Neandertaler – Kulturträger oder Wilder Mann? Ein kurzer ... senschaftlichen Analyse. Soziales...

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[…] Einen Sprößling der Nachtstille, mit Kraft beschenkt von Ninurta Mit Haaren bepelzt am ganzen Leibe; Mit Haupthaar versehen wie ein Weib: Das wallende Haupthaar, ihm wächst's wie der Nisaba! Auch kennt er nicht Land noch Leute: Bekleidet ist er wie Sumukan! […] Der Stärkste im Land ist er, Kraft hat er, Gleich der Feste des Anu gewaltig ist seine Stärke – Er streift im Steppenland beständig umher, Beständig frisst mit dem Wild er das Gras, Beständig weilt sein Fuß gegenüber der Tränke; Wird hier etwa ein Neandertaler beschrieben? Der Text stammt aus dem ältesten literarischen Werk der Menschheitsgeschichte, dem Gilgamesch-Epos. Gemeint ist Enkidu, der wilde Jäger aus der Steppe, der zum Gefährten des Gilgamesch wird und aus der Wildnis in die Zivilisation wechselt. Mehr als dreitau- send Jahre vor der Entdeckung des Neandertalers im Jahre 1856 wurde bereits seine Beschreibung als Wil- der Mann – das populäre Bild, das in den vergangenen 150 Jahren Wissenschaft und Öffentlichkeit immer wieder vom ihm gezeichnet haben – erstmals schrift- lich niedergelegt. Das Thema des Wilden Mannes zieht sich seit Gilgamesch durch die gesamte abendländische Geschichte bis in die Romantik hinein und erreicht eine außerordentliche Vielfalt und Popularität in den literarischen Quellen des Mittelalters (Bernheimer 1952, Wilckens 1994). Wilde Männer sind in feudalen Wappen des Königreichs Preußen (Abb. 1) oder des Herzogtums Braunschweig ebenso vertreten wie in Gemeindewappen oder auf Münzen der frühen Neu- zeit (Abb. 2). Selbst Goethe (1832) gibt in Faust, der Tragödie zweiter Teil, eine Beschreibung der Wilden Männer: Riesen Die wilden Männer sind s’ genannt, Am Harzgebirge wohlbekannt; Natürlich nackt in aller Kraft, Sie kommen sämtlich riesenhaft. Der Fichtenstamm in rechter Hand Und um den Leib ein wulstig Band, den derbsten Schurz von Zweig und Blatt, Leibwacht, wie der Papst nicht hat. Wildheit wird in den mittelalterlichen Quellen als Ver- lust des Menschseins verstanden. Typische Merkmale dieses degenerierten Zustandes sind fehlende Sprach- fähigkeit, starke Körperbehaarung oder das Tragen eines Fellkleides, Ausstattung mit einer Keule oder einem Baumstamm, weitgehende Nacktheit und Höh- len als Lebensorte. Neben Wilden Männern sind Wilde Frauen gleichermaßen vertreten. Erklärt wird ihr un- menschlicher Zustand durch die Ferne zu Gott. Sie haben sich von Gott abgewendet und sind nun, ab- geschnitten vom göttlichen Wissen, in ein Stadium der Animalität zurückgefallen. Vor diesem ideengeschichtlichen Hintergrund wird klar, dass die Wurzeln unseres Bildes vom Neandertaler bedeutend älter sind als die anthropologische und archäologische Forschung. Die im 19. und 20. Jahrhun- dert entstandene Vorstellung vom Wesen des Nean- dertalers ist nicht das Ergebnis einer objektiven, wis- Abb. 1 Wappen des Königreichs Preußen mit zwei Wilden Männern als Wappenträger. Neandertaler – Kulturträger oder Wilder Mann 183 1 Neandertaler – Kulturträger oder Wilder Mann? Ein kurzer Rückblick auf 150 Jahre Rezeptionsgeschichte Bärbel Auffermann & Gerd-Christian Weniger Neanderthal Museum, Talstraße 300, D-40822 Mettmann Roots_S. 141-196 08.06.2006 8:16 Uhr Seite 183

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[…]Einen Sprößling der Nachtstille, mit Kraft beschenkt

von Ninurta Mit Haaren bepelzt am ganzen Leibe; Mit Haupthaar versehen wie ein Weib: Das wallende Haupthaar, ihm wächst's wie der Nisaba! Auch kennt er nicht Land noch Leute: Bekleidet ist er wie Sumukan!

[…]Der Stärkste im Land ist er, Kraft hat er, Gleich der Feste des Anu gewaltig ist seine Stärke – Er streift im Steppenland beständig umher, Beständig frisst mit dem Wild er das Gras, Beständig weilt sein Fuß gegenüber der Tränke;

Wird hier etwa ein Neandertaler beschrieben? Der Text stammt aus dem ältesten literarischen Werk der Menschheitsgeschichte, dem Gilgamesch-Epos.Gemeint ist Enkidu, der wilde Jäger aus der Steppe, der zum Gefährten des Gilgamesch wird und aus derWildnis in die Zivilisation wechselt. Mehr als dreitau-send Jahre vor der Entdeckung des Neandertalers imJahre 1856 wurde bereits seine Beschreibung als Wil-der Mann – das populäre Bild, das in den vergangenen150 Jahren Wissenschaft und Öffentlichkeit immerwieder vom ihm gezeichnet haben – erstmals schrift-lich niedergelegt. Das Thema des Wilden Mannes ziehtsich seit Gilgamesch durch die gesamte abendländischeGeschichte bis in die Romantik hinein und erreicht eine außerordentliche Vielfalt und Popularität in denliterarischen Quellen des Mittelalters (Bernheimer1952, Wilckens 1994). Wilde Männer sind in feudalenWappen des Königreichs Preußen (Abb. 1) oder des

Herzogtums Braunschweig ebenso vertreten wie inGemeindewappen oder auf Münzen der frühen Neu-zeit (Abb. 2). Selbst Goethe (1832) gibt in Faust, der Tragödie zweiter Teil, eine Beschreibung der WildenMänner:

RiesenDie wilden Männer sind s’ genannt, Am Harzgebirge wohlbekannt; Natürlich nackt in aller Kraft, Sie kommen sämtlich riesenhaft. Der Fichtenstamm in rechter Hand Und um den Leib ein wulstig Band, den derbsten Schurz von Zweig und Blatt, Leibwacht, wie der Papst nicht hat.

Wildheit wird in den mittelalterlichen Quellen als Ver-lust des Menschseins verstanden. Typische Merkmaledieses degenerierten Zustandes sind fehlende Sprach-fähigkeit, starke Körperbehaarung oder das Trageneines Fellkleides, Ausstattung mit einer Keule odereinem Baumstamm, weitgehende Nacktheit und Höh-len als Lebensorte. Neben Wilden Männern sind WildeFrauen gleichermaßen vertreten. Erklärt wird ihr un-menschlicher Zustand durch die Ferne zu Gott. Siehaben sich von Gott abgewendet und sind nun, ab-geschnitten vom göttlichen Wissen, in ein Stadium derAnimalität zurückgefallen.

Vor diesem ideengeschichtlichen Hintergrund wirdklar, dass die Wurzeln unseres Bildes vom Neandertalerbedeutend älter sind als die anthropologische undarchäologische Forschung. Die im 19. und 20. Jahrhun-dert entstandene Vorstellung vom Wesen des Nean-dertalers ist nicht das Ergebnis einer objektiven, wis-

Abb. 1Wappen des Königreichs Preußenmit zwei Wilden Männern alsWappenträger.

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Neandertaler – Kulturträger oder Wilder Mann?Ein kurzer Rückblick auf 150 Jahre Rezeptionsgeschichte

Bärbel Auffermann & Gerd-Christian Weniger

Neanderthal Museum, Talstraße 300, D-40822 Mettmann

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senschaftlichen Analyse. Soziales Gedächtnis, gesell-schaftliche Ideologie und tiefenpsychologische Fak-toren waren weit mächtiger als empirische Analysender noch jungen Wissenschaft über die Ursprünge desMenschen. Mit der Entdeckung des ersten fossilenMenschen wurde ihm reflexartig das tief im abend-ländischen Bewusstsein verwurzelte Bild des WildenMannes übergestülpt. Zu groß war der Schock, den Darwins Evolutionstheorie drei Jahre nach dem Fund imNeandertal ausgelöst hatte. Als ihr Kronzeuge wurdeder Neandertaler nun regelmäßig aufgerufen und leg-te Zeugnis ab von einer Theorie, die den Menschen von Gott entfernte. Es war daher nur folgerichtig, dassdem Neandertaler dasselbe Schicksal wie den WildenMännern des Mittelalters zu Teil wurde: abgeschnittenvom göttlichen Wissen sank er in ein Stadium der Animalität zurück.

Erschwerend kam hinzu, dass parallel zu diesemwissenschaftlichen Großereignis mit globalen Folgendie ethnographischen Kenntnisse über außereuropäi-sche Kulturen und ihre ideologische Bewertung in dieRezeptionsgeschichte des Neandertalers einflossen. Dieaußereuropäischen, zeitgenössischen Jäger und Samm-lervölker galten seit ihrer Entdeckung durch Europäerals Wilde auf einer niedrigen Stufe der menschlichenEntwicklung. Die australischen Aborigines wurden da-her nicht nur mit Neandertalern verglichen, wie dieszum Beispiel Schaaffhausen oder später Boule taten,sondern wurden von einigen Wissenschaftlern sogar alsderen direkte Nachfahren angesehen. Sie seien vor lan-ger Zeit durch den modernen Menschen aus Eurasienvertrieben worden und hätten in Australien ein letztesRückzugsgebiet gefunden. Die allgemeine Diffamierungfremder Kulturen war Teil des europäischen Werteka-nons im 19. Jahrhundert, Rechtfertigung der Kolonial-politik und zugleich Grundlage der Bewertung des Ne-

andertalers. Dieser soziokulturelle Hintergrund leitetedie ersten anthropologischen und archäologischenGehversuche einer neuen Wissenschaft, deren Metho-dik noch nicht definiert war und deren Präzision undAuflösungsvermögen bis zum heutigen Tag hinter derKomplexität der Fragestellungen immer wieder zurückbleibt (Weniger 2006).

Die ersten Versuche der Rekonstruktion von Nean-dertalern folgten daher dem Zeitgeist des ausgehenden19. Jahrhunderts. Die wahrscheinlich älteste Darstel-lung (Weltersbach 2004) entstammt einer Ausgabe derZeitschrift Harper’s Weekly aus dem Jahre 1873 (Abb.3). Sie zeigt die typischen Attribute des Wilden Man-nes, der sich in kampfbereiter Pose präsentiert. Archä-ologische Details wie das Steinbeil und der Hund alsHaustier sind falsch. Die verschiedenen chronologi-schen Phasen der Steinzeit mit ihren unterschiedlichenkulturellen Merkmalen konnten zu diesem Zeitpunktnoch nicht getrennt werden. Drei Jahre später wagteSchaaffhausen eine Gesichtsrekonstruktion des Nean-dertalers (Abb. 4). Es ist der erste bekannte Versuch ei-ner wissenschaftlichen Rekonstruktion (Weltersbach2004). Als Erstbearbeiter des Fundes aus der FeldhoferGrotte war Schaaffhausen mit dem Fossil bestens ver-traut. Er stellte seine Rekonstruktion, die mit Hilfe desMalers Philippart entstand, auf dem Congrès Interna-tional d’Anthropologie et d’Archéologie Préhistoriquesin Budapest der Fachöffentlichkeit vor. Dieser Nean-dertaler macht einen ausgesprochen freundlichen, wachen und eher zarten Eindruck. Die Überaugenpartieist schwach ausgeprägt. Die Nase ist ausgesprochenklein. Der Kiefer weist eine deutliche Schnauzenformauf, für die Schaaffhausen wie für den übrigen Ge-sichtsschädel aber keine fossilen Belege hatte. Das Hervorstehen der Kieferpartie verleiht dem Gesicht beialler Freundlichkeit einen äffischen Charakter. Als

Abb. 2Münze mit der Darstellung eines Wilden Mannes: 24 Marien-groschen von 1699.

Abb. 3Die wahrscheinlich ältesteDarstellung eines Neandertalers in der Zeitschrift Harper’s Weeklyaus dem Jahre 1873.

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Schaaffhausen schließlich eine zusammenfassendeMonographie über den Fund aus dem Neandertal vor-legte (Schaaffhausen 1888), lieferte er eine überarbei-tete Rekonstruktion des Neandertalers mit (Abb. 4). Derfreundliche Gesichtsausdruck ist weiterhin erkennbar.Die Überaugenwülste sind nun aber deutlicher aus-geprägt ebenso wie die Schnauzenbildung. Die Nasehat an Volumen gewonnen und insgesamt wirkt derKopf massiger und derber.

Den bei weitem größten Einfluss auf das Bild desNeandertalers hatten aber die Untersuchungen vonBoule (1911) an dem im Vergleich zum Typusexemplaraus dem Neandertal weit vollständigeren Skelett von LaChapelle-aux-Saints. Entdeckt 1908, wurde der Fund inder Folge von Boule umfassend untersucht und mono-graphisch vorgelegt. Für Boule war der Neandertaler eine primitive, nicht vollständig aufrecht gehende, aus-gestorbene Menschenform, die nicht in den Stammbaudes modernen Menschen gehörte. Ausgelöst durchBoules umfangreiche Untersuchungen wurden auf derGrundlage seiner Forschungsergebnisse zahlreiche wis-senschaftliche Rekonstruktionen erstellt. Unter der An-leitung Boules entstand bereits im Jahre 1909, noch vorden Untersuchungen, eine erste Rekonstruktion desFundes von La Chapelle durch François Kupka (Abb. 5).Boule hatte zwar seine wissenschaftliche Arbeit nochlängst nicht abgeschlossen, hatte aber bereits ein fer-tiges Bild des Neandertalers vor seinem inneren Auge(Weltersbach 2004, 64). Die Darstellung wird als rea-listische, individuelle Rekonstruktion des Fundes denLesern der Illustrated London News präsentiert. DerNeandertaler erscheint hier als mordlüsternder Raub-affe vor einer Höhle, ausgestattet mit all den bekann-ten Merkmalen des Wilden Mannes.

Ganz anders wirkt die Rekonstruktion des Mannesvon La Chapelle, die nur zwei Jahre später in derselben

Zeitschrift veröffentlicht wurde (Abb. 6). Diese Rekon-struktion hatte der britische Anthropologe Arthur Keithwissenschaftlich begleitet und von dem Künstler Amé-dée Forestier anfertigen lassen (Weltersbach 2004).Keith interpretierte den Neandertaler im Gegensatz zu Boule als Vorfahren des anatomisch modernen Menschen. Folgerichtig wird hier ein Neandertaler präsentiert, der sich vom modernen Menschen kaumunterscheidet und als vollständig humanes Wesen er-scheint – ein kräftiger, steinzeitlicher Kulturträger, derin seinem Arbeits- und Lebensumfeld am Feuer sitzenddargestellt wird. Von den typischen Accessoires desWilden Mannes sind nur die weitgehende Nacktheitund die Höhle als Lebensort übrig geblieben. Wie Wel-tersbach (2004) zeigen kann, war die Darstellung Keithseine direkte Antwort auf die animalische Darstellungnach Boule. Allerdings billigte Keith dem Neandertalerwenn überhaupt nur eine geringe Sprachfähigkeit zu,die ihn gegenüber modernen Menschen als unterlegenausweist. In der bildlichen Darstellung kommt diesewichtige Einschätzung aber nicht zum Ausdruck.

Boule ließ mit der monographischen Vorlage desFundes von La Chapelle im Jahre 1913 eine Büste desNeandertalers anfertigen, die Grundlagen der Ge-sichtsanatomie dokumentiert und dadurch dem Be-trachter einen besonders wissenschaftlichen Anspruchvermittelt (Abb. 7). In ihrem brutalen Ausdruck greift sie aber das bereits 1909 definierte Bild des Neander-talers erneut auf. In den Jahren 1915 und 1919 fertigtJames Howard McGregor Kopfrekonstruktionen desFundes von La Chapelle an, unter der Anleitung vonHenry Fairfield Osborne (Abb. 8). Grundlage der Rekon-struktion sind Abgüsse des Schädels. Fehlende Partienergänzt McGregor durch Abgüsse oder Fotos andererNeandertalerfunde. Er dokumentiert die verschiedenenArbeitsschritte bei der zweiten Arbeit sogar fotogra-

Abb. 4Älteste Rekonstruktion des Typus-exemplars durch Schaaffhausen(links) von 1876 sowie seine über-arbeitete Rekonstruktion (rechts)aus dem Jahr 1888.

Abb. 5Darstellung des Neandertalers von La Chapelle-aux-Saints durchFrançois Kupka in der IllustratedLondon News von 1909 nachAngaben von Marcellin Boule.

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fisch, um die Grundlagen seiner Vorgehensweise trans-parent zu machen. McGregors Rekonstruktionen zeigeneinen intelligenten und entschlossen wirkenden Nean-dertaler, der sich deutlich von den RekonstruktionenBoules abhebt. Osborne, der wissenschaftliche MentorMcGregors, hielt den Neandertaler in vielerlei Hinsichtfür brutal und dem modernen Menschen unterlegen.Aber er sah ihn nicht als äffisches Wesen wie Boule,sondern als entwickeltes, intelligentes Wesen (Wel-tersbach 2004).

Weitere Rekonstruktionen verschiedener Wissen-schaftler folgen in den 1920er und 1930er Jahren (Eick-stedt 1925, Weinert 1929, Mollison 1931). Dabei zeigtsich wie schon bei den ersten Darstellungen, dass diejeweiligen wissenschaftlichen Interpretationen des Neandertalers sein Erscheinungsbild bestimmten, un-abhängig vom anatomischen Grundmodell des Skelett-materials. Die Mehrzahl der Darstellungen wurde zwei-fellos von den Ausführungen Boules geprägt, der mitseiner Interpretation und heute nachweisbaren Fehl-einschätzungen den Grundstein der Neandertaler-rezeption im 20. Jahrhundert gelegt hatte und den Mythos des Wilden Mannes ungefiltert auf den Nean-dertaler übertrug.

Neue Ansätze verfolgte in den 1940er Jahren Mi-khail Gerasimov, der aufgrund einer reichen Erfah-rung in der forensischen Anthropologie den Anspruchvertrat, individuelle Gesichtszüge auf der Basis desSkelettmaterials rekonstruieren zu können (Gerasimov1968). Unter seinen Arbeiten befindet sich auch eineRekonstruktion des Mannes von La Chapelle (Abb. 9),die Parallelen zu der Arbeit McGregors erkennen lässt.Das intelligente Erscheinungsbild dieser Neandertalerwird auch durch eine von Carlton Coon betreute Zeich-nung unterstützt, die einen Neandertaler im moder-nen Anzug mit Hut zeigt, um seine morphologische

Ähnlichkeit zum modernen Menschen zu demonstrie-ren (Abb. 10).

Neben diesen einzelnen Versuchen, ein humanesBild der Neandertaler zu rekonstruieren, ist die Mehr-zahl der Darstellungen zwischen 1940 und 1980 tief indem Bouleschen Paradigma verhaftet. Künstler wieCharles Robert Knight (1949), Zdenek Burian (Augusta& Burian 1961) oder Maurice Wilson, die über Jahr-zehnte hinweg für Museen und Buchproduktionen viele Darstellungen angefertigt haben, zeigen mitunterschiedlicher Gewichtung Neandertaler regel-mäßig als ferne, animalische Wesen. Die Vitalität desuralten, abendländischen Mythos war stärker als allezaghaften wissenschaftlichen Bemühungen, einenGegenentwurf durchzusetzen.

Die Neandertalerforschung berührt einen überaussensiblen Bereich unseres Denkens, denn sie reicht hin-ab an die Wurzel unseres Selbstverständnisses undfragt nach unserem Entwurf des Menschseins. Sie for-dert dazu heraus, die kulturelle und die biologischeNatur des Menschen immer wieder neu zu gewichten.Dieser Dualismus unseres Menschseins, die damit ver-bunden Ängste und Abgründe finden ihren populärstenNiederschlag in der Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Kein Thema wurde häufiger verfilmt als ge-rade diese Erzählung von Robert Louis Stevenson. Derinzwischen klassische Konflikt zwischen den innerenAntagonismen des Menschen beeinflusste auch die Re-zeptionsgeschichte des Neandertalers. Zu den vielenfeinen Verwicklungen dieser Rezeptionsgeschichte ge-hört auch, dass ausgerechnet in dem Jahr der Entde-ckung des Neandertalers ein anderer, einzigartiger Pro-vokateur unseres Selbstbewusstseins das Licht der Welterblickte: Sigmund Freud.

Der Neandertaler ist der am besten erforschte fos-sile Mensch und steht uns so nahe wie keine andere

Abb. 6Darstellung des Neandertalers von La Chapelle-aux-Saints durchAmédée Forestier in der Illustra-ted London News von 1911 nachAngaben von Arthur Keith.

Abb. 7Büste des Neandertalers von La Chapelle-aux-Saints, erstelltim Jahre 1913 nach Angaben von Marcellin Boule.

Abb. 8Büste des Neandertalers von La Chapelle-aux-Saints, erstelltdurch James Howard McGregornach Angaben von Henry FairfieldOsborne.

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Abb. 9Büste des Neandertalers von La Chapelle-aux-Saints, erstelltdurch Mikhail Gerasimov aus demJahr 1948.

Abb. 10Zeichnung eines „zivilisierten“ Neandertalers aus dem Jahr 1939nach Angaben von Carlton Coon.

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Menschform des Eiszeitalters. Trotzdem ist vielen diese Nähe nicht geheuer.

Erst seit den 1990er Jahren wird ein langsamerWandel in der Rezeption des Neandertalers erkennbar.Eine Flut neuer Untersuchungsergebnisse verkürzt diebiologische und kulturelle Distanz zwischen Neander-talern und anatomisch modernen Menschen so sehr,dass Neandertalern ihr Menschsein heute nicht mehrabgesprochen werden kann (Auffermann & Orschiedt2006).

Die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse inRekonstruktionen und Lebensbilder folgt aber letz-tendlich einer sehr persönlichen, individuellen Ein-schätzung des jeweiligen Wissenschaftlers. Wie starketwa Emotionen bei Gesichtsausdruck und Gestik in derRekonstruktion zugelassen werden, ist völlig unabhän-gig von den wissenschaftlichen Hintergrunddaten. Sosind lachende Neandertaler wie sie die Brüder Alfonsund Adrie Kennis entwickeln, bisher ohne Beispiel (Abb. 11, 12). Die entscheidenden Parameter für dieWahrnehmung eines rekonstruierten Neandertalersdurch den Betrachter liegen ohnehin nicht im anato-mischen Bereich. Morphologische Details, die Anthro-pologen bei ihrer Forschung mit größter Aufmerksam-keit bedenken, treten in der Wahrnehmung desmenschlichen Gegenübers zurück. Wirklich bedeutsamsind hierbei Gesichtsmimik und die Ausstattung mitkulturellen Accessoires. Frisur, Schmuck und Kleidungsind für uns im Alltag bei der Begegnung mit einem an-deren Menschen zunächst wichtiger als anatomischeDetails. Auf der Grundlage desselben wissenschaft-lichen Befundes und derselben Rekonstruktionstechnikkann das Ergebnis für den Betrachter durch Körperhal-tung, Mimik und die kulturellen Accessoires daher sehrunterschiedlich ausfallen. Rekonstruktionen im Nean-dertal Museum und im Naturhistorischen Museum

Wien, die von derselben Künstlerin auf der Basis des-selben anatomischen Befundes von La Ferrassie herge-stellt wurden, vermitteln aufgrund des sie umgebendenkulturellen Kontextes sehr unterschiedliche Vorstellun-gen vom Wesen und Verhalten der Neandertaler.

Die größte Herausforderung bei der wissenschaft-lichen Beurteilung des Neandertalers bleibt bis heutedie Auseinandersetzung mit den eigenen Vorurteilen.Der Wissenschaftler, der die Quellen des Eiszeitaltersinterpretiert, ist kein objektiver Beobachter. Er ist Teil-haber seiner eigenen Geschichte und damit zugleich derVersuchung ausgesetzt, sich selbst in den Daten wiedererkennen zu wollen.

The Neanderthal – Culture Bearer or Savage Man?A Brief Review on 150 Years of Perception History

From the Gilgamesh epic on, the motive of the SavageMan has run through the complete occidental history.It reached an extraordinary diversity and popularity inmedieval literature where savageness meant the loss ofhumanity. Typical features of Savage Men and Womenare the lack of the faculty of speech, extremely hairybodies being depicted either nakedly or in fur dresses,clubs or tree trunks in their hands and caves as theiralleged habitations. Medieval sources claim their dis-tance to and rejection of God to be the reasons of theirbarbarity. The roots of our image of the Neanderthal areeminently older than anthropological and archaeologi-cal research.

General defamation of foreign cultures was part ofthe European values in the 19th century. It served asjustification for colonial politics and as basic principle

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for appraising the Neanderthal. Recent hunter-gathe-rer civilisations were looked upon as savages on a lowstep of human evolution.

The first tries to reconstruct Neanderthals followedthe spirit of the age. Boule´s research on the skeletonof La-Chapelle-aux-Saints in 1911 had by far the grea-test influence on the image of the Neanderthals. ToBoule, they were a primitive kind of humans who didnot play a role in the genealogy of modern man. Hesupervised the reconstruction of the La Chapelle Nean-derthal in 1908, i. e. even before he had started his exa-minations. Other reconstructions of different scientistsfollowed in the 1920´s and 1930´s. It is obvious that theparticular scientific interpretation of the Neanderthaldetermined his appearance. Most depictions between1940 and 1980 were highly affected by Boule´s para-digm, except for single attempts to reconstruct a hu-man, intelligent and developed image of Neanderthals(e.g. by Gerasimov, Coon).

Only since the 1990´s, there is a noticeable changein the perception due to a lot of new research resultsshowing that the humanity of Neanderthals cannot bedenied anymore.

The transformation of scientific facts into recon-struction is based on a very personal and individualestimation made by any particular scientist, whoalways has to confront him-/herself with his/her ownprejudices.

Schriften

Auffermann, B. & J. Orschiedt (2006): Die Neander-thaler. — Stuttgart: Theiss.

Augusta, J. & Z. Burian (1961): Menschen der Vorzeit.–Zug: Bertelsmann.

Boule, M. (1911): L’Homme fossile de La Chapelle-aux-Saints. — Paris.

Bernheimer, R. (1952): Wild men in the Middle Ages. A study in art, sentiment and demonology. — Cam-bridge (Harvard Univ. Press).

Eickstedt, E. v. (1925): Eine Ergänzung der Weichteileauf Schädel- und Oberkörperskelett eines Nean-derthalers. — Zeitschr. Anat. Entw.-gesch., 77:363–380.

Gerasimov, M. M. (1968): Ich suchte Gesichter. Schädelerhalten ihr Antlitz zurück – Wissenschaft auf neuen Wegen. — Gütersloh (Bertelsmann).

Goethe, J. W. von (1832): Faust. Eine Tragödie vonGoethe. Zweyter Theil in fünf Akten (Vollendet im Sommer 1831). — Stuttgart und Tübingen: J. G.Cotta'sche Buchhandlung.

Knight, C. R. (1949): Prehistoric man. — New York.Mollison, T. (1931): Eine neue Rekonstruktion des Ho-

mo primigenius. — Anthropolo. Anz., VII: 285–288.Schaaffhausen, H. (1888): Der Neanderthaler Fund. —

Bonn (Marcus).Weinert, H. (1929): Skelettrekonstruktion eines Nean-

derthaler-Menschen. — Medizin. Welt, 22: 803–804.

Weltersbach, K. (2004): Homo neanderthalensis undUrmensch: Rekonstruktionen und Lebensbilder. —Diplomarbeit Universität Zürich.

Weniger, G.-C. (2006): Neanderthals and early Moderns – human contacts on the borderline of archaeological visibility. — S. 21–32 in: Conard, N. J. (Hrsg.): When Neanderthals and Modern Hu-mans met. — Tübingen (Kernverlag).

Wilckens, L. v. (1994): Das Mittelalter und die „WildenLeute“. — Münch. Jb. Bild. Kunst, 45: 65–82.

Abb. 11Rekonstruktionen der Funde vonTeshik Tash, Monte Circeo, Sacco-pastore, La Chapelle-aux-Saints(von links nach rechts) als lachendeNeandertaler durch Adrie und Alfons Kennis aus dem Jahr 2000.

Abb. 12Rekonstruktion des Neandertalersaus der Feldhofer Grotte, für dasNeanderthal Museum angefertigtvon Adrie und Alfons Kennis 2006.

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