Neies Lautre - Juli/August 2015

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NEIES LAUTRE ZEITUNG FÜR EINE SOLIDARISCHE UND BASISDEMOKRATISCHE GESELLSCHAFT ZUM INHALT In dieser fünften Ausgabe haben wir zwei Schwerpunktthemen: Die Entwicklungen in und um Griechenland sowie Streiks, die es nicht nur in Deutschland ver- mehrt gibt. Wie zu erwarten konnten wir auch diesmal viele dringliche Themen nicht berück- sichtigen. Deswegen möchten wir euch unter anderem auch die August-Ausgabe der Gai Dao ans Herz legen, die ihr hier online lesen könnt: fda-ifa.org/gai-dao/ Sie enthält zwei Artikel von uns, einer zur Kapitulation SYRIZAs, einer zu Anarchisten und Linken. Ralf Dreis ist in der anarcho- syndikalistischen FAU in Frankfurt und der anarchistischen Bewegung in Grie- chenland aktiv. In seinem Kommentar in der Tageszeitung neues Deutschland "Den Widerstand von unten organisie- ren" (vom 18.07.) erklärt er, warum man 'keine Hoffnung in die Eroberung des Staates setzen, sondern selbst die gesellschaftlichen Strukturen umbauen' sollte. [S. 1] In unserem Text "Solidarität mit den Menschen in Griechenland" erklären wir Hintergründe der Griechenland- Krise und unsere Antwort darauf. [S. 2] In seinem Interview "Kleine geile Streiks" mit der Direkten Aktion spricht Peter Nowak über zunehmen- de Streiks in Deutschland. [S. 5] Sebastian Friedrich analysiert in "Kleinbürgertum oder kleiner Mann", was der Führungsstreit und die darauffolgende Spaltung der AfD bedeuten. [S. 3] In "Um sich greifender Ungehorsam" ordnet Hakan Koçak Streiks in der Türkei (die neben den Wahlen, der Gefahr durch den IS und die Repres- sion des Staates leider oft unbeachtet bleiben) in den globalen Kontext der großen Streikwellen in der Automo- bilindustrie und in den Kontext be- trieblicher und gewerkschaftlicher Organisierungsfragen ein. [S. 7] D EN W IDERSTAND VON UNTEN OR- GANISIEREN Mit der Unterwerfung unter die maßgeblich durch die Bundesregierung diktierte Ausplünderungspo- litik der Troika, hat die griechische SYRIZA- Regierung den Hoffnungen der parlamentarischen Linken in Europa ein abruptes Ende bereitet. Hatte einst der Putsch gegen Salvador Allende 1973 die Diskussionen über einen friedlichen Übergang zum Sozialismus durch die faktische Macht der Panzer verstummen lassen, so beweist der gegen die griechische Bevölkerung geführte Wirtschaftskrieg nun, dass im von Deutschland dominierten Europa nicht einmal der friedliche Übergang zur Sozialdemokratie möglich ist. In Südamerika, ihrem damals von den USA selbst deklarierten Hinterhof, waren 35 Jahre blutiger Bürgerkrieg, und hunderttausende Tote, der im Namen des Kapitalismus folternden und morden- den Militärdiktaturen die Folge. Es bedarf keines Propheten um nach der Unterwerfung der SYRIZA-Regierung unter die neoliberale Doktrin der Alternativlosigkeit, einen erneuten Zulauf von Teilen der griechischen Jugend zu bewaffnet kämpfenden Stadtguerillaorganisationen vorher- zusagen. Die so genannte Einigung mit der Troika stellt alle von griechischen Vorgängerregierungen gegen weite Teile der Bevölkerung durchgesetzte Spar- diktate in den Schatten. Soweit bisher bekannt geht es um weitere Rentenkürzungen bei gleich- zeitiger Erhöhung der Krankenversicherungsbei- träge, um die Privatisierung der gesamten staatli- chen Infrastruktur, die weitere »Flexibilisierung« des Arbeitsmarktes, sprich die Zerschlagung von Arbeitnehmerrechten, (Ermöglichung von Mas- senentlassungen), die Erhöhung der Mehrwert- steuer, sowie um die automatische Kürzung des Staatsbudgets bei Nichteinhaltung der Auflagen. Staatsvermögen im Wert von 50 Milliarden Euro wird in einen durch die Gläubiger verwalteten Treuhandfonds überführt, die Sondersteuer auf Haus- und Grundbesitz ENFIA wird weiter er- höht, die von der Vorgängerregierung eingeführte Sonntagsarbeit ausgeweitet und jedes »haushalts- relevante« Gesetzesvorhaben muss erst durch die Troika genehmigt werden. Früher wurde so etwas als Kolonie bezeichnet. Juli/August 2015 Kaiserslautern Auflage: 50

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Zeitung für eine solidarische und basisdemokratische Gesellschaft.

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NEIES LAUTRE ZEITUNG FÜR EINE SOLIDARISCHE UND BASISDEMOKRATISCHE GESELLSCHAFT

ZUM INHALT In dieser fünften Ausgabe haben wir zwei Schwerpunktthemen: Die Entwicklungen in und um Griechenland sowie Streiks, die es nicht nur in Deutschland ver-mehrt gibt. Wie zu erwarten konnten wir auch diesmal viele dringliche Themen nicht berück-sichtigen. Deswegen möchten wir euch unter anderem auch die August-Ausgabe der Gai Dao ans Herz legen, die ihr hier online lesen könnt: fda-ifa.org/gai-dao/ Sie enthält zwei Artikel von uns, einer zur Kapitulation SYRIZAs, einer zu Anarchisten und Linken.

Ralf Dreis ist in der anarcho-syndikalistischen FAU in Frankfurt und der anarchistischen Bewegung in Grie-chenland aktiv. In seinem Kommentar in der Tageszeitung neues Deutschland "Den Widerstand von unten organisie-ren" (vom 18.07.) erklärt er, warum man 'keine Hoffnung in die Eroberung des Staates setzen, sondern selbst die gesellschaftlichen Strukturen umbauen' sollte. [S. 1]

In unserem Text "Solidarität mit den Menschen in Griechenland" erklären wir Hintergründe der Griechenland-Krise und unsere Antwort darauf. [S. 2]

In seinem Interview "Kleine geile Streiks" mit der Direkten Aktion spricht Peter Nowak über zunehmen-de Streiks in Deutschland. [S. 5]

Sebastian Friedrich analysiert in "Kleinbürgertum oder kleiner Mann", was der Führungsstreit und die darauffolgende Spaltung der AfD bedeuten. [S. 3]

In "Um sich greifender Ungehorsam" ordnet Hakan Koçak Streiks in der Türkei (die neben den Wahlen, der Gefahr durch den IS und die Repres-sion des Staates leider oft unbeachtet bleiben) in den globalen Kontext der großen Streikwellen in der Automo-bilindustrie und in den Kontext be-trieblicher und gewerkschaftlicher Organisierungsfragen ein. [S. 7]

DEN WIDERSTAND VON UNTEN OR-

GANISIEREN

Mit der Unterwerfung unter die maßgeblich durch

die Bundesregierung diktierte Ausplünderungspo-

litik der Troika, hat die griechische SYRIZA-

Regierung den Hoffnungen der parlamentarischen

Linken in Europa ein abruptes Ende bereitet.

