„Nationalismus ist ein Ersatz · SPIEGELGespräch Der go-jährige Zygmunt Bauman ist einer der...

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Kultur „Nationalismus ist ein Ersatz" SPIEGELGespräch Der go-jährige Zygmunt Bauman ist einer der großen Denker unserer Zeit. Nun beschäftigt er sich mit der Migrationskrise - und erklärt sein neues Projekt ,,Retrotopia" Zweimal in seinem Leben musste Bauman Polen verlassen: 1925 in Posen geboren, floh er mit seiner Familie bei Kriegsausbruch 1939 vor den Deutschen in die Sowjetunion. Als politischer Offizier kehrte er zurück. Nach seinem Studium lehrte er an der Universität Warschau Soziologie. 1967 trat er aus der Kommunistischen Partei aus, verlor anschlie- ßend seine Professur und emigrierte nach lsrael, wo er 1971 überraschend einen Ruf an die University of Leeds erhielt. ln zahlreichen Arbeiten („Postmoderne Ethik", ,,Verworfenes Leben", „Flüchtige Moderne") analysierte er die Prekarität der Lebensverhältnisse in der globalisierten Gegenwart. Dabei prägte er den Begriff von der „liquiden", verflüssi8ten Mo- derne. Sein neuer Essay über Migration und Panikmache („Die Angst vor den anderen") er- scheint nächste Woche im Suhrkamp Verlag. Seit dem Tod seiner ersten Frau lebt Bauman in Leeds mit der Soziologin Aleksandra Kania, der Tochter des ehemaligen polnischen Par- teichefs Bolestaw Bierut. SPIEGEL: Hen Professor Bauman, Sie waren selbst Flüchtling. Was lösen die Schlagzei- len über die Migrationskrise, die Europa zu überwältigen droht, bei lhnen aus? Bauman: Ich fürchte, dass wir den Beginn eines enormen Ungleichgewichts erleben. Der sprunghafte Anstieg der an den Toren Europas anklopfenden Migranten, ein Er- gebnis der wachsenden Zahl scheitemder oder bereits gescheiterter Staaten, schürt :1Lndest;:irgäe.isfeE::r':gg;ti:.asäe::;'s¥hoahi bedroht sind. Und diese Panik schafft eine politisch explosive Gefühlslage, zumal die Politiker unbeholfen zwischen nicht zu vereinbarenden B estrebungen schwanken : Abschottung und lntegration. SPIEGEL: Die Massenmigration wird wohl nicht so bald zum Stillstand kommen. Ist Europa zur Ohnmacht verurteilt, ist es sinnlos, sich mit Quoten und Obergrenzen gegen den Andrang zu stemmen? Bauman: Weder werden die Ursachen der Massenwanderungen wegfällen, noch dürf- te der wachsende Einfallsreichtum bei den Bemühungen, ihnen Einhalt zu gebieten, viel ausrichten. SPIEGEL: Fatalismus kann sich die Politik aber auch nicht leisten. Bauman: Die Lage ist unheilbar ambivalent. Panik, wie wir sie derzeit erleben, endet leicht in einem moralischen Debakel - in der Sünde der Gleichgültigkeit gegenüber den Tragödien und den Hilfeschreien der Leidenden. Schockierende Ereignisse ver- wandeln sich in die Routine der Normali- tät. Die Krise wird moralisch neutralisiert: Die Migranten und das, was mit ihnen ge- schieht oder was man mit ihnen macht, werden nicht länger unter ethischen Gesichtspunkten betrachtet. Sobald die öffentliche Meinung die Flüchtlinge als Sicherheitsrisiko begreift, stehen sie au- ßerhalb des Bereichs der moralischen Ver- antwortung. Sie werden enthumanisiert, objektiviert, außerhalb des Raumes ge- stellt, in dem Mitgefühl und Solidarität als geboten empfunden werden. SPIEGEL: Fördem die Sicherheitsobsession, die lslamophobie und der gesellschaftliche Ausschluss der Zuwanderer die Radikali- sierung nicht erst recht auf beiden Seiten? Bauman: Angst, Hass, Ressentiment und Ausgrenzung setzen eine sich selbst erfül- lende Prophezeiung in Gang. Inklusion und lntegration sind die stärksten Wäffen des Westens. Es gibt keinen anderen Ausweg aus der Krise, in der die Menschheit sich befindet, als Solidarität. Die Entfremdung, die Barriere zwischen uns und den Frem- den, den Etablierten und den AUßenseitem, muss überwunden werden. Der erste Schritt dazu ist die Aufnahme eines Dialogs. Aus Fremden müssen Nachbam werden. SPIEGEL: Die Angst vor dem Fremden, dem Unbekannten, ist eine instinktive Reak- tion, Kontaktvermeidung die Folge. Ein- heimische und Zuwanderer leben neben- einander, nicht miteinander. Sie lassen sich nicht aufeinander ein. Bauman: Es trennt sie eine unsichtbare Grenze des Schweigens. Soziale und phy- sische Nähe waren lange Zeit in der Ge- schichte der Menschheit eng verbunden. Heute ist die Fremdheit zur permanenten Verfassung geworden. Das Problem mo- demer Gesellschaften kann nicht sein, wie Fremde zu eliminieren sind, sondem wie man in Nachbarschaft mit ihnen leben kann. Die Abstimmung zwischen physi- scher und sozialer Nähe ist gestört. Das ist eine völlig neue Situation: Die Fremd- heit der Fremden ist nicht mehr eine vorübergehende lrritation. Die Fremden bleiben und weigem sich zu gehen, obwohl man insgeheim hofft, dass sie am Ende doch wieder verschwinden. Sie sind keine Gäste und keine Besucher, sie sind nicht wie ausgemachte Feinde, aber auch nicht wie bekannte Nachbam. Sie bleiben Frem- de, weil sie sich dem örtlichen Regelwerk, der lokalen Lebensweise zumindest teil- weise entziehen und auf ihrer Eigenheit beharren. SPIEGEL: Sie bleiben sichtbar, weil sie ihre Fremdheit und ihr Anderssein zum Bei- spiel durch Kopftuch und Schleier zur Schau tragen. Wie lässt sich der dem Be- griff vom Fremden inneliegende Wider- spmch überwinden, dass er bei uns, aber keiner von uns ist? Bauman: Man muss sich die Lage des Flücht- lings, oder besser gesagt: seine Zwickmüh- le, vergegenwärtigen. Er verliert, weil er vor Not oder Gewalt flieht, seine Heimat, ohne eine neue zu gewinnen, denn er ist kein Auswanderer. Flüchtlinge hängen in einem luftleeren Raum, sie sind eigentlich weder Sesshafte noch Nomaden. Sie eig- nen sich hervorragend £ür die Stigmatisie- rung, für die Rolle der Strohpuppe, die man stellvertretend für die globalen Kräfte des Unheils verbrennt. SPIEGEL: Die unkontrollierte Zuwanderung verkörpert den Zusammenbruch der Ord- nung. Diese Neuankömmlinge, für deren Entwurzelung wir uns nicht verantwortlich fühlen, gemahnen uns an unsere eigene Verwundbarkeit, an die Zerbrechlichkeit unseres Wohlstands? Bauman: Der Flüchtling ist, wie Bertolt Brecht in seinem Gedicht „Die Landschaft des Exils`` schrieb, ein Bote des Unglücks. Er bringt die schlechten Nachrichten, die Konflikte und Stürme aus der Ferne vor unsere Haustür. Er führt uns vor Augen, dass es globale, nicht leicht vorzustellende Kräfte gibt, die weit draußen wirken, aber mächtig genug sind, auch unser Leben zu beeinträchtigen. SPIEGEL: Wird in der Fremdenfeindlichkeit der Bote für die Botschaft verantwortlich gemacht? Gegen die schwer zu fassenden Kräfte der Globalisierung können wir ja wenig unternehmen. Bauman: Den Flüchtling trifft ein umgelei- teter Zorn. Der Sündenbock erleichtert das beunruhigende und demütigende Ge- fühl unserer Hilflosigkeit und existenziel- len Unsicherheit, dem wir alle in der flüs- sigen Moderne ausgesetzt sind. Das ist die Chance der politischen Stimmenfänger, Kapital zu schlagen aus den Ängsten, die der Zustrom der Fremden auslöst. Die au£- gestaute Angst vor dem Unbekannten sucht nach Ventilen. Das Versprechen, die unerwünschten Ausländer draußen zu hal- ten, ist eine Art Exorzismus - das Furcht einflößende Gespenst der Ungewissheit soll ausgetrieben werden. 122 DER SPIEGEL 36/2016 \\

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Kultur

„Nationalismus ist ein Ersatz"SPIEGELGespräch Der go-jährige Zygmunt Bauman ist einer der großen Denker unserer Zeit.Nun beschäftigt er sich mit der Migrationskrise - und erklärt sein neues Projekt ,,Retrotopia"

Zweimal in seinem Leben musste BaumanPolen verlassen: 1925 in Posen geboren, floher mit seiner Familie bei Kriegsausbruch 1939vor den Deutschen in die Sowjetunion. Alspolitischer Offizier kehrte er zurück. Nachseinem Studium lehrte er an der UniversitätWarschau Soziologie. 1967 trat er aus derKommunistischen Partei aus, verlor anschlie-ßend seine Professur und emigrierte nachlsrael, wo er 1971 überraschend einen Ruf andie University of Leeds erhielt. ln zahlreichenArbeiten („Postmoderne Ethik", ,,VerworfenesLeben", „Flüchtige Moderne") analysierte erdie Prekarität der Lebensverhältnisse in derglobalisierten Gegenwart. Dabei prägte er denBegriff von der „liquiden", verflüssi8ten Mo-derne. Sein neuer Essay über Migration undPanikmache („Die Angst vor den anderen") er-scheint nächste Woche im Suhrkamp Verlag.Seit dem Tod seiner ersten Frau lebt Baumanin Leeds mit der Soziologin Aleksandra Kania,der Tochter des ehemaligen polnischen Par-teichefs Bolestaw Bierut.

SPIEGEL: Hen Professor Bauman, Sie warenselbst Flüchtling. Was lösen die Schlagzei-len über die Migrationskrise, die Europazu überwältigen droht, bei lhnen aus?Bauman: Ich fürchte, dass wir den Beginneines enormen Ungleichgewichts erleben.Der sprunghafte Anstieg der an den TorenEuropas anklopfenden Migranten, ein Er-gebnis der wachsenden Zahl scheitemderoder bereits gescheiterter Staaten, schürt

:1Lndest;:irgäe.isfeE::r':gg;ti:.asäe::;'s¥hoahibedroht sind. Und diese Panik schafft einepolitisch explosive Gefühlslage, zumal diePolitiker unbeholfen zwischen nicht zuvereinbarenden B estrebungen schwanken :Abschottung und lntegration.SPIEGEL: Die Massenmigration wird wohlnicht so bald zum Stillstand kommen. IstEuropa zur Ohnmacht verurteilt, ist essinnlos, sich mit Quoten und Obergrenzengegen den Andrang zu stemmen?Bauman: Weder werden die Ursachen derMassenwanderungen wegfällen, noch dürf-te der wachsende Einfallsreichtum bei denBemühungen, ihnen Einhalt zu gebieten,viel ausrichten.SPIEGEL: Fatalismus kann sich die Politikaber auch nicht leisten.Bauman: Die Lage ist unheilbar ambivalent.Panik, wie wir sie derzeit erleben, endetleicht in einem moralischen Debakel - inder Sünde der Gleichgültigkeit gegenüberden Tragödien und den Hilfeschreien der

