Klas-senstandpunkt wegführe, ist eine Anpassung an die Ideologie derweißen Arbeiter. Der Neger kann zu einem Klassenstandpunkt nurgebracht werden, wenn der weiße Arbeiter erzogen ist. Im Ganzenist die Frage der kolonialen Völker in erster Linie eine Frage derErziehung des Metropolen-Arbeiters.

Der amerikanische Arbeiter ist unbeschreibbar reaktionär. Daskann man jetzt an der Tatsache sehen, dass er noch nicht einmal fürden Gedanken der Sozialversicherung gewonnen worden ist. Des-wegen sind die amerikanischen Kommunisten gezwungen, Reform-programme vorzustellen.

Wenn die Neger im Augenblick keine Selbstbestimmung fordern,dann aus dem gleichen Grund, aus dem auch die weißen Arbeiternoch nicht den Slogan der Diktatur des Proletariats aufstellen. DieNeger haben es noch nicht in ihre Köpfe gekriegt, dass sie es wa-gen sollten, einen Teil der großen und mächtigen Staaten für sichselbst herauszubrechen. Aber der weiße Arbeiter muss dem Negerauf halbem Weg entgegenkommen und zu ihm sagen: "Wenn DuDich trennen willst, wirst Du unsere Unterstützung haben". Dietschechischen Arbeiter sind auch nur über die Desillusionierungmit ihrem eigenen Staat zum Kommunismus gekommen18.

Ich glaube, dass wegen der noch nicht gesehenen politischen undtheoretischen Rückständigkeit und der ebenfalls einmaligen ökono-mischen Fortschrittlichkeit in Amerika das Erwachen der Arbeiter-klasse ganz schnell von Statten gehen wird. Der alte ideologischeSchleier wird zerreißen, alle Fragen werden auf einmal hochkom-

1818 Die Tschechoslowakei, bis dahin Teil der österreich-ungarischen KuK-MonarDie Tschechoslowakei, bis dahin Teil der österreich-ungarischen KuK-Monar--chie wurde am 28.10.1918 gegründet. Die bürgerliche Regierung in Prag verchie wurde am 28.10.1918 gegründet. Die bürgerliche Regierung in Prag ver --folgte von Anfang an einen tschechisch-chauvinistischen Kurs gegenüber den -folgte von Anfang an einen tschechisch-chauvinistischen Kurs gegenüber den -mehrheitlichen- Minderheitsvölker. 1992 zerfiel der Staat in eine tschechischemehrheitlichen- Minderheitsvölker. 1992 zerfiel der Staat in eine tschechischeund eine slowakische Republik.und eine slowakische Republik.

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men, und da das Land wirtschaftlich so reif ist, wird die Anpassungder politischen und theoretischen Ebene an die wirtschaftliche sehrschnell erreicht werden.

Dann wird es möglich sein, dass die Neger der fortgeschrittendsteTeil werden. Wir haben mit Russland schon ein ähnliches Beispiel.Die Russen waren die Neger Europas. Es ist durchaus möglich,dass die Neger über die Selbstbestimmung in einer Reihe giganti-scher Schritte vor dem großen Block der weißen Arbeiter zur prole-tarischen Diktatur kommen werden. Sie werden dann die Vorhutsein. Ich bin absolut sicher, dass sie auf jeden Fall besser kämpfenwerden als die weißen Arbeiter. Das kann allerdings nur gesche-hen, wenn die Kommunistische Partei einen kompromisslosen,gnadenlosen Kampf nicht gegen die vermeintlichen nationalenVorureingenommenheiten der Neger, sondern gegen die kolossalenVorurteile der weißen Arbeiter führt und ihnen gegenüber keinerleiKonzessionen macht19.

Swabeck: Ist es dann Ihre Meinung, dass der Slogan der Selbst-bestimmung ein Mittel sein wird, die Neger gegen den amerikani-schen Imperialismus in Bewegung zu setzen?

Trotzki: Natürlich. Indem sie ihren eigenen Staat aus dem mäch-tigen Amerika herausbrechen und das mit der Unterstützung derweißen Arbeiter tun, wird sich das Selbstbewusstsein der Negerenorm entwickeln.

1919 Vor der kampflosen Kapitulation der KOMINTERN und ihrer Sektionen vorVor der kampflosen Kapitulation der KOMINTERN und ihrer Sektionen vordem Faschismus 1933 verstand sich die Linke Opposition bzw. die Anhängerdem Faschismus 1933 verstand sich die Linke Opposition bzw. die AnhängerTrotzkis noch als oppositionelle Fraktion der KOMINTERN und orientierteTrotzkis noch als oppositionelle Fraktion der KOMINTERN und orientierteauf die Beeinflussung der stalinistischen KPs. Erst diese Erfahrung führteauf die Beeinflussung der stalinistischen KPs. Erst diese Erfahrung führteTrotzki zu der Auffassung, dass der Stalinismus als Ausdruck der InteressenTrotzki zu der Auffassung, dass der Stalinismus als Ausdruck der Interessender Sowjetbürokratie "durch und durch konterrevolutionär" sei und eine neueder Sowjetbürokratie "durch und durch konterrevolutionär" sei und eine neueInternationale, die 4. Int. gegründet werden müsse, um durch den revolutionäInternationale, die 4. Int. gegründet werden müsse, um durch den revolutionä --ren Sturz der stalinistischen Bürokratie die sozialistische Option zu retten..ren Sturz der stalinistischen Bürokratie die sozialistische Option zu retten..

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Die Reformisten und Revisionisten haben eine Menge dahinge-hend geschrieben, dass der Kapitalismus in Afrika eine zivilisatori-sche Arbeit durchführe und dass, wenn die Völker Afrikas alleinegelassen würden, sie noch mehr von Geschäftemachern etc. ausge-beutet würden als jetzt, wo sie zumindest einen gewissen rechtli-chen Schutz genießen.

In gewissem Maße kann dieses Argument richtig sein. Aber indiesem Fall ist es auch vor allem eine Frage der europäischen Ar-beiter: Ohne ihre Befreiung ist wahre koloniale Befreiung nichtmöglich. Wenn der weiße Arbeiter die Rolle des Unterdrückersspielt, kann er sich nicht selbst befreien und noch weniger die Ko-lonialvölker. Das Recht auf Selbstbestimmung der kolonialen Völ-ker kann in bestimmten Zeiten zu verschiedenen Ergebnissen füh-ren; in letzter Instanz jedoch wird es zum Kampf gegen den Imperi-alismus und zur Befreiung der Kolonialvölker führen.

Vor dem Krieg stellte die österreichische Sozialdemokratie (vorallem Renner20) die Frage der nationalen Minderheiten auch abs-

2020Karl Renner (1870-1950) war 1919-20 sozialdemokratischer Kanzler ÖsterKarl Renner (1870-1950) war 1919-20 sozialdemokratischer Kanzler Öster--reichs und 1931-33 Präsident der Nationalversammlung.reichs und 1931-33 Präsident der Nationalversammlung.

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trakt. Sie argumentierten ebenfalls, dass der Slogan der Selbstbe-stimmung nur die Arbeiter vom Klassenstandpunkt wegführen wür-de und dass der Minderheitenstaat wirtschaftlich nicht lebensfähigsei. War diese Art, die Frage zu stellen, richtig oder falsch?

Sie war abstrakt. Die österreichischen Sozialdemokraten sagten,dass die nationalen Minderheiten keine Nationen seien. Was sehenwir heute? Die Teile, die sich (vom alten österreich-ungarischenReich) abgetrennt haben, existieren - sicher schlecht, aber sie exis-tieren. In Russland haben die Bolschewiki immer für die Selbstbe-stimmung der nationalen Minderheiten gekämpft, einschließlichdes Rechts auf völlige Trennung. Und dennoch sind diese Gruppen,nachdem sie die Selbstbestimmung erreicht hatten, bei der Sowjet-union geblieben. Wenn die österreichische Sozialdemokratie früherin dieser Frage eine korrekte Politik gehabt hätte, dann hätte sie dennationalen Minderheitsgruppen gesagt: "Ihr habt das volle Rechtauf Selbstbestimmung; wir haben keinerlei Interesse daran, Euch inder Hand der Habsburger Monarchie zu lassen" - dann wäre esmöglich gewesen, nach der Revolution eine große Donau-Föderati-on zu schaffen. Die Dialektik der Entwicklung zeigt, dass dort, woes einen beengenden Zentralismus gab, der Staat zerfiel, und dassdort, wo völlige Selbstbestimmung durchgeführt wurde, ein wirkli-cher Staat entstand und vereint blieb.

Die Neger-Frage ist von enormer Bedeutung für Amerika. Die"League" muss diese Frage ernsthaft diskutieren, vielleicht in ihreminternen Bulletin.

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Aussichten und Aufgaben im Fernen Osten21

Was hatte Trotzki zu den Problemen der "rückständigen" Länderund der kolonialen Welt zu sagen? Die revolutionären Kämpfe inAsien haben seit dem Zweiten Weltkrieg eine viel größere Bedeu-tung erlangt, als das während seiner Lebenszeit der Fall war.Doch hatten die Bolschewisten, zwischen Europa und Asien situ-iert, stets große Hoffnungen auf das revolutionäre Potential desOstens gesetzt. Schon 1921 errichteten sie in Moskau eine Kommu-nistische Universität der Werktätigen des Ostens. Dort wurden Stu-denten und Arbeiter aus Asien marxistisch erzogen und in denPraktiken revolutionärer Organisationen unterwiesen. Trotzki hieltdie nachfolgende Rede anlässlich des dritten Gründungstages jenerUniversität. Sie zeichnet sich unter anderem durch seine Vorhersa-ge aus, dass, wenn die Revolution in Europa scheitern sollte, Asienihr Hauptzentrum werden würde.

Vom Büro Eurer Zelle, Genossen, habe ich Materialien erhalten,die die Arbeit Eurer Universität im Verlauf der ersten drei Jahrekennzeichnen, wobei auf meine Bitte hin die Genossen mit Rotstiftalles Wesentliche unterstrichen

und mir dadurch das Bekanntwerden mit den Materialien be-trächtlich erleichtert haben; denn - ich weiß nicht, soll ich sagen zumeiner Schande oder zu meinem Schmerz - ich hatte nicht dieMöglichkeit, aufmerksam Tag für Tag, Monat für Monat, die Ar-beit Eurer Universität zu verfolgen, die eine außerordentliche und,

2121"Perspektivy i zadachi na vostoke"; 'Prawda' Nr. 98 vom 1. 5. 1924. Nachdruck"Perspektivy i zadachi na vostoke"; 'Prawda' Nr. 98 vom 1. 5. 1924. Nachdruckin: Trotzki: "Za pad i Vostok" (Westen und Osten), Moskau 1924, S. 30-41. in: Trotzki: "Za pad i Vostok" (Westen und Osten), Moskau 1924, S. 30-41. Dt.: "Die Aussichten und die Aufgaben der Kommunisten im Osten" (Rede desDt.: "Die Aussichten und die Aufgaben der Kommunisten im Osten" (Rede desGenossen Trotzki bei der Feier des dreijährigen Bestandes der KommunistischenGenossen Trotzki bei der Feier des dreijährigen Bestandes der KommunistischenUniversität der Werktätigen des Ostens am 21.4.1924); in: 'Internationale PresseUniversität der Werktätigen des Ostens am 21.4.1924); in: 'Internationale PresseKorrespondenz', Wien, 4. Jg., 1924, Nr. 59, 27.5.1924, S. 705-708. (Die deutscheKorrespondenz', Wien, 4. Jg., 1924, Nr. 59, 27.5.1924, S. 705-708. (Die deutscheFassung ist etwas umfangreicher als die in der amerikanischen Ausgabe diesesFassung ist etwas umfangreicher als die in der amerikanischen Ausgabe diesesBuches; die Übersetzung wurde vom Herausgeber revidiert.)Buches; die Übersetzung wurde vom Herausgeber revidiert.)

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was ich durchaus nicht nur mit der bei Jubiläen üblichen Übertrei-bung sage, weltgeschichtliche Bedeutung hat.

Genossen, obgleich es vielleicht bei Jubiläumsversammlungennicht vorgesehen ist, sich der Theorie hinzugeben, gestattet mirdoch, einige Betrachtungen allgemeiner Natur vorzubringen, diemeine Erklärung rechtfertigen sollen, dass Eure Universität nichtirgendeine gewöhnliche Lehranstalt ist, wenn auch eine revolutio-näre, sondern ein Hebel von weltgeschichtlicher Bedeutung ...

Ramsey MacDonald (1866-193)

Die ganze gegenwärti-ge politische und kultu-relle Bewegung stütztsich auf den Kapitalis-mus, wächst aus ihmhervor, ist aus ihm er-wachsen und über ihnhinausgewachsen. Aberder Kapitalismus hat,schematisch gesehen,zwei verschiedene Ge-sichter, den Kapitalismusder Mutterländer undden Kapitalismus derKolonien. Das klassischeBeispiel eines Mutterlan-des ist England. Gegen-wärtig ist es mit der so-genannten "Arbeiter"-Regierung MacDonald beglückt.

Bei den Kolonien macht es mir Mühe, zu sagen, welche von ih-nen als Kolonie die typischste ist: soll das Indien sein, das es auchim formalen Sinne ist, oder China, das den Schein der Selbständig-keit wahrt, aber nach seiner Weltstellung und dem Gang seiner Ent-wicklung dem kolonialen Typus angehört? Der klassische Kapita-lismus ist der englische.

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Marx schrieb sein "Kapital" in England, indem er unmittelbar dieEntwicklung des wichtigsten führenden Landes beobachtete, dieswisst Ihr - ich kann mich nicht erinnern, in welchem Kurs Ihr dasdurchnehmt ...

In den Kolonien entwickelt sich der Kapitalismus nicht aus sichselbst heraus, sondern durch das Eindringen ausländischen Kapi-tals. Dies ist es, was zwei verschiedene Typen schafft. Warum istMacDonald, wenn er in nicht sehr wissenschaftlichen, aber dochvöllig deutlichen Ausdrücken spricht, so konservativ, so be-schränkt, so stumpf? Weil England das klassische Land des Kapita-lismus ist, weil sich dort der Kapitalismus organisch vom Hand-werk durch die Manufaktur zur modernen Industrie entwickelt hat,Schritt für Schritt, auf »evolutionärem« Wege; die Vorurteile vongestern und vorgestern und die Vorurteile des vorigen und vorvori-gen Jahrhunderts könnt Ihr unter dem Schädel MacDonalds entde-cken. <Beifall>

Hier zeigt sich auf den ersten Blick ein geschichtlicher Wider-spruch: Warum ist Marx im zurückgebliebenen Deutschland aufge-taucht, im zurückgebliebensten der großen Länder in der erstenHälfte des 19. Jahrhunderts - natürlich abgesehen von Russland -,warum ist Marx in Deutschland, und warum ist Lenin an der Gren-ze des 19. und 20. Jahrhunderts in Russland aufgetaucht? Ein of-fensichtlicher Widerspruch! Aber was für einer? Einer, der durchdie sogenannte Dialektik der geschichtlichen Entwicklung erklärt

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wird.

Cotton mill - Baumwollmühle

In Gestalt der englischen Maschinen, in Gestalt des englischenBaumwollgewebes hat die Geschichte den revolutionärsten Faktorder Entwicklung geschaffen. Aber diese Maschinen und diesesBaumwollgewebe in England wurden auf dem Wege eines langan-dauernden und langsamen Überganges von Stufe zu Stufe geschaf-fen, und das menschliche Bewusstsein ist im Allgemeinen schreck-lich konservativ.

Wenn die wirtschaftliche Entwicklung langsam und planmäßigvor sich geht, so ist es ihr schwer, die menschlichen Schädel zudurchdringen. Die Subjektivisten und überhaupt die Idealisten sa-gen, dass das menschliche Bewusstsein, das kritische Denken usw.usw. die Geschichte vorwärtsziehen, wie ein Schlepper eine Barkehinter sich herzieht. Das ist falsch. Wir alle sind Marxisten undwissen, dass der treibende Faktor in der Geschichte die Produk-tivkräfte sind, die sich bisher auf den Nacken des Menschen ge-legt haben und denen es sehr schwer ist, in den konservativen Schä-

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del des Menschen einzudringen, um dort den Funken neuer politi-scher Gedanken hervorzurufen, besonders wenn die Entwicklunglangsam, organisch, unmerklich vor sich geht.

Aber wenn die Produktivkräfte des Mutterlandes, des klassischenLandes des Kapitalismus, etwa Englands, in rückständigere Ländereindringen, wie dies in Deutschland in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts der Fall war, bei uns an der Grenze des 19. und 20.Jahrhunderts und gegenwärtig in Asien, wenn die wirtschaftlichenFaktoren revolutionär, die alte Ordnung zerbrechend, eindringen,wenn die Entwicklung nicht allmählich, nicht "organisch", sondernmittels schrecklicher Erschütterungen, jäher Verschiebungen dergesellschaftlichen Strukturen vor sich geht, dann findet das kriti-sche Denken unvergleichlich leichter und schneller seinen revoluti-onären Ausdruck, selbstverständlich nur, wenn sich im Lande diedafür notwendigen theoretischen Voraussetzungen finden.

Darum ist Marx in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts inDeutschland aufgetreten, darum Lenin bei uns, darum beobachtenwir auf den ersten Blick jene paradoxe Tatsache: dass wir im Landedes höchstentwickelten, ältesten und bewährtesten europäischenKapitalismus, in England, die konservativste "Arbeiter"-Partei ha-ben. Und auf der anderen Seite haben in unserer Sowjetunion, in ei-nem wirtschaftlich und kulturell äußerst rückständigen Lande - sa-gen wir dies ohne Scheu, denn es ist eine Tatsache -: die besteKommunistische Partei der Welt. <Beifall>

Man muss sagen, dass Russland gemäß seiner wirtschaftlichenEntwicklung in der Mitte steht zwischen dem klassischen Mutter-land, wie es England ist, und Kolonialländern wie Indien oder Chi-na. Und das, was unsere Sowjetunion von England in Bezug auf dieWege und Formen der Entwicklung unterscheidet, zeigt sich nochkrasser bei der Entwicklung der Länder des Ostens. Dort dringt derKapitalismus in Gestalt des ausländischen Finanzkapitals ein. Erwirft dorthin fertige Maschinen, erschüttert und untergräbt die altewirtschaftliche Grundlage und errichtet auf deren Trümmern diebabylonischen Türme der kapitalistischen Wirtschaft.

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Die Tätigkeit des Kapitalismus in den Ländern des Ostens ist nichteine allmähliche und langsame, nicht eine "evolutionäre", sonderneine jähe, katastrophale, in vielen Fällen viel katastrophalere als beiuns, im früheren Zarenrussland. Von diesem grundlegenden Ge-sichtspunkt aus, Genossen, muss das Geschick des Ostens in dennächsten Jahren und Jahrzehnten verfolgt werden.

