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Nenad Veličković Der Vater meiner Tochter Das zweite Buch der Logiergäste Aus dem Bosnischkroatischmontenegrinischserbischen von Marija Ivanović

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Nenad Veličković

Der Vater meiner TochterDas zweite Buch der Logiergäste

Aus dem Bosnischkroatischmontenegrinischserbischen

von Marija Ivanović

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© 2003 by Nenad Veličković© 2016 by Marija Ivanović & SisyphusISBN 978-3-903125-06-3Preis : € 14,80

Lektorat & Korrekturen: Elisabeth Schicketanz Umschlagfoto: Nenad VeličkovićAutorenfoto: Marina Veličković

Die Herausgabe dieses Werks wurde gefördert durch TRADUKI, ein literarisches Netz werk, dem das Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres der Republik Österreich, das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland, die Schweizer Kultur stiftung Pro Helvetia, KulturKontakt Austria (im Auftrag des Bundeskanzleramts der Republik Österreich), das Goethe-Institut, die Slowenische Buchagentur JAK, das Mi ni ste rium für Kultur der Republik Kroatien, das Ressort Kultur der Regierung des Fürsten tums Liechtenstein, die Kulturstiftung Liechtenstein, das Ministerium für Kultur der Republik Albanien, das Ministerium für Kultur und Information der Republik Serbien, das Ministerium für Kultur der Republik Rumänien, das Ministerium für Kultur von Montenegro und die S. Fischer Stiftung angehören.

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7.Wer ist Vanda? Wenn ich gestorben bin, holt mein Gehirn raus und verbrennt es, bevor ihr mich begrabt. Was kommt aus dem Po, wenn man pupst? Salvador Dali wos told det God ist bjutiful man hi ekzaktli uan meter. So Gott will und mir meine Knie gehorchen. Hututumba. Sie beuten fremde Kinder im eigenen Land aus und horten das eigene Vermögen in fremden Ländern. Was ist Liebe noch nach zehn Jahren? Herr Abelbert. Drei Monate und achtzehn Hundertstel eines Monats.

„Wer ist sie?“, fragt Eva, während sie auf dem Teller eine klei-ne Polentasonne formt, die von Möhrenplaneten umkreist wird, für das Mädchen, das im Bad auf dem Klo sitzt und in Ches „Der Sozialismus und der Mensch auf Kuba“ blättert. Wer ist Vanda? Das Mädchen, mit dem ich in Vareš war, als ich sagte, ich sei bei meiner Mutter. Das Mädchen, mit dem ich über all das spreche, worüber ich mit Eva schweige. „Bales neues Mädchen für alles. Sie hat das Lidocain für mich besorgt. Wann hat sie angerufen?“ „Ich habe Kakaaa gemaaacht.“ „Gestern, als du in der Arbeit warst. Du sollst nicht vergessen, heute vorbeizuschauen.“ Eva ist nicht blöd. In der Arbeit schaut man nicht vorbei. Aber sie stellt keine Fragen. Vielleicht hat Bale ihr gesagt, dass ich gekündigt habe. Oder dass ich krankgeschrieben bin. „Ich weiß. Sie will, dass wir eine Kampagne für die Wahl ...“ „Für wen?“ „Mamaaa, kann ich heute das Matrosenröckchen in den Kin­der garten anziehen?“ „Friends, Romans, countrymen, lend me your ears. Das Stu­den tenradio ...“ „Nein! Es ist zu kalt für einen Rock! Was suchst du?“ „Socken.“

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„Wer macht meinen Popooo sauber?“ „Sie sind im Korb. Und bitte, verknüll sie nicht immer so.“ „... Benignis Das Leben ist schön im Kino Imperijal, vom ...“ „Sie waren doch gar nicht schmutzig ...“ „Ich habe Kakaaa gemaaacht!“ „Bitte, mach das Radio leiser. Ich komme, warte kurz!“ „Ich kann das auch machen.“ Ich kann, aber Eva ist schneller. Sie verschwendet im Gegensatz zu mir keine Zeit darauf, Dinge als nichtig abzutun. Ich habe den staubigen Che ins Lesenzimmer gebracht, sie hat ihn abgewischt und gelesen. Frauen altern früher, aufgrund der Ver-schleißerscheinungen, die durch den gleichzeitigen Gebrauch aller Sinne entstehen. „Mama, nähst du mir einen Zigeunerrock für den Maskenball?“ „Ist das die Zeitung von heute?“ „Mach ich. Ich weiß nicht, schau auf das Datum. Am Nachmittag werden wir die Flicken machen ...“ „Heute zeigen sie einen Benigni! Im Imperijal ...! „Ich weiß, es kam im Radio.“ „Hab’ ich nicht gehört.“ „Ich schon! Dich und sie und das Radio. Wenn ich gestorben bin, holt mein Gehirn raus und verbrennt es, bevor ihr mich begrabt. Damit ich aufhören kann zu denken ...“ „... NATO hat einen Job zu erledigen und wird ihn erledigen, sagte er in der Antwort auf die Frage nach der Einschätzung des russischen ...“ „Mama, was kommt aus dem Po, wenn man pupst?“ „Ich weiß es nicht. Frag Papa.“ „Wind.“ „Und warum stinkt der Wind?“ „Weil in ihm ein stinkendes Gas ist.“ „Und ist es durchsichtig oder hat es eine Farbe?“ „Was?“

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„Dieses Glas!“ „Was denkst du?“ „Ich denke, dass es irgendwie grau ist.“ „Sie ziehen Kinder groß, belasten sich, nehmen Kredite auf, beantragen Visa ... Wann werden sie ihre Stimme erheben ...“ „Wer bringt mich in den Kindergarten?“ „Ich.“ „Papa.“ „Papa, was ist das, eine Hure?“ Sie mag es, wenn wir spät dran sind, denn das bedeutet, dass sie auf meinen Schultern in den Kindergarten fliegen wird. Aber heute Morgen werde ich mich nicht beeilen. Bale und Vanda warten auf mich, der Handwerksmeister wird kommen, um uns die Woh-nungs schlüssel zurückzugeben, ich habe ein Treffen mit den Femi-nistinnen, ich kann den Besuch bei meiner Mutter nicht mehr ver schieben und muss mir die Spritze geben lassen und für das Studentenradio eine Verlautbarung gegen das Diktieren schreiben und mich vor den Monitor setzen ... Das Leben gleicht manchmal einer Luftballontraube, wobei ein Ballon nach dem anderen unserer festen Umarmung entgleitet. Mit dem Mädchen wie mit einer Pelz-mütze auf dem Kopf herumzurennen, wird den Tag nicht unbedingt verlängern. „Von wem hast du dieses Wort?“ „Von Denis. Er wird auf dem Maskenball als Hure gehen.“ „Denis redet Blödsinn. Wäre er klug, würde er nicht Kohl-rouladen in seine Hosentaschen stopfen.“ „Aber er muss ja, wenn wir nicht vom Tisch aufstehen dürfen, bis wir alles aufgegessen haben. Was ist das, eine Hure?“ „Das ist eine Frau, die in einem Freudenhaus arbeitet.“ „Was arbeitet sie?“ „Sie vermietet ihren Körper.“ „Wie vermietet sie den Körper?“

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„Sie legt sich hin und lässt den Kunden alles mit ihr machen, was ihm gefällt.“ „Was gefällt ihm?“ „Vor allem der Pipimann. Und jetzt reicht es!“ „Kann ein Mann eine Hure sein?“ Er kann. Ich bin eine Hure. Nur dass ