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Natur im Mittelalter Konzeptionen - Erfahrungen - Wirkungen Akten des 9. Symposiums des Mediävistenverbandes, Marburg, 14.-17. März 2001 Herausgegeben von Peter Dilg Akademie Verlag O~( A'6~1

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Natur im MittelalterKonzeptionen - Erfahrungen - Wirkungen

Akten des 9. Symposiums des Mediävistenverbandes,Marburg, 14.-17. März 2001

Herausgegebenvon

Peter Dilg

Akademie VerlagO~( A'6~1

CONSTANZE RENDTEL

Krankheit und Heilung im Spiegelder mittelalterlichen Wunderkonzeption

Eine Geschichte des Wunderglaubens im Mittelalter wurde bislang nicht geschrieben.Wohl zu Recht hat man die Komplexität des Begriffs miraculum für diese Forschungs-lücke verantwortlich gemacht.' Das 'Wunder' ist ein religionsgeschichtlicher Begriffund wird verstanden als direktes Eingreifen der Transzendenz in die Lebensrealität desMenschen.' Während die heute in der katholischen Kirche geltende Definition vomWunder als Durchbrechung der Naturgesetze ausgeht, war das Wunderverständnis derAntike, insbesondere in der alttestamentlich-jüdischen und frühchristlichen Tradition,viel weiter gefaßt und bedeutend unschärfer. Das Wunder wurde verstanden als Zeichengöttlicher Kraft, die allgegenwärtig ist und sich jederzeit manifestieren kann.

Schon Augustinus distanzierte sich von der kritiklosen Wundergläubigkeit seinerZeitgenossen und betonte, daß viele der angefiihrten Phänomene durchaus nicht mira-kulös seien, sondern nur unsere Kenntnis natürlicher Abläufe überstiegen: [...] quaequidem contra naturam plerumque appellantur, non quod naturae adversentur, sedquod naturae modum, qui nobis est usitatus, excedant? Die ganze Schöpfung sei vollerWunder, was jedoch von den Menschen in ihrer Abgestumpftheit kaum wahrgenommenwerde: [...] miracula eius quibus totum mundum regit universamque creaturam admini-strat, assiduitate viluerunt, ita ut pene nemo dignetur adtendere opera Dei mira etstupenda in quolibet seminis grano; secundum ipsam suam misericordiam servavit sibiquaedam, quae faceret opportuno tempore praeter usitatem cursum ordinemque natu-rae, ut non maiora, sed insolita videndo stuperent, quibus quotidiana viluerant:" Frei-lich ist auch für Augustinus Gott als Schöpfer beständig in seiner Schöpfung tätig und

I VgI. Fritz Wagner: Miracula, Mirakel. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 6 (1993). Sp. 656-659.2 Vgl, die religionswissenschaftlichen Erörterungen von Johann Figl u. a.: Wunder. In: Lexikon für

Theologie und Kirche. Bd. 10 (2001). Sp. 1311-1319.3 Aurelius Augustinus: Contra Faustum libri triginta tres. Lib. 29, cap. 2. Hrsg. von Joseph Zycha.

Prag, Wien, Leipzig 1891 (Corpus Scriptorum Ecc1esiasticorumLatinorum 25, VI, I). S. 745.4 Aurelius Augustinus: In Iohannis evangelium tractatus CXXIV. Tract. 24, cap. I. Hrsg. von Radbod

Willems. Turnhout 1954 (Corpus Christianorum, Series Latina 36, VIII). S. 244.

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greift sogar zuweilen, wenn auch selten, direkt in das Leben der Menschen ein. Sosammelte er selbst Berichte von zeitgenössischen Wunderheilungen in seiner näherenund weiteren Umgebung und publizierte sie in seinem Werk 'De civitate Dei'.' DieseWunder Gottes sollten aufrütteln und die Menschen zum christlichen Glauben hinfuh-ren. Umgekehrt versuchten nach Augustinus' Auffassung Dämonen und die mit ihnenim Bunde stehenden Zauberer die Menschen mit allerlei Mirakeln zu täuschen unddamit unter ihren Einfluß zu bringen,"

Die mittelalterliche Welt übernahm diese Vorstellungen ungeprüft. Erst im 12./13.Jahrhundert begannen die Theologen im Rahmen der Aristoteles-Rezeption, sich mitdem patristischen Erbe auseinanderzusetzen, und rangen um eine schlüssige Wunderde-finition. So erörterte Thomas von Aquin in seiner 'Summa theologica' das WesenGottes und fragte, ob Gott sich über die Naturordnung hinwegsetzen könne: UtrumDeus possit facere aliquid praeter ordinem rebus inditum ?7. Für ihn, der Gott in Anleh-nung an die aristotelische Naturphilosophie als das erste Bewegende (primum movens)bzw. als die erste Entstehungsursache (causa efficiens prima) der Schöpfung versteht", .haben die erschaffenen natürlichen Dinge eine Ordnung, die für sich selbst besteht undin die Gott nicht eingreift: Si ergo ordo rerum consideretur prout dependet a primacausa, sie contra rerum ordinem Deus facere non potest? Nach weiteren Überlegungenkommt Thomas aber zu dem Schluß, daß Gott als Schöpfer dieser Ordnung nicht an dieZweitursachen gebunden sei, d. h. den Lauf der existierenden Welt; er hätte nämlichebensogut eine andere Ordnung einrichten können. Gemäß dem hierarchischen Prinzipstehe es Gott offen, nach seinem Belieben an der von ihm gesetzten Ordnung der Weltvorbei zu handeln und Wunder zu tun: Si vero consideretur rerum ordo prout dependeta qualibet secundarum causarum, sic Deus potest facere praeter ordinem rerum; quiaordini secundarum causarum ipse non est subiectus: sed talis ordo ei subiicitur, quasiab eo procedens, non per necessitatem naturae, sed per arbitrium voluntatis. Potuissetenim et alium ordinem rerum instituere. Unde et potest praeter hunc ordinem institutumagere, cum voluerit." Mit dieser Argumentation harmonisierte Thomas die christlich-jüdische Vorstellung vom allmächtigen Schöpfergott mit der aristotelischen Naturphilo-sophie. Das Wunder stellt nach dieser Auffassung die Naturgesetze nicht generell inFrage, sondern setzt sie nur für einen kurzen Moment außer Kraft.

5 Aurelius Augustinus: De civitate Dei Iibri XI-XXII. Lib. 22, cap. 8. Hrsg. von Bemard Dombartu, Alphons Kalb. Tumhout 1955 (Corpus Christianorum, Series Latina 48, XIV, 2). S. 815-827.

6 Aurelius Augustinus: De trinitate Iibri XV. Lib. 3, cap. 7/8 u. lib. 4, cap. 11. Hrsg. von W. J.Mountain u. Fr. Glorie. Tumhout 1968 (Corpus Christianorum, Series Latina 50, XVI, I).S. 138-143 u. 179.

7 Thomas von Aquin: Summa theologica. Lib. 1, q. 105, art. 6. Hrsg. vom Katholischen Akademi-kerverband. Bd. 8. Salzburg, Leipzig 1934. S. 62.

8 Thomas von Aquin [Anm. 7], lib. 1, q. 2, art. 3. Bd. 1, S. 45f.9 Thomas von Aquin [Anm. 7], lib. 1, q. 105, art. 6. Bd. 8, S. 64.to Thomas von Aquin [Anm. 7],lib. I, q. lOS, art. 6. Bd. 8, S. 64.

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Durch die Schaffung eines juristisch verbindlichen Verfahrens für Heiligsprechungenin der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts erfuhr der Wunderbegriff auch an der päpstli-chen Kurie eine Präzisierung." Der in Bologna dozierende Kanonist Johannes Andreae(gest. 1348Y2gab gegen Ende des 13. Jahrhunderts in seinem Kommentar zum päpstli-chen Kanonisationsrecht" eine Definition dessen, was als Wunder in einem solchenVerfahren anerkannt werden sollte. Die von ihm formulierten Bestimmungen bliebennicht bloße Theorie, sondern wurden in spätmittelalterlichen Kanonisationsprozessenwie dem der hI. Birgitta von Schweden nachweislich benützt:

I) Da auch böse Mächte (Teufel, Zauberer und Häretiker") scheinbar Wunderwirkten, mußte deren Eingreifen ausgeschlossen sein.

2) Das fragliche Geschehen mußte sich gegen den erwartbaren Lauf der Natur er-eignet haben, so wie der Stab des Propheten Moses zur Schlange wurde (Ex.3,1-3) oder der Esel des Bileam (Num. 22, 28-35) plötzlich zu sprechen begann.

3) Das Wunder mußte von Gott einzig wegen der Verdienste des Kanonisations-kandidaten gewährt worden sein und nicht etwa kraft priesterlicher Worte, wie z.B. bei der Wandlung der Hostie in der Messe.

4) Schließlich mußte das Wunder erkennbar sein als ein Akt, durch den Gott denGlauben der Menschen stärken wollte."

11 Vgl. hierzu Stephan Kuttner: La reserve papale du droit de canonization. In: Revue historique dedroit francais et etranger 17 (1938). S. 172-228; Andre Vauchez: La Saintete en occident auxdemiers siecles du Moyen Age d'apres les proces de canonisation et les documents hagiographi-ques. Rom 1981.

12 Vgl. Hartmut Zapp: Johannes Andreae. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 5 (1991). Sp. 555.13 Johannes Andreae: In tertium decretalium librum novella contentaria. Tit. 45, cap. l. Venedig

1581. [Neudruck Turin 1963]. S. 230f. Vor ihm hatten bereits andere Kanonisten die päpstlichenRechtsbestimmungen zur Heiligsprechung kommentiert; vgl. hierzu Francesco Antonelli: De in-quisitione medico-Iegali supra miraculis in causis beatificationis et canonisationis. Rom 1962(Studia Antoniana 18). S. 8f.

14 Katharer und Waldenser glaubten nicht an von katholischen Heiligen gewirkte Wunder, die siefür Werke des Teufels hielten. Gleichwohl waren sie überzeugt, daß ihre eigenen Märtyrer undPerfecti Wunder wirken konnten; vgl. Mariano D'Alatri: Culto dei santi ed eretici in Italia nei se-coli XII e XIII. In: Collectanea Franciscana 45 (1975). S. 85-104, hier S. 89f.

15 Vgl. Acta et processus canonizacionis beate Birgitte. Hrsg. von Isak Collijn. Uppsala 1924-1931(Samlingar utgivna av svenska fomskrift-sällskapet, ser, 2. Latinska skrifter I). S. 605: Et quantumad hoc, quod sit miraculum, .iiij.or requiruntur: Primum quod ex Deo, non ex arte contingat neeex dyabolo, nam miracula fiunt quandoque per malos .i., quest.. i., Teneamus et cap. Prophetavit,necesse est enim martires a Deo impetrasse, que mandant .1. distinccione [Si quis] prepostera.Secundum est, quod sit contra naturam sicut de virga Moysi mutata in colubrum et de asina 10-quente ad Balam, De hereticis, Cum ex iniuncto. Tercio quod non ex vi verborum sed hominismerito id contingat, nam panis et vinum potestate et virtute verborum transsubstanciantur incorpus et sanguinem Christi, supra, De celebracione missarum, Cum Marthe .§. Quesivisti.Quarto quod sit ad corroboracionem fide} herba cum ministerio hominis transit in vitrum, sedhoc nil ad corroboracionem fide}, et ideo ad canonizacionem, nisi hec .iiij.or concurrant, mi-

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Johannes Andreae wies zudem darauf hin, daß man ein Wunder nur indirekt beweisenkönne, und zwar durch Ausschluß aller natürlichen Ursachen: Sed in tali casu nullacausa naturalis potest assignari nee potest sensu percipi. Et ideo directe non potestprobari sed probatur indirecte, nam cognito quod hoc non fit secundum naturam,cognoscitur, quod fit ultra, preter, et supra naturam.16 Offensichtlich war man imSpätmittelalter bestrebt, dem Wunder mit scholastisch geschärftem Verstand näherzu-kommen und dieses soweit wie möglich überprüfbar zu machen. Dies zeigt sich auchdaran, daß die Kurie eine minutiöse und juristisch saubere Anhörung der Zeugen ver-langte." Auch grenzte das Papsttum die Mirakel immer mehr auf Wunderheilungen undTotenerweckungen ein, weil sich diese für einen Vergleich 'vorher - nachher' beson-ders eigneten. Wetterwunder, Rettung aus Gefangenschaft, das Wiederauffinden vonverlorenen Gegenständen und glimpflich ausgegangene Unfälle wurden zwar vereinzeltnoch in den Prozeßdossiers aufgeführt, fanden aber keine offizielle Anerkennung."

Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf eine inzwischen abgeschlossene Un-tersuchung von rund 500 Mirakelepisoden." Die Texte stammen aus sieben Kanonisati-onsprozessen und umfassen die Zeit vom 13. bis zum 16. Jahrhundert. Die mittelalterli-che Kirche unterschied zwischen den zu Lebzeiten eines Heiligen gewirkten Wundern(miracula in vita) und denjenigen, die sich nach dessen Tod ereignet hatten (miraculapost mortemi." Das untersuchte Textmaterial gehört zur zweiten Kategorie und bein-haltet fast ausschließlich Krankenheilungen und sogenannte Totenerweckungen." ImRahmen einer angestrengten Heiligsprechung wurden diese Mirakelberichte, die zu-nächst am Grab des Heiligkeitskandidaten summarisch aufgezeichnet worden waren,zur Grundlage einer eingehenden Zeugenanhörung durch eine von Rom einberufenegeistliche Kommission. Da' zu jedem Mirakel nicht nur der Geheilte, sondern noch

racula non prodessent secundum summistas, quj hoc notant supra, eodem titulo. 2. cap., et mo-dernj supra, De testibus, Venerabili.

16 Johannes Andreae, zit. nach: Acta et processus canonizacionis beate Birgitte [Anm. 15], S. 606.17 Vg!. Vauchez [Anm. 11], S. 39-67.18 Vgl. Vauchez [Anm. 11], S. 544-547.19 Die Ergebnisse dieses in Zusammenarbeit mit Maria Wittmer-Butsch durchgeführten Projekts

werden im Sommer 2003 als Monographie publiziert.20 Zu den miracula post mortem vgl. Martin Heinzelmann: Une source de base de la litterature

hagiographique latine: le recueil de miracles. In: Hagiographie, cultures et societes (IVe-XIIesiecles). Actes du Colloque organise ä Nanterre et ä Paris (2-5 mai 1979). Paris 1981 (Centre derecherches sur l'Antiquite et le haut Moyen Age, Universite de Paris 10). S. 235-257. - EinenÜberblick über die gattungsspezifischen Probleme der Mirakelberichte bietet Alain Dierkens:Reflexions sur le miracle au haut Moyen Age. In: Miracles, prodiges et merveilles au Moyen Age.XXVe Congres de la S.H.M.E.S. (Orleans, juin 1994). Paris 1995 (Serie Histoire ancienne etmediävale 34). S. 10-30.

21 Vgl, hierzu die auf breitem Quellenmaterial basierende sozio-medizinische Analyse hochmittel-alterIicher Heilungswunder von Pierre-Andre Sigal: L'Hornme et le miracle dans la Francemedievale (XIe-XIIe siecle), Paris 1985.

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weitere Personen als Zeugen vernommen wurden, entstanden zuweilen interessanteParallelaussagen. Gemäß den Bestimmungen der römischen Zentrale sollten die Schil-derungen der Zeugen wortgetreu aufgezeichnet werden: [...] verba testium prout serioseac diffuse prolata fuerint, fideliter redigantur in scriptis." Tatsächlich erweisen sich dieüberlieferten Texte als durchaus individuelle sprachliche Fixierungen des zur Diskussi-on stehenden Geschehens.

Obwohl es bei den Aussagen der Zeugen um die Schilderung von Vorgängen ging,die als mirakulös, also übernatürlich angesehen wurden, ist in dieser Quellengruppe nieexplizit von Natur die Rede. Es scheint, daß wir uns hier in einem weitgehend theorie-freien Bereich befinden. Dasselbe gilt auch für moralische Kategorien, denn nur äußerstselten deuten die Betroffenen in Mirakelberichten Krankheit als Sündenstrafe. DerBeginn des Leidens wird in etwa zeitlich festgemacht und die Ursache, soweit sie über-haupt zur Sprache kommt, in äußeren Einwirkungen, wie z. B. in einer Verkühlungoder einem Sturz, gesucht. Erstaunlich oft (18 Prozent der Fälle) berichten die Betroffe-nen von der Konsultation eines oder mehrerer Ärzte (auch Chirurgen und Bader), vondenen es im 13. und 14. Jahrhundert in den Städten Italiens und Frankreichs bereitsviele gab. Sie wurden gemäß unseren Quellen im Krankheitsfall stets als erste Instanzkonsultiert." Daß die Mediziner fast immer eine ungünstige Prognose gestellt hatten,geht wohl auf die Textgattung als solche zurück, die damit die nachfolgende Heilungals besonders eindrücklich herausstreicht. In diesem Sinne wird mitunter auch aufOperationen hingewiesen (Amputationen und die Entfernung von Blasensteinen):Eingriffe, die jedoch vom Patienten und seinen Angehörigen als zu gefährlich abgelehntworden waren.

Zweifellos verfügten auch medizinische Laien damals über ein Erfahrungswissenhinsichtlich des Verlaufs häufiger Krankheiten, so bescheiden es auch sein mochte.Nachweislich suchten sie die Wallfahrtsorte nicht für offensichtliche Bagatellbeschwer-den wie Schnupfen oder Zahnschmerzen auf; erst bei schwereren Erkrankungen oderchronischen Leiden sowie bei massiven Behinderungen wie Blindheit oder Lähmungerbat man sich die Hilfe der Heiligen. Trotz der relativ häufigen Erwähnung von medi-zinischem Fachpersonal referierten die Betroffenen nur ausnahmsweise ärztliche Dia-gnosen. Genannt werden beispielsweise Diphtherie (squilantia), Malaria (quartana,seltener tertiana), Skrofeln und Epilepsie (morbus caducus). Die Viersäftelehre, die dasDenken der mittelalterlichen Ärzte prägte, fand kaum Niederschlag in den Mirakelbe-

22 So lautet der Passus in der forma interrogatorii, die seit Anfang des 13. Jahrhunderts für dieKommissäre verbindlich war. Vgl. Vauchez [Anm. 11], S. 59, Anm. 70.

23 Im Heiligsprechungsprozeß des Thomas von Aquin werden in der Zeugenbefragung von 1321 inFossanova acht Ärzte namentlich genannt. Von diesen praktizierten sechs in Piperno, einer Klein-stadt in der Nähe des Klosters Fossanova. Von den 50 Geheilten, die in diesem Dossier erwähntwerden, hatten 13 Personen zuvor einen Mediziner konsultiert (26 Prozent). Vgl. Johannes RiusSerra: Processus canonizationis beati Thomae peractus Fossanovae. In: Analeeta sacri ordinisFratrum Praedicatorum 44:4 (1936). S. 576-631.

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richten. Die Schilderung des Gebrechens ging in der Regel nicht über eine lose Be-schreibung von Einzelsymptomen hinaus. Auch über volksmedizinische Maßnahmen,etwa die Anwendung von Kräutern oder anderer Substanzen, erfahren wir nichts. Eben-sowenig kommen magische Rituale und Beschwörungen zur Sprache, obwohl in denZeugenanhörungen ausdrücklich danach gefragt wurde. Bei Erwähnung solcher 'Be-gleitumstände' wäre eine derartige Heilung freilich als Wunder abgelehnt worden." Dasläßt daran zweifeln, daß dieser Negativbefund der Texte der Realität entspricht. Einzigder Gedanke der Schonung im Sinne von Bettruhe kommt immer wieder zum Aus-druck, was sich freilich bei Bewegungsbehinderungen und Lähmungen ungünstigauswirken mußte.

Die Schlichtheit der Schilderungen, das Fehlen gelehrter medizinischer Theorien undtheologischer Argumentationen sind ein zunächst unerwarteter Befund. Doch darf diesnicht darüber hinwegtäuschen, daß auch diesen Texten implizite Konzepte und Wahr-nehmungsmuster zugrunde liegen. So hatte die Vorstellung vom Wunder als EingriffGottes in den erwartbaren, natürlichen Krankheitsverlauf Konsequenzen für das sub-jektive Erleben des Betroffenen. Denn das Wort 'Eingriff ruft semantisch die Vorstel-lung von Überraschung bzw. von Schnelligkeit des Vorgangs auf. Tatsächlich tritt beider großen Mehrheit der von uns untersuchten Mirakel die Heilung geradezu schlagar-tig ein; dazu das folgende Beispiel aus dem Dossier König Ludwigs des Heiligen (gest.1270) vom Anfang des 14. Jahrhunderts: Es handelt von der 42jährigen WäscherinNicolaa de Riberci aus Paris, die über Nacht eine vollständige Lähmung ihres Körperserlitten hatte. Ihre Beine waren derart ineinander verkrampft, daß man sie kaum zutrennen vermochte. Die Frau hatte nur noch in Zeige- und Mittelfinger der rechten HandEmpfmdungen, sie konnte weder sprechen noch essen und bewegte den Mund wie einHase (in modum leporis). Nach einigen Tagen besserte sich ihr Zustand ein wenig, undsie vermochte breiartige Speisen zu schlucken. Auch brachte sie langsam wieder einigeWorte hervor. Alle diese Symptome weisen deutlich auf einen Schlaganfall oder eineandere Hirnläsion hin. Acht Wochen später wurde die immer noch völlig auf fremdeHilfe angewiesene Kranke nach Saint-Denis an das Grab des hl, Ludwig gebracht.Während der Messe, bei Lesung des Evangeliums, wurde sie plötzlich von heftigenSchmerzen ergriffen. Sie hatte das Gefühl, ihre Knochen würden gegeneinander ver-schoben, und sie vernahm ein Krachen, das so laut gewesen war, als breche das Kir-chenschiff ein. Mit einem Mal stand Nicolaa auf ihren Füßen, ohne zu wissen wie. Im

24 Im Kanonisationsprozeß des Thomas de Cantilupe, zu dem 1307 in London und Hereford eineZeugenanhörung stattfand, wurden die geistlichen Kommissäre angewiesen, wie folgt zu fragen:Item quinto, si in operatione dietorum miraeulorum fuerunt appositae herbae vel lapides, vel ali-quae aliae res naturales et medicinales, et si ineantationes vel superstitiones, vel fraudes aliquaeintervenerunt in operatione dietorum miraeulorum. Miracula s. Thomae de Cantilupe episeopi exprozessu canonizationis. Acta Sanctorum Octobris I (1765). S. 590.

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selben Moment rückte auch ihr nach rechts verdrehter Kopf in die richtige Positionzurück. 2S Aus eigener Kraft kehrte sie bald darauf nach Paris zurück.

Bekanntlich können kleinere Hirnläsionen dank der Plastizität dieses Organs weitge-hend überwunden werden, so daß der Patient mit etwas Glück seine alten Fähigkeitenwiedererlangt. Vermutlich läßt sich der Fall der Nicolaa de Riberci auf diese Weiseerklären, denn es wird ausdrücklich beschrieben, wie sie in einer ersten Phase der Re-konvaleszenz wieder zu sprechen begann. Nicolaa und ihre Begleiter übersahen jedochzwangsläufig, was hirnphysiologisch nach den acht Wochen seit der ersten Besserungbereits wieder möglich war; physiotherapeutische Maßnahmen zur Aktivierung desBewegungsapparats waren damals nämlich unbekannt. Der Gottesdienst in der Grabkir-che des Heiligen stellte den Höhepunkt von Nicolaas Wallfahrt dar, alle seelischenKräfte bündelten sich in diesem Moment. Der Glaube, hier Heilung zu finden, könntedie Frau veranlaßt haben, ihre Beine auszustrecken und aufzustehen. Dies war nachWochen der Immobilität sehr schmerzhaft, aber offenbar wieder möglich.

In rund einem Fünftel der untersuchten Fallgeschichten wird die Wunderheilung da-gegen als ein langwieriger Prozeß geschildert, der sich über Wochen, ja Monate er-streckte. Ein Beispiel aus den Mirakeln der hi. Elisabeth von Marburg (gest. 1231)möge dies veranschaulichen: Es handelt von einem 12jährigen Jungen aus Gelnhausen,der bucklig verunstaltet und über fünf Jahre bettlägerig war. Seine Unterschenkelschienen wie mit dem Gesäß verwachsen, die Knie klebten buchstäblich am Bauch, einAuge war übermäßig aufgesperrt, das andere nach unten verzogen. An den Beinen hatteer 34 eitrige Fisteln." Vermutlich litt er an Knochentuberkulose." Die Mutter des Jun-

25 De miraculis sancti Ludovici cap. IS, nr. 295-301, ex Vita 11,pars 2, auctore anonymo reginaeMargaritae confessario. Acta Sanctorum Augusti V (1741). S. 616-672, hier S. 650: [...] ubi evi-gilavit, ita se perditam reperit in omnibus corporis sui partibus, ut in iis nihil sentiret, nisi in duo-bus dumtaxat digitis manus dexterae [...]. Die sequenti dicta Nicolaa caput tenebat versus partemdexteram, collumque ita retortum, ut mentum esset supra humerum dexterum, neque illud adaliam partem passet convertere [...].Ad haec pedes, crura,femora erant sicut duo ligna uni trun-eo imposita [...] movebat labia in modum leporis [...]. Deinde Sacro in memorata ecclesia, ubiinchoatum fuit Evangelium, eadem hora sensit dicta Nicolaa disrumpi ossa sua, sibique invicemcollidi, et tunc primum sensit dolorem in came, omnibusque membris suis, qui duravit in ea us-que ad finem Evangelii. Finito Evangelio, videbantur dictae Nicolaae ossa sua mutuo colliditanto cum strepitu, acsi fornix ecclesiae rumperetur. Ubi illud audivit, ut ei videbatur, loco infraarcam per se egressa est, nesciens quo modo, stetitque recta pedibus suis, caputque in locum, ubiesse debebat, derepente erat repositum. [...]. Tunc reversa est cum dictis feminis, quae eam fue-rant comi/atae, per se, recto super pedes corpore, sine baculo, sine alio humano subsidio, atqueincedebat valide, expedite, celeriter, sana, valida, ac laeta [...].

26 Miracula sancte Elyzabet. Lib. I, nr. 82. Hrsg. von Albert Huyskens: Quellenstudien zur Ge-schichte der h!. Elisabeth Landgräfin von Thüringen. Marburg 1908. S. 222: [...] dorso quasifracto, gipposus et collo mlrabiliter contra gippum retorto [...] Pedes habuit distortos, intantum,quod verse erant pedice versus plantam. Manus similiter contraetas habuit.

27 Vg!. die Diagnose in der medizinhistorischen Studie von Barbara R. Wendel-Widmen DieWunderheilungen am Grabe der Heiligen Elisabeth von Thüringen. Zürich 1987 (Zürcher medi-

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gen unternahm mehrere Wallfahrten zur hl. Elisabeth nach Marburg. Als sie im August1232 von der ersten Reise zurückkehrte, fand sie den Sohn in gebessertem Zustand vor:Er konnte die Beine wieder ausstrecken und begann auf einen Stock gestützt im Hauseumherzugehen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er laut Zeugenaussagen jedoch immer nocheinen Buckel. Im Anschluß an eine zweite Wallfahrt der Mutter Mitte November des-selben Jahres konnte der Sohn dann ohne Stock laufen. Als der Junge drei Monatespäter (Anfang 1233) vor der Heiligsprechungskommission zur Begutachtung erschien,waren alle Fisteln geschlossen und begannen zu vernarben, der Buckel hatte sich bereitsvollständig zurückgebildet. 28

Nach heutigem medizinischen Kenntnisstand macht diese Beschreibung durchausSinn, und zwar als natürlicher Heilungsprozeß nach Umstimmung des Immunsystems.Selbst schwere chronische Infektionskrankheiten können nämlich spontan wieder ab-klingen, wenn dies auch sehr selten geschieht. Neben anderen Einflüssen wirken sichbekanntlich psychische Faktoren auf die Leistungsfähigkeit des Immunsystems aus. DasGebet am Wallfahrtsort intensivierte die Hoffnung auf Heilung und könnte in vielenFällen eine derartige psychische Umstimmung eingeleitet haben, die schließlich zurGesundung fiihrte. In unserem Beispiel hatte die zweifache Wallfahrt der Mutter denJungen offenbar so beeindruckt und mit neuer Zuversicht erfiillt, daß seine Immunkräfteaktiviert wurden. Es mag erstaunen, daß sogar sein Buckel schließlich verschwand.Doch muß diese Rückenverformung nicht unbedingt auf eine Knochendeformationzurückgehen, sie läßt sich ebensogut als großer Abszeß deuten. Ein Abszeß jedochkann sich durchaus innerhalb von drei Monaten zurückbilden oder sich nach außenentleeren. - Wie bereits erwähnt, stellt nach mittelalterlichem Verständnis ein langerHeilungsprozeß den Wundercharakter der Genesung in Frage. Wohl aus diesem Grundebetonten die Betroffenen häufig, daß sich ihre Gesundung zwar insgesamt über einelängere Zeitspanne erstreckte, jedoch schlagartig nach der Anrufung des Heiligen ein-gesetzt habe. Dieser enge zeitliche Zusammenhang zwischen der Bitte um himmlischeHilfe und dem Einsetzen des Genesungsprozesses rettete in den Augen der damaligenMenschen manches Wunder.

Werfen wir zum Abschluß noch einen Blick auf die römische Kurie, wo die Maßstä-be etwas strenger waren. Vor jeder Heiligsprechung kam es zu einer Aussprache derKardinäle über strittige Mirakel. Die Überlieferung ist hier leider nur sclunal, doch wirdin etwa erkennbar, wie man den abstrakten Wunderbegriffkonkretisierte. Die Schlagar-tigkeit der berichteten Heilungen bildete für das Papsttum ein besonders wichtiges

zingeschichtliche Abhandlungen 194). S. 49: Chronische Osteomyelitis oder eitrige Sehnenschei-denentzündung evtl. tuberkulöser Genese.

28 Miracula sancte Elyzabet [Anm. 26]. Lib. I, nr. 82. S. 222: [...] Fistulae quae eruperant omnibusdictis partibus, nos auditores signa vidimus, ubi etiam crura natibus et genua ventri adheserantet ubi pes distortus fuit et inversus in modum cicatricis, signa evidentissime apparent usque mod~puero tamen sano [...].

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Kriterium. Ein anonymer Begleittext" zum Heiligsprechungsprozeß des Thomas deCantilupe (gest. 1282) vom Anfang des 14. Jahrhunderts diskutiert mehrere Heilungen,die in dieser Hinsicht problematisch waren: Ein funfjähriges Mädchen, das man einesAbends ohne Lebenszeichen aus dem Wasser gezogen hatte, kam nach Anrufung desHeiligen durch die Eltern am Morgen des folgenden Tages wieder zu sich. Kurz bevorsie aus dem Koma erwachte, hatte die Kleine leicht einen Fuß bewegt und dann amganzen Körper zu zittern begonnen." Der Verfasser des Textes, vermutlich ein Kurien-kardinal angelsächsischer Herkunft, stellte sich die Frage, weshalb Gott das Kind nichtsogleich, sondern erst nach vielen Stunden wiedererweckt und wie man das Zittern zuverstehen habe; schließlich sei die Schwiegermutter des Petrus von Jesus so rasch vomFieber geheilt worden, daß sie umgehend ihre Gäste bewirten konnte (Matth. 8, 14-15;Mark. 1, 29-31; Luk. 4, 38-39). Seine weitere Argumentation, die vermutlich derVerteidigung dieses Wunders bei der Aussprache der Kardinäle dienen sollte, orien-tierte sich ausschließlich an biblischen und hagiographischen Wundererzählungen.Nachdem der Kurialist zunächst die Totenerweckungen des Elias und Elisa (1. Kge 17,17-24; 2. Kge 4, 32-35) diskutiert hatte, fand er in einem Wunder des hl. Benedikt ausden 'Dialogi' Gregors des Großen die überzeugendste Parallele zum Fall des ertrunke-nen Mädchens. Dort wird beschrieben, wie ein totes Kind auf Benedikts Interventionam ganzen Körper zu zittern begann, bevor es wiederauflebte." Der Kurialist räumteein, daß Wunderheilungen zwar immer schlagartig seien, doch werde der göttlicheGnadenakt mitunter von besonderen Zeichen icertis indiciis precedentibus) angekün-digt, wie eben dem Zittern; deshalb schien ihm der Fall als Wunder haltbar zu sein.

Vor diesem gedanklichen Hintergrund waren Heilungen, die sich nicht nur rasch,sondern geradezu in Form einer schmerzhaften Attacke vollzogen hatten, auch fur dieKurie besonders glaubwürdig. Als untrügliche Merkmale eines Wunders galten daslaute Knacken von bis dahin funktionsgestörten Gelenken, das Schreien der plötzlichvon heftigen Schmerzen überwältigten Kranken, das Zu-Boden-Stürzen oder auchplötzliches Bluten aus Nase, Augen und Ohren. In derart dramatischen Szenen ließ sichder Eingriff Gottes gleichsam von außen beobachten und stärkte damit den Glauben.Als Papst Bonifaz VIII. den Kardinal Pietro Colonna zur Beurteilung eines Mirakelsaus dem Dossier des hl. Ludwig aufforderte, argumentierte der Kardinal in diesemSinne und äußerte sich folgendermaßen: Er schenke dem Bericht über die gelähmteAmelot de Chaumont deshalb Glauben, weil man bei deren Heilung ein lautes Knacken

29 Zu diesem Text, der kurz vor der Kanonisation des Thomas de Cantilupe im April 1320 niederge-schrieben wurde, vgl. Vauchez [Anm. 11], S. 569f.

30 Vgl. Vauchez [Anm. 11], S. 635-637. Das hier angesprochene Mirakel samt den dazugehörigenZeugenaussagen findet sich im Dossier des Thomas de Cantilupe Acta Sanctorum Octobris I(1765) S. 610-696, hier S. 610-612. nr. 1-13.

31 Gregor der Große: Dialogi. Lib. 2, cap. 32. Hrsg. von Adalbert de Vogüe u. Paul Antin. Paris1979 (Sources chretiennes 260, 11).S. 226-230.

Krankheit und Heilung im Spiegel der mittelalterlichen Wunderkonzeption 417

der Knochen vernommen habe (sonus et fragor ossium32). - Ein weiterer Gesichtspunkt

für die Anerkennung eines Wunders durch die Kurie war die Vollständigkeit der Gene-sung. Dahinter stand die Vorstellung, Gott erweise sich stets als omnipotent, halbeSachen trügen nicht seine Handschrift. Auch dieses Problem diskutierte der angelsäch-sische Geistliche anband eines Fallbeispiels: Alisia litt an einem offenen Knochenbruchim Fußgelenk, der nicht heilen wollte. Am Grab des Thomas de Cantilupe in Herefordhatte sie einen Traum, in dem der Heilige sie liebevoll am Fuß berührte. Nach demErwachen spürte Alisia eine deutliche Erleichterung. Den Aussagen der Zeugen ist zuentnehmen, daß die Frau nun zwar besser gehen konnte als vorher, ihre Behinderungjedoch nicht völlig behoben war. Auch hatte sich die Wunde am Fuß während der Zeit,die sie am Kultort verbrachte, nicht geschlossen. Alisia war offenbar nicht bereit, längerauf ihre vollständige Wiederherstellung zu warten, und ging nach Hause. Der Kurialistin Rom stellte bedauernd fest, daß man ihren Fall deshalb nicht als Wunder anerkennenkönne: Que postmodum apparente sibi in visu beato Thoma in parte est eurata. Pro-batur per testes sed quia eurata non invenitur in pede plene nee vulnera in lot clausanee voluit morari usque ad plenam curationem, illi non est insistendum. Potius enimvidetur quedam aleniatio quam curatio:"

Gemäß dem damaligen Wunderverständnis hätte eigentlich in jedem Fall der Nach-weis erbracht werden müssen, daß die Krankheit unheilbar gewesen, die Heilung alsopraeter naturam geschehen sei. In den Texten wird diese Problematik jedoch nichterörtert. Erstaunlicherweise kamen bei der abschließenden Beurteilung des Heilungs-verlaufs an der päpstlichen Kurie Mediziner als Fachleute nicht zu Wort - im Gegensatzzum modernen Heiligsprechungsverfahren." Als behandelnde Ärzte später geheilterPersonen sagten sie zwar mitunter vor der Kanonisationskommission aus und bezeugtendie Schwere der Krankheit. Die Entscheidung, ob eine Heilung praeter naturam war,blieb hingegen völlig der Lebenserfahrung der medizinisch nicht geschulten Kardinälein Rom überlassen. Die Diskussion der strittigen Fälle an der Kurie wurde jeweils durchAbstimmung unter den anwesenden Kardinälen zum Abschluß gebracht. Angesichts derMenge der für jeden Heiligkeitskandidaten eingereichten Mirakelberichte blieben im-mer etliche Fälle übrig, die den Kriterien Schlagartigkeit, Vollkommenheit und Uner-wartbarkeit zu genügen schienen und deshalb als Beweis für den göttlichen Eingriffgelten durften. Aufgrund dieser anerkannten Wunder erfolgte schließlich die Kanonisa-tion durch den Papst, wobei das Oberhaupt der Kirche die Heiligsprechung allerdingsaus Gründen der politischen Inopportunität verweigern und damit für längere Zeitblockieren konnte.

32 Louis Carolus-Barre:Consultationdu PietroColonnasur le ne miraclede Saint-Louis.In: Bi-bliothequede I'Ecole des Chartes 117 (1959). S. 57-72, hier S. 72. Im Dossierdes hI. Ludwigcap. 1, nr. 174-179 [Anm.25], S. 617-619.

33 Vauchez[Anm.11], Anhang1, S. 645.34 Vgl. hierzu FabijanVeraja:Heiligsprechung.Kommentarzur Gesetzgebungund Anleitungfür

die Praxis.Innsbruck1998.

418 Constanze Rendtel

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Natur des menschlichen Körpers in denMirakelberichten als ein Kontinuum verstanden wurde, das nur prozeßhafte, aber keinesprunghaften Veränderungen kennt. Alles, was diesem quasi vegetativen Prinzip zuwidersprechen schien, wurde als Wunder aufgefaßt. Langsame Genesungsvorgängegalten auch im Volk nur dann als Mirakel, wenn sich ein enger zeitlicher Zusammen-hang zwischen Gebet bzw. Anwesenheit am Wallfahrtsort und einer zumindest subjek-tiven Verbesserung der Befindlichkeit des Kranken ergab.