Wenn Ihr solche prosaischen Bücher nehmt wie die Rechen-schaftsberichte der englischen und amerikanischen Banken für dieJahre 1921, 1922 und 1923, so werdet Ihr in den Zahlen der Bank-bilanzen von London und New York das morgige revolutionäreSchicksal des Ostens lesen. England tritt von neuem in seiner Rolleals Wucherer der ganzen Welt auf. Die Vereinigten Staaten habeneine unglaubliche Menge Goldes angehäuft: in den Kellern derZentralbank wird Gold im Wert von 3 Milliarden Dollars aufbe-wahrt, das sind 6 Milliarden Goldrubel. Darin ersäuft die Wirt-schaft der Vereinigten Staaten. Wenn Ihr fragt: Wem geben Eng-land und die Vereinigten Staaten Anleihen?, so ist zu sagen: Uns,der Sowjetunion geben sie, wie Ihr wahrscheinlich gehört habt,noch nichts, Deutschland geben sie nichts, Frankreich gaben siekärgliche Brocken zur Rettung des Franc; wem also geben sie?

Sie geben in der Hauptsache den Kolonialländern; sie finanzierendie industrielle Entwicklung Asiens, Südamerikas, Südafrikas. Ichwerde Euch nicht Zahlen anführen - ich habe sie bei mir, aber dieswürde mein Referat zu sehr hinausziehen -; es genügt zu sagen,dass bis zum letzten imperialistischen Kriege die kolonialen undhalbkolonialen Länder von den Vereinigten Staaten und Englandwahrscheinlich zweimal weniger Kredite als die Länder des entwi-ckelten Kapitalismus erhielten; jetzt aber übersteigen die finanziel-len Anlagen in den Kolonialländern schon sehr beträchtlich die An-lagen in den alten kapitalistischen Ländern.

Warum dies? Es gibt der Gründe viele, aber zwei Hauptgründesind: Misstrauen zum alten Europa, das zerrissen und entkräftet ist,mit seinem rasenden französischen Militarismus in der Mitte, dermit immer neuen Erschütterungen droht. Andererseits benötigt mandie Kolonialländer als Rohstofflieferanten und Verbraucher von

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Maschinen und Fabrikaten Englands und der Vereinigten Staaten.Wir haben während des Krieges beobachtet und beobachten auchjetzt eine rasend schnelle Industrialisierung der kolonialen, derhalbkolonialen, überhaupt der spät entwickelten Länder: Japans, In-diens, Südamerikas, Südafrikas.

Es besteht kein Zweifel daran, dass, wenn es der chinesischenKuomintang-Partei22 gelingt, China unter einem national-demokra-tischen Regime zu vereinigen, dass dann die kapitalistische Ent-wicklung Chinas mit Siebenmeilenschritten vor sich gehen wird.Aber dies alles bereitet die Mobilisierung ungezählter proletari-scher Massen vor, die sofort dem vorgeschichtlichen, halbbarbari-schen Zustand entrissen und in das Getriebe der Fabrikindustrie ge-schleudert werden. Es wird daher keine Zeit für die Aufbewahrungund Anhäufung des Kehrichts der Jahrhunderte im Bewusstsein derWerktätigen bleiben; nein, in ihrem Bewusstsein wird gewisserma-ßen eine Guillotine wirken, die das Vergangene vom Künftigen ab-trennen und sie zwingen wird, neue Gedanken, neue Formen, neueWege des Lebens und des Kampfes zu suchen.

Und hier müssen sie in einigen Ländern überhaupt zum erstenMale auf den Schauplatz treten, in anderen sich kühn entfalten: diemarxistisch-leninistischen Parteien des Ostens, die japanischenKommunisten, die chinesischen Kommunisten, die türkischen, in-dischen usw. Genossen, Werktätige der Länder des Ostens! Im Jah-re 1883 wurde in der Schweiz die russische Gruppe "Befreiung derArbeit"23 geschaffen. Ist das lange her? Von 1883 bis 1900 sind es17 Jahre und von 1900 bis 1917 gleichfalls I7 Jahre, zusammen

2222Die "Nationale Volkspartei" Sun Yat-sens wurde 1912 aus der 1907 gegr.Die "Nationale Volkspartei" Sun Yat-sens wurde 1912 aus der 1907 gegr."Schwurbrüderschaft", die maßgeblich an der Revolution von 1911 beteiligt war,"Schwurbrüderschaft", die maßgeblich an der Revolution von 1911 beteiligt war,gebildet. 1921 bildete Sun Yat-sen eine Regierung in Kanton und verbündetegebildet. 1921 bildete Sun Yat-sen eine Regierung in Kanton und verbündetesich mit der KP Chinas. 1924 wurde die Kuomintang reorganisiert. Der rechtesich mit der KP Chinas. 1924 wurde die Kuomintang reorganisiert. Der rechteFlügel unter Tschiang Kaischeck setzte sich nach Sun Yat-sens Tod (1925) durchFlügel unter Tschiang Kaischeck setzte sich nach Sun Yat-sens Tod (1925) durchund brach mit den Kommunisten. Er stellte mit seinen Truppen die Einheit Chiund brach mit den Kommunisten. Er stellte mit seinen Truppen die Einheit Chi --nas wieder her; in den Jahren 1937-45 befand er sich in unfreiwilliger Koalitionnas wieder her; in den Jahren 1937-45 befand er sich in unfreiwilliger Koalitionmit den Kommunisten unter Mao Tse-tung gegenüber den japanischen Invasomit den Kommunisten unter Mao Tse-tung gegenüber den japanischen Invaso--ren. Die verzögerte Agrarreform und wachsende Korruption untergruben seinren. Die verzögerte Agrarreform und wachsende Korruption untergruben seinRegime. 1948/49 wurde er von den kommunistischen Truppen nach Taiwan verRegime. 1948/49 wurde er von den kommunistischen Truppen nach Taiwan ver--trieben, wo die Kuomintang noch immer Staatspartei ist.trieben, wo die Kuomintang noch immer Staatspartei ist.

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aber 34 Jahre, das Drittel eines Jahrhunderts, ein Lebensalter: vonder Organisierung des ersten theoretisch-propagandistischen Zir-kels für die Gedanken des Marxismus während der HerrschaftAlexander III. [1881-1894] bis zur Eroberung Zarenrusslands durchdas Proletariat ist alles in allem ein Drittel eines Jahrhunderts ver-gangen! Wer dies mit durchlebt hat, dem erscheint dies als einegroße und schwere Periode. Aber unter dem Gesichtspunkt desMaßstabs der Geschichte ist dies ein noch nicht dagewesenes, ra-sendes, tolles Tempo.

In den Ländern des Ostens aber wird das Tempo der Entwicklungnach allem, was vorliegt, ein noch schnelleres sein. Was ist dennEure kommunistische Universität der Werktätigen des Ostens imLichte der vorgezeichneten Perspektive, was ist sie? Sie ist diePflanzstätte der Gruppe "Befreiung der Arbeit" für die Länder desOstens. <Stürmischer Beifall>

Es ist wahr - und man soll davor nicht die Augen verschließendass die vor den jungen Marxisten des Ostens liegenden Gefahrengroß sind. Wir wissen und Ihr wisst, dass sich die bolschewistischePartei in schweren äußeren und inneren Kämpfen herausgebildethat. Ihr wisst, dass der kastrierte und verfälschte Marxismus bei unsin den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine Schule allgemei-ner politischer Belehrung für die bürgerliche Intelligenz, der An-hänger von Peter Struve usw. gewesen ist, die dann politischeKommis der Bourgeoisie, Kadetten geworden sind und von denenviele nachher zu den Oktobristen und noch weiter nach rechts ge-gangen sind.24 Das wirtschaftlich rückständige Russland war auchim politischen Sinne ein noch nicht differenziertes Land; der Mar-

2323»Das Verdienst, die russische revolutionäre Bewegung auf einen neuen Weg»Das Verdienst, die russische revolutionäre Bewegung auf einen neuen Weggeführt zu haben, gebührt der "Gruppe der Befreiung der Arbeit" die im Jahregeführt zu haben, gebührt der "Gruppe der Befreiung der Arbeit" die im Jahre1883 von Georg Plechanow, Vera Sassulitsch, Paul Axelrod und Leo Deutsch1883 von Georg Plechanow, Vera Sassulitsch, Paul Axelrod und Leo Deutsch[in der Emigrationj gegründet wurde. Diese Gruppe machte sich an die schwie[in der Emigrationj gegründet wurde. Diese Gruppe machte sich an die schwie--rige Arbeit der Propaganda sozialdemokratischer Ideen unter den russischenrige Arbeit der Propaganda sozialdemokratischer Ideen unter den russischenRevolutionären ... Die "Gruppe der Befreiung der Arbeit" begann die Werke vonRevolutionären ... Die "Gruppe der Befreiung der Arbeit" begann die Werke vonMarx und Engels in russischer Sprache herauszugeben und schritt zu einerMarx und Engels in russischer Sprache herauszugeben und schritt zu einergrundlegenden Kritik der Vorurteile der "Volkstümler"«grundlegenden Kritik der Vorurteile der "Volkstümler"« , Julius Martow: "Ge, Julius Martow: "Ge--schichte der russischen Sozialdemokratie", Berlin 1926 (Reprint Erlangen 1973),schichte der russischen Sozialdemokratie", Berlin 1926 (Reprint Erlangen 1973),S. 14.S. 14.

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xismus sprach von der Notwendigkeit des Kapitalismus, und jenebürgerlich-fortschrittlichen Elemente, die den Kapitalismus nichtum des Sozialismus willen wollten, sondern um des Kapitalismuswillen, nahmen den "Marxismus" an, wobei sie ihm den revolutio-nären Stachel nahmen.

Das gleiche geschah auch in Rumänien. Die Mehrheit der heuteregierenden Schergen Rumäniens ist seinerzeit durch die Schuledes verfälschten Marxismus gegangen; der eine oder andere von ih-nen hat sich in Frankreich dem Guesdismus25 angeschlossen. InSerbien hat eine ganze Reihe der jetzigen konservativen und reakti-onären Politiker in seiner Jugend die Schule des Marxismus oderdes Bakunismus26 durchgemacht. In Bulgarien hat sich dies weni-ger bemerkbar gemacht. Aber im allgemeinen kennzeichnet diesezeitweise Ausbeutung des Marxismus für Zwecke der bürgerlich-

2424PeterPeter B.B. StruveStruve (1870-1944),(1870-1944), russ.russ. JournalistJournalist undund Ökonom, repräsentierte mitÖkonom, repräsentierte mitM.I. Tugan-BaranowskiM.I. Tugan-Baranowski denden sog.sog. "legalen Marxismus", bei dem"legalen Marxismus", bei dem diedie aufsteigendeaufsteigendeMittelklasseMittelklasse ideologischenideologischen RückhaltRückhalt gegengegen ZarZar undund Adel suchte.Adel suchte. StruveStruve warwar zuzu--nächstnächst Sozialdemokrat, dann imSozialdemokrat, dann im ZentralkomiteeZentralkomitee derder liberalenliberalen Kadetten-Partei;Kadetten-Partei;nachnach derder Revolution von 1905 wurde er Führer des rechten Flügels der Liberalen.Revolution von 1905 wurde er Führer des rechten Flügels der Liberalen.Im Bürgerkrieg war er Minister unter den Konterrevolutionären Denikin undIm Bürgerkrieg war er Minister unter den Konterrevolutionären Denikin undWrangel, später Führer einer Gruppe von monarchistischen Emigranten. ("KritiWrangel, später Führer einer Gruppe von monarchistischen Emigranten. ("Kriti--sche Bemerkungen zur ökonomischen Entwicklung Russlands" (russ.), Peterssche Bemerkungen zur ökonomischen Entwicklung Russlands" (russ.), Peters--burg 1894.) burg 1894.) Die "Oktobristen" waren die Anhänger der im Anschluss an das ZarenmanifestDie "Oktobristen" waren die Anhänger der im Anschluss an das Zarenmanifestvom 30.10.1905 gegründeten Partei "Verein des 17. Oktober", die die Interessenvom 30.10.1905 gegründeten Partei "Verein des 17. Oktober", die die Interessendes Großgrundbesitzes und der Großbourgeoisie vertrat; ihr Führer war der Mosdes Großgrundbesitzes und der Großbourgeoisie vertrat; ihr Führer war der Mos--kauer Fabrikant A.I. Gutschkow.kauer Fabrikant A.I. Gutschkow.2525"Guesdismus", so genannt nach Jules (Mathieu-Basile) Guesde (1845-1922)."Guesdismus", so genannt nach Jules (Mathieu-Basile) Guesde (1845-1922).Guesde war zunächst bürgerlicher Republikaner, schloß sich dann in der erstenGuesde war zunächst bürgerlicher Republikaner, schloß sich dann in der erstenHälfte der siebziger Jahre den Anarchisten an. 1879 war er Mitbegründer derHälfte der siebziger Jahre den Anarchisten an. 1879 war er Mitbegründer derFranzösischen Arbeiterpartei und Propagandist des Marxismus in Frankreich. ErFranzösischen Arbeiterpartei und Propagandist des Marxismus in Frankreich. Erkämpfte gegen den Opportunismus; im 1. Weltkrieg trat er für Vaterlandsverteikämpfte gegen den Opportunismus; im 1. Weltkrieg trat er für Vaterlandsvertei --digung ein. ("Textes choisis" (1867-I882), Paris 1959.)digung ein. ("Textes choisis" (1867-I882), Paris 1959.)2626"Bakunismus" (revolutionärer Putschismus), so genannt nach Michail A. Baku"Bakunismus" (revolutionärer Putschismus), so genannt nach Michail A. Baku--nin (18I4-1876), russischer Revolutionär und Anarchist, Teilnehmer an der deutnin (18I4-1876), russischer Revolutionär und Anarchist, Teilnehmer an der deut--schen Revolution 1848/49. Er beEinflusste die Narodniki. Auf dem Haager Konschen Revolution 1848/49. Er beEinflusste die Narodniki. Auf dem Haager Kon--greß der Internationalen Arbeiterassoziation 1872 wurde er wegen Spaltertätiggreß der Internationalen Arbeiterassoziation 1872 wurde er wegen Spaltertätig--keit ausgeschlossen. ("Staatlichkeit und Anarchie und andere Schriften", hg. vonkeit ausgeschlossen. ("Staatlichkeit und Anarchie und andere Schriften", hg. vonH. Stuke, Frankfurt (Ullstein) 1972. Fritz Brupbacher: "Marx und Bakunin, EinH. Stuke, Frankfurt (Ullstein) 1972. Fritz Brupbacher: "Marx und Bakunin, EinBeitrag zur Geschichte der Internationalen Arbeiterassoziation", Berlin 1922.)Beitrag zur Geschichte der Internationalen Arbeiterassoziation", Berlin 1922.)

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fortschrittlichen Politik die Länder des balkanischen Südostens wieauch unser eigenes Land.

Droht eine derartige Gefahr auch dem Marxismus des Ostens?Teilweise ja. Warum? Weil die nationale Bewegung im Osten einfortschrittlicher Faktor der Geschichte ist. Der Kampf um die Un-abhängigkeit Indiens ist eine durch und durch fortschrittliche Be-wegung; aber wir alle wissen zugleich, dass dieser Kampf sich aufnational-bürgerliche Aufgaben beschränkt. Der Kampf um die Be-freiung Chinas, die Ideologie von Sun Yat-sen 27 ist ein demokrati-scher Kampf, eine fortschrittliche, aber bürgerliche Ideologie. Wirtreten dafür ein, dass die Kommunisten die Kuomintang in Chinaunterstützen und sie vorwärtstreiben.

2727Sun Yat-sen (1866-1925), bürgerlich-nationalistischer Führer der chinesischenSun Yat-sen (1866-1925), bürgerlich-nationalistischer Führer der chinesischenRevolution von 191, Gründer der Kuomintang (vgl. die Anm Nr. 2). Seit 1893 inRevolution von 191, Gründer der Kuomintang (vgl. die Anm Nr. 2). Seit 1893 inder Untergrundbewegung gegen das Mandschu-Kaisertum, lebte er nach demder Untergrundbewegung gegen das Mandschu-Kaisertum, lebte er nach demFehlschlag des Kanton-Aufstands von 1895 im japanischen Exil. 1913-16 aberFehlschlag des Kanton-Aufstands von 1895 im japanischen Exil. 1913-16 aber--mals im japanischen Exil, bildete er 1917-19 eine Militärregierung in Kanton,mals im japanischen Exil, bildete er 1917-19 eine Militärregierung in Kanton,dann neuerlich 1920. Suchte 1923 eine Allianz mit der Sowjetunion und der chidann neuerlich 1920. Suchte 1923 eine Allianz mit der Sowjetunion und der chi--nesischen KP einzugehen. Das Programm der Kuomintang war: Nationale Unabnesischen KP einzugehen. Das Programm der Kuomintang war: Nationale Unab--hängigkeit, Demokratie und soziale Umgestaltung (Bodenreform).hängigkeit, Demokratie und soziale Umgestaltung (Bodenreform).

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Sun Yat-sen 1866-1925

Bürgerlich-fortschrittlicher Politiker

Das ist notwendig, aber darin liegt auch die Gefahr einer national-demokratischen Entartung. Das gleiche gilt auch in allen Länderndes Ostens, in denen der nationale Kampf um die Befreiung vonKolonialsklaverei stattfindet. Auf diese fortschrittliche Bewegungmuss sich das junge Proletariat des Ostens stützen; es ist aber völligklar, dass in der nächsten Periode für die jungen Marxisten des Os-tens die Gefahr besteht, aus den "Gruppen zur Befreiung der Ar-beit" losgerissen zu werden und der nationalen Ideologie zu erlie-gen.

Gegenüber den alten Generationen der russischen, rumänischenund anderen Marxisten habt Ihr aber den Vorteil, dass Ihr nicht nurin der nachmarxschen, sondern auch in der nachleninschen Epochelebt und arbeitet. Euer Vorteil besteht darin, dass Ihr unmittelbar ei-ner Periode entwachst, die in die Geschichte eingehen wird als dieEpoche Lenins.

Ich habe in Eurer Zeitung, die mir das Büro Eurer Zelle so lie-benswürdig mit Anmerkungen geschickt hat, über Marx und Leningelesen. Ihr polemisiert untereinander sehr streng; dies sage ichEuch übrigens nicht als Vorwurf. Dort wurde die Frage so gestellt,als ob, nach Meinung der einen, Marx bloß ein Theoretiker gewe-sen wäre; so stellte jedenfalls die Gegenseite diese Position dar -und antwortete: nein, Marx war revolutionärer Politiker wie Lenin,und bei Marx wie bei Lenin gingen Theorie und Praxis Hand inHand.

In dieser allgemeinen Formulierung ist das unbedingt wahr undunbestreitbar; aber es besteht doch ein Unterschied zwischen diesenbeiden geschichtlichen Figuren, ein tiefgehender Unterschied, dernicht nur aus der Verschiedenheit der Individualitäten, sondern ausder Verschiedenheit der Epochen hervorgeht.

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Der Marxismus ist selbstverständlich keine akademische Lehre,sondern ein Hebel revolutionärer Praxis. Marx hat doch nicht um-sonst gesagt: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden in-terpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.«28 Gab es aber zuLebzeiten von Marx, in der Epoche der I. Internationale, und nach-her in der Zeit der II. Internationale die Möglichkeit, den Marxis-mus durch die Arbeiterbewegung gänzlich und bis zum Ende aus-zuwerten? Hat damals der Marxismus eine echte Verkörperung inder Aktion erfahren? Nein. Hatte Marx die Möglichkeit und dasGlück, seine revolutionäre Theorie in einer entscheidenden ge-schichtlichen Aktion, der Eroberung der Macht durch das Proletari-at, zu erproben? Nein.

Seine Lehre hat Marx natürlich nicht rein akademisch geschaffen;sie ist ein Produkt der Revolution und der Einschätzung und Kritikdes Zusammenbruchs der bürgerlichen Demokratie; er hat sein"Manifest" im Jahre I847 geschrieben, er hat auf dem linken Flügelder Demokratie die Revolution von 1848 mit durchgeführt, wobeier alle ihre Ereignisse "marxistisch" einschätzte; er schrieb in Lon-don sein "Kapital"; er war gleichzeitig der Schöpfer der I. Internati-onale [1864], der Anreger der Politik der vorgeschrittenen Gruppender Arbeiterklasse aller Länder; aber er stand nicht an der Spitze ei-ner Partei, die die Geschicke der Welt oder zumindest eines Landesentschieden hätte. Wenn wir kurz auf die Frage antworten wollen:Was ist Marx?, so sagen wir: »Marx ist der Autor des "Kapital".«Und wenn wir uns fragen, was ist Lenin, so werden wir sagen: »Le-nin ist der Autor des Oktoberumsturzes «.

Lenin hat mehr, als dies irgendein anderer tat, betont, dass er dieLehre von Marx nicht zu revidieren, umzuarbeiten, abzuändern ge-denke; Lenin kam, um mit den alten Worten des Evangeliums zusprechen, nicht, um Marx' Gesetz zu ändern, sondern um es zu er-füllen. Er hat dies mehr betont als irgendein anderer, gleichzeitigaber hatte er Marx von den Überkrustungen jener Generationen zubefreien, die zwischen Marx und Lenin standen; von den Missver-

2828Marx, (II.. der) "Thesen über Feuerbach" ([1845] 1888); MEW, Bd. 3, Berlin Marx, (II.. der) "Thesen über Feuerbach" ([1845] 1888); MEW, Bd. 3, Berlin (Dietz) 1959, S. 7.(Dietz) 1959, S. 7.

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ständnissen und Fälschungen des Kautskyanismus, des MacDonal-dismus, des Konservatismus der Arbeiteraristokratie, der reformis-tischen und nationalistischen Bürokratie, um dann das Rüstzeugdes echten Marxismus in der größten geschichtlichen Aktion anzu-wenden.

Und nun besteht Euer, der jungen Generation, größter Vorteildarin, dass ihr an dieser Arbeit unmittelbar oder mittelbar teilge-nommen habt, dass Ihr sie beobachtet habt, dass Ihr im politisch-theoretischen Milieu des Leninismus lebt, dass Ihr diese mit derPraxis zusammenfallende Theorie in der Universität der Werktäti-gen des Ostens in Euch aufnehmt. Dies ist Euer ungeheurer und un-schätzbarer Vorteil, und Ihr müsst das verstehen. Konnte Marxselbst theoretisch den Entwicklungsgang von Jahrzehnten und Jahr-hunderten überblicken, so hat sich seine Lehre nachher im Tages-kampf in einzelne Elemente aufgelöst, die auch entstellt aufgenom-men wurden. Lenin kam, setzte den Marxismus unter den neuenVerhältnissen wieder zusammen und demonstrierte diese Lehre ineiner Aktion von riesengroßem geschichtlichen Maßstab. Ihr habtdiese Aktion gesehen, Ihr habt Euch ihr angeschlossen, das ver-pflichtet, und auf dieser Verpflichtung bauen wir die Universitätder Werktätigen des Ostens auf.

Darum, Genossen, glaube ich, dass die Gefahr einer national-de-mokratischen Entartung - die natürlich besteht und den einen oderanderen erfassen wird, anders kann es ja auch nicht sein -, dass die-se Gefahr durch die Tatsache des Bestehens der Sowjetunion undder Dritten Internationale außerordentlich verringert wird. Es gibtGrund, zu hoffen, dass der Kern, der aus der kommunistischen Uni-versität der Werktätigen des Ostens hervorgehen wird, den ihm zu-kommenden Platz einnehmen wird als die treibende Kraft des Klas-senbewusstseins, des Marxismus, des Leninismus in der Bewegungdes Proletariats der Länder des Ostens. Die Nachfrage nach Euch,Genossen, wird ungeheuer werden, sie wird, wie ich schon sagte,nicht allmählich, sondern auf einmal zutage treten, sozusagen »ka-tastrophisch«.

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Lest einen der letzten Artikel Lenins: "Lieber weniger, aber bes-ser."29 Er ist scheinbar einer besonderen Organisationsfrage gewid-met, erfasst aber zugleich die Aussichten der Entwicklung der Län-der des Ostens im Zusammenhang mit der Entwicklung Europas.Was ist der Hauptgedanke des Artikels? Der Hauptgedanke ist der,dass die Entwicklung der Revolution im Westen aufgehalten wer-den kann. Wodurch kann sie aufgehalten werden? Durch die Mac-Donald-Gruppe, denn die konservativste Kraft in Europa ist dieMacDonald-Gruppe. Wir sehen, wie die Türkei das Kalifat ab-schafft30, MacDonald es aber wieder herstellt. Ist dies nicht etwaein schlagendes Beispiel, das tatsächlich den konterrevolutionärenMenschewismus des Westens dem fortschrittlichen national-bür-gerlichen Demokratismus des Ostens schroff gegenüberstellt?

In Afghanistan spielen sich jetzt wahrhaft dramatische Ereignisseab: Das England MacDonalds bringt den linken national-bürgerli-chen Flügel, der das unabhängige Afghanistan europäisch gestaltenwill, zum Sturz und bemüht sich, dort die dunkelsten und reaktio-närsten Elemente wieder zur Macht zu bringen, die von den ärgstenVorurteilen des Panislamismus, des Kalifats usw. durchdrungensind.31 Nehmt diese beiden Kräfte bei ihrem lebhaften Zusammen-stoße, und es wird sofort klar, warum der Osten sich immer mehrzu uns, zur Sowjetunion und zur Dritten Internationale, hingezogenfühlen wird.

Wir sehen, wie Europa, das durch seine frühere Entwicklung denungeheuerlichen Konservativismus der Oberschichten der Arbeiter-klasse gesichert hat, immer mehr dem wirtschaftlichen Zerfall undder Zersetzung verfällt. Es hat keinen Ausweg mehr. Und dies

2929Geschrieben zum XII. Parteitag der KPR (B) (17.-25.4.I923) am 2.3.1923 LeGeschrieben zum XII. Parteitag der KPR (B) (17.-25.4.I923) am 2.3.1923 Le--nin: "Werke", Bd. 33, Berlin (Dietz) 1963, S. 474-490. Vgl. dazu Moshé Lewin, nin: "Werke", Bd. 33, Berlin (Dietz) 1963, S. 474-490. Vgl. dazu Moshé Lewin, "Lenins letzter Kampf" (1967), Hamburg (Hoffmann und Campe) 1970, Kap. 9."Lenins letzter Kampf" (1967), Hamburg (Hoffmann und Campe) 1970, Kap. 9.3030Am 3.3.1924 wurde von der türkischen Nationalversammlung das Kalifat (dieAm 3.3.1924 wurde von der türkischen Nationalversammlung das Kalifat (dieHerrschaft der Nachfolger Mohammeds über die islamische Gesamtgemeinde)Herrschaft der Nachfolger Mohammeds über die islamische Gesamtgemeinde)abgeschafft; alle Mitglieder der Dynastie wurden verbannt und ausgebürgert.abgeschafft; alle Mitglieder der Dynastie wurden verbannt und ausgebürgert.3131Der seit 1919 regierende Aman Ullah versuchte - ähnlich wie Kemal PaschaDer seit 1919 regierende Aman Ullah versuchte - ähnlich wie Kemal Pascha(Atatürk) in der Türkei -, Afghanistan durch Reformen an die westliche Zivilisa(Atatürk) in der Türkei -, Afghanistan durch Reformen an die westliche Zivilisa--tion anzuschließen, und stieß dabei auf den Widerstand der islamischen Geisttion anzuschließen, und stieß dabei auf den Widerstand der islamischen Geist--lichkeit (was 1929 zu seinem Sturz führte).lichkeit (was 1929 zu seinem Sturz führte).

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kommt zum Teil darin zum Ausdruck, dass Amerika ihm keine An-leihe gewährt, da es mit Recht seiner wirtschaftlichen Lebensfähig-keit nicht traut. Andererseits sehen wir, wie dieses selbe Amerika,dieses selbe England genötigt sind, die wirtschaftliche Entwicklungder Kolonialländer zu finanzieren, wobei sie sie in rasendem Tem-po auf den Weg der Revolution treiben. Und wenn Europa in sei-nem jetzigen Verwesungszustande durch diesen stumpfsinnigenengstirnigen MacDonaldismus der aristokratischen, privilegiertenOberschicht der Arbeiterklasse festgehalten wird, so wird das Zen-trum der revolutionären Bewegung völlig auf den Osten übergehen.Und dann wird sich erweisen, dass, wenn eine Reihe von Jahrzehn-ten für die kapitalistische Entwicklung Englands nötig war, um mitHilfe dieses revolutionären Faktors unserem alten Russland unddem alten Osten auf die Beine zu helfen, es nachher der Revolutiondes Ostens zufallen wird, nach England zurückzukehren und einigeDickschädel zu zerschlagen, wenn dies nötig ist, und der Revoluti-on des europäischen Proletariats einen Stoß vorwärts zu geben.<Beifall> So sieht eine der geschichtlichen Möglichkeiten aus.Man muss sie vor seinem geistigen Auge haben.

Ich las in den mir zugeschickten Materialien darüber, welchenungeheuren Eindruck eine Hörerin Eurer Universität, eine Türkin,in Kasan hervorrief, wo sich um sie herum Frauen versammelten,darunter auch alte und des Lesens und Schreibens unkundige. Es isteine kleine Episode, aber sie ist bezeichnend und hat doch eine tie-fe geschichtliche Bedeutung.

Der Sinn, die Stärke und das Wesen des Bolschewismus bestehendarin, dass er sich nicht an die Oberschichten der Arbeiterklassewendet, sondern an ihre breitesten Massen, an die unteren Schich-ten, an die Millionen, an die Unterdrücktesten der Unterdrückten.Darum ist er nicht durch seinen theoretischen Gehalt, der noch lan-ge nicht angeeignet und durchdacht ist, sondern schon durch seinenbefreienden Windhauch zur bevorzugten Lehre der Länder des Os-tens geworden. Wir lesen in Eurer Zeitung immer neue Bestätigun-gen dessen, dass der Name Lenins bekannt ist nicht nur in denSchluchten des Kaukasus, sondern auch in den Tiefen Indiens. Wirwissen, dass in China Werktätige, die wahrscheinlich in ihrem Le-

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ben keinen einzigen Artikel Lenins gelesen haben, sich leiden-schaftlich dem Bolschewismus anschließen. So mächtig ist der Ein-fluss dieser großen historischen Bewegung! Sie haben erfasst, dassdies die Lehre ist, die sich an die Parias, an die Unterdrückten, andie Unterjochten, an die Millionen, an die Hunderte von Millionenwendet, für die es keinen anderen Ausweg, für die es keine andereRettung gibt.

Und wenn der Leninismus leidenschaftlichen Widerhall in denHerzen der werktätigen Frauen findet, so darum, weil es keine Ge-sellschaftsschicht auf der Welt gibt, die mehr unterdrückt ist als diewerktätigen Frauen!

Als ich las, wie die Hörerin Eurer Universität in Kasan auftratund wie sich um sie herum des Lesens und Schreibens unkundigeTatarenfrauen und -mädchen versammelten, erinnerte mich dies anmeinen kürzlichen Aufenthalt in Baku, wo ich zum ersten Mal einetürkische Kommunistin sah und hörte, wo ich im Saale mehrereDutzend, vielleicht hundert türkischer Kommunistinnen erblickte,ihre Begeisterung sah und hörte, diese Leidenschaft der versklav-testen aller Sklavinnen von gestern, die das neue Wort der Befrei-ung hörten und zu neuem Leben erwacht waren, und wo mir zumersten Mal klar wurde, dass in der Bewegung der Völker des Os-tens die Frau eine größere Rolle spielen wird, als in Europa und beiuns. <Beifall>

Warum? ja, eben deshalb, weil die Frau des Ostens noch unver-gleichlich mehr als der Mann geknechtet, unterdrückt, von Vorur-teilen geplagt ist und die neuen wirtschaftlichen Verhältnisse unddie neue geschichtliche Bewegung sie mit noch größerer Kraft, mitnoch größerer Schroffheit aus den alten, bewegungslosen Verhält-nissen herausreißen werden als den Mann.

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Iran, am Kaspischen Meer, 70er Jahre

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Wir sehen auch jetzt noch im Osten die Herrschaft des Islam, deralten Vorurteile, Glaubenslehren, Gewohnheiten, aber dies allesverwandelt sich immer mehr in Schutt und Staub. Wie ein vermo-dertes Gewebe, aus der Entfernung gesehen, vollständig zu seinscheint, das ganze Muster zu sehen ist, die Struktur erhalten ist,aber eine Handbewegung, ein frischer Windhauch genügt, um dasganze Gewebe in Staub zerfallen zu lassen, so sind im Osten die al-ten Glaubenslehren, die so tief verwurzelt zu sein scheinen, nurnoch ein Schatten der Vergangenheit; man hat in der Türkei dasKalifat abgeschafft, und kein einziges Haar ist denen gekrümmtworden, die den Anschlag auf das Kalifat verübt haben; dies bedeu-tet, dass die alten Glaubensformen des Ostens verfault sind unddass bei der nächsten geschichtlichen Bewegung der revolutionärenwerktätigen Massen die alten Glaubensformen kein ernstes Hinder-nis mehr darbieten werden.

Das bedeutet aber zugleich, dass die in der Lebensführung, in denSitten und Gebräuchen, in der Arbeit am meisten festgekettete ori-

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entalische Frau, die versklavteste der Sklavinnen, wenn sie - gemäßden Forderungen der neuen wirtschaftlichen Verhältnisse - denSchleier abgelegt haben wird, leidenschaftlichen Durst nach neuenGedanken, nach einem neuen Bewusstsein haben wird, die es ihrerlauben, ihre neue Lage in der Gesellschaft geistig zu artikulieren.

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Women_in_shiraz_2.jpg

Und es wird keinen besseren Genossen im Osten geben, keinenbesseren Kämpfer für die Gedanken der Revolution, für die Gedan-ken des Kommunismus, als die erwachte arbeitende Frau.<Beifall>

Genossen, darum hat Eure Universität weltgeschichtliche Bedeu-tung. Unter Ausnützung der ideologischen und politischen Erfah-rung des Westens bereitet sie den großen revolutionären Sauerteigfür den Osten vor. Eure Stunde wird bald schlagen. Das Finanzka-

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pital Englands und Amerikas zerstört die wirtschaftlichen Grundla-gen des Ostens, wirft Schicht um Schicht um, vernichtet das Alteund schafft das Bedürfnis nach Neuem. Ihr seid Sämänner mit demSamen der Gedanken des Kommunismus, und die revolutionäreProduktivität Eurer Arbeit wird unermesslich höher sein als dieproduktiven Arbeiten der alten marxistischen Generation Europas.

Aber, Genossen, ich möchte nicht, dass aus dem von mir Gesag-ten Schlüsse im Geist irgendeines östlichen Hochmuts gezogenwerden. <Heiterkeit> Ich sehe, dass mich niemand von Euch soaufgefasst hat ... Denn wenn irgend jemand von derartigem messia-nischem Hochmut und Verachtung des Westens erfüllt wäre, sowäre dies schon der kürzeste und schnellste Weg zum Aufgehen inder national-demokratischen Ideologie.

Nein, die kommunistischen Revolutionäre des Ostens in EurerUniversität müssen lernen, die Weltbewegung im Ganzen zu be-trachten, indem sie die Kräfte des Ostens und des Westens unterdem Gesichtswinkel des einheitlichen großen Zieles vergleichenund verbinden. Man muss es verstehen, den Aufstand der indischenBauern, den Streik der Lastträger in den Häfen Indiens, die politi-sche Propaganda der bürgerlichen Demokraten der Kuomintang-Partei, den Kampf der Koreaner um Unabhängigkeit, die bürger-lich-demokratische Wiedergeburt der Türkei, die wirtschaftlicheund kulturell-erzieherische Arbeit in den Sowjetrepubliken desTranskaukasus richtig einzuschätzen, man muss all dies ideologischund praktisch mit der Arbeit und mit dem Kampf der Kommunisti-schen Internationale in Europa und im besonderen in England zuverbinden wissen, wo langsam, langsamer als viele von uns esmöchten, aber sicher der Maulwurf des britischen Kommunismusdie konservativen Festungen MacDonalds unterminiert. <Beifall>

Euer dreijähriges Jubiläum ist natürlich an und für sich ein sehrbescheidenes Jubiläum. Viele von Euch befinden sich erst an derSchwelle des Marxismus. Aber Euer Vorteil gegenüber der altenGeneration, wiederhole ich, besteht darin, dass Ihr das ABC desMarxismus nicht in vom Leben abgeschnittenen Emigrantenzir-keln, in den Ländern des herrschenden Kapitalismus erlernt, wie es

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uns bestimmt war, sondern auf einem Boden, der vom Leninismuserobert worden ist, auf einem Boden, der mit Leninismus durch-tränkt ist, auf einem Boden, der von der ideologischen Atmosphäredes Leninismus umhüllt ist. Ihr erlernt den Marxismus nicht bloßaus Büchlein, sondern habt die Möglichkeit, ihn in der politischenAtmosphäre dieses Landes einzuatmen. Dies trifft nicht nur aufjene zu, die aus den zur Sowjetunion gehörenden östlichen Repu-bliken hierher gereist sind, es trifft auch auf jene zu - und deren Be-deutung ist natürlich durchaus nicht geringer! -, die aus den unter-drückten Kolonialländern hierher gekommen sind.