Hatte einst der Putsch gegen Salvador Allende

1973 die Diskussionen über einen friedlichen

Übergang zum Sozialismus durch die faktische

Macht der Panzer verstummen lassen, so beweist

der gegen die griechische Bevölkerung geführte

Wirtschaftskrieg nun, dass im von Deutschland

dominierten Europa nicht einmal der friedliche

Übergang zur Sozialdemokratie möglich ist. In

Südamerika, ihrem damals von den USA selbst

deklarierten Hinterhof, waren 35 Jahre blutiger

Bürgerkrieg, und hunderttausende Tote, der im

Namen des Kapitalismus folternden und morden-

den Militärdiktaturen die Folge. Es bedarf keines

Propheten um nach der Unterwerfung der

SYRIZA-Regierung unter die neoliberale Doktrin

der Alternativlosigkeit, einen erneuten Zulauf von

Teilen der griechischen Jugend zu bewaffnet

kämpfenden Stadtguerillaorganisationen vorher-

zusagen.

Die so genannte Einigung mit der Troika stellt alle

von griechischen Vorgängerregierungen gegen

weite Teile der Bevölkerung durchgesetzte Spar-

diktate in den Schatten. Soweit bisher bekannt

geht es um weitere Rentenkürzungen bei gleich-

zeitiger Erhöhung der Krankenversicherungsbei-

träge, um die Privatisierung der gesamten staatli-

chen Infrastruktur, die weitere »Flexibilisierung«

des Arbeitsmarktes, sprich die Zerschlagung von

Arbeitnehmerrechten, (Ermöglichung von Mas-

senentlassungen), die Erhöhung der Mehrwert-

steuer, sowie um die automatische Kürzung des

Staatsbudgets bei Nichteinhaltung der Auflagen.

Staatsvermögen im Wert von 50 Milliarden Euro

wird in einen durch die Gläubiger verwalteten

Treuhandfonds überführt, die Sondersteuer auf

Haus- und Grundbesitz ENFIA wird weiter er-

höht, die von der Vorgängerregierung eingeführte

Sonntagsarbeit ausgeweitet und jedes »haushalts-

relevante« Gesetzesvorhaben muss erst durch die

Troika genehmigt werden. Früher wurde so etwas

als Kolonie bezeichnet.

Juli/August 2015

Kaiserslautern

Auflage: 50

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Solidarität mit den Menschen in Griechenland!

Woher kommen die griechischen Schulden? Alle Staaten der EU sind verschuldet, und die meisten höher, als nach EU-Richtlinien erlaubt. Der griechische Staat war zu Beginn der Wirtschaftskrise noch höher verschuldet als der Rest Europas: er war von korrupten Politikern zum Selbst-bedienungsladen umfunktioniert worden und reiche Oligar-chen hinterzogen Steuern, ohne von den bürgerlichen Re-gierungen dafür verfolgt zu werden. Diese und weitere Gründe führten dazu, dass Griechenlands Schulden höher waren als die der anderen EU-Staaten. Aber zu sagen, die Griechen hätten über ihre Verhältnisse gelebt, ist falsch: die einfachen Leute in Griechenland sind nicht schuld an den Vergehen der griechischen Eliten.

Es kann nicht jeder gewinnen Der Kapitalismus schafft immer Verlierer: Genauso, wie es selbst in den Reichsten Ländern Armut gibt, ebenso können nicht alle Staaten Europas Exportweltmeister sein. Solange die griechische Produktivität halb so hoch ist wie in Deutsch-land, wäre das Land auch mit besseren Politikern in der ka-pitalistischen Konkurrenz von Deutschland überflügelt wor-den. Und genau deswegen haben sich 'Strukturreformen' allein nicht als Weg in eine blühende Zukunft erwiesen. Selbst wenn Griechenland durch ein Investitionsprogramm (wie es linke Parteien fordern) wirtschaftlich langfristig stär-ker wird, wird dies wahrscheinlich auch zulasten der deut-schen Exportwirtschaft gehen: Der Kapitalismus ist kein Po-nyhof.

"Hilfen", die keine sind Die "Rettungsprogramme" der Troika haben vor allem zur Verarmung und Verelendung des griechischen Volkes ge-führt (Arbeitslosigkeit über 25%, unter Jugendlichen bei 50 %, ein Drittel ohne Krankenversicherung, ...). Diese Pro-gramme waren aber offensichtlich auch für die Wirtschaft schädlich, die Wirtschaftsleistung brach um 25% ein. Die Troika musste ihre Erwartungen für das Land immer wieder als zu optimistisch korrigieren. Der deutschen Regierung konnte das egal sein: Sie hatte die Kredite von deutschen Banken und Versicherungen über-nommen (und diese damit vor hohen Verlusten bewahrt) und solange Griechenland seine Schulden bediente, verdien-te sie gut daran (durch Zinsgewinne auf Kredite und eine Abwertung des Euro, was die Exporte ankurbelte). Aber wenn Griechenland aufhört, seine Schulden und Zinsen zu-rückzuzahlen, ist viel Geld verloren.

Unsere Antwort: Solidarität von unten statt Rettungspake-te Innerhalb des Kapitalismus gibt es also keine gute Lösung der Krise. Außerhalb dagegen schon. Deshalb unterstützen wir griechische Solidaritätsnetzwerke: unabhängig und von einfachen Menschen selbstorganisiert 'von unten' aufge-baut, organisieren diese Volksküchen, kostenlose Behand-lung für Menschen ohne Gesundheitsversicherung, soziale Zentren usw. Dies ist für uns auch ein Vorbild, wie wir unse-re Zukunft gestalten wollen: solidarisch, selbstorganisiert und basisdemokratisch - jenseits von kapitalistischem Wett-bewerb und Nationalismus!

Ein besonders widerwärtiges Kapitel der letzten

Monate betrifft die Berichterstattung der deut-

schen Leitmedien. Nach wochen- und monatelan-

ger rassistischer Hetze gegen »die Griechen«,

nach Verleumdungen und offenen Lügen, nach

dem in Herrenmenschenart wiederholten Mantra

»die Griechen müssen liefern« und »die Griechen

sind reformunwillig«, wird nun umgesteuert.

Plötzlich, nachdem die aufmüpfigen Linksradika-

len erfolgreich diszipliniert sind, wird die humani-

täre Katastrophe entdeckt, arme RentnerInnen, die

im Müll wühlen, Selbstmorde, Eltern, die ihre

hungernden Kinder im SOS-Kinderdorf abgeben,

und sterbende Kranke. Jetzt ist all das Thema, das

Ergebnis von fünf Jahren kapitalistischem Spar-

diktat, durchgesetzt auch und gerade von deut-

schen Regierungen und begleitender Medienpro-

paganda. Ist die drohende linke Alternative erst

zerschlagen, gibt es Almosen für die Opfer, so die

perverse Logik.

AnarchistInnen und Basisgewerkschaften hatten

vor der Wahl am 25. Januar immer behauptet,

SYRIZA werde ein neues Spardiktat unterschrei-

ben. Trotzdem gelang es ihnen nicht, offensiv ihre

Differenz zur Regierung sichtbar zu machen. Sie

haben abgewartet, statt die gesellschaftliche Spiel-

räume zu erweitern. Nun ist es an ihnen sein die

Mobilisierungen gegen Sonntagsarbeit oder Mas-

senentlassungen auf der Straße zu intensivieren;

und sie werden wieder mit den nun von SYRIZA

befehligten Sondereinsatzkommandos der Polizei

konfrontiert sein. Für die schwachen Bewegungen

in Deutschland kann nur gelten, diese Kämpfe zu

unterstützen.

Statt Hoffnung in die Eroberung des Staates zu

setzen, sollten wir beginnen gesellschaftliche

Strukturen so umzubauen, dass grundsätzliche

Veränderung überhaupt denkbar wird. Der Aufbau

solidarischer Basisstrukturen, ihre Vernetzung und

die Entwicklung gemeinsamer Visionen sind ge-

fragt. Selbstorganisation, solidarische Alltags-

strukturen, gegenseitige Hilfe, praktische Alterna-

tiven gegen das alltägliche Elend - sie sind die

Basis für erfolgreiche politische Mobilisierung.

Eine Mobilisierung die dringend anliegt sollte die

Durchsetzung der Reparationszahlungen an Grie-

chenland für die hunderttausenden verhungerten

und ermordeten GriechInnen und die tausenden

zerstörten Dörfer während der Nazibesatzung des

Landes 1941-44, sowie die Rückzahlung des dem

Land damals abgepressten Zwangskredits für

»Besatzungskosten« sein. Das ist unsere Pflicht.

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KLEINBÜRGERTUM ODER KLEINER

MANN?

Der Führungsstreit in der 'Alternative für

Deutschland' (AfD) ist entschieden. Der national-

konservative Flügel um Frauke Petry hat gewon-

nen, der rechtliberale sich abgespalten und mit

Bernd Lucke als Vorsitzenden eine neue Partei

gegründet. Trotzdem ist der Artikel von Sebastian

Friedrich vom 15. Juni 2015 noch aktuell, denn

bei dem Machtkampf ging "es neben inhaltlichen

und persönlichen Fragen auch um die strategi-

sche Ausrichtung der Partei. Speziell in der Fra-

ge, welche Klassen und Klassenfraktionen ange-

sprochen werden sollen, herrscht[e] Uneinigkeit

zwischen den Flügeln."

Die AfD war einst angetreten, um das reaktionäre

Kleinbürgertum zu einen. Man gab sich moderat

wertkonservativ und vertrat ein nationalneolibera-

les Wirtschaftsprogramm. Mit Erfolg. Wahlanaly-

sen zu den Bundestagswahlen 2013, den Wahlen

zum Europaparlament im Mai 2014 sowie den im

Sommer 2014 stattgefundenen Landtagswahlen in

Thüringen, Sachsen und Brandenburg zeigen, dass

genau diese Klientel angesprochen wurde: Männ-

lich, unter 45 Jahre, (Fach-)Arbeiter oder selbst-

ständig und sich der Mittelschicht zugehörig füh-

lend. Außerdem verdiente der ursprüngliche typi-

sche AfD-Wähler überdurchschnittlich gut und

war eher vermögend. Darauf deuten verschiedene

Studien hin.

Laut einer repräsentativen Befragung im Auftrag

der Universität Leipzig, die zwischen Februar und

April 2014 stattfand1, befinden sich unter den

Wähler_innen der AfD nur sehr wenige mit nied-

rigem Einkommen. Lediglich 3,9 Prozent der

AfD-Wähler_innen haben ein Haushaltseinkom-

men von unter 1.000 EUR. Einen niedrigeren

Wert hat nur die FDP vorzuweisen (2,8 Prozent).

Einer Auswertung des Forsa-Instituts kurz nach

den Europawahlen zufolge kommen die Anhä-

nger_innen der AfD überwiegend aus der Mittel-

schicht (53 Prozent) und der Oberschicht (26 Pro-

zent). Mehr als die Hälfte der Anhänger_innen (55

Prozent) hat Abitur und 44 Prozent verfügen über

ein Haushaltsnettoeinkommen von mindestens

3.000 EUR. Was das Vermögen angeht, gibt es

kaum verlässliche Daten. Lediglich die Mitteilung

des kommissarischen Vorstands des Landesamtes

für Statistik Berlin-Brandenburg ist hier auf-

1 Nachzulesen hier: home.uni-

leipzig.de/decker/waehlerherz_2014.pdf

schlussreich. Demnach schnitt die AfD bei den

Landtagswahlen in Brandenburg vor allem in Ge-

bieten mit „einer höheren Eigentümerquote“ bes-

ser ab. In Gebieten mit vielen Hartz 4-Empfängern

war die AfD weniger erfolgreich, so das Lande-

samt. Es waren also eher nicht die Deklassierten,

die sich zur AfD hingezogen fühlten.

Außerdem erhielt die AfD vor allem zu Beginn

Unterstützung von Teilen der Wirtschaft, insbe-

sondere von denjenigen Unternehmen, die auf

lokale und regionale Absatzmärkte setzen. Sie

sind nicht exportorientiert und fürchten die euro-

päische Integration wegen einer Intensivierung

des Wettbewerbs, der sich negativ auf sie auswir-

ken könnte. Eine Studie von Frederic Heine und

Thomas Sablowski, die 2013 für die Rosa-

Luxemburg-Stiftung erstellt wurde, zeigt diese

Verbindung eindrücklich auf2. Heine und

Sablowski untersuchten Pressemitteilungen und

Positionspapiere von Wirtschaftsverbänden zur

Regierungspolitik während der Legislaturperiode

von Schwarz-Gelb.

Sie arbeiteten heraus, dass alle Wirtschaftsverbän-

de mehr oder weniger d’accord waren mit der Re-

gierungspolitik. Alle bis auf einen Verband: der

Verband der Familienunternehmer, der sich als

Einziger während der Euro-Krise grundsätzlich

gegen die Euro-Rettungspolitik stellte. Er unter-

stützte außerdem die Klage gegen den Europäi-

schen Stabilitätsmechanismus vor dem Bundes-

verfassungsgericht und forderte den Ausschluss

Griechenlands aus der Euro-Zone. Insgesamt

sprach sich der Verband gegen wirtschaftspoliti-

sche Europäisierung aus und bediente sich laut der

Studie einer rechtspopulistischen Rhetorik. Heine

und Sablowski kommen zum dem Schluss, dass

die nationalkonservativen und neoliberalen Kräfte

2 Nachzulesen hier:

www.rosalux.de/publication/39834/die-europapolitik-des-deutschen-machtblocks-und-ihre-widersprueche.html

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in dem Verband in der AfD ihren parteipolitischen

Ausdruck gefunden haben.

Sie sollten Recht behalten. Praktisch wurde die

Unterstützung des Verbands kurz vor der Europa-

wahl Anfang Mai 2014. Beim „Tag der Familien-

unternehmer“ in Dresden war Bernd Lucke Haupt-

redner, erst später durften Christian Lindner und

Günther Öttinger ran. Der Hauptgeschäftsführer

des Verbands, Albrecht von der Hagen, sprach

davon, dass viele Fragen der AfD auch Fragen des

Verbands seien.

RECHT S ENTWI CK LUN G DER AFD

Die Partei entwickelte sich zunehmend nach

rechts. Heute tut Lucke so, als sei er ein Vorkämp-

fer gegen die Rechtsentwicklung. Das Gegenteil

ist der Fall. Er war es, der um die Bundestagswahl

herum die Partei strategisch nach rechts ausgerich-

tet hat. Knapp zwei Monate vor der Bundestags-

wahl schrieb Lucke an seine Vorstandskollegen

Alexander Gauland und Konrad Adam eine auf-

schlussreiche Mail, deren Wortlaut das Nachrich-

tenmagazin „Der Spiegel“ zum Teil veröffentlich-

te. Gegenüber seinen heutigen erbitterten Kontra-

henten forderte er einen Tabubruch, um den bis

dahin schleppend laufenden Wahlkampf ein wenig

in Fahrt zu bringen. So schlug er vor, Thilo

Sarrazin zu vereinnahmen. Das könne viel Auf-

merksamkeit, Kritik der linken Presse und viel

Zuspruch in der Bevölkerung einbringen. Laut der

AfD-Aussteigerin Michaela Merz wurde von eini-

gen Kräften der Partei offen darüber nachgedacht,

„die Partei in Richtung einer konservativ bis

rechtspopulistischen Strömung und der Sarrazin-

Klientel zu öffnen“. So habe Lucke angeregt,

Sarrazin während einer Wahlkampfveranstaltung

einen Buchpreis der AfD zu verleihen, was aller-

dings insbesondere durch die liberalen Kräfte in-

nerhalb des Bundesvorstands der Partei verhindert

worden sei. Rückblickend schreibt Merz Lucke

bei der Öffnung nach rechts eine Schlüsselrolle

zu: „Er ist maßgeblich für die spätere Entwicklung

verantwortlich, da er die Partei bewusst dem rech-

ten und rechtspopulistischen Rand geöffnet hat.“

Im weiteren Verlauf hat sich die Zusammenset-

zung der AfD nachhaltig verändert. Die rechten

Flügel wurden in der Folge immer mächtiger. Sie

konzentrierten sich auf die Wahlen in den drei

ostdeutschen Bundesländern, denn dort hatte die

AfD bei den Bundestags- und Europawahlen ihre

stärksten Ergebnisse geholt, und dort waren die

Landesverbände deutlich rechtslastig. In allen drei

Bundesländern zog die AfD mit herausragenden

Ergebnissen — in Thüringen und Brandenburg

sogar zweistellig — in die Landtage ein. Die Er-

folge bestätigten die programmatische Erweite-

rung nach rechts und lösten harte Flügelkämpfe

um die inhaltliche und personelle Zukunft der

Partei aus, in deren Folge fast alle Liberalkonser-

vativen die Partei verließen. Spätestens hier fand

der aktuelle Führungsstreit in der AfD ihren Aus-

gangspunkt.

SOZIALE BASIS ZERBROCHEN

Die AfD war in ihrer Gründung vor allem deshalb

gefährlich, weil sie das Zeug hatte, National-

Neoliberale und Rechtskonservative zu verbinden

und dadurch ein rechtes Hegemonieprojekt zu

etablieren. Die Basis des Projekts war die reaktio-

näre Mittelklasse, das Kleinbürgertum. Dieses

scheint der Partei zunehmend den Rücken zu keh-

ren — und sich wieder mehr in Richtung FDP zu

bewegen. Während vor einem Jahr führende Frak-

tionen des mächtigen Verbands der Familienun-

ternehmer im Zuge der Europawahl 2014 die AfD

unterstützten, herrscht heute weitgehend Funkstil-

le zwischen dem Verband und der AfD. Ende Ap-

ril 2015 fanden die Familienunternehmer-Tage in

Berlin statt, bei denen neben Gauck auch Vertre-

ter_innen aus FDP, SPD, den Unionsparteien und

den Grünen auf Podien sprachen. Die AfD suchte

man vergeblich. Die Entwicklung kommt einigen

in der Partei gelegen. Gauland, der im Verlauf der

vergangenen zwei Jahre immer weiter nach rechts

rückte, äußerte im April in einem Interview im

Handelsblatt: „Man sollte auch nicht den Fehler

machen und auf Stimmen des Bürgertums und

früherer FDP-Anhänger setzen. Wir sind eine Par-

tei der kleinen Leute. Damit meine ich auch Leute,

die eben kein Asylbewerberheim neben sich haben

wollen. Die damit ver-

bundenen Ängste und

Sorgen sollten wir ernst

nehmen und aufgreifen,

dann werden wir auch

gewählt.“

Sebastian Friedrich ist

Publizist. Im Januar 2015

erschien beim Berliner

Verlag bertz + fischer sein

Buch „Der Aufstieg der

AfD. Neokonservative Mo-

bilmachung in Deutsch-

land“

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KLEINE GEILE STREIKS

STREIKS SCHEINEN AUCH IN DEUTSCH-

LAND ZUZUNEHMEN – EINE NEUE DEUT-

SCHE STREIKWELLE?

Demnächst erscheint das Buch „Ein Streik steht,

wenn mensch ihn selber macht. Arbeitskämpfe

nach dem Ende der großen Fabriken“, herausge-

geben von Peter Nowak. Darin werden Streiks

außerhalb des klassischen Fabrik- und Gewerk-

schaftsumfelds dargestellt, vor allem in bislang

als schwer organisierbar geltenden Sektoren. Auf

Einladung der Region Süd der FAU wird der

Herausgeber das Buch im September 2015 vor-

stellen.

Siehst du einen allgemeinen Trend zu Streiks in

prekären und nicht gut organisierten Sektoren,

oder bleiben dies lobenswerte Einzelfälle?

Oft sind diese Streiks Einzelfälle, aber sie deuten

eine Tendenz an. Die Beschäftigten in den schwer

zu organisierenden Branchen machen die Erfah-

rung, dass sie oft frühkapitalistischen Arbeitsbe-

dingungen ausgesetzt sind und dass das Gerede

über familiäre Arbeitsverhältnisse und flache Hie-

rarchien diese Ausbeutungsverhältnisse nur müh-

sam ideologisch verschleiern. Sehr deutlich wird

das am Arbeitskampf in einem Berliner Spätkauf,

den ich im Buch vorstelle. Er ging für den Be-

schäftigten erfolgreich aus, er erstritt sich mit Hil-

fe der FAU eine Lohnnachzahlung. Dies war nur

möglich, weil der Arbeitskampf auch als politi-

sche Auseinandersetzung öffentlich geführt wur-

de. Der Kollege arbeitete in der Woche bis zu 60

Stunden, hatte aber offiziell einen 20-Stunden-

Job. Er war mit dem Chef per Du und erfüllte oft

die Funktion eines Ladenleiters. Als der Chef eine

Kamera einbaute, mit der er den Kollegen ständig

an seinen Arbeitsplatz beobachten konnte, war das

Maß voll. Er forderte nicht nur den Abbau der

Kamera, sondern auch eine Bezahlung nach den

von ihm geleisteten Arbeitsstunden, Pausen, Ur-

laub etc. Sofort wurde der Ladenbesitzer, mit dem

er per Du war, zum Kleinkapitalisten, der ihm

zeigen wollte, wer Herr im Haus war. Er verhäng-

te ein Hausverbot gegen den Kollegen und seine

UnterstützerInnen und ging juristisch gegen Me-

dien vor, die über den Arbeitskampf berichteten.

Hier begann erst die Geschichte des Arbeitskamp-

fes, der sicher ohne die Unterstützung der FAU

und eines UnterstützerInnenkreises so nicht mög-

lich gewesen wäre. So gelang es, innerhalb weni-

ger Wochen mit Flyer- und Plakataktionen im

Umfeld des Spät-

kaufs deutlich zu

machen, dass Aus-

beutung in der

Nachbarschaft be-

ginnt und bekämpft

werden muss. Es

gab mehrere Kund-

gebungen und zu-

nehmend reagierten AnwohnerInnen offener. An

diesem Beispiel zeigt sich, dass es möglich ist,

auch in Branchen, die schwer zu organisieren

sind, einen erfolgreichen Arbeitskampf zu führen.

Dazu gehört allerdings der erste Schritt, dass der

Beschäftigte die sozialpartnerschaftliche Ideologie

„Wir sind eine große Familie“ überwinden muss.

Es geht darum zu erkennen, dass es auch in diesen

Arbeitsverhältnissen Interessengegensätze zwi-

schen den KäuferInnen und VerkäuferInnen der

Arbeitskraft gibt, die nicht durch Chefduzen

überwunden werden können. Das ist der erste,

aber wichtigste Schritt, um in diesen Branchen

einen Arbeitskampf zu führen. Es gibt viele Bei-

spiele, die erst einmal bekannt gemacht werden

müssen. Dazu soll das Buch beitragen.

Viele kämpferische Streiks gingen von kleinen

oder Spartengewerkschaften aus, oder von sich

selbst organisierenden ArbeiterInnen. Gleich-

zeitig geht der gewerkschaftliche Organisati-

onsgrad seit Jahren zurück. Was leisten kleine

Gewerkschaften, was die klassischen Massen-

organisationen nicht können?

Sie können Beschäftigte in Bereichen organisie-

ren, die durch das Raster der DGB-

Gewerkschaften fallen. In Branchen, wo es Be-

triebe mit einer Handvoll Beschäftigten gibt, wer-

den die großen Gewerkschaften erst gar nicht ak-

tiv. Natürlich gibt es da mittlerweile gerade im

Bereich von ver.di auch Bewegung. So sind in

Hamburg im ver.di-Fachbereich „besondere

Dienstleistungen“ mittlerweile auch Sexarbeite-

rInnen organisiert. Generell aber gilt: Kleine Ge-

werkschaften sind viel näher an den KollegInnen

dran und es gibt auch bessere Möglichkeiten der

Basisbeteiligung, weil eben nicht ein großer Ge-

werkschaftsapparat vorhanden ist, der im Zweifel

Basisaktivitäten lähmt. Rosa und Johanna von

labournet.tv haben im Buch anschaulich beschrie-

ben, wie sich die oft migrantischen Logistikarbei-

terInnen in Norditalien mit Unterstützung der Ba-

sisgewerkschaft SI Cobas organisierten, erfolgrei-

che Arbeitskämpfe führten und auch ein Unter-

stützerInnenumfeld in der außerparlamentarischen

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Linken fanden. Dass sind Prozesse, die Mut und

Inspiration geben. Es ist überhaupt ein Plädoyer,

über den nationalen Tellerrand zu blicken. In vie-

len europäischen Ländern, aber auch in den USA

gibt es interessante Organisierungsversuche von

schwer organisierbaren Beschäftigten. Am Ende

des Buches sind Zeitschriften und Internetprojekte

aufgeführt, die darüber berichten.

Der Untertitel – „Arbeitskämpfe nach dem

Ende der Fabriken“ – verweist auf einen ande-

ren Trend: In den Hochlohnländern nehmen

die Betriebsgrößen ab, Arbeitsverhältnisse

werden zunehmend ‚flexibilisiert’. Wie können

sich ArbeiterInnen unter diesen veränderten

Bedingungen wirksam organisieren?

Zunächst mal ist die Flexibilisierung kein Natur-

gesetz, wie oft behauptet wird. Sie ist die Folge

des Machtverlustes der Arbeiterbewegung in den

letzten Jahrzehnten. Schließlich wurden alle Rech-

te von Lohnerhöhungen bis zur Begrenzung der

Arbeitszeit etc. durch die Arbeiterbewegung er-

kämpft und waren kein Geschenk von Staat und

Wirtschaft. Allerdings haben die sozialpartner-

schaftlichen Gewerkschaften einen gewichtigen

Anteil daran, dass diese Erkenntnis verloren ging.

Es gibt natürlich kein Patentrezept, wie sich Kol-

legInnen organisieren sollen. Wichtig ist, dass sie

selber ihre Interessen aktiv wahrnehmen, sich un-

tereinander austauschen, beratschlagen, Forderun-

gen aufstellen und sie dann auch öffentlich durch-

setzen. Das ist nicht so viel anders als in der alten

Arbeiterbewegung. Denn damals wurde ebenfalls

unter extrem prekären und flexiblen Arbeitsver-

hältnissen gearbeitet und auch dagegen gekämpft.

Im Care-Bereich sind Streiks oft besonders

schwer zu vermitteln – die von der Arbeitsnie-

derlegung Betroffenen sind oft von den er-

brachten Dienstleistungen in hohem Maße ab-

hängig. Siehst du den jüngsten KiTa-Streik in

dieser Hinsicht als erfolgreiches Modell? Lässt

sich dies auf z.B. den Pflegebereich mit seinen

notorisch schlechten Arbeitsbedingungen über-

tragen?

Viele der neuen Arbeitskämpfe werden im Dienst-

leistungsbereich geführt, in denen vor allem Frau-

en oft zu niedrigeren Löhnen als Männer beschäf-

tigt sind. Das gilt für den KiTa-Bereich ebenso

wie im Gesundheitswesen. Auch im Einzelhandel

waren es vor allem Frauen, die sich gegen ihre

Arbeitsbedingungen organisierten. Die feministi-

sche Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker hat

in ihrem jüngsten Buch „Carerevolution – Schritte

in eine solidarische Gesellschaft“ sehr gut darge-

legt, dass ein wichtiger Teil der neuen

Carerevolution-Bewegung auch gewerkschaftliche

Kämpfe im Sorge-, Gesundheits- und Erziehungs-

bereich sind. Dankenswerterweise hat Alexandra

Wischnewski für unser Streikbuch einen Beitrag

geliefert, der sich mit den Problemen einer solida-

rischen Organisierung von Carearbeit befasst. Ihr

Aufsatz beginnt mit der Frage: „Wer übernimmt

die Versorgung der Kinder und Alten, der Pflege-

oder Assistenzbedürftigen, wenn die Beschäftig-

ten streiken?“ Damit spricht sie eine wichtige Fra-

ge der neuen Arbeitskämpfe an. Gerade Arbeits-

kämpfe im Dienstleistungssektor zeigen nur Wir-

kung, wenn diese Bereiche lahmgelegt werden.

Was bedeutet es aber für berufstätige Frauen,

wenn die KiTa geschlossen ist? Die Organisierung

solidarischer Netzwerke ist auch eine Aufgabe der

Gewerkschaften. Wenn während eines KiTa-

Streiks gewerkschaftliche und feministische Zu-

sammenhänge gemeinsam eine solidarische KiTa

organisieren, wächst so auch die Bereitschaft von

Eltern, sich mit dem Arbeitskampf der KiTa-

Beschäftigten zu solidarisieren. Genauso sollten

bei Arbeitskämpfen im Gesundheitssektor Patien-

tInnen und ihre Angehörigen einbezogen werden.

So wird aus einem Betriebskampf eine gesell-

schaftliche Auseinandersetzung. Heute ist gerade

bei Arbeitskämpfen in Bereichen außerhalb der

großen Fabriken eine gesellschaftliche Solidarisie-

rung notwendig für einen Erfolg. Gleichzeitig

wird dadurch, dass ein

Arbeitskampf aus dem

Betrieb in die Gesell-

schaft getragen wird,

deutlich, dass es um

mehr als eine Lohnerhö-

hung oder eine Arbeits-

zeitverkürzung geht. Es

geht um die

Infragestellung eines

kapitalistischen Systems,

dass die Verwertung und

Ausbeutung der Arbeits-

kraft zur Grundlage hat.

Interview: Robert Schmidt

Termine der Rundreise unter anderem:

Karlsruhe, Di. 15.09.2015, 19.30 Uhr | Viki, Viktoria-str. 12

Mannheim, Do. 17. 09.2015, 20.15 Uhr | wildwest, Alphornstr. 38

Page 7: Neies Lautre - Juli/August 2015

UM SICH GREIFENDER UNGEHOR-

SAM

ÜBER DIE STREIKWELLE IN DER TÜRKEI Mit wilden Streiks im Metall- und Automobilsek-

tor kam die Türkei Mitte Mai in die Schlagzeilen

der Wirtschaftsteile auch europäischer Zeitungen.

Einige Artikel berichteten gar von erheblichen

Auswirkungen auf die Produktion, denn die

Streiks dauerten teilweise Wochen und auch die

großen Produktionslinien kamen zeitweilig zum

Stehen. Mögliche Folgen für die Reputation des

Standortes Türkei wurden diskutiert. Derartige

Bewertungen verdeutlichen einmal mehr, dass in

der Türkei Streiks, die ernste Auswirkungen auf

die Produktion haben, eher selten sind. Schwache

Gewerkschaften und disziplinierte ArbeiterInnen

scheinen einen wichtigen Teil der im Übrigen

stark informalisierten Lohnarbeitsverhältnisse

auszumachen. Auch während der Gezi-Revolte

war kein Funke auf die Betriebe übergesprungen

– wo Lohnarbeitende Teil der Bewegung waren,

da waren sie es nach Feierabend. Nur wenige

linke Gewerkschaften riefen zu einem Streiktag

auf, und dies auch erst spät.

Umso mehr überraschten die Streiks, die im Mai

mit einem hohen Maß an Spontaneität und an Or-

ten ausbrachen, die, wie Bursa, zwar industrielle

Zentren, nicht aber Orte primär linker gewerk-

schaftlicher Mobilisierung sind. Dennoch waren

auch diese Streiks nicht die einzigen, die sich al-

lein im laufenden Jahr in der Türkei ereignet ha-

ben. Bereits im Februar hatte es Arbeitsniederle-

gungen in der Metallindustrie gegeben, die

schließlich verboten worden waren. Denn sie hät-

ten in Sektoren stattgefunden, die für die nationale

Sicherheit von Bedeutung seien – so die offizielle

Begründung. Bei allem betrieblichen Unfrieden im

Vorfeld der Parlamentswahlen, der einmal mehr

die Selbstdarstellung von Erdogans AKP als Ver-

treterin des Volkes karikierte, bleibt ungewiss,

inwieweit die Streiks für den Ausgang der Wahl

relevant gewesen sind. Auch die Beziehungen der

kurdischen HDP, die erstmals die Zehn-Prozent-

Hürde nahm und die AKP so um die absolute

Mehrheit brachte, zu Gewerkschaften im All-

gemeinen und ihre Aufmerksamkeit für die jüngs-

ten betrieblichen Kämpfe im Besonderen hätten

stärker sein können.

Axel Gehring (express)

Die Automobilarbeiter der Renault-Fabrik in Bur-

sa, die in der Metallgewerkschaft Türk Metal

Sendikası Mitglieder sind, starteten eine Rebelli-

on, der Funke sprang in andere Fabriken und Re-

gionen über und wuchs. Während einige Streiks

mittlerweile beendet sind, zum Teil sogar erfolg-

reich, halten andere Kämpfe noch an. Die Bewe-

gung ist also noch aktiv, dennoch soll hier ver-

sucht werden, sie zu verstehen und eine Einschät-

zung vorzunehmen. Es folgen daher erste Notizen

und Analysen.

D IR EKT E REPR ÄS EN TATION UN D RECHT AUF

STR EIK

Die Arbeiter haben mit ihrer Rebellion zwei Din-

ge erreicht: ihre direkte Repräsentation und die

Nutzung ihres Streikrechts. Damit wurden zwei

wichtige, radikale Schritte für ihre Autonomie

getan. Durch massenhaften Austritt aus der Ge-

werkschaft Türk-Metal zeigten sie, dass die beste-

hende Vertretungsstruktur, die ein Überbleibsel

des Putsches vom 12. September 19803 darstellt

und zu einem Kontrollapparat der Arbeitgeber

verkommen ist, sie nicht repräsentieren kann.

Durch die Bildung von Arbeiterräten haben sie die

Vertretung ihrer Interessen selbst in die Hand ge-

nommen. Damit haben sie eine historische Orga-

nisierungsform der internationalen Arbeiterbewe-

gung wieder aufleben lassen. Indem sie ihre Be-

triebe nicht verließen und die Produktion zum

Stillstand brachten, setzten sie das Recht auf

Streik, dessen Wahrnehmung durch die Arbeitsge-

setzgebung erschwert und durch die von der Re-

gierung im Februar verhängte sechzigtägige Aus-

setzungsfrist faktisch aufgehoben wurde, wieder

in Kraft. Im Resultat erreichten die Metallarbeiter,

dass das zwischen der Gewerkschaft Türk-Metal,

dem Arbeitgeberverband MESS (Gewerkschaft

der Industriellen für Metallwaren) und den übri-

gen, nicht im Arbeitgeberverband organisierten

Unternehmern aufgeführte Tarifverhandlungsthea-

ter, dessen Regeln noch vom Putschregime ge-

schrieben wurden, beendet wurde. Indem sie Räte

bildeten, haben sie eine direkte Interessenvertre-

tung hergestellt und die Wahrnehmung des Streik-

rechts ohne Schranken und Verbote erreicht. Sie

besannen sich auf den Kern ihrer Interessen und

erinnerten daran, dass die Aktion Vorrang gegen-

über dem Recht hat.

Aufmerksame BeobachterInnen wird diese Ent-

wicklung nicht unbedingt verwundern. Die Arbei-

3 Am 12. September 1980 putschte das Militär und verhäng-

te das Kriegsrecht in der Türkei. Ende 1982 wurde eine von der Junta vorgelegte Verfassung per Volksabstimmung angenommen, die bis heute gültig ist.

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terklasse in der Türkei hat seit 1980 eine qualitativ

und quantitativ bemerkenswerte Entwicklung

durchgemacht. Insgesamt haben die Unsicherhei-

ten zugenommen und das Wohlstandsniveau ist

gesunken. Das bestehende Arbeitsregime mit sei-

nen überkommenen Regeln aus der Zeit des Put-

sches konnte die »friedliche« Fortführung des

Systems industrieller Beziehungen nicht mehr

gewährleisten. Der Rahmen des Regimes wurde

immer öfter gesprengt. Die Metallarbeiter haben

der objektiven Sackgasse, in der das Regime

steckte, nun die subjektive Tat – ihren Kollektiv-

willen – hinzugefügt und den Rahmen endgültig

gesprengt. Ereignisse wie der Tekel-Widerstand,

mit dem sich die ArbeiterInnen ebenfalls außer-

halb der gewerkschaftlichen Organisierung gegen

ihre Prekarisierung in Folge von Privatisierung

stemmten, Streiks der Angestellten im öffentli-

chen Dienst, die Aktionen der Birleşik Metal-İş

(Vereinte Metallarbeitsgewerkschaft) gegen Aus-

setzungen des Streikrechts, bildeten einen neuen

Standard für die Arbeiterbewegung. Überall im

Land ist es zu Eruptionen gekommen, die an Kraft

gewannen. Die Massenarbeitsniederlegungen in

den Ziegelwerken in Diyarbakır, den Schuhfabri-

ken in Adana, den Stickereien in Merter, den Tex-

tilfabriken in Gaziantep und der Boydak-

Möbelfabrik in Kayseri sind dafür nur einige Bei-

spiele.

GEFÜGI GE GEW ERK SCHAFT EN , S CHW ACHE

L INKE

Das wichtigste Merkmal dieser Situation ist zwei-

fellos, dass die Gewerkschaften, die sich seit etwa

30 Jahren im Rahmen der Legalität verfangen

haben, nicht die treibenden Kräfte der Kämpfe

darstellen. Die Gewerkschaften müssen ihre Pra-

xis dem Kurs der Kämpfe anpassen oder mit ähn-

lichen Reaktionen der ArbeiterInnen rechnen, die

ihre Legitimität weiter untergraben wird. Beson-

ders mit den Folgen der Krise im Jahr 2008, den

seither nicht kompensierten Reallohnverlusten,

dem gestiegenen Druck an den Arbeitsplätzen, der

Verdichtung der Arbeit und der Erhöhung der

Arbeitszeiten ist es zunehmend schwieriger für die

ArbeiterInnen geworden, sowohl den bestehenden

restriktiven Rahmen als auch Gewerkschaften zu

akzeptieren, die sie in ihren Kämpfen nicht unter-

stützen, im Gegenteil, ihren Widerstandswillen

absorbieren und passivieren. Es wird schwieriger

werden, eine junge, gebildete Arbeiterklasse, die

hohe Erwartungen hegt und in der

intensiven Nutzung von Kommu-

nikationsmitteln erprobt ist, unter

Kontrolle zu behalten.

Für die türkische Metallindustrie ist die Rede von

einem System, das den Arbeitsprozess neben einer

Mischung aus Konsens und Zwang durch Ge-

werkschaften reguliert, die sich im Einklang mit

den Bedürfnissen des Kapitals bewegen. Einige

wissenschaftliche Publikationen haben die Her-

ausforderung der in den Produktionsprozessen

hergestellten Hegemonie durch alltägliche Wider-

stände der ArbeiterInnen bereits wiederholt the-

matisiert. Überliefert wurde dabei, dass unter der

sichtbaren Oberfläche einer fügsamen Arbeiter-

schaft kontinuierlich ein verdeckter Widerstand

junger ArbeiterInnen stattfindet. Neben dieser

Feststellung wurde auf die autokratische Verfasst-

heit der Gewerkschaft Türk-Metal hingewiesen

und betont, dass die ArbeiterInnen diese Interes-

senvertretung ablehnen und dass sie sich bereits in

früheren Auseinandersetzungen, wie z.B. im Jahr

1998, entschieden, aber bislang mit wenig Erfolg

gegen diese Gewerkschaft gestellt haben.

Nun sind die Metallarbeiter an einem Punkt ange-

langt, an dem sie sich sowohl der Kontrolle der

Unternehmen als auch der Gewerkschaft entzie-

hen könnten. Hier kommt ein dritter Kontrollme-

chanismus ins Spiel, der sich auf soziale und ideo-

logische Grundlagen stützt. Die Metallarbeiter

sind in Übereinstimmung mit den in ihren Woh-

norten vorwiegenden ideologischen Überzeugun-

gen oft stark nationalistisch und konservativ ge-

prägt. Das hat nicht nur zur Folge, dass sie gegen-

über Autoritäten wie der Polizei, der Gewerk-

schaftsführung oder dem Arbeitgeber gefügig

sind, sondern auch, dass sie distanziert gegenüber

linksorientierten und effektiv kämpfenden Ge-

werkschaften wie der Birleşik Metal-İş sind, die

Mitglied in der Konföderation Revolutionärer

Arbeitergewerkschaften DİSK (zweitgrößter Ge-

werkschaftsdachverband in der Türkei) ist. Es war

die Birleşik Metal-İş, die vor wenigen Jahren bei

dem für die jetzige Rebellion beispielhaften Ar-

beitskampf in der Bosch-Fabrik durchsetzen konn-

te, dass ein relativ guter Tarifvertrag zustande

kam. Trotz aller Verbote setzte sie damals den

Streik als Mittel des Kampfes effektiv gegen den

Arbeitgeberverband MESS ein.4 Dennoch gelingt

4 Der Keim für die heutige Rebellion wurde vor einigen

Jahren ebenfalls in Bursa gelegt. Die Arbeiter der Firma Bosch, die Mitglieder in der Gewerkschaft Türk-Metal wa-ren, kündigten ihre Mitgliedschaft und traten der Vereinten Metallarbeitsgewerkschaft (BMİS) bei. Diese erste militante Massenbewegung wurde von der Türk-Metal aufs Härteste bekämpft. Die ArbeiterInnen wurden zudem vom Ministeri-um für Arbeit und den Arbeitgebern unter Druck gesetzt, einigen wurde gekündigt und die Übriggebliebenen muss-ten zu Türk-Metal zurückkehren. Doch diese Bewegung

Der linke Gewerkschaftsverband DİSK.

Page 9: Neies Lautre - Juli/August 2015

es ihr aufgrund der gegebenen sozialen und ideo-

logischen Verfasstheit der ArbeiterInnen nicht,

deren Gunst zu gewinnen. Dieser Tatbestand stellt

eines der wichtigsten Kennzeichen der aktuellen

Arbeiterbewegung dar. So besteht der Unterschied

zu globalen Erfahrungen und unseren Erfahrungen

zwischen 1960 und 1980 darin, dass wir es heute

mit einer Bewegung zu tun haben, die nur sehr

marginal linke politische Kennzeichen trägt. Dies

beeinträchtigt die Fähigkeit, als Klasse zu handeln

enorm und muss auf alle Fälle überwunden wer-

den.

STR EIKW ELLEN I N DER AUTOMOBI LIN DUS TRI E

Die Rebellion der MetallarbeiterInnen verfügt

über eine globale Dimension. Beverly Silver erör-

tert in ihrem Hauptwerk, wie in den USA der

1930er-Jahre eine militante Bewegung der Auto-

mobilarbeiter entstand, die sich 1960 über Europa

ausdehnte, in den 70er und 80er-Jahren Anschluss

in Brasilien fand und sogar nach Südafrika und

Südkorea übersprang. Überall, so Silver, provo-

zierten militante Arbeiterbewegungen ähnliche

Reaktionen des Kapitals – und dies sei einer der

Gründe für die Verlagerung von Produktionsstät-

ten in der Automobilindustrie. Die Widerstands-

welle der Automobilarbeiter begünstigte die Bil-

dung autonomer Gewerkschaften, diskreditierte

»verantwortungsbewusstes« gewerkschaftliches

Handeln im Sinne der Unternehmen und hat sogar

eine beschleunigende Wirkung auf den Übergang

zur Demokratie (in Brasilien) und die Befreiung

von der Apartheid (in Südafrika) entfaltet.

Für die Türkei kann gesagt werden, dass sich die

militante Bewegung der Automobilarbeiter in den

1970ern unter der Führung von Maden-İş (Ge-

werkschaft für Bergbau) entwickelte, durch den

Putsch von 1980 unterbrochen wurde, 1998 dann

mit der Rebellion der ArbeiterInnen gegen ihre

unternehmernahe Gewerkschaft Türk-Metal er-

neut Fahrt aufnahm und schließlich, mit Höhen

und Tiefen, ihre heutige Form angenommen hat.

Nun ist es auch möglich, die heutige Rebellion im

Rahmen der anhaltenden globalen ökonomischen

Krise als absehbares Resultat der Strategie der

Automobilkonzerne anzusehen, die ihre über den

gesamten Globus verteilten Standorte in Konkur-

renz zueinander setzen, um die Produktionskosten

zu senken. Während Silver die nächste Wider-

standswelle für China und Mexiko erwartete, kris-

tallisierte sie sich de facto in der Türkei heraus.

Die Erklärung von Renault, die Produktion zu

hatte auch zur Folge, dass Türk-Metal einen neuen Tarifver-trag vereinbaren musste, um nicht einen Großteil der Ar-beiter zu verlieren.

verlagern, wenn der Streik anhalte, ist ein Zeichen

dafür, dass die Manager die Widerstände, wie

auch schon bei vergangenen Widerstandswellen,

mit Standortverlagerungen kontern möchten.

Kurzum: Historisch und global betrachtet gibt es

einige auffällige Ähnlichkeiten.

KRIS TAL LI SATIONS PUN KTE VON AR BEIT S -

KÄMP FEN

Der erste, in den letzten Jahren besonders aktive

Strang der Arbeiterbewegung in der Türkei be-

stand aus Beschäftigten staatlicher Betriebe, die

von Privatisierungen betroffen waren und sich

gegen deren Folgen zur Wehr setzten. Der Wider-

stand bei Tekel (dem privatisierten Monopolun-

ternehmen für Alkohol und Zigaretten) und der

langjährige Widerstand der ArbeiterInnen gegen

die Privatisierung des Kohlekraftwerkes in

Yatağan (Ägäis) gehören zu den herausragenden

Arbeitskämpfen in diesem Sektor. Getragen wur-

den dieser Widerstand hauptsächlich von Arbeite-

rInnen staatlicher Unternehmen, deren relativ pri-

vilegierter, weil mit umfassenden Sicherheiten

und Rechten ausgestatteter Status sich insgesamt

in Auflösung befand. Obgleich diese Kämpfe auch

auf starke Initiativen an der Basis zurückgingen,

wurden sie maßgeblich von etablierten Gewerk-

schaften gelenkt. Sie waren Beispiele dafür, wie

eine Radikalisierung sich in disziplinierter Form

in gewerkschaftlichen Kanälen bewegt – und sie

waren eine letzte und daher radikale Antwort auf

den langen Privatisierungsprozess. Zwar motivier-

ten diese Kämpfe die Arbeiterbewegung und die

gesellschaftliche Opposition und bereicherten sie

mit ihrer Widerstandskultur, doch blieb der inspi-

rierende Effekt aufgrund des sich insgesamt in

Auflösung befindlichen Status dieser ArbeiterIn-

nen begrenzt.

Der zweite Strang besteht allgemein formuliert

aus ArbeiterInnen, die wir als Prekarisierte be-

zeichnen würden: TagelöhnerInnen, Leiharbeite-

rInnen, flexibilisierte ArbeiterInnen in

fordistischen, paternalistisch geführten Fabriken

überwiegend in ruralen Regionen. Den Streik be-

ziehungsweise den Widerstand der Leiharbeite-

rInnen im Energie- und Gesundheitssektor, die

Massenarbeitsniederlegung der Textil- oder Ziege-

leibeschäftigten in Gaziantep und Diyarbakır oder

die spontanen und kurzlebigen Widerstände der

Bauarbeiter kann man hierunter zählen. In diesem

sehr heterogenen und dynamischen Bereich, in

dem sich auch einige politische AktivistInnen en-

gagieren, wird sich sicherlich noch viel tun, mög-

licherweise bildet sich hier etwas, aus dem in Zu-

kunft eine stärkere Organisierung erwächst.

Page 10: Neies Lautre - Juli/August 2015

Antonio Gramsci (1891-1937), ital. Kommunist. Ist in der heutigen Lin-ken sehr beliebt.

Die Metallarbeiter haben heute einen dritten Weg

geebnet. Dieser in letzter Zeit vergleichsweise

statische, bewegungslose Teil der Arbeiterklasse

ist mit der jetzigen Rebellion zu einer motivieren-

den, antreibenden Kraft geworden. Die Bewegung

der Automobilarbeiter, die den Typus des

fordistischen Arbeiters und einen gewerkschaftli-

chen Prototyp des 20. Jahrhunderts darstellen,

zeigt, dass auch aus hoffnungslos erscheinenden

Fällen unerwartet eine Dynamik entstehen kann.

Trotz ihrer vergleichsweise guten Bezahlung, aber

konfrontiert mit sinkenden Reallöhnen, mit einer

außergewöhnlichen Arbeitsverdichtung und einer

Gewerkschaft, die zum Kontrollorgan verkommen

ist, haben sie sich erhoben und eine Dynamik her-

vorgebracht, die die zentralen Anliegen der ge-

samten Arbeiterklasse umfasst.

Für den ersten Strang war der primäre Ansprech-

partner die Regierung. Für den zweiten Strang, die

Prekären, besteht der Kampf oft schon darin, ein

verantwortliches Gegenüber ausfindig zu machen,

und/oder dieses Gegenüber an einen Verhand-

lungstisch zu bringen. Für den dritten Strang der

Arbeiterbewegung, die Metallarbeiter, ist der erste

Ansprechpartner die Gewerkschaft. Hier zeigt sich

nun ein wesentliches Problem aktueller Arbeitsbe-

ziehungen in der Türkei: Die überkommenen ge-

werkschaftlichen Formen müssen überwunden

werden, damit die ArbeiterInnenbewegung in der

Türkei an Fahrt gewinnen kann.

REFO R MIER UN G DER ARBEIT ER BEW EGUN G

Die von den MetallarbeiterInnen gegründeten Rä-

te sind beachtenswert und stellen einen histori-

schen Gewinn dar. Antonio Gramsci unterstrich,

dass die Räte die Gesetzeskonformität im Bereich

industrieller Beziehungen zurückweisen, und in

unserem Fall passiert genau das. Wiederum nach

Gramsci repräsentieren die Gewerkschaften eben

jene Konformität und versuchen, ihre Mitglieder

an die Gesetze zu binden. Denn die Gewerkschaf-

ten müssen sich gegenüber dem Arbeitgeber ver-

antworten. An dieser Stelle entwickelte Gramsci

einen kritischen Vorschlag im Hinblick auf das

Verhältnis zwischen diesen beiden organisatori-

schen Modellen, der darauf zielt, den spontan ge-

wachsenen Räten die Permanenz von Gewerk-

schaften zu geben und den Bürokratismus der

Gewerkschaften aufzuheben: »Die Beziehungen

zwischen den beiden Institutionen müssen so or-

ganisiert werden, dass die Arbeiterklasse durch

die spontanen Impulse der Räte nicht zurückge-

worfen wird oder eine Niederlage erfährt. Mit an-

deren Worten, die Räte müssen die Disziplin der

Gewerkschaft verinnerlichen. Die revolutionäre

Identität des Rates muss so konzipiert werden,

dass er gegenüber der Gewerkschaft einen starken

Einfluss hat und die Bürokratie und den Bürokra-

tismus der Gewerkschaft aufhebt.«

Vor dem Hintergrund die-

ses Vorschlags von

Gramsci haben wir die

Einschätzung, dass die

Metallarbeiter ihre beste-

henden Räte stärken, auf

eine gewerkschaftliche

Organisierung jedoch

nicht verzichten sollten.

Doch das läuft auf ein

Verständnis von Ge-

werkschaft hinaus, das

die Arbeiter nicht auf

Mitglieder reduziert

und nicht die Auflö-

sung der Arbeiterräte vorantreibt. Die entschiede-

ne und mutige Rebellion der Metallarbeiter hat

grundlegende Erfahrungen für eine energische

Organisierung an der Basis ermöglicht. Ein ge-

werkschaftliches Verständnis, das diese Erfahrun-

gen produktiv weiterführt, gilt es zu entwickeln.

So müssen für eine aufstrebende Arbeiterbewe-

gung drei Hauptsäulen gebildet werden: Eine gut

funktionierende, partizipative gewerkschaftliche

Struktur; Räte, die eine starke Initiative an der

Basis ermöglichen; und im Hintergrund eine

linksorientierte Politik, die die hegemonialen Ka-

pazitäten der Arbeiterklasse erhöht. Wie sagte

Etienne Balibar einst: »Es wird immer eine Zeit

für die Arbeiterbewegung kommen, in der sie sich

gegen die bestehenden Organisierungsformen und

-praktiken neu formieren muss«. Die Arbeiterbe-

wegung in der Türkei erlebt genau diesen Mo-

ment. Es ist an der Zeit, die Solidarität, die Ideen

und die Erfahrungen zu vervielfältigen.

Hakan Kocak arbeitet an der Universität Kocaeli,

Fachbereich Arbeitsbeziehungen, und ist ehemali-

ger Mitarbeiter der Gewerkschaft Petrol-İş

Übersetzung: Fitnat Tezerdi und Errol Babacan

Macher*innen dieser Zeitung sind organisiert in der Anarchistischen Initiative Kaiserslautern (anarchisti-sche-initiative-kl.blogspot.de). Bei Fragen kann man sich an diese per Mail wenden ([email protected]).

Wir sind organisiert im Anarchistischen Netzwerk Südwest* (a-netz.org) und der Föderation deutsch-sprachiger Anarchist*innen (fda-ifa.org).

Empfehlung: Das Lower Class Magazine zur Repression der Türkei gegen die kurdische Freiheitsbewegung: http://lowerclassmag.com/2015/07/krieg-fuer-machterhalt/