Leidenden. Schockierende Ereignisse ver-wandeln sich in die Routine der Normali-tät. Die Krise wird moralisch neutralisiert:Die Migranten und das, was mit ihnen ge-schieht oder was man mit ihnen macht,werden nicht länger unter ethischenGesichtspunkten betrachtet. Sobald dieöffentliche Meinung die Flüchtlinge alsSicherheitsrisiko begreift, stehen sie au-ßerhalb des Bereichs der moralischen Ver-antwortung. Sie werden enthumanisiert,objektiviert, außerhalb des Raumes ge-stellt, in dem Mitgefühl und Solidarität alsgeboten empfunden werden.SPIEGEL: Fördem die Sicherheitsobsession,die lslamophobie und der gesellschaftlicheAusschluss der Zuwanderer die Radikali-sierung nicht erst recht auf beiden Seiten?Bauman: Angst, Hass, Ressentiment undAusgrenzung setzen eine sich selbst erfül-lende Prophezeiung in Gang. Inklusion undlntegration sind die stärksten Wäffen desWestens. Es gibt keinen anderen Auswegaus der Krise, in der die Menschheit sichbefindet, als Solidarität. Die Entfremdung,die Barriere zwischen uns und den Frem-den, den Etablierten und den AUßenseitem,muss überwunden werden. Der erste Schrittdazu ist die Aufnahme eines Dialogs. AusFremden müssen Nachbam werden.SPIEGEL: Die Angst vor dem Fremden, demUnbekannten, ist eine instinktive Reak-tion, Kontaktvermeidung die Folge. Ein-heimische und Zuwanderer leben neben-einander, nicht miteinander. Sie lassen sichnicht aufeinander ein.Bauman: Es trennt sie eine unsichtbareGrenze des Schweigens. Soziale und phy-sische Nähe waren lange Zeit in der Ge-schichte der Menschheit eng verbunden.Heute ist die Fremdheit zur permanentenVerfassung geworden. Das Problem mo-demer Gesellschaften kann nicht sein, wieFremde zu eliminieren sind, sondem wieman in Nachbarschaft mit ihnen lebenkann. Die Abstimmung zwischen physi-scher und sozialer Nähe ist gestört. Dasist eine völlig neue Situation: Die Fremd-heit der Fremden ist nicht mehr einevorübergehende lrritation. Die Fremdenbleiben und weigem sich zu gehen, obwohlman insgeheim hofft, dass sie am Endedoch wieder verschwinden. Sie sind keineGäste und keine Besucher, sie sind nichtwie ausgemachte Feinde, aber auch nichtwie bekannte Nachbam. Sie bleiben Frem-de, weil sie sich dem örtlichen Regelwerk,der lokalen Lebensweise zumindest teil-

weise entziehen und auf ihrer Eigenheitbeharren.SPIEGEL: Sie bleiben sichtbar, weil sie ihreFremdheit und ihr Anderssein zum Bei-spiel durch Kopftuch und Schleier zurSchau tragen. Wie lässt sich der dem Be-griff vom Fremden inneliegende Wider-spmch überwinden, dass er bei uns, aberkeiner von uns ist?Bauman: Man muss sich die Lage des Flücht-lings, oder besser gesagt: seine Zwickmüh-le, vergegenwärtigen. Er verliert, weil ervor Not oder Gewalt flieht, seine Heimat,ohne eine neue zu gewinnen, denn er istkein Auswanderer. Flüchtlinge hängen ineinem luftleeren Raum, sie sind eigentlichweder Sesshafte noch Nomaden. Sie eig-nen sich hervorragend £ür die Stigmatisie-rung, für die Rolle der Strohpuppe, dieman stellvertretend für die globalen Kräftedes Unheils verbrennt.SPIEGEL: Die unkontrollierte Zuwanderungverkörpert den Zusammenbruch der Ord-nung. Diese Neuankömmlinge, für derenEntwurzelung wir uns nicht verantwortlichfühlen, gemahnen uns an unsere eigeneVerwundbarkeit, an die Zerbrechlichkeitunseres Wohlstands?Bauman: Der Flüchtling ist, wie BertoltBrecht in seinem Gedicht „Die Landschaftdes Exils`` schrieb, ein Bote des Unglücks.Er bringt die schlechten Nachrichten, dieKonflikte und Stürme aus der Ferne vorunsere Haustür. Er führt uns vor Augen,dass es globale, nicht leicht vorzustellendeKräfte gibt, die weit draußen wirken, abermächtig genug sind, auch unser Leben zubeeinträchtigen.SPIEGEL: Wird in der Fremdenfeindlichkeitder Bote für die Botschaft verantwortlichgemacht? Gegen die schwer zu fassendenKräfte der Globalisierung können wir jawenig unternehmen.Bauman: Den Flüchtling trifft ein umgelei-teter Zorn. Der Sündenbock erleichtertdas beunruhigende und demütigende Ge-fühl unserer Hilflosigkeit und existenziel-len Unsicherheit, dem wir alle in der flüs-sigen Moderne ausgesetzt sind. Das ist dieChance der politischen Stimmenfänger,Kapital zu schlagen aus den Ängsten, dieder Zustrom der Fremden auslöst. Die au£-gestaute Angst vor dem Unbekanntensucht nach Ventilen. Das Versprechen, dieunerwünschten Ausländer draußen zu hal-ten, ist eine Art Exorzismus - das Furchteinflößende Gespenst der Ungewissheitsoll ausgetrieben werden.

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Soziologe Bauman: „Abschottung ist eine trügerische Versuchung"

SPIEGEL: Der populistische Politiker ist einScharlatan und ein Schamane?Bauman: Politik handelt heute unter denBedingungen einer endemischen Unge-wissheit. Ihre Wirkungsmöglichkeit ist lo-kal, während die Probleme, vor denen siesteht, global sind. Wir erleben im Übergangvon der festen zur flüssigen, flüchtigenPhase der Modeme die zunehmende Tren-nung von Politik und Macht. Die entfes-selten Kräfte der Globalisierung entziehensich nationalstaatlicher Kontrolle. Die poli-tischen lnstitutionen erweisen sich als zu-nehmend ungeeignet für die Bewältigungneuer Herausforderungen. Die fragmen-tierte Gesellschaft bildet keine Gemein-schaft mehr, die territoriale Souveränitätdes Nationalstaats erodiert. Er verliert sei-ne Problemlösungskompetenz und damitseine Schutzfunktion.

SPIEGEL: Versagt die Demokratie, die denRahmen des Nationalstaats braucht, vorder wachsenden Diskrepanz zwischen Zie-1en und Mitteln effektiven Handelns?Bauman: Die Krise der Demokratie resul-tiert in den Augen der Bürger aus ihrertats ächlichen und vermeintlichen Unfähig-keit zu liefem. Die Hilflosigkeit der Poli-tiker, ihr Verweis darauf, es gebe keine Al-temative, sie könnten also gar nicht an-ders, wird als Kapitulation empfunden.Die Attraktivität des starken Mannes oderder starken Frau - Donald Trump in denUSA, Marine Le Pen in Frankreich -grün-det auf der Behauptung und dem unge-prüften Versprechen, sie könnten andershandeln, sie seien in ihrer Person selbstdie Altemative.SPIEGEL: Die Ankündigung, die Verhältnis-se durch Mauem, Einreiseverbote und Ab-

schiebungen wieder in Ordnung zu brin-gen, hat unbestreitbar einen verführeri-schen Reiz.Bauman: Nationalismus und die Beschwö-rung ethnischer Einheit sind ein Ersatz fürfehlende lntegrationsfaktoren in einer des-integrierenden Gesellschaft. Der National-staat wird seine Macht nicht wiedergewin-nen. Längst sind die großen Städte derWelt die Laboratorien der neuen Misch-gesellschaften geworden. In ihnen werdendie Spannungen zwischen Mixophilie undMixophobie im Pluralismus der Kulturenausgetragen. Abschottung ist eine trügeri-sche Versuchung. Die Tore sind aufgebro-chen, sie lassen sich nicht mehr schließen.Die Legitimation des Nationalstaats ruhteauf drei Pfeilern: militärische Sicherheitnach außen, Wohlfahrt im lnnern, Ge-meinsamkeit von Sprache und Kultur. Die-ses Stativ ist weggebrochen.SPIEGEL: Was ist zu tun, damit die Men-schen nicht in einer wiederauferstandenenWelt des Krieges aller gegen alle landen,gegen die Thomas Hobbes am Anfang derNeuzeit den Nationalstaat als Garantenfür Freiheit und Sicherheit empfahl?Bauman: Umberto Eco, einer der letztengroßen Universalgelehrten, insistierte aufdem fundamentalen Unterschied zwischen__Migration und lmmigration. In der politi-schen Praxis werden beide ständig ver-wechselt. Einwanderung kann eine Re-gierung per Gesetz planen und steuern.Wanderung dagegen ist wie ein unkontrol-lierbares Naturphänomen. Sie findet ein-fach statt, sie geschieht, sie entzieht sichder Autorität irgendeines Nationalstaats,wie ein Erdbeben oder ein Tsunami. In denGroßstädten der Welt sammeln sich in derDiaspora lebende Gruppen, ohne dass ir-gendjemand diesen Prozess geplant hätte.In London leben 7o verschiedene sprachli-che, ethnische, religiöse, ideologische Ge-meinschaften. Sie assimilieren sich nichtoder nur oberflächlich, anders als die Ein-wanderer des ig. Jahrhunderts. Die Türkenin Deutschland wollen loyale Bürger inDeutschland sein, aber sie wollen auch Tür-ken bleiben. Warum? Sie sind alle Produk-te von Migration, nicht von lmmigration.Doch wir fahren fort, so zu tun, als wäreMigration gleich lmmigration - planbar, reigulierbar, kontrollierbar durch die Regie-rungen in Berlin, Paris oder London.SPIEGEL: Müssen diese dabei scheitern, dasglobale Problem mit ihren nationalenund lokalen Mitteln beherrschen zu wol-1en? Ist lntegration, das Ziel, das alle wiemit einem Zauberstab herbeizitieren, eineSchimäre?Bauman: Die Nachzügler der Modeme, dieman verschämt und verlogen Entwick-lungsländer nennt, stehen vor den Türendes Westens und werden sich Eintritt ver-schaffen. Diese Feststellung führt zu einerzweiten Einsicht, die der verstorbene deut-

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Bauman beim SPIEGELGespräch*: „Flüchtlinge werden wie Abfall behandelt"

sche Soziologe Ulrich Beck, ein großerKollege, formuliert hat: Wir leben längst,ob es uns gefällt oder nicht, in einer kos-mopolitischen Situation mit undichtenGrenzen und universeller wechselseitigerAbhängigkeit. Aber was uns fehlt, ist daskosmopolitische Bewusstsein.SpiEGEL: Die kognitive Durchmessung dessozialen Raums hängt hinter der realenEntwicklung zurück und verleitet die Poli-tik zu Fehlentscheidungen?Bauman: Wir müssen anfangen, dieses kos-mopolitische Bewusstsein, die Erkenntnisder globalen lnterdependenz zu entwi-ckeln und zu fördern. Das ist ein schwie-riger Prozess, denn er setzt eine Umkeh-rung der Denkrichtung voraus. Die Fragedarf nicht mehr lauten: Was ist gut fürmich und mein Land, sagen wir Ungam,sondern Viktor Orbän müsste fragen: Wassollte Ungarn tun, um die EuropäischeUnion, zu der es gehört, zu einem besserenund stärkeren Teil der Welt zu machen?SPIEGEL: Davon hat sich Großbritannienmit dem Brexit verabschiedet. Der Allein-gang scheint noch immer verlockend.Bauman: Die Ansetzung des Referendumsdurch David Cameron war eine kapitalepolitische Dummheit. Der berühmte undberüchtigte Staatsrechtler Carl Schmitt de-finierte Souveränität als das Recht, denFeind zu benennen. Identität ist der Zwil-lingsbruder der Feindschaft: Wir sind, werwir sind, weil wir einen gemeinsamenFeind haben. So funktionierten die Men-schen von den Urhorden der Jäger undSammler bis zu den Nationalstaaten desig. und der ersten Hälfte des 2o. Jahrhun-derts. In der Geschichte der Menschheitgehörten lntegration und Segregationimmer zusammen: wir und die. Integrieredich, oder du wirst ausgestoßen. Das istvorbei, „die" sind unter uns, wo ist der

' Mit dem Redakteur Romain Leick in Baumans Haus inLeeds.

Feind? Wir müssen die Kunst der lntegra-tion ganz neu erlemen, unter Verzicht aufdas Entweder-oder, wenn wir unserer Lagegerecht werden wollen.SPIEGEL: Diejenigen, die keinen Zugangbekommen, werden in Elendslagern ge-parkt. Immer mehr europäische Politikerplädieren dafür, sie dort auf Dauer zu ver-wahren.Bauman: Diese Flüchtlinge werden wiemenschlicher Abfall behandelt. Sie habendas Recht verloren, sich selbst zu bestim-men und zu behaupten. Sie stehen außer-halb des Gesetzes, bar jeder lndividualität.Ihre Aussicht auf Recycling in Au£nahme-gesellschaften ist verschwindend gering.Sie sind Menschen ohne ldentität undohne Eigenschaften, für uns sind sie Un-vorstellbare und Undenkbare.SPIEGEL: Ohne Platz im kosmopolitischenBewusstsein. Verstärkt sich gerade im Zeit-alter der Universalität das Bedürfnis nacheinem Rückzug in die Gemeinschaft desGleichartigen?Bauman: Haben Sie schon mal den BegriffRetrotopia" gehört?

SP[EGEL: Nein, aber ich ahne, was Sie damitmeinen.Bauman: Nun, ich verrate lhnen mein neuesProjekt: ,,Retrotopia" wird der Titel meinesnächsten Buches sein. Vor 5oo Jahrenschrieb Thomas Morus sein Werk „Utopia",den Entwurf eines Nirgendwolandes, einesNochnichtlandes, eines besseren Platzes,der noch nicht Wirklichkeit geworden ist.Retrotopia ist ebenfalls ein Ort, den esnicht gibt, aber nicht, weil er noch nichtexistiert, sondem bereits existiert hat.SPIEGEL: Im Gegensatz zur Utopie symbo-lisiert er die Sehnsucht nach einer Vergan-genheit, die verklärt wird, aber nicht wie-dergefunden werden kann.Bauman: Wir träumen von einer verläss-lichen Welt, einer Welt, der wir trauenkönnen, einer sicheren Welt der Kon£or-mität. In den auf Thomas Morus folgenden

Jahrhunderten war die moderne Welt eineoptimistische, auf dem Weg nach Utopia.Als ich ein junger Mann war, was schonsehr, sehr lange zurückliegt, war ich einunbeinb arer Fortschrittsgläubiger. Ich warüberzeugt, dass eine Gesellschaft ohneUtopie unerträglich sei. ,,Der Fortschritt" ,schrieb Oscar Wilde, „ist die Verwirk-lichung von Utopien." Die Utopie ist dieHoffnung auf ein besseres Leben in derZukunft. Die Menschheit hält Ausschaunach einem besseren Land und setzt ihreSegel.SPIEGEL: Und heute ist sie versucht zurück-zusegeln?Bauman: Wir erleben derzeit die wahr-scheinlich wichtigste Kehrtwende imvorherrschenden Denken. Die jungenMenschen in Europa und wohl auch inDeutschland erwarten von der Zukunftkeine Gewinne, sondern Verluste. Sie sinddie erste Generation nach dem ZweitenWeltkrieg, die befürchtet, dass sie denLebensstandard und die Lebensqualitätihrer Eltern nicht erreichen oder haltenkann. Anscheinend ist Frankreich diepessimistischste Nation in Europa. Einegroße Mehrheit sorgt sich, dass die Zu-kunft schlechter sein werde als die Ver-gangenheit. Unglaublich! Utopien erblick-ten gleichzeitig mit der Moderne das Lichtder Welt und konnten sich nur im Klimader Moderne entfalten. Ihr Ende signali-siert auch das Ende der Modeme.SPIEGEL: Die großen Utopien des 2o. Jahr-hunderts sind gescheitert, sie waren blutigeKarikaturen eines Wunschtraums. Aberdie Leitidee des Fortschritts bleibt dochungebrochen, nicht nur auf dem Gebietder Wissenschaft und der Technik, sondemselbst auf dem der Moral?Bauman: In meiner ldee von Retrotopiahat der Engel der Geschichte sich um isoGrad gedreht. Die Werte, die sich mit denb eiden entgegengesetzten Richtungen vonVergangenheit und Zukunft verbinden,haben die Plätze auf der Zeitachse ge-wechselt. Die Enttäuschung wartet inder Zukunft. Statt einer sorgenfreien Zeiterleben wir eine Katastrophe nach deranderen: Terrorismus, Finanzkrise, Wirt-schaftsstagnation, Arb eitslosigkeit , Preka-rität. Die ldee des Fortschritts verheißtheute weniger die Hoffnung auf eine Ver-besserung der persönlichen Lage als dieAngst davor, zurückgelassen und abge-hängt zu werden. Also wenden wir unsder Vergangenheit zu und bewegen unsdennoch blind voran.SPIEGEL: War der Fortschritt nicht immerblind?Bauman: In Franz Kafkas Parabel „DerAufbruch" fragt der Diener: „Wohin reitetder Herr?`` Der antwortet: ,,Ich weiß esnicht, nur weg von hier, nur weg von hier.Immerfort weg von hier ... das ist meinZiel." So beschreibt Kafka die Fatalität in

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Ku]tur

zwei Sätzen. Das ist die Lage, in der wiruns befinden.SPIEGEL: Könnte es sein, dass die Fatalitätder Geschichte die Menschheit in einenglobalen Bürgerkrieg statt zu lmmanuelKants Vereinigung einer Weltbürgergesell-schaft führt?Bauman: Eine sehr gute Frage, aber ichkann nur eine Straßenkarte zeichnen, ichvermag nicht zu sagen, welchen Weg wireinschlagen.SPIEGEL: Wie sieht lhre Karte aus?Bauman: Trotz aller Konflikte, Kriege undFflassenkämpfe im Frühkapitalismus hattenunsere Vorfahren einen Vorteil: Die Mor-phologie des menschlichen Zusammen-lebens erzwang Solidarität. Henry Fordwusste, dass er seine Arbeiter anständigentlohnen musste, um seinen eigenen Er-folg zu gewährleisten. Diese Versicherungauf Gegenseitigkeit hat der Neoliberalis-mus in seiner Form der offenen Gesell-schaft einseitig gekündigt. Gesellschaft-liche Solidarität wurde zugunsten indivi-dueller Selbstverantwortung verdrängt. Esist Sache des Einzelnen geworden, fürsein persönliches Überleben in einer zer-splitterten und unberechenbaren Welt zusorgen, obwohl seine Ressourcen dafürvöllig unzulänglich sind. Das allgemeine

Gefühl der Prekarität, das mit dem Prozessökonomischer Deregulierung einherging,löst zwischenmenschliche Bande auf undschürt das Misstrauen aller gegen alle. DerFortschritt steht fiir die Bedrohung durchunablässige Veränderung. Jeder ist fir denanderen ein potenzieller Gegner und Kon-kunent. Das ist sehr beunruhigend.SPIEGEL: Lauert in der Unsicherheit derLeistungsgesellschaft die Gewalt?Bauman: Aue Bedrohungen werden vereintin der Gestalt des illegalen Einwanderers.Er ist der ideale Phantomgegner. Statt ste-reotypisiert muss er personalisiert werden,um die Feindseligkeit gegen ihn zu ent-schärfen. Er hat Anspruch darauf, als ln-dividuum, nicht als Vertreter einer Kate-gorie, Rasse oder Religion betrachtet zuwerden. Und der einzige Weg dahin führtüber das Verständnis, das heißt über denDialog.SPIEGEL: Toleranz allein reicht nicht?Bauman: Toleranz ist oft nur Ausdruck vonGleichgültigkeit. Tu, was du willst, solangees mich nicht berührt. Wenn du kopfüberauf den Händen gehen willst, bitte, maches, wem es dir gefällt. Im Gegensatz dazusteht die Solidarität, die Erkundung vonMotiven und Absichten des Nächsten, dieEriorschung des Fremden: Warum gehst

du auf den Händen? Reden wir darüber!Es ist bemerkenswert, dass gerade PapstFranziskus nachdrücklich zu einer Kulturdes Dialogs aufruft. Nur sie befähigt uns,den anderen als berechtigten Partnerwahrzunehmen und zu respektieren.SPIECEL: Sie waren selbst im Exil, verlorenlhre polnische Heimat.Bauman: Ein Pole in einem fremden Zug.SPIEGEL: Fühlten Sie sich jemals in lhrerldentität b edroht?Bauman: Ich kam nach Leeds an die Uni-versität, als ich 45 Jahre alt war. Alles waranders: die Sprache, die Kultur, die Ge-schichte. Sicher war es eine traumatischePeriode. Ich brauchte zehn Jahre, um einreibungsloses Verständnis, eine echte Ge-genseitigkeit mit meinen Kollegen in derbritischen akademischen Welt herzusteuen.Aber ich habe meine Probleme nicht alsldentitätsstörungen wahrgenommen. DieSuche nach ldentität ist Teil von Retroto-pia: Da ich das Glück in der Zukunft nichtfinde, trete ich den Rückzug in die Ver-gangenheit an. Der Historiker Eric Hobs-bawm sagte, die Menschen fangen an, überldentität zu reden, wenn sie aufhören,über Gemeinsamkeit zu reden.SPIEGEL: Hen Professor Bauman, wir dan-ken lhnen für dieses Gespräch.

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