Ob sich das letzte Kapitel des revolutionären Kampfes mit demImperialismus in einem Jahre, in zwei, drei oder fünf Jahren ab-spielt, wissen wir nicht; aber dafür wissen wir, dass jedes Jahr eineneue Anzahl von Absolventen der Kommunistischen Universitätdes Ostens bringen wird. jedes Jahr wird eine neue Zelle von Kom-munisten bringen, die das ABC des Leninismus kennen und die ge-sehen haben, wie dieses ABC bei der Arbeit angewendet wird.Wenn bis zu den entscheidenden Ereignissen ein Jahr vergehenwird, so werden wir einen Jahrgang haben; wenn zwei Jahre, sozwei Jahrgänge, wenn drei, so drei. Und im Augenblick der ent-scheidenden Ereignisse werden die Studenten der Kommunisti-schen Universität des Ostens sagen: »Hier sind wir. Wir haben et-was gelernt. Wir können nicht bloß die Gedanken des Leninismusin die Sprachen Chinas, Indiens, der Türkei, Koreas übersetzten;wir haben auch gelernt, die Leiden, Leidenschaften, Forderungenund Hoffnungen der werktätigen Massen des Ostens in die Sprachedes Marxismus zu übersetzen.« - »Wer hat Euch dies gelehrt?«,wird man fragen. »Das hat uns die Kommunistische Universität derWerktätigen des Ostens gelehrt.« Und dann wird man das sagen,was ich jetzt am Tage Eures dreijährigen Jubiläums sage: »Eindreifaches Hoch der Kommunistischen Universität des Ostens.«<Stürmische Ovationen und Gesang der "Internationale".>

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Minderheiten und Emigrantenpolitik

aus Leo Trotzki: "Über die jüdische Frage"Einleitung von Peter Buch (Auszug)

... Die wichtigste politische Organisation in der Gemeinschaftder osteuropäischen Juden zu dieser Zeit [zaristisches Russland vor1917, d. Übers.] war der "Allgemeine jüdische Arbeiterbund vonLitauen, Polen und Russland" auch kurz als "Bund" bekannt. Erfordere volle Rechte für die Juden, dort wo sie lebten und arbeite-ten, und lehnte den Zionismus als utopisches und reaktionäresSchema scharf ab. Er erschien ihm als eine Form von Selbstaus-schluss, der von jüdischen bürgerlichen Nationalisten gepredigtwurde, die in die Hände der Antisemiten spielten und die die Arbei-terklasse weiter spalteten.

Bis zum Aufstieg von Hitler und dem Beginn des 2. Weltkriegsblieb der Zionismus eine begrenzte Minderheitstendenz innerhalbder jüdischen Bevölkerung, insbesondere unter den jüdischen Ar-beitern, die ihn schroff ablehnten. Während des Krieges ver-schwand der "Bund" in dem Feuer, das das osteuropäische Juden-tum verschlang, aber im vorrevolutionären Russland spielte er eineSchlüsselrolle unter den jüdischen Arbeitern. Um einige von Trotz-kis Bemerkungen und viel von Lenins Schriften zur jüdischen Fragezu verstehen, ist es nützlich, sich kurz mit ihrem Konflikt mit demBund zu beschäftigen.

Während des historischen II. Kongresses der russischen Sozial-demokratie 1903, als die Spaltung zwischen Bolschewiki (Mehr-heit) und Menschewiki (Minderheit) entstand, lehnte der "Bund"Lenins Konzept einer multinationalen demokratisch-zentralisti-schen professionellen revolutionären Partei ab. Die Bundisten be-vorzugten föderalistische Parteistrukturen und bestanden auf ei-nem Alleinvertretungsanspruch der Parteiangelegenheiten gegen-über der jüdischen Arbeiterklasse. Sie traten ein für "national-kul-turelle Autonomie" um die über das ganze Land zerstreuten Judenzusammenzuschließen. Der Zusammenschluss sollte nicht auf ei-nem eigenen Territorium, sondern um Schulen und andere Institu-

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tionen erfolgen, ein Konzept, das später von dem österreichischensozialdemokratischen Theoretiker Otto Bauer verfochten wurde.

Ironischerweise lehnte der Reformist Bauer das Recht auf natio-nale Selbstbestimmung, dessen Kern das Recht auf Abtrennungwar, ab. Er schlug stattdessen als Ersatz sein Konzept vor, das derliberalen Bourgeoisie, die um die Einheit des österreichisch-unga-rischen Kaiserreichs besorgt war, akzeptabler erscheinen sollte.

Trotzki, damals noch in seinen Zwanzigern, ergriff in diesemKonflikt die Partei Lenins und war auf dem Kongress ein Sprecherder Mehrheit gegen den "Bund". Der "Bund" selbst verließ späterden Kongress und schloss ein Bündnis mit den Menschewiki.

In der Sowjetunion wurde die von Trotzki geführte Linksoppositi-on in einem langen innerparteilichen Kampf geschlagen. Trotzkiwurde dann in die Türkei ins Exil gezwungen, wo er sich umgehendan die Kommunisten im Ausland wandte. Unter denen, die ihm ant-worteten, waren Gruppen von jiddisch sprechenden kommunisti-schen Arbeitern in Frankreich und den Vereinigten Staaten vonAmerika. Die erste Auswahl in dieser Broschüre sind Briefe an diejiddisch-sprachigen Zeitungen dieser Gruppen, 'Klorkeit' (Klar-heit) in Paris und 'Unser Kamf' (Unser Kampf) in New York. Trotz-ki schrieb dies zu einer Zeit, als er noch hoffte, Kräfte innerhalbder Komintern zu sammeln, um den stalinistischen Trend umzukeh-ren und Nutzen aus den neuen revolutionären Möglichkeiten zu zie-hen, die sich mit der kapitalistischen Weltkrise der 30er Jahre er-öffneten.

Die Trotzkisten arbeiteten noch als linke Opposition in der kom-munistischen Parteien. Sie wandten sich mit ihren Appellen an diekommunistische Basis gegen ihren ungerechten Ausschluss und füreine Rückkehr zu den ursprünglichen Prinzipien des Bolschewis-mus in die kommunistischen Reihen. In den USA waren sie zu die-ser Zeit in der "Communist League of Amerika" organisiert, derenenglisch-sprachiges Organ 'The Militant' war. Sie wandte sich mitihrer Botschaft an die jüdischen Arbeiter mittels 'Unser Kampf'

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Die linken Zionisten sprachen sich für eine Emigration nach Pa-lästina aus. Aus ihrer Sicht konnten die jüdischen Arbeiter und Ra-dikalen in der westlichen Gesellschaft, in der man sie als fremdeElemente ansah, keine effektive Rolle im Kampf spielen. DieseBriefe zeigen im Gegenteil, dass Trotzki in dem "Paria-Status"32

der jüdischen und anderer Minderheiten in der Arbeiterklasse einespezielle revolutionäre Kraft sah, die mit einer richtigen Führungeine entscheidende Rolle in der Schlacht für den Sozialismus spie-len kann. ... „

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3232 Parias (tamilich), europäische Bezeichnung für eine niedrige Kaste in IndienParias (tamilich), europäische Bezeichnung für eine niedrige Kaste in Indien("Unberührbare"), allgemeine Bezeichnung für Unterdrückte und Entrechtete.("Unberührbare"), allgemeine Bezeichnung für Unterdrückte und Entrechtete.

Weiterführende Literatur zur marxistischen Kritik am "Bund" und zur jüdiWeiterführende Literatur zur marxistischen Kritik am "Bund" und zur jüdi--schen Arbeiterbewegung: I.John Bunzl: "Klassenkampf in der Diaspora - Zurschen Arbeiterbewegung: I.John Bunzl: "Klassenkampf in der Diaspora - ZurGeschichte der jüdischen Arbeiterbewegung", Wien 1975, Europa-Verlag. II.Geschichte der jüdischen Arbeiterbewegung", Wien 1975, Europa-Verlag. II.Leitsätze über den organisatorischen Aufbau der Kommunistischen Parteien,Leitsätze über den organisatorischen Aufbau der Kommunistischen Parteien,über die Methoden und den Inhalt ihrer Arbeit. Angenommen in der 24. Sitzungüber die Methoden und den Inhalt ihrer Arbeit. Angenommen in der 24. Sitzungdes 3. Weltkongresses [der Komintern vom 12. Juli 1921.des 3. Weltkongresses [der Komintern vom 12. Juli 1921.

Auszug: Auszug: »In Ländern, deren Bevölkerung nationale Minderheiten enthält, ist»In Ländern, deren Bevölkerung nationale Minderheiten enthält, istes Pflicht der Partei, der Agitation und Propaganda in den proletarischenes Pflicht der Partei, der Agitation und Propaganda in den proletarischenSchichten dieser Minderheiten die nötige Aufmerksamkeit zu widmen. Diese AgiSchichten dieser Minderheiten die nötige Aufmerksamkeit zu widmen. Diese Agi--tation und Propaganda ist selbstverständlich in der Sprache der betreffendentation und Propaganda ist selbstverständlich in der Sprache der betreffendennationalen Minderheit zu führen; zu diesem Zwecke müssen geeignete Parteiornationalen Minderheit zu führen; zu diesem Zwecke müssen geeignete Parteior--gane geschaffen werden.«gane geschaffen werden.« (Quelle: "Die Kommunistische Internationale, 3. und(Quelle: "Die Kommunistische Internationale, 3. und4. Weltkongreß 1921/1922, Thesen und Resolutionen", Reprint, Dortmund 1978)4. Weltkongreß 1921/1922, Thesen und Resolutionen", Reprint, Dortmund 1978)

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Brief an die 'Klorkeit' und an die jüdischen Arbeiter in Frankreich

Dieser Brief vom 10. Mai 1930 erschien in der 'Klorkeit' Nr. 3, in Parisim Mai 1930 unter dem Titel "Die Rolle der jüdischen Arbeiter in der Ar-beiterbewegung in Frankreich".

Liebe Genossen,

vielen Dank für Euren durch und durch interessanten Brief, dermir zum ersten Mal einen Überblick über die jüdische Arbeiterbe-wegung in Westeuropa gab. Ich freue mich über den Ton des akti-ven Optimismus, der von Euren Zeilen ausgeht und der sicherlichden Geist Eurer Organisation widerspiegelt. Zusätzlich hat GenosseFr. [Pierre Frank] mir schon mit großer Sympathie über den kämp-ferischen Geist der jüdischen Oppositionsgruppe in Paris berichtet.Es ist eine interessante Idee, 'Klorkeit' in ein internationales jüdi-sches Organ umzuwandeln. Aber bis jetzt habe ich noch kein klaresBild, was das für Bezüge für die eingebundenen nationalen Bewe-gungen und Opposition-sorganisationen mit sich bringen würde.

Je mehr „Klorkeit im technischen Sinn 'international' wird, destomehr muss sie einen theoretisch-propagandistischen Charakter an-nehmen und wird konsequenterweise nicht mehr in der Lage sein,sich mit den spezifischen Problemen eines jeden einzelnen Landeszu beschäftigen. Ich halte daran fest, dass ohne Zweifel für die jü-dischen Arbeiter in Frankreich, wie in anderen Ländern, die größteVerpflichtung existiert, an der Arbeiterbewegung in dem Land indem sie leben, arbeiten und kämpfen, teilzunehmen. Sehen sich diejüdischen Arbeiter in Frankreich in ihrer Mehrheit als dauerhafteEmigranten oder haben sie vor, das Land in der nächsten Zukunftzu verlassen? Ich glaube, das erste ist eher richtig.

Ist das der Fall, ist es sehr wichtig, die französische Sprache zuerlernen. In der gegebenen Situation ist dies nicht nur das individu-elle Interesse einer jeden Person, sondern auch im politischen Inter-esse der französischen und internationalen Arbeiterklasse. 60.000jüdische Arbeiter in Paris sind eine große Kraft. Vor allem reprä-

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sentieren die ausländischen Arbeiter einen großen Faktor in derEntwicklung des Landes sogar noch mächtiger als die der Neger inAmerika, mit denen sie ihren Paria-Status gemeinsam haben

Bundisten Demo, 1917

Traditionell haben die rein französischen Organisationen keinenMassencharakter. Bis zu einem gewissen Maß haben sie eine Basisin der politischen und gewerkschaftlichen "Aristokratie" der Arbei-terklasse. Die übergroße Mehrheit bleibt unorganisiert und distan-ziert von den Aktivitäten der politischen und Gewerkschaftsorgani-sationen. In Frankreich ist das die Kardinalfrage. Für mich sieht esso aus, dass die Rolle, die die ausländischen Arbeiter in Frankreichheute spielen, den starken Konservatismus des Landes durcheinan-der bringen wird. Die allergrößte Mehrheit der ausländischen Ar-beiter gehört zu den niedrigsten Schichten des Proletariats des Lan-des. Deshalb sind sie den unteren Schichten des einheimischen Pro-letariats nahe, an sie gebunden und teilen das gleiche Schicksal.Die unteren Schichten des eingeborenen Proletariats haben diegrößte Distanz zu den offiziellen Organisationen. Die ausländi-

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schen Arbeiter haben ein anderes Bewusstsein, weil sie fremd sind;ein Emigrantenbewusstsein, mobiler, empfänglicher für revolutio-näre Ideen. Das ist der Grund, warum bei den ausländischen Arbei-tern der Kommunismus die Perspektive eines mächtigen Instru-ments zum Eindringen in die tiefsten Schichten der französischenArbeiterklasse besitzt. Die ausländischen Arbeiter dienen zur revo-lutionären Befruchtung der französischen Arbeiterklasse.

Eure Gruppe, wie andere Gruppen auch, muss ein klares Ver-ständnis für diese große historische Mission haben. Selbstverständ-lich nicht im Geist eines nationalen messianistischen Stolzes - hier-von kann keine Rede sein - aber im Geist einer großen internationa-len Verpflichtung. In dieser Verbindung stelle ich die Frage desCharakters der 'Klorkheit'. Sie wird natürlich nicht dazu dienen, diejüdischen Arbeiter von der Arbeiterbewegung der spezifischenLänder wegzureißen, was zuvor mit der Presse des jüdischen"Bund" der Fall war. Sondern im Gegenteil - sie in das Leben ebendieser Arbeiterklasse einzubringen. Was die generelle Oppositionbetrifft, muss sie unter den ausländischen Arbeitern ein Arbeitsfeldentwickeln, und das nicht nur, weil es wichtig ist, sondern weil his-torisch günstige Bedingungen bestehen. Der Bürokratismus der of-fiziellen Parteiorganisation [der Kommunistischen Partei - derHrsg.], der alles zerstört, verletzt am schlimmsten an der schwächs-ten Stelle, und dies sind natürlich die ausländischen Arbeiter. Auf-grund ihrer sozial niedrigeren Position neigen die Letzteren dazu,kritisch zu sein. Ich glaube, dass es möglich ist, durch eine großebewusste und wirklich selbstaufopfernde Aktion die Opposition alsKristallisationszentrum der Mehrheit der ausländischen Arbeiteraufzubauen. Meine herzlichsten Grüße an alle Mitglieder der Grup-pe

Euer L. Trotzki (Prinkipo, Türkei)

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Grüße an 'Unser Kamf' (Unser Kampf)

Trotzkis Gruß an 'Unser Kampf', die in New York publizierte jid-disch-sprachige Oppositionszeitung wurde am 9. Mai 1932 ver-faßt; die folgende Übersetzung wurde in ... 'The Militant' vom 11.Juni 1932 veröffentlicht.

Liebe Genossen:

Das Erscheinen Eurer Zeitung ist für sich selbst genommen schonein wichtiger Schritt nach vorne. Der erste Erfolg der Zeitung zeigt,dass es eine Notwendigkeit war. Ja, und konnte man auch nur füreine Minute daran zweifeln? Die jüdischen Arbeiter in den Verei-nigten Staaten sind ein großer und wichtiger Teil des gesamten Pro-letariats des Landes. Historische Bedingungen haben die jüdischenArbeiter empfänglich für die Ideen des wissenschaftlichen Kom-munismus gemacht. Allein das Faktum der Verteilung der jüdi-schen Arbeiter auf eine Reihe von Ländern sollte ihnen die Ideendes Internationalismus einimpfen und tut es auch. Allein aus die-sem Blickwinkel hat die kommunistische Linksopposition jedenGrund, auf einen großen Einfluss unter den jüdischen Proletariernin den Vereinigten Staaten zu zählen. Was die Linke Oppositionprimär charakterisiert, ist ihr gründlicher internationaler Charakter.Genau aus diesem Grund muss sie in jeder nationalen Sprache spre-chen. Die Existenz einer unabhängigen jüdischen Publikation dientnicht dazu, die jüdischen Arbeiter zu separieren, sondern im Ge-genteil ihnen solche Ideen zugänglich zu machen, die alle Arbeiterin eine internationale revolutionäre Familie zusammenführen. Dasalte bundistische Prinzip der Föderation von nationalen Organisati-onen wird von Euch - natürlich - entschieden und kompromisslosabgelehnt. Der von Eurer Zeitung gewonnene jüdische Arbeitermuss in den allgemeinen Reihen der "Communist League" ["Com-munist League of Amerika" - damalige Organisation der linken Op-position in den USA, d. Übers.] und in den Massenorganisationendes amerikanischen Proletariats arbeiten. Soweit Eure Zeitung sichentwickelt und sich stärkt, wird sie an Bedeutung über die Grenzender USA und Kanadas hinaus gewinnen: In Südamerika, Europa

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und in Palästina. Im wirtschaftlichen Sinn und im Bereich der Bür-gerrechte sind die jüdischen Arbeiter ein schwaches Glied des Pro-letariats.

Jüdischer Arbeiterbund Odessa 1905

Die Politik der bürokratisierten Komintern spiegelt sich am kata-strophalsten bei den am meisten unterdrückten und entrechtetstenTeilen des Proletariats wider; in Polen, im Baltikum, in Frankreich,deutlich auch in Palästina. Die Arbeiterklasse kann nicht auf Befehlzu ihrer Befreiung marschieren. Revolutionärer Mut und politischerWillen können nur gestärkt werden mit Hilfe kreativer Ideen; dieArbeiter müssen durch Kritik, Nachdenken und Überprüfen von Er-fahrungen unabhängig lernen. Ohne dies trocknen die Quellen derBewegung unausweichlich aus.

Und wir sehen im Moment, wie trotz außerordentlich günstigerUmstände die größte nationale Sektion der Komintem eine Nieder-lage nach der anderen einstecken muss. [gemeint ist die KPD inDeutschland, d. Übers.]

Die Arbeiter sind in der Lage, den härtesten politischen Schlägenzu widerstehen, falls sie die Möglichkeit haben, die Gründe für dieNiederlage zu durchdenken und hieraus die nötigen Schlüsse fürdie Zukunft zu ziehen. Aber der Fluch liegt in dem Faktum, dassdie Bürokratie der Komintertn nicht nur unfähig ist, die Arbeiterzum Sieg zu führen, sie kann ihnen nicht einmal erlauben, über dieGründe der Niederlage nachzudenken. Nach jedem neuen Schlagder Gegner zieht die zentristische [stalinistische] Bürokratie fürihren Teil den Arbeitern eins über den Schädel, verbietet ihnen dasDenken, Kritisieren und Lernen. Dieses kriminelle Regime wird dieHauptquelle für Enttäuschung und Apathie. Die ersten Opfer derSchläge sowohl des Klassenfeinds als auch der zentristischen Büro-kratie sind, wie schon gesagt, die schwächsten Glieder der Arbei-terklasse.

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Eure Zeitung ist das Organ der "Communist League". Ihre unmit-telbare Aufgabe ist es, die jüdischen Arbeiter in Amerika unter demBanner von Marx und Leninzu sammeln. Je erfolgreicherdiese Arbeit durchgeführtwird, desto eher wird sie eininternationales Niveau errei-chen, desto eher werden dieIdeen der Linken Oppositionin die Mitte der jüdischen Ar-beiter der alten Welt eindrin-gen, die UdSSR eingeschlos-sen.

Mit meinem ganzen Herzengrüße ich Eure Zeitung undversuche mit allem, was ichtun kann, für Eure Arbeitnützlich zu sein.Eurer L. Trotzki, (Prinkipo,Türkei)

Leo Trotzki auf der Titelseite von La Guerra

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Tony Cliff

Die Permanente Revolution

Kritische Revision der Theorie Trotzkis

Trotzkis bedeutsamster und schöpferischster Beitrag zum Marxis-mus war seine Theorie der "Permanenten Revolution".

In dieser Untersuchung wird zunächst diese Theorie erneut darge-stellt. Sie wird dann im Lichte der Kolonialrevolutionen, wie sieseit dem zweiten Weltkrieg stattfanden, überprüft und weiterentwi-ckelt werden müssen. Doch auch wenn die Ideen, die hier entwi-ckelt werden, am Ende beträchtlich von denen Trotzkis abweichen,so gehen sie doch wesentlich auf seine Theorie zurück.

Trotzki entwickelte seine Theorie auf dem Hintergrund der russi-schen Revolution von 1905. Praktisch teilten alle Marxisten dieserZeit, von Kautsky über Plechanow bis Lenin, die Vorstellung, dassnur die entwickelten Industrieländer für die sozialistische Revoluti-on reif seien. Auf einen einfachen Nenner gebracht, lief ihr Argu-ment darauf hinaus, dass die Arbeiterklasse der verschiedenen Län-der die proletarische Macht nur in strenger Übereinstimmung mitder Entwicklung der Technologie und der Produktivkräfte erobernkönne. Rückständigere Länder müssten ihre Zukunft als Spiegel-bild der entwickelten Länder sehen. Nur nach einem langen Prozessder industriellen Entwicklung und durch eine Übergangsphase derbürgerlichen parlamentarischen Herrschaft hindurch, werde die Ar-beiterklasse den nötigen Reifegrad für die sozialistische Revolutionerreichen können.

Drei Theorien der Revolution.

Alle russischen Sozialdemokraten - Menschewiki wie Bolschewi-ki - gingen davon aus, dass Russland auf eine bürgerliche Revoluti-on zutreibe. Dies ergebe sich aus dem Widerspruch zwischen densich entfaltenden kapitalistischen Produktivkräften einerseits undder Autokratie (Zarismus), dem Großgrundbesitz und anderenÜberbleibseln des Feudalismus andererseits. Die Menschewiki zo-gen den Schluss, dass die Bourgeoisie notwendigerweise die Revo-

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lution führen und die politische Macht selbst in die Hand nehmenwerde. Aufgabe der Sozialdemokratie sei es, einerseits die liberaleBourgeoisie in ihrem Kampf gegen den Zarismus zu unterstützen,andererseits im Rahmen des Kapitalismus die besonderen Interes-sen der Arbeiter durch den Kampf für den Acht-Stunden-Tag undandere Sozialreformen zu verteidigen.33

3333 Der Sprecher der Menschewiki, Martynow, schrieb am Vorabend der RevolutiDer Sprecher der Menschewiki, Martynow, schrieb am Vorabend der Revoluti--on von 1905:on von 1905:

»Die Kommende Revolution wird eine Revolution der Bourgeoisie sein, und das»Die Kommende Revolution wird eine Revolution der Bourgeoisie sein, und dasheißt, sie wird die Herrschaft der bürgerlichen Klassen oder eines Teils der bürheißt, sie wird die Herrschaft der bürgerlichen Klassen oder eines Teils der bür--gerlichen Klassen mehr oder minder sichern, wenn dem so ist, dann folgt darausgerlichen Klassen mehr oder minder sichern, wenn dem so ist, dann folgt darauseindeutig: die politischen Formen, in der die kommende Revolution sich vollzieeindeutig: die politischen Formen, in der die kommende Revolution sich vollzie --hen wird, können unter keinen Umständen gegen den Willen der gesamten Bourhen wird, können unter keinen Umständen gegen den Willen der gesamten Bour--geoisie gerichtet sein, weil diese zugleich der Herr von Morgen sein wird. Dasgeoisie gerichtet sein, weil diese zugleich der Herr von Morgen sein wird. Daswiederum heißt: wenn man einen Weg einschlägt, der die Mehrheit der Bourwiederum heißt: wenn man einen Weg einschlägt, der die Mehrheit der Bour--geoisie nur verschreckt, dann würde der revolutionäre Kampf des Proletariatsgeoisie nur verschreckt, dann würde der revolutionäre Kampf des Proletariatsunweigerlich nur zu dem einen Ergebnis führen: der Absolutismus würde in seiunweigerlich nur zu dem einen Ergebnis führen: der Absolutismus würde in sei --ner ursprünglichen Form wieder entstehen«.ner ursprünglichen Form wieder entstehen«...Martynows unausgesprochene Schlussfolgerung ist, dass sich die ArbeiterklasseMartynows unausgesprochene Schlussfolgerung ist, dass sich die ArbeiterklasseSchranken auferlegen soll, um die Bourgeoisie nicht zu "verschrecken", aberSchranken auferlegen soll, um die Bourgeoisie nicht zu "verschrecken", abergleichzeitig stellt Martynow fest, dass die Arbeiterklasse die Bourgeoisie ständiggleichzeitig stellt Martynow fest, dass die Arbeiterklasse die Bourgeoisie ständigunter Druck setzen soll, die Führung der Revolution zu übernehmen:unter Druck setzen soll, die Führung der Revolution zu übernehmen:

»Der Kampf um die Bestimmung von Weg und Ziel der bürgerlichen Revoluti»Der Kampf um die Bestimmung von Weg und Ziel der bürgerlichen Revoluti--on läses sich kurz zusammenfassen: Aufgabe des Proletariats ist es, revolutionäon läses sich kurz zusammenfassen: Aufgabe des Proletariats ist es, revolutionä--ren Druck auf den Willen der liberalen und radikalen Bourgeoisie auszuüben.ren Druck auf den Willen der liberalen und radikalen Bourgeoisie auszuüben.Die demokratischen "unteren" Schichten der Gesellschaft zwingen die oberenDie demokratischen "unteren" Schichten der Gesellschaft zwingen die oberenSchichten zu der Einsicht, dass die bürgerliche Revolution ihrem logischen AnSchichten zu der Einsicht, dass die bürgerliche Revolution ihrem logischen An--schluss zugeführt werden.«schluss zugeführt werden.«A.Martynow, Dve Diktatury, Genf 1905, S.57-8.A.Martynow, Dve Diktatury, Genf 1905, S.57-8.

Ähnlich schrieb die menschewistische Zeitschrift 'Iskra' damals:Ähnlich schrieb die menschewistische Zeitschrift 'Iskra' damals:»Wenn wir uns die russische Kampfszene betrachten, was sehen wir dann?»Wenn wir uns die russische Kampfszene betrachten, was sehen wir dann?

Nur zwei Kräfte: die zaristische Aristokratie und die liberale Bourgeoisie die ihNur zwei Kräfte: die zaristische Aristokratie und die liberale Bourgeoisie die ih --rerseits organisiert ist und ein enormes spezifisches Gewicht besitzt. Die arbeirerseits organisiert ist und ein enormes spezifisches Gewicht besitzt. Die arbei --tenden Massen sind zersplittert und sind zu nichts imstande; wir existieren nichttenden Massen sind zersplittert und sind zu nichts imstande; wir existieren nichtals unabhängige Kraft und deshalb ist es unsere Aufgabe, die zweite Macht, dieals unabhängige Kraft und deshalb ist es unsere Aufgabe, die zweite Macht, dieliberale Bourgeoisie, zu unterstützen; wir müssen sie ermuntern und dürfen sieliberale Bourgeoisie, zu unterstützen; wir müssen sie ermuntern und dürfen sieauf keinen Fall dadurch erschrecken, dass wir die unabhängigen Forderungenauf keinen Fall dadurch erschrecken, dass wir die unabhängigen Forderungendes Proletariats in den Vordergrund stellen.« des Proletariats in den Vordergrund stellen.« (Zitiert bei G. Sinowjew, Istorija(Zitiert bei G. Sinowjew, IstorijaRossijskoi Kommunistischeskoy Partij (Bolschevikow) Moskau-Leningrad 1923,Rossijskoi Kommunistischeskoy Partij (Bolschevikow) Moskau-Leningrad 1923,

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Tony Cliff (1917-2000) unorthodoxer TrotzkistGründer und Leiter der internationalen Sozialisten

S.158).S.158).

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Auch Lenin und die Bolschewiki glaubten, dass die kommendeRevolution einen bürgerlichen Charakter haben werde, und dass dieRevolution in ihren Zielen die Schranken der bürgerlichen Revolu-tion nicht werde überschreiten können. Lenin schrieb:

»Die bürgerliche Revolution ist eine Revolution, die nicht überden Rahmen der bürgerlichen, d.h. der kapitalistischen, ökonomi-schen Struktur der Gesellschaft hinausgeht«34

Und an anderer Stelle:

»...diese demokratische Revolution in Russland wird die Herrschaft derBourgeoisie nicht schwächen, sondern stärken.«35

Dieses Thema griff Lenin wieder und wieder auf.

Erst nach der Februar-Revolution von 1917 trennte sich Leninvon dieser Auffassung. Noch im September 1914 schrieb er zumBeispiel, dass die russische Revolution sich auf drei fundamentaleAufgaben beschränken müsse,

»die Errichtung einer demokratischen Republik (in der allen Nationali-täten gleiche Rechte und das volle Recht auf nationale Selbstbestimmunggewährt würde), Enteignung der Güter der Großgrundbesitzer und dieEinführung des Acht-Stunden-Tags.«36

Lenin unterschied sich jedoch von den Menschewiki grundlegenddurch die Betonung der Unabhängigkeit der Arbeiterbewegung vonder liberalen Bourgeoisie. Er ging davon aus, dass die bürgerlicheRevolution gegen den Widerstand der Bourgeoisie durchgeführtwerden müsse. An Stelle des von den Menschewiki angestrebtenBündnisses zwischen Arbeiterklasse und liberaler Bourgeoisie, for-derte Lenin ein Bündnis zwischen Arbeiterklasse und Bauernschaft.

Die Menschewiki rechneten für die nachrevolutionäre Phase miteiner Regierung von bürgerlich-liberalen Ministern. Lenin strebtedagegen eine Koalition der Arbeiterpartei mit der Bauernpartei an,eine "demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern", in der die

3434 vgl. Lenin: "Zwei Taktiken der Sozialdemokratie" in der demokratischen Revgl. Lenin: "Zwei Taktiken der Sozialdemokratie" in der demokratischen Re--volution, Werke Bd.9, Berlin 1966.volution, Werke Bd.9, Berlin 1966.

3535 ebda., S. 9.ebda., S. 9.3636 Lenin: "Werke", 4. Ausgabe, BD.XXI, S.17.Lenin: "Werke", 4. Ausgabe, BD.XXI, S.17.

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Bauernpartei die Mehrheit haben würde. Die "demokratische Dik-tatur" würde eine Republik errichten, die Großgrundbesitzer enteig-nen, und den Acht-Stunden-Tag durchsetzen. Mit der Erfüllung ih-rer Forderungen würden indes die Bauern aufhören, eine revolutio-näre Rolle zu spielen. Sie würden zu Verteidigern des Eigentumsund des gesellschaftlichen Status Quo, sie würden sich mit derBourgeoisie vereinigen.

Das Industrieproletariat würde dann im Bündnis mit den proleta-rischen und halbproletarischen Elementen der ländlichen Bevölke-rung die Rolle einer revolutionären Opposition übernehmen, unddie vorübergehende Phase der "demokratischen Diktatur" würdedurch eine konservative bürgerliche Regierung im Rahmen einerbürgerlichen Republik abgelöst.

Trotzki war ebenso wie Lenin davon überzeugt, dass die liberaleBourgeoisie in Russland keine konsequent revolutionäre Kraftmehr sei, und dass es zur Bauernrevolution - ein wesentlicher Be-standteil der bürgerlichen Revolution - nur durch ein Bündnis derBauern mit den Arbeitern kommen könne. Aber er bestritt gegenLenin die Möglichkeit einer unabhängigen Bauernpartei, indem erdarauf hinwies, dass die Bauern untereinander zu sehr in Reich undArm gespalten seien, um eine vereinte und unabhängige, eigenePartei bilden zu können. Er schrieb:

»Alle bisherigen Erfahrungen der Geschichte zeigen, dass dieBauern völlig unfähig sind, eine unabhängige Rolle zu spielen.«37

Wenn in allen bisherigen Revolutionen seit der deutschen Refor-mation die Bauern die eine oder andere Fraktion der Bourgeoisieunterstützt hatten, so würde in Russland die Stärke der Arbeiter-klasse und der Konservatismus der Bourgeoisie die Bauern dazuzwingen, sich an die Seite des revolutionären Proletariats zu stel-len. Die Revolution würde sich nicht auf bürgerlich-demokratischeAufgaben beschränken lassen, sondern sofort dazu übergehen, pro-letarische-sozialistische Maßnahmen durchzusetzen.

3737 Trotzki: "Perspektivy Russkoi Revoliutsij" (Ausw. aus seinem Buch "Nascha Trotzki: "Perspektivy Russkoi Revoliutsij" (Ausw. aus seinem Buch "Nascha Revoliutsija"), Berlin 1917, S. 46.Revoliutsija"), Berlin 1917, S. 46.

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»Das Proletariat wächst und erstarkt mit dem Wachstum des Ka-pitalismus. In diesem Sinne bedeutet die Entwicklung des Kapita-lismus die Entwicklung des Proletariats hin zur Diktatur. Aber derTag und die Stunde, wo die Macht in die Hände des Proletariatsübergeht, hängt nicht unmittelbar von dem Stand der Produktiv-kräfte ab, sondern von den Bedingungen des Klassenkampfes, vonder internationalen Situation, schließlich von einer Reihe von sub-jektiven Faktoren: Tradition, Initiative, Kampfbereitschaft...«

«Das Proletariat kann in einem wirtschaftlich zurückgebliebenenLand früher an die Macht kommen als in wirtschaftlich entwickel-ten Ländern. So hat es im Jahre 1871 die bewusste Leitung der ge-sellschaftlichen Angelegenheiten im kleinbürgerlichen Paris in dieHand genommen - wenn auch nur über zwei Monate - in den ro-busten Zentren des Kapitalismus, in England und den VereinigtenStaaten, hat es dagegen nicht einmal für eine Stunde die Macht be-sessen. Der Glaube an irgendeine automatische Abhängigkeit derDiktatur des Proletariats vom Stand der Technik und Reichtümereines Landes ist ein Vorurteil, das einer äußerst mechanistischenAuffassung des 'ökonomischen' Materialismus entspringt. DieseAuffassung hat mit dem Marxismus nichts gemein.«

»Die russische Revolution schafft unserer Ansicht nach solcheVerhältnisse, unter denen die Macht an das Proletariat übergehenkann (und wenn es eine siegreiche Revolution sein soll, an dasProletariat wird übergehen müssen) selbst noch ehe die Politik desbürgerlichen Liberalismus die Chance ergreift, seine Staatsauffas-sung zur vollen Entfaltung zu bringen.«38

Ein weiteres bedeutsames Element der Theorie Trotzkis war der internationale Charakter der kommenden russischen Revolution. Sie würde zwar im nationalen Rahmen beginnen, könne jedoch nur durch den Sieg der Revolution in den entwickelten Ländern vollen-det werden.

»Wie weit kann sich jedoch die sozialistische Politik der Arbei-terklasse unter den ökonomischen Verhältnissen Russlands entfal-

3838Trotzki, ebda. S, 36.Trotzki, ebda. S, 36.

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ten? Nur eines können wir mit Sicherheit sagen: sie wird auf politi-sche Hindernisse treffen, lang bevor sie durch die Grenzen dertechnischen Zurückgebliebenheit des Landes aufgehalten wird.Ohne direkte staatliche Unterstützung durch das europäischeProletariat kann die russische Arbeiterklasse nicht an der Machtbleiben und ihre vorübergehende Herrschaft nicht in eine dauer-hafte sozialistische Diktatur verwandeln.«39

Die grundlegenden Elemente der Trotzkischen Theorien lassensich in sechs Punkten zusammenfassen:

1. Eine Bourgeoisie, die erst spät in die weltgeschichtliche Arena eintritt, un-terscheidet sich politisch grundlegend von ihren Vorläufern in früheren Jahrhun-derten. Sie ist unfähig, eine vollständige demokratische und revolutionäre Lö-sung für die Probleme zu geben, wie sie sich durch feudalistische und imperialis-

3939 ebda., S. 48ebda., S. 48Trotzkis Theorie war eine Weiterentwicklung, Anwendung und Entfaltung derTrotzkis Theorie war eine Weiterentwicklung, Anwendung und Entfaltung derMarx'schen Analyse der 1848er Revolution. Bereits vor dieser Revolution warMarx'schen Analyse der 1848er Revolution. Bereits vor dieser Revolution warim "Kommunistischen Manifest" vorausgesagt worden, dass im "Kommunistischen Manifest" vorausgesagt worden, dass »die deutsche»die deutschebürgerliche Revolution«bürgerliche Revolution« auf Grund der fortgeschrittneren Bedingungen und auf Grund der fortgeschrittneren Bedingungen unddes viel weiter entwickelten Proletariats des viel weiter entwickelten Proletariats »nur das unmittelbare Vorspiel einer»nur das unmittelbare Vorspiel einerproletarischen Revolution sein kann«proletarischen Revolution sein kann«

Marx/Engels: "Manifest der Kommunistischen Partei", in: "Ausgewählte SchrifMarx/Engels: "Manifest der Kommunistischen Partei", in: "Ausgewählte Schrif--ten", Bd.1, Berlin 1964, S.56 .ten", Bd.1, Berlin 1964, S.56 .

Nch der Niederlage von 1848 erklärte Marx, dass die Arbeiterklasse angesichtsNch der Niederlage von 1848 erklärte Marx, dass die Arbeiterklasse angesichtsder Unfähigkeit der Bourgeoisie, die anti-feudale Revolution durchzuführen, fürder Unfähigkeit der Bourgeoisie, die anti-feudale Revolution durchzuführen, fürdie Überführung der bürgerlichen in die proletarische Revolution, und der natiodie Überführung der bürgerlichen in die proletarische Revolution, und der natio--nalen in die internationale Revolution kämpfen müsse. In der "Ansprache dernalen in die internationale Revolution kämpfen müsse. In der "Ansprache derZentralbehörden an den Bund" März 1850 schrieb Marx:Zentralbehörden an den Bund" März 1850 schrieb Marx:

»Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst rasch»Während die demokratischen Kleinbürger die Revolution möglichst raschund unter Durchführung höchstens der obigen Ansprüche zum Absße bringenund unter Durchführung höchstens der obigen Ansprüche zum Absße bringenwollen, ist es unser Interesse, wollen, ist es unser Interesse, und unsere Aufgabe, die Revolution permanentund unsere Aufgabe, die Revolution permanentzu machen so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von derzu machen so lange, bis alle mehr oder weniger besitzenden Klassen von derHerrschaft verdrängt sind,Herrschaft verdrängt sind, die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die As die Staatsgewalt vom Proletariat erobert und die As--soziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschensoziation der Proletarier nicht nur in einem Lande, sondern in allen herrschen--den Ländern der ganzen Welt so weit fortgeschritten ist, dass die Konkurrenzden Ländern der ganzen Welt so weit fortgeschritten ist, dass die Konkurrenzder Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und dass wenigstens die entder Proletarier in diesen Ländern aufgehört hat und dass wenigstens die ent --scheidenden Produktivkräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind.«scheidenden Produktivkräfte in den Händen der Proletarier konzentriert sind.«

Und Marx schloß seine Ansprache mit dem Satz: Und Marx schloß seine Ansprache mit dem Satz: »»Ihr Schlachtruf muss sein:Ihr Schlachtruf muss sein:Die Revolution in PermanenzDie Revolution in Permanenz.«.« Marx/Engels: "Werke", Berlin 1969, Bd.7, Marx/Engels: "Werke", Berlin 1969, Bd.7,S.247 f.S.247 f.

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tische Unterdrückung sich stellen. Sie ist unfähig zur völligen Ausrottung desFeudalismus. Sie ist weder fähig, die nationale Unabhängigkeit, noch die politi-sche Demokratie zu verwirklichen. Die Bourgeoisie hat in den entwickelten wiein den rückständigen Ländern aufgehört, revolutionär zu sein. Sie ist zu einer ab-solut konservativen Kraft geworden.

2. Die entscheidende revolutionäre Rolle fällt dem Proletariat zu, selbst wennes noch jung und zahlenmäßig schwach sein mag.

3. Unfähig zur unabhängigen politischen Aktion, wird die Bauernschaft denStädten, d.h. nach dem unter Punkt 1 und 2 gesagten: der Führung des industriel-len Proletariats folgen.

4. Eine konsequente Lösung der Agrarfrage und der nationalen Frage, einAufbrechen jener sozialen Strukturen des Imperialismus, die einen raschen wirt-schaftlichen Fortschritt verhindern, erfordern es, über die Grenzen des bürgerli-chen Privateigentums hinauszugehen. »Die demokratische wächst unmittelbar indie sozialistische Revolution hinein und wird zur permanenten Revolution.«40

5. »Der Abschluss einer sozialistischen Revolution ist im natio-nalen Rahmen undenkbar .... folglich wird die sozialistische Revo-lution in einem neuen, breiteren Sinn des Wortes zur permanentenRevolution; sie findet ihren Abschluss nicht vor dem endgültigenSieg der neuen Gesellschaft auf unserem ganzen Planet.«41

Der Versuch "den Sozialismus in einem Lande" aufzubauen, ist ein engstirni-ger und reaktionärer Traum.

6. Daraus ergibt sich, dass Revolutionen in zurückgebliebenen Ländern zu Er-schütterungen in allen entwickelten Ländern führen müssen.

Die russische Revolution von 1917 gab allen Annahmen TrotzkisRecht. Die Bourgeoisie war konterrevolutionär, die Bauern folgtender Arbeiterklasse; die antifeudale, demokratische Revolutionwuchs unmittelbar hinein in die sozialistische; die russische Revo-lution führte zu Erschütterungen in anderen Ländern (in Deutsch-land, Österreich, Ungarn usw.) und schließlich führte die Isolationder sozialistischen Revolution in Russland zu ihrer Degenerationund ihrem Sturz.

4040Trotzki: "Die Permanente Revolution", Ffm. 1965, S. 160.Trotzki: "Die Permanente Revolution", Ffm. 1965, S. 160.4141 ebda., S.161.ebda., S.161.

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Maos Aufstieg zur Macht

Mao Zedong and Chiang Kai-shek in Chongqing, China, inSeptember 1945, toasting the victory over Japan

Eine andere klassische Bestätigung der Trotzkischen Theorie wardie chinesische Revolution von 1925-27. Unglücklicherweise be-stätigten sich, mehr noch als im Beispiel der russischen Revolution,vor allem die von Trotzki angegebenen Bedingungen für das Schei-tern einer Revolution. Obwohl die Thesen 1 - 4 sich bestätigten,sorgte der Verrat durch den Stalinismus dafür, dass die Revolutiondes Proletariats 1927 nicht mit einem Sieg, sondern in der Nieder-lage endete. Das führte dazu, dass auch die Bauern besiegt wurdenund weder die sozialistische noch die demokratische RevolutionErfolg hatte. Die Thesen 5 und 6 konnten daher überhaupt nichtmehr einer empirischen Überprüfung unterzogen werden. Seitdemscheinen jedoch zwei Ereignisse von weltgeschichtlicher Bedeu-tung, nämlich Maos Aufstieg zur Macht in China und Castros Re-volution in Kuba, praktisch alle Annahmen der Theorie Trotzkis inFrage zu stellen.

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1938, Shandong 1938年12月,八路军山东纵队在沂水成立,图为山东纵队渡沂河奔赴抗日前线

Das industrielle Proletariat spielte beim Sieg Maos nicht die ge-ringste Rolle. Sogar die soziale Zusammensetzung der chinesischenkommunistischen Partei (KPCh) war alles andere als proletarisch.Ende des Jahres 1926 waren mindestens 66 % der MitgliedschaftArbeiter, weitere 22 % waren Intellektuelle, und nur 5 % warenBauern.42 Bis zum November 1928 war der Anteil der Arbeiter je-doch um mehr als vier Fünftel gefallen, und ein offizieller Berichtgab zu, dass die Partei »nicht eine einzige gesunde Parteizelle inder Industriearbeiterschaft besaß«.43 Die Partei gab ferner zu, dassdie Mitgliedschaft 1928 nur zu 10 % aus Arbeitern bestand, 1929nur noch zu 3 %, im März 1930 noch zu 1,6% und dass gegen Endedes Jahres, so gut wie keine Arbeiter mehr in der Partei organisiert

4242 R.C.North: "Kuomintang and Chinese Communist Elites", Stanford 1962, S. R.C.North: "Kuomintang and Chinese Communist Elites", Stanford 1962, S. 32.32.

4343 H.R. Isaacs: "The Tragedy of the Chinese Revolution", London 1938, S. 333.H.R. Isaacs: "The Tragedy of the Chinese Revolution", London 1938, S. 333.

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waren44. Von da an, bis zum endgültigen Sieg Maos, hatte die Par-tei so gut wie keine Arbeiter in ihren Reihen.

Der Einfluss der Partei war auf einige Aufstandsbewegungen derBauern tief in den Provinzen Zentralchinas beschränkt, wo sie einechinesische Sowjetrepublik errichtete; später nach einer militäri-schen Niederlage in den Zentralprovinzen (1934), bewegte sie sichin den Norden, von Shensi (Nordwesten Chinas). Ein Organ derKomintern übertrieb nicht, als es schrieb, dass diese »Grenzregio-nen sozial und ökonomisch zu den zurückgebliebenen GegendenChinas zählen«.45 Chu Teh wiederholte:

»Die Regionen unter der Führung der Kommunisten sind diewirtschaftlich ruckständigsten des ganzen Landes.«46

Bis wenige Jahre vor der Gründung der Volksrepublik China ge-riet auch nicht eine einzige größere Stadt unter Kontrolle der Kom-munisten. Dass in der Strategie der Kommunistischen Partei dieArbeiter eine so unbedeutende Rolle spielten, zeigt die Tatsache,dass sie es über 19 Jahre (nach dem Gewerkschaftskongress von1929) nicht für notwendig erachtete, einen nationalen Kongress derGewerkschaften einzuberufen. Noch unternahm sie irgendwelcheandere Anstrengungen, Unterstützung in der Arbeiterklasse zu fin-den. So erklärte die Partei während der entscheidenden Jahre von1937-45, dass sie nicht beabsichtige, irgendwelche Parteiorganisati-onen in den von der Kuomintang kontrollierten Regionen aufzu-bauen oder zu erhalten.47 Als die Kuomintang-Regierung im De-zember 1937 für die Dauer des (chinesisch-japanischen) Kriegesdie Todesstrafe für streikende Arbeiter und für den Streik agitieren-de Arbeiter verhängte, erklärte ein Sprecher der kommunistischenPartei in einem Interview, die Partei sei mit der Art und Weise, wieder Krieg von der Regierung geführt werde, »völlig zufrieden«.48

4444 ebda., S. 394.ebda., S. 394.4545 World News and Views', April 1939.World News and Views', April 1939.4646 S. Gelder: "The Chinese Communists", London 1946, S. 167.S. Gelder: "The Chinese Communists", London 1946, S. 167.4747 vgl. "Communist Manifesto", Chungking 23. Nov.1938 New York Times, 24. vgl. "Communist Manifesto", Chungking 23. Nov.1938 New York Times, 24.

November 1938.November 1938.4848 H.R. Isaacs, a.a.O., S. 456.H.R. Isaacs, a.a.O., S. 456.

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Selbst nach Ausbruch des Bürgerkrieges zwischen der Kuomin-tang und der Kommunistischen Partei, existierten kaum irgendwel-che Organisationen der Kommunistischen Partei in den von derKuomintang kontrollierten Gebieten, wozu alle Industriezentrendes Landes gehörten. Maos Eroberung der Städte gibt besser als al-les Andere Aufschluss über die vollständige Trennung der kommu-nistischen Partei von der Arbeiterklasse. Die Führer der kommunis-tischen Partei taten alles, was in ihrer Macht lag, um Aufstände inden Städten am Vorabend ihrer Eroberung durch die rote Armee zuverhindern. Kurz vor der Eroberung der Städte Tientsin und Pekinggab z.B. General Lin Piao, als Kommandeur der Truppen, eine Er-klärung heraus, in der das Volk aufgerufen wurde,

»... Ordnung zu bewahren und der jeweiligen Beschäftigung wei-ter nachzugehen. Kuomintang-Beamte und das Polizeipersonal derProvinzebene, der Städte, Dörfer und aller übrigen Verwaltungs-ebenen werden aufgefordert, auf ihrem Posten zu bleiben ...«49

4949 'New China News Agency', 11.Januar 1949.'New China News Agency', 11.Januar 1949.

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Die Volksbefreiungsarmee (PLA) rückt in Peking 1948 einDie Volksbefreiungsarmee (PLA) rückt in Peking 1948 ein

Zur Zeit der Überquerung des Yangtse-Flusses, kurz bevor die Großstädte derZur Zeit der Überquerung des Yangtse-Flusses, kurz bevor die Großstädte derZentral- und Südregionen Chinas (Schanghai, Hankow, Kanton) von der rotenZentral- und Südregionen Chinas (Schanghai, Hankow, Kanton) von der rotenArmee erobert wurden, gaben Mao und Chu-Teh erneut eine SondererklärungArmee erobert wurden, gaben Mao und Chu-Teh erneut eine Sondererklärungheraus in der es unter anderem hieß: heraus in der es unter anderem hieß:

»Wir hoffen, dass die Arbeiter und Unternehmer aller Industrie-zweige weiterarbeiten und dass das Geschäftsleben seinen gewöhn-lichen Gang nimmt ... Beamte der Provinz- und Distriktebene so-wie verschiedener anderer Behörden, sowie Delegierte der "Natio-nalversammlung", Mitglieder der Gesetzgebenden- undKontroll-"Yuans", sowie Mitglieder der politischen Volksausschüs-se, das Polizei-Personal und die Vorsitzenden von "Pao Chia"-Or-ganisationen ... sollen auf ihrem Posten bleiben und den Befehlender Volksbefreiungsarmee der Volksregierung Folge leisten.«50

5050 ebda. 3.Mai 1949.ebda. 3.Mai 1949.

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Schanghai, Häuserkampf

Die Arbeiterklasse gehorchte und blieb tatenlos. Ein Bericht ausNanking vom 22. April 1949, zwei Tage bevor die Stadt von derVolksbefreiungsarmee besetzt wurde, umreißt die Situation folgen-dermaßen:

»Die Bevölkerung von Nanking zeigt keine besonderen Anzeichender Aufregung. Neugierige Mengen versammelten sich heute Mor-gen an der Flußmauer, um das Schieß-Duell auf der anderen Seitedes Flusses zu beobachten. Das Geschäftsleben läuft wie gewöhn-lich. Einige Geschäfte sind geschlossen, aber das ist auf mangeln-de Nachfrage zurückzuführen ... Die Kinos haben immer noch vol-les Haus.«51

Einen Monat später berichtete ein Korrespondent der New YorkTimes aus Schanghai:

5151' North China Daily News', 23.April 1949.' North China Daily News', 23.April 1949.

9898 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderheiten

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»Durch Aushang forderte die Rote Armee die Bevölkerung auf,Ruhe zu bewahren und versicherte ihr, sie habe nichts zu befürch-ten.«52

In Kanton:

»Nach ihrem Einmarsch nahmen die Kommunisten Kontakt mitder Polizeistation auf und wiesen die Offiziere und einfachen Poli-zisten an, auf ihrem Posten zu bleiben, um die Ordnung aufrecht zuerhalten«.53

Mao ruft 1949 die Volksrepublik China aus, nix Sowjetchina

Castros Revolution 5252' New York Times', 25. Mai 1949.' New York Times', 25. Mai 1949.5353 'South China Morning Post', 17.Oktober 1949.'South China Morning Post', 17.Oktober 1949.

9999 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderheiten

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Bei der Machtübernahme FidelCastros in Kuba spielte weder dasProletariat noch die Bauernschafteine ernsthafte Rolle: Intellektuellebürgerlicher Herkunft füllten dieArena des Kampfes.

In seinem Buch "Listen Yankee",das ein mehr oder minder authenti-scher Monolog der kubanischenRevolutionsführer ist, erklärt C.Wright Mills zunächst einmal, was die kubanische Revolution allesnicht war:

»... Die Revolution selbst war kein Kampf .... zwischen Lohnarbeitern und Ka-pitalisten .... Unsere Revolution ist keine Revolution, die von Arbeitergewerk-schaften oder Lohnabhängigen in den Städten, Arbeiterparteien oder irgend et-was ähnlichem getragen wurde.«54

»... die Lohnarbeiter in der Stadt waren in keiner Weise bewusst oder revoluti-onär, ihre Gewerkschaften waren wie Eure Gewerkschaften in Nordamerika aufhöhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen aus. Das war ihre einzige Sorge.Einige Gewerkschaften waren sogar noch korrupter als manche von euren Ge-werkschaften.«55

Paul Baran, ein unkritischer Bewunderer von Castro, schrieb nachDiskussionen mit Führern der kubanischen Revolution, folgendeZeilen über die unbedeutende Rolle des industriellen Proletariats inder Revolution:

»Es will scheinen, als ob der beschäftigte Teil der Industriearbei-terschaft während der Revolutionszeit durchweg passiv gebliebenwäre. Als "aristokratische" Schicht des Proletariats nahmen dieseArbeiter an den - ausländischen wie einheimischen - Geschäftendes Monopolkapitalismus teil, waren für lateinamerikanische Ver-hältnisse gut bezahlt und erfreuten sich eines beträchtlich höherenLebensstandards als die Masse des kubanischen Volkes. Die ziem-lich starken Gewerkschaften wurden von einem "Verbandsdenken"

5454 C. Wright Mills: "Listen Yankee", New York, 1960, S.46.C. Wright Mills: "Listen Yankee", New York, 1960, S.46.5555 ebda., S. 47.ebda., S. 47.

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amerikanischen Stils beherrscht und waren gezeichnet von Erpres-sertum und Gangstertum.«56

Die Indifferenz des industriellen Proletariats war dafür verant-wortlich, dass Castros Ruf nach einem Generalstreik am 9.April1958 zu einem völligen Fehlschlag wurde. Dies etwa 16 Monatenach Beginn des Aufstands und 8 Monate vor dem Sturz Batistas.Die Arbeiter waren apathisch und die Kommunisten sabotiertenden Streik (sie sprangen erst später auf Castros Zug).57

Die Rolle der Bauernschaft für Castros Weg zur Macht wurde et-was positiver dargestellt. C.Wright Mills berichtete, dass währenddes Aufstandes

»(die Bauern) eine große Rolle spielten. Zusammen mit den jun-gen Intellektuellen bildeten sie die Rebellen-Armee, die den Auf-stand gewann. Die Intellektuellen und die Campesinos entschiedenden Kampf ... die rebellischen Soldaten bestanden aus Bauern undwaren von jungen Intellektuellen geführt ...«58

Was waren das für Bauern, die Campesinos?

»... tatsächlich handelte es sich um eine Art lohnabhängigerLandarbeiter, die den größten Teil des Jahres hindurch arbeitsloswar.«59

5656 P.A. Baran: "Reflexionen über die kubanische Revolution",P.A. Baran: "Reflexionen über die kubanische Revolution", inin 'Unterdrückung 'Unterdrückungundund Fortschritt',Fortschritt', Ffm. 1966, S.25 fFfm. 1966, S.25 f5757 Die kommunistische Partei Kubas, die "Sozialistische Volkspartei", hätte eineDie kommunistische Partei Kubas, die "Sozialistische Volkspartei", hätte eineMenge gutzumachen. Sie unterstützte Batistes Herrschaft von 1939 bis 1946. SieMenge gutzumachen. Sie unterstützte Batistes Herrschaft von 1939 bis 1946. Siebeteiligte sich an Batistas erstem Kabinett mit zwei Ministern, Juan Marinellobeteiligte sich an Batistas erstem Kabinett mit zwei Ministern, Juan Marinellound Carlos Rafael Rodriguez. 1944 bezeichnete die kommunistische Zeitungund Carlos Rafael Rodriguez. 1944 bezeichnete die kommunistische Zeitung'Hoy,' Batista als das 'Hoy,' Batista als das »Idol eines Volkes, den großen Mann unserer nationalen»Idol eines Volkes, den großen Mann unserer nationalenPolitik, der Mann der die heiligen Ideale eines neuen Kubas verkörpert«Politik, der Mann der die heiligen Ideale eines neuen Kubas verkörpert« . Castro. Castrowurde zum kleinbürgerlichen Abenteurer erklärt. Wie oben bereits erwähnt, weiwurde zum kleinbürgerlichen Abenteurer erklärt. Wie oben bereits erwähnt, wei--gerten sich die Kommunisten den Streik vom April 1958 zu unterstützen. Nochgerten sich die Kommunisten den Streik vom April 1958 zu unterstützen. Nocham 28.Juni 1958 traten sie vorsichtig für am 28.Juni 1958 traten sie vorsichtig für »klare demokratische Wahlen«»klare demokratische Wahlen« ein, um ein, umBatista loszuwerden.Batista loszuwerden.5858 Mills, a.a.O., S.46-8.Mills, a.a.O., S.46-8.5959 ebda., S. 44.ebda., S. 44.

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Ähnlich berichtet Baran: »Die Klasse, die die Revolution trug,waren die Campesinos«60 Und dabei handelt es sich um lohnabhän-gige Landarbeiter und nicht um Kleinbesitzer.

»Da es auf dem flachen Lande eine Klasse kleinbäuerlicherGrundbesitzer nicht gab, konnten die ländlichen Gebiete Kubasauch nicht zur Brutstätte "bürgerlicher Ideologien" werden«61

Diese Beschreibung der Revolution wird jedoch durch zwei Tat-sachen widerlegt: die Bauernschaft war an Castros Armee nur sehrgering beteiligt. Noch im April 1958 betrug die Zahl der unter Cas-tro bewaffneten Männer ungefähr 180 und zum Zeitpunkt von Bati-stas Sturz betrug ihre Zahl 803, in Worten: Achthundert und drei.61

Die Kader der Truppen Castros waren Intellektuelle; Bauern die amKampf teilnahmen, waren keineswegs lohnabhängige Landarbeitermit kollektivistischem Bewusstsein, wie Mills und Baran sie be-schrieben. So das Zeugnis Che Guevaras über die Bauern, die sichCastro in der Sierra Maestra anschlossen:

»Die Soldaten, die unsere erste Guerilla-Armee aus der Landbe-völkerung bildeten, kamen aus der sozialen Klasse, die ihre Liebezum Landbesitz am aggressivsten zeigt, die jenes Bewusstsein, dasman als "kleinbürgerlich" bezeichnet am reinsten demonstriert.«62

Castros Bewegung war mittelständisch. Die 82 Männer unterCastros Führung, die im Dezember 1956 von Mexiko kommend inKuba landeten und die zwölf, die überlebten und den Kampf in derSierra Maestra fortsetzten, kamen sämtlich aus der Mittelschicht.

»Die schwersten Verluste erlitt die größtenteils mittelständischestädtische Widerstandsbewegung, deren Einfluss Batistes Kampf-truppen psychologisch und politisch immer mehr zusetzte.«63

6060 Baron, a.a.O., S.16 ebda., S.18.Baron, a.a.O., S.16 ebda., S.18.6161 Rede Castros vom 1.Dezember 1961, 'El Mundo' La Habana, 22.Dez. 1961.Rede Castros vom 1.Dezember 1961, 'El Mundo' La Habana, 22.Dez. 1961.6262 Che Guevara: "Cuba: Exceptional Case?", Monthly Review, New York, Juli-Che Guevara: "Cuba: Exceptional Case?", Monthly Review, New York, Juli-

August 1961, s. 59.August 1961, s. 59.6363 T. Draper: "Castros Cuba. A Revolution Betrayed?" 'Encounter', London, T. Draper: "Castros Cuba. A Revolution Betrayed?" 'Encounter', London,

März 1961.März 1961.

102102 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderhei-ten

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Es ist bezeichnend, dass Che Guevara die Schwäche und Macht-losigkeit der industriellen Arbeiterklasse zum zentralen Kennzei-chen aller zukünftigen sozialistischen Revolutionen erhebt.

»Die Campesinos werden mit einer Armee vom Lande aus dieStädte erobern. Sie werden für ihre eigenen Ziele kämpfen, vor al-lem für eine gerechte Verteilung des Landes ... Diese Armee, diesich auf dem Lande bildet, wo die subjektiven Bedingungen für dieMachtergreifung heranreifen, wird die Städte von außerhalb er-obern.«64

Industrieller Fortschritt wird als Hindernis für die sozialistischeRevolution angesehen.

»Es ist schwieriger, Guerilla-Gruppen in Ländern aufzubauen, indenen es zu einer Ballung der Bevölkerung in großen Zentren ge-kommen ist, in denen es eine entwickeltere Leicht- und Mittelindus-trie gibt - wenn auch noch nicht eine effektive Industrialisierung.Der ideologische Einfluss der Städte behindert den Guerilla-Kampf ...«.65

»Selbst in Ländern, wo das Übergewicht der Städte groß ist,kann sich der politische Kern des Kampfes auf dem Lande entwi-ckeln.«66

Che gibt zugleich ein Lippenbekenntnis zur Rolle des industriel-len Proletariats, wenn er davon redet, dass die Bauern-Guerillassich auf den ideologischen Boden des "proletarischen Marxismus"stellen müssen; denn er vergißt, dass das Kernstück des Marxismusder Gedanke ist, dass die sozialistische Revolution die Selbstbefrei-ung der Arbeiterklasse ist, durch die das Proletariat zum Subjektund nicht zum Objekt der Geschichte wird.

Von Anfang an ging Castros Programm nicht über breite liberaleReformen hinaus, die auch vom Mittelstand akzeptiert werdenkonnten. In einem Artikel der Zeitschrift 'Coronet' vom Februar

6464 Guevara, a.a.O., S.63.Guevara, a.a.O., S.63.6565 ebda., S. 65-6.ebda., S. 65-6.6666 ebda., S. 68.ebda., S. 68.

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1958 erklärte Castro, er habe keinerlei Pläne, ausländische Investi-tionen zu enteignen oder zu verstaatlichen:

»Ich persönlich bin zu der Auffassung gelangt, dass die Verstaat-lichung - im günstigsten Fall - ein schwerfälliges Instrument ist. Esscheint den Staat nicht zu stärken, während es das private Unter-nehmertum schwächt. Und - was noch wichtiger ist - alle Versucheeiner totalen Verstaatlichung würden ganz offensichtlich demwichtigsten Punkt unseres ökonomischen Programms, der Industri-alisierung im schnellstmöglichen Tempo, widersprechen. Aus die-sem Grunde wird ausländisches Kapital bei uns immer gern gese-hen und in Sicherheit sein.«

Im Mai 1958 versicherte Castro seinem Biographen Dubois:

»Niemals hat die Bewegung vom 26. Juli Pläne über eine Soziali-sierung oder Verstaatlichung der Industrie gehabt. Dies ist einfacheine unbegründete Angst vor unserer Revolution. Wir haben vomersten Tag an versichert, dass wir für die vollständige Verwirkli-chung der Verfassung von 1940 kämpfen, die Garantien, Rechteund Verpflichtungen für alle Gruppen vorsieht, die an der Produk-tion teilhaben. Darin eingeschlossen sind die Rechte des freien Un-ternehmertums und des Investitionskapitals, ebenso wie eine Reiheanderer ökonomischer, bürgerlicher und politischer Rechte.«67

Noch am 2.Mai 1959 erklärte Castro vor dem Wirtschaftsrat der"Organisation Amerikanischer Staaten" (OAS):

»Wir sind keine Gegner des Privateigentums. Wir sind von derNützlichkeit, den Erfahrungen und dem Enthusiasmus des privatenUnternehmertums überzeugt .... Internationale Konzerne könnenauf die gleichen Garantien und Rechte wie die einheimischen Fir-men zählen.«68

Die Ohnmacht der rivalisierenden Klassen, der Arbeiter, Kapita-listen, Bauern und Großgrundbesitzer, sowie die traditionelleSchwäche des Mittelstandes und die Allmacht der neuen Elite Cas-tros, die sich gerade nicht an bestimmte und organisierte Interessen

6767zitiert nach Draper, ebda..zitiert nach Draper, ebda..6868 Plan for the Advancement of Latin America, Havanna, 1959, S. 32.Plan for the Advancement of Latin America, Havanna, 1959, S. 32.

104104 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderhei-ten

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gebunden sah, erklärte schließlich, warum Castro sein gemäßigtesProgramm zur Förderung des privaten Eigentums aus den Jahren1953-58 mit Leichtigkeit beiseite schieben und durch ein radikalesProgramm der Verstaatlichung und Planung ersetzen konnte. Erstam 16. April 1961 erklärte Castro, seine Revolution sei eine sozia-listische gewesen. Durch die Worte des Präsidenten der Republik,Dr. Osvaldo Dorticos Torrado, entdeckte und bestätigte das kubani-sche Volk eines schönen Tages, dass die Umwälzung, dem es Bei-fall gespendet hatte und die in ihrem Interesse gewesen war, einesozialistische Revolution war.69

Ein Musterbeispiel bonapartistischer Manipulation, die das Volkzum Objekt, nicht zum Subjekt der Geschichte macht!!

Wo die Theorie nicht mehr stimmt

Während Trotzkis erste These vom konservativen und feigenCharakter einer erst spät sich entwickelnden Bourgeoisie gilt, isteine neu entstandene Arbeiterklasse weder unbedingt noch zwangs-läufig revolutionär - entgegen Trotzkis zweiter These. Es ist nichtschwer, die Gründe hierfür zu finden. Die vorherrschende Ideologieeiner Gesellschaft, in der das Proletariat nur eine Minderheit aus-macht, ist eine bürgerliche Ideologie; oft ist gerade die noch engeVerbundenheit der Mehrheit der neu entstandenen Arbeiterschaft,die sich noch nicht gut in den Städten etabliert und noch keine dau-erhaften Strukturen hat, mit dem flachen Land ein großes Hindernisfür die Herausbildung eigener, unabhängiger proletarischer Klas-senorganisationen. Mangel an Kampferfahrung und Bildung kom-men noch hinzu. Daraus entspringt ein neues Problem, eine neueSchwäche: Abhängigkeit von einer nicht-proletarischen Führung.Die Gewerkschaften in den unterentwickelten Ländern werden fastimmer von "Außenstehenden" geführt. So heißt es in einem Berichtüber die indischen Gewerkschaften:

»Nahezu alle Gewerkschaften in Indien werden von Personen ge-führt, die selbst nicht aus den Betrieben kommen, also von "Außen-stehenden" ... viele dieser klassenfremden Funktionäre haben6969 Osvoldo Dorticos Torrado: "The Institutional and Political Changes made by Osvoldo Dorticos Torrado: "The Institutional and Political Changes made by

the Cuban Revolution", Cuba, Havanna, November 1961.the Cuban Revolution", Cuba, Havanna, November 1961.

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Funktionen in mehreren Gewerkschaften. Ein prominenter Ge-werkschaftsführer bemerkte einmal, dass er der Präsident von 30verschiedenen Gewerkschaften gewesen sei. Und er fügte hinzu,dass er natürlich keiner dieser Gewerkschaften in ihrer Arbeithabe beistehen können.«70

Die eigene Schwäche und Abhängigkeit von klassenfremden Ver-tretern führen zum Personenkult.

»Viele Gewerkschaften haben immer noch die Gewohnheit, sich»Viele Gewerkschaften haben immer noch die Gewohnheit, sichum Persönlichkeiten zu organisieren. Eine starke Führerperson beum Persönlichkeiten zu organisieren. Eine starke Führerperson be--herrscht dann die Gewerkschaft. Sie wird als "seine" Organisationherrscht dann die Gewerkschaft. Sie wird als "seine" Organisationbekannt. Er bestimmt die ganze Politik und kontrolliert sämtlichebekannt. Er bestimmt die ganze Politik und kontrolliert sämtlicheAktionen. Die Arbeiter blicken zu ihm auf und erwarten von ihm,Aktionen. Die Arbeiter blicken zu ihm auf und erwarten von ihm,dass er alle ihre Schwierigkeiten löst und alle ihre Forderungen fürdass er alle ihre Schwierigkeiten löst und alle ihre Forderungen fürsie erfüllt. Sie verlassen sich auf ihn als ihren Beschützer und Helsie erfüllt. Sie verlassen sich auf ihn als ihren Beschützer und Hel--fer und sind bereit, ihm zu folgen, wo immer er sie hinführen mag.fer und sind bereit, ihm zu folgen, wo immer er sie hinführen mag.In dieser Haltung spiegelt sich ein starker Hang zur HeldenverehIn dieser Haltung spiegelt sich ein starker Hang zur Heldenvereh--rung. Und es gibt eine ganze Reihe solcher Helden in der Gewerkrung. Und es gibt eine ganze Reihe solcher Helden in der Gewerk--schaftsbewegung. Sie mögen den Arbeitern tatsächlich dabei helschaftsbewegung. Sie mögen den Arbeitern tatsächlich dabei hel--fen, einen Teil ihrer Forderungen zu erfüllen. Aber sie helfen ihnenfen, einen Teil ihrer Forderungen zu erfüllen. Aber sie helfen ihnenkaum dabei, demokratische Formen zur Selbstorganisation zu entkaum dabei, demokratische Formen zur Selbstorganisation zu ent--wickeln. Gerade solche Organisationen können sich nur entwiwickeln. Gerade solche Organisationen können sich nur entwi--ckeln, wenn die Arbeiter es lernen, auf eigenen Füßen zu stehen ...«ckeln, wenn die Arbeiter es lernen, auf eigenen Füßen zu stehen ...«7171

7070 C.A. Mayers: "India", in: 'W.Galenson, Labor and Economic Development', C.A. Mayers: "India", in: 'W.Galenson, Labor and Economic Development', New York, 1959, S. 41-2.New York, 1959, S. 41-2.

7171 V.B.Karnik: Indian Trade Unions: A Survey, Bombay 1960, S. 227-8.V.B.Karnik: Indian Trade Unions: A Survey, Bombay 1960, S. 227-8.

106106 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderhei-ten

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Einmarsch der Bewegung des 26. Juli in Havanna

Eine andere Schwäche der Arbeiterbewegung in vielen unterent-wickelten Ländern ist ihre Abhängigkeit vom Staat. Aus Indienwird dazu berichtet:

»Der Staat hat bereits eine Reihe von Funktionen übernommen,die in einer freien Gesellschaft normalerweise von den Gewerk-schaften ausgeführt werden. Sowie die Dinge heute stehen, spieltder Staat und nicht irgendwelche Verhandlungen zwischen Arbeit-gebern und Arbeitnehmern die Hauptrolle bei der Bestimmung derLöhne und anderer Arbeitsbedingungen. Das ist angesichts derRückständigkeit der Wirtschaft und der Schwäche der Arbeiter undihrer Gewerkschaften in gewisser Weise unvermeidbar.«72

Und aus Französisch Westafrika:

»Direkte gewerkschaftliche Kämpfe gegen die Arbeitgeber habenden afrikanischen Arbeitern kaum jemals nennenswerte Lohnerhö-

7272 ebda., S.236.ebda., S.236.

107107 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderhei-ten

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hungen eingebracht; die wirklichen Lohnerhöhungen der letztenJahre sind viel mehr auf die Sozialgesetzgebung des Staates undden politischen Einfluss der Arbeiterbewegung zurückzuführen ge-wesen.«73

Und aus Lateinamerika:

»Die Gewerkschaftsführer versuchen ihre Forderungen überstaatliche Eingriffe und Verordnungen von oben durchzusetzen.«74

Der Preis, den die Gewerkschaften für diese Abhängigkeit vomStaat bezahlen müssen, ist der Verzicht auf politische Forderungenund Kämpfe, die sie in Gegensatz zu den politisch Herrschendenbringen könnten, ist die Beschränkung der gewerkschaftlichen Ak-tivitäten auf enge "ökonomische" Forderungen, oder - um LeninsAusdruck zu gebrauchen - auf eine "trade-unionistische" Politik.

Diese beschränkte Politik führt wiederum zu einer Entfremdungder Gewerkschaften vom Kampf der Werktätigen auf dem Land.Der Unterschied im Lebensstandard zwischen Stadt und Land ist inden unterentwickelten Ländern allgemein sehr groß, viel größer alsin den industrialisierten Ländern. Unter diesen Umständen und vorallem in Anbetracht der Massenarbeitslosigkeit und Unterbeschäfti-gung auf dem Lande, hängt die Durchsetzung und Verteidigung hö-herer Löhne und besserer Arbeitsbedingungen in der Industrie weit-gehend davon ab, ob es den Gewerkschaften gelingt, eine "closedshop"-Politik zu betreiben, d.h. ob es ihr gelingt, die Einstellungvon Arbeitern in einem Betrieb oder einem Industriezweig durchdie Gewerkschaft zu kontrollieren. Dies kann wiederum nicht ohnestaatliche Unterstützung erreicht werden, durch das enge Bündnisvon Gewerkschaft und Regierung - ein Bündnis, das auf Kosten derMassen der Landbevölkerung geschlossen wird. Dies galt für dieVerhältnisse in Argentinien unter Peron, in Brasilien unter Vargas,in Kuba unter Batista. Das Resultat war jeweils das gleiche: Einekonservative, engstirnige, und von falschen Idealen verwirrte Ar-beiterbewegung. Denn nicht zuletzt entscheidet ein subjektiver

7373 E.Berg: "French West Africa", in 'Galenson', a.a.O., S.227.E.Berg: "French West Africa", in 'Galenson', a.a.O., S.227.7474 United States Senate, United States-Latin American Relations, 86th Congress, United States Senate, United States-Latin American Relations, 86th Congress, 2. 2. Sitzung, Washington 1960, S. 645.Sitzung, Washington 1960, S. 645.

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Faktor darüber, ob sich die Arbeiterklasse eines unterentwickeltenLandes revolutionär entwickelt; zu diesem subjektiven Faktor ge-hört die Tätigkeit der Parteien, besonders der kommunistischenParteien, unter deren Einfluss die Arbeiter stehen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die bisherigen Erfahrun-gen auf große revolutionäre Energien im Industrieproletariat der er-wachenden Nationen, als auch auf deren fatale Schwäche verwei-sen. Es besteht kein mechanischer Zusammenhang zwischen wirt-schaftlicher Rückständigkeit und revolutionärer politischer Kampf-bereitschaft.

Einmarsch der Bewegung des 26. Juli in Havanna

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Der revolutionäre Charakter der Arbeiterklasse ist der Grundpfei-ler in Trotzkis Theorie. Mit ihm steht und fällt das ganze Gebäude.Seine dritte These und die folgenden können nicht Wirklichkeitwerden, wenn die Bauernschaft keine Möglichkeit hat, der Führungeines revolutionären Proletariats zu folgen. Aber das heißt nicht,dass damit die Klassenkämpfe ruhen. Die Verflechtung der natio-nalen mit den internationalen Verhältnissen zwingt die Produktiv-kräfte dazu, die Strukturen des Feudalismus und des Imperialismusaufzubrechen. Die Welle der Bauernrevolutionen entwickelt einentieferen und breiteren Sog als je zuvor. Diese Wellen sind verbun-den mit nationaler Rebellion gegen die wirtschaftliche Pleite, dieder Imperialismus ständig neu verursacht, während er gleichzeitigdemonstriert, dass ein höherer Lebensstandard möglich ist.

Aber die Erfordernisse der Entwicklung der Produktivkräfte hät-ten selbst in Verbindung mit einer aufständischen Bauernschaftnicht ausgereicht, das Joch der Großgrundbesitzer und des Imperia-lismus zu brechen. Drei weitere Faktoren haben dabei mitgewirkt:

1. Die Schwächung des Weltimperialismus als Folge der zuneh-menden Widersprüche unter den Großmächten.

2. Die zunehmende Bedeutung des Staates in unterentwickeltenLändern. Bei der Lösung historisch unaufschiebbarer Aufgaben be-dient sich die Geschichte oft einer besonderen List, indem sie andie Stelle jener Klasse, der traditionell diese Aufgabe zufiel, dieaber für deren Lösung zu schwach oder überhaupt nicht vorhandenist, eine andere gesellschaftliche Kraft setzt; oft wird diese Lückedurch staatliche Macht gefüllt. Die wichtige Rolle, die die staatli-che Macht unter solchen Bedingungen spielt, spiegelt nicht nur dieschwache ökonomische Basis wider, auf die sie sich gründet, son-dern auch den übernationalen Charakter der Weltwirtschaft heute.

3. Die wachsende Bedeutung der Intelligenz als Führer und eini-gende Kraft der Nation, und mehr noch, als Manipulateure derMassen. Diese letzte These bedarf einer genaueren Erklärung.

Die Intelligenz

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Die Bedeutung der Intelligenz in der revolutionären Bewegung istdas direkte Spiegelbild der allgemeinen. wirtschaftlichen, sozialenund kulturellen Rückständigkeit der Massen, aus deren Mitte sieselbst hervorgegangen ist. Es war für die Bewegung der russischenVolkstümler (Narodniki) bezeichnend, dass sie einerseits geradeauf die Revolutionierung der rückständigsten Teile der Gesell-schaft, der Bauernschaft, größeren Wert als alle anderen politischenStrömungen legten, gleichzeitig aber die Bedeutung von Bildungzu "kritischem Denken" hervorkehrten. Zwar bestanden lange Zeitalle Strömungen der revolutionären Bewegung in Russland aus An-gehörigen der Intellektuellen - auf der einen Seite die volkstümleri-schen Intellektuellen, die sich zum Anwalt der Bauern machten, aufder anderen Seite die Marxisten, die als Intellektuelle für die Inter-essen der Arbeiter zu sprechen beanspruchten; einen grundlegen-den Unterschied gab es jedoch darin, wie sie das Verhältnis zwi-schen "Führern" und "Massen" sahen. Die Arbeiterbewegung warzumindest auf dem Höhepunkt der Kämpfe organisiert. Die Intel-lektuellen waren daher nach der Überzeugung der Marxisten, demKollektiv der Arbeiter verantwortlich und konnten von diesem Kol-lektiv auch zur Rechenschaft gezogen werden ungeachtet der ihneneigentümlichen Neigung, sich von den Massen zu trennen und sichüber sie zu erheben. Das volkstümlerische intellektuelle Milieu leg-te sich dagegen kaum derartige Beschränkungen auf, zeigte daherauch viel deutlicher die diesem Milieu eigenen Tendenzen zum eli-tären Denken, zur Willkür, zu Schwankungen und zur Zersplitte-rung. Lenin schrieb damals -

»Niemand wird leugnen wollen, dass es gerade ihr Individualis-mus und Unfähigkeit zur Disziplin und Organisation ist, was dieIntelligenz als besondere Schicht unserer modernen, kapitalisti-schen Gesellschaft auszeichnet.«75

Die revolutionäre Intelligenz hat sich in den heute erwachendenNationen als eine wesentlich geschlossenere Kraft erwiesen als imzaristischen Russland. Aus klar erkennbaren Gründen ist das bür-gerliche Privateigentum bankrott, der Imperialismus ist unerträg-

7575 Lenin: "Ausgewählte Werke", Moskau 1946, Bd.7, S. 248.Lenin: "Ausgewählte Werke", Moskau 1946, Bd.7, S. 248.

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lich; ein Staatskapitalismus gibt ihr - durch das russische Beispiel,durch die organisierte und disziplinierte Tätigkeit der kommunisti-schen Parteien, sowie angesichts der Krise des Imperialismus, so-wie der allgemein zunehmenden Bedeutung staatlicher Planung -ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl. Als einzige nicht speziali-sierte Schicht der Gesellschaft ist die Intelligenz der naheliegendeUrsprung einer "professionellen, revolutionären Elite", die die In-teressen der "Nation" gegenüber widerstreitenden Gruppen undKlasseninteressen vertritt. Außerdem ist sie die Schicht, die amengsten mit der nationalen Kultur vertraut ist, da weder die Bauernnoch die Arbeiter die nötige Musse und Bildung hierfür besitzen.

Die Intelligenz hat auch ein empfindliches Bewusstsein von dertechnischen Rückständigkeit ihres Landes. Sie kennt nicht nur dietechnische und wissenschaftliche Welt des zwanzigsten Jahrhun-derts, sondern nimmt selbst aktiv an ihr teil und muss daher dieRückständigkeit der eigenen Nation umso krasser erleben, DiesesEmpfinden wird noch verstärkt durch die "Intellektuellen-Arbeits-losigkeit", wie sie in vielen dieser Länder zu beobachten ist. Aufdem Hintergrund der allgemeinen wirtschaftlichen Rückständigkeitbleibt den meisten Studenten als einzige Hoffnung eine Stelle imStaatsdienst - aber davon gibt es nicht einmal annähernd genug, umalle Studenten zu versorgen.76

Auch das geistige Leben der Intelligenz befindet sich in einerKrise. In einer auseinanderbrechenden Gesellschaftsordnung, in deralle traditionellen Werte sich auflösen, fühlen sie sich verunsichert,

7676 So zeigt eine Untersuchung aus Indien, dass von den Studenten der Lucknow-So zeigt eine Untersuchung aus Indien, dass von den Studenten der Lucknow-Universität, die zwischen 1949 und 1953 in der geisteswissenschaftlichen, naturUniversität, die zwischen 1949 und 1953 in der geisteswissenschaftlichen, natur--wissenschaftlichen, sowie in der juristischen und volkswirtschaftlichen Fakultätwissenschaftlichen, sowie in der juristischen und volkswirtschaftlichen Fakultätihre Abschlussprüfungen (master's degree) bestanden hatten, im Jahr 1957 imihre Abschlussprüfungen (master's degree) bestanden hatten, im Jahr 1957 im--mer noch 25 Prozent arbeitslos waren. Die Untersuchung ergab darüberhinaus,mer noch 25 Prozent arbeitslos waren. Die Untersuchung ergab darüberhinaus,dass 51,4 Prozent der Studenten aus der naturwissenschaftlichen Fakultät, 7 Prodass 51,4 Prozent der Studenten aus der naturwissenschaftlichen Fakultät, 7 Pro--zent aus der volkswirtschaftlichen Fakultät und 85,7 Prozent aus dem Fachbezent aus der volkswirtschaftlichen Fakultät und 85,7 Prozent aus dem Fachbe--reich Erziehung die Universität mit dem Ziel besucht hatten, sich für den Staatsreich Erziehung die Universität mit dem Ziel besucht hatten, sich für den Staats--dienst zu qualifizieren. Ungefähr 51 Prozent der Hochschulabsolventen mit abgedienst zu qualifizieren. Ungefähr 51 Prozent der Hochschulabsolventen mit abge--schlossenem Studium sagten aus, die Hochschulausbildung sei reine Zeitverschlossenem Studium sagten aus, die Hochschulausbildung sei reine Zeitver--schwendung gewesen. schwendung gewesen. (M. Weiner: "Party Politics in India", Princeton, NJ.(M. Weiner: "Party Politics in India", Princeton, NJ.1957).1957).

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entwurzelt, ohne klare Wertvorstellungen. Die sich auflösendenKulturen lassen ein mächtiges Verlangen nach neuer Integrationentstehen, nach einer Integration, die gleichermaßen total und dy-namisch sein muss, wenn sie den entstandenen sozialen und geisti-gen Leerraum ausfüllen soll; Sie muss religiösen Eifer mit radika-lem Nationalismus verbinden.

Bevor ihr Land die politische Freiheit gewinnen kann, sehen sichdie Intellektuellen einem doppelten Druck ausgesetzt - sie sind ge-genüber der Masse des eigenen Volkes privilegiert, aber den euro-päischen Herrschern untergeordnet und ihnen gegenüber benachtei-ligt. Dies erklärt ihre Unschlüssigkeit und Unbeständigkeit, die ihreRolle in der nationalen Bewegung so sehr bestimmt. Jedoch diegroßen Veränderungen seitdem haben ihrer Haltung neue Elementehinzugefügt - ein Gefühl der Schuld, der "Verpflichtung" gegen-über den "unwissenden" Massen und gleichzeitig ein Gefühl derÜberlegenheit und Besonderheit gegenüber den Massen. Sie wollenTeil der Massen sein, ohne in diese hinabzusinken, ohne sich ihnenvöllig anzugleichen. Sie sind auf der Suche nach einer energievol-len Bewegung, die die Nation zu vereinigen vermag und ihr neueHorizonte eröffnen kann, die aber gleichzeitig ihnen selbst zurMacht verhilft.

Sie sind starke Verfechter des Leistungsprinzips, des Nutzeffekts,der Funktionstüchtigkeit - auch in Fragen der gesellschaftlichenStrukturen. Sie bauen auf "Reformen von Oben" und würden lie-bend gern einem "dankbaren" Volk selbst eine neue Welt überrei-chen, lieber als Zeuge eines Befreiungskampfes zu werden, in demein frei assoziiertes und selbstbewusstes Volk für sich selbst seineeigene neue Welt erobert. Sie sind sehr bemüht, ihr Land aus derStagnation zu reißen - aber um Demokratie machen sie sich kaumSorgen. Sie verkörpern den Drang nach Industrialisierung, nachKapitalakkumulation, nach nationaler Wiedergeburt. Ihre Machtsteht im direkten Verhältnis zur Schwäche anderer Klassen und zuderen politischer Ohnmacht.

All das macht einen totalitären Staatskapitalismus für Intellektu-elle in unterentwickelten Ländern als Ziel attraktiver. Und in der

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Tat sind sie die Bannerträger des "Kommunismus" in diesen Natio-nen. »Der Kommunismus hat in Lateinamerika seine meisten An-hänger bei Studenten und im Mittelstand gefunden«, schreibt einSpezialist für Lateinamerika.77 So waren in Indien auf dem Kon-greß der Kommunistischen Partei in Amribar (März-April 1958)ca. 67 % aller Delegierten aus anderen Schichten als der Arbeiter-klasse und der Bauernschaft (Mittelstand, Grundbesitzerklasse und"kleine Händler") 72 % der Delegierten hatten irgendeine Art vonHochschule besucht.78 (1943 stellte man fest, dass 16 % aller Par-teimitglieder Parteiangestellte waren).79

Die umgelenkte permanente Revolution

Dort wo das revolutionäre Subjekt, das Proletariat, fehlt, könnenjene gesellschaftlichen Bedingungen, die - Trotzkis Theorie zufolge- zu einer sozialistischen Arbeiterrevolution führen würden, zu de-ren Gegenteil, zum Staatskapitalismus führen. Wenn wir einmal dieunbedingt und allgemein gültigen Bestandteile der Theorie von dennur bedingt gültigen trennen (nämlich das subjektive Eingreifen desProletariats), kann man zu einer neuen Version der Theorie kom-men, die man - in Ermangelung eines besseren Ausdrucks - Theorieder staatskapitalistisch umgelenkten permanenten Revolution nen-nen könnte.80

7777 V. Alba: "The Middle Class Revolution", New Politics, New York, Winter V. Alba: "The Middle Class Revolution", New Politics, New York, Winter 1962, S. 71.1962, S. 71.7878G.D. Overstreet and M. Windmiller: "Communism in India", Berkeley und Los G.D. Overstreet and M. Windmiller: "Communism in India", Berkeley und Los Angeles, 1959, S. 540.Angeles, 1959, S. 540.7979 ebda., S. 358.ebda., S. 358.8080Zur Theorie des Staatskapitalismus vgl.Tony Cliff: "Russia - A Marxist AnalyZur Theorie des Staatskapitalismus vgl.Tony Cliff: "Russia - A Marxist Analy--sis", London 1964. Diese Theorie besagt, dass die Ostblockländer ebenso wiesis", London 1964. Diese Theorie besagt, dass die Ostblockländer ebenso wieChina und Kuba Klassengesellschaften sind. Es wird dort weiterhin Kapital akChina und Kuba Klassengesellschaften sind. Es wird dort weiterhin Kapital ak--kumuliert, jedoch nicht in der Hand einer Klasse von privaten Kapitalisten, sonkumuliert, jedoch nicht in der Hand einer Klasse von privaten Kapitalisten, son--dern in der Hand von einer Bürokraten-Klasse, die ein Monopol über den Staatsdern in der Hand von einer Bürokraten-Klasse, die ein Monopol über den Staats--apparat besitzt und damit die ausschließliche Verfügungsgewalt über die gesellapparat besitzt und damit die ausschließliche Verfügungsgewalt über die gesell--schaftlichen Produktionsmittel. (Anm. d. Hg./Deutsch bei der IS erhältlich DMschaftlichen Produktionsmittel. (Anm. d. Hg./Deutsch bei der IS erhältlich DM16,-).16,-).

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Siegesfeier, ganz links Fidel Castro, 4. von links Che Guevera

1960

Wie die russischen Revolutionen von 1905 und 1917 und die chi-nesische Revolution von 1925-27 in China klassische Illustrationender Trotzki'schen Theorie waren, so sind Maos und Castros Auf-stieg zur Macht, die klassischen reinsten und deutlichsten Beispielefür die "umgelenkte permanente Revolution". Andere Kolonialre-volutionen - in Ghana, Indien, Ägypten, Indonesien, Algerien usw.- sind Abweichungen von diesem Modell. In diesen Ländern hatder politische und militärische Rückzug des Imperialismus nichtzur Heranbildung eines reinen Staatskapitalismus unter eindeutigerKontrolle durch eine neue stalinistische Bürokratie geführt. DieGründe dafür liegen in der finanziellen Unterstützung der einheimi-schen herrschenden Klassen durch den Imperialismus und in derLähmung der jeweiligen kommunistischen Parteien durch Moskau.

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Obwohl Algerien unter Ben Bella, Indien unter Nehru oder Ghanaunter Nkruma mehr oder weniger vom Modell der "umgelenktenpermanenten Revolution" abweichen, können sie nichts destoweni-ger am besten im Vergleich und in ihrer Abweichung von diesemModell verstanden werden.

Schlussfolgerungen

Aus der "umgelenkten permanenten Revolution" - sei es in ihrerreinen, sei es in ihrer verwässerten Form - ergeben sich für die in-ternationale Arbeiterbewegung einige strategisch wichtige Schluss-folgerungen. Zunächst was die Arbeiter in den erwachenden Natio-nen betrifft: Nachdem es ihnen nicht gelungen ist, die permanenteRevolution zu verwirklichen, d.h. die demokratische Revolution insozialistische Bahnen zu lenken, den nationalen mit dem sozialenBefreiungskampf zu verbinden, wird die Arbeiterklasse jetzt gegenihre "eigene" herrschende Klasse zu kämpfen haben. (Und Nehruspringt keineswegs zimperlicher mit streikenden Arbeitern um alsder britische Raj). Die industrielle Arbeiterklasse wird jedoch im-mer reifer für die sozialistische Revolution. Unter den neuen natio-nalen Regimes wächst sie zunächst rein zahlenmäßig, und wirddemzufolge langfristig auch eine stärkere innere Bindung und Fes-tigkeit, sowie ein größeres spezifisches gesellschaftliches Gewichterhalten. Für revolutionäre Sozialisten in den entwickelten Ländernbedeutet die Veränderung in der Strategie, dass sie in Zukunft vielweniger die nationale Eigenheit der kommenden herrschendenKlassen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas im Auge haben soll-ten, als deren Klassencharakter, sowie die zukünftigen gesellschaft-lichen Verhältnisse und Klassenkämpfe innerhalb dieser Länder.Gleichzeitig werden sie jedoch auch weiterhin gegen jede Form dernationalen Unterentwicklung von Kolonialvölkern kämpfen. DieParole "Klasse gegen Klasse" wird immer stärker die gesellschaftli-che Wirklichkeit bestimmen. Das zentrale Thema von TrotzkisTheorie bleibt somit gültig wie je zuvor: Das Proletariat wird sei-nen revolutionären Kampf fortsetzen müssen, bis es in der ganzen

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Welt gesiegt hat. Auf diesem Weg zu seiner Befreiung wird es kei-ne Abkürzung geben.81

8181 Aus Raumgründen ist der vorliegende Artikel fast ausschließlich der FrageAus Raumgründen ist der vorliegende Artikel fast ausschließlich der Fragenoch der Gültigkeit der "Theorie der Permanenten Revolution für unterentwinoch der Gültigkeit der "Theorie der Permanenten Revolution für unterentwi --ckelte Länder" gewidmet. Er beschäftigt sich nicht mit den sich daraus ergebenckelte Länder" gewidmet. Er beschäftigt sich nicht mit den sich daraus ergeben --den Fragestellungen für die entwickelten Länder. Dieses zweite Element - dassden Fragestellungen für die entwickelten Länder. Dieses zweite Element - dassder Sieg der Kolonialrevolution zur sozialistischen Revolution in den fortgeder Sieg der Kolonialrevolution zur sozialistischen Revolution in den fortge--schrittenen Ländern der Metropolen führen muss - war in der ersten Fassungschrittenen Ländern der Metropolen führen muss - war in der ersten Fassung(von 1906) der Theorie Trotzkis nicht enthalten, wurde aber später von ihm hin(von 1906) der Theorie Trotzkis nicht enthalten, wurde aber später von ihm hin--zugefügt.zugefügt.

117117 –– Leo Trotzki: Leo Trotzki: Nationale Frage und nationale Minderhei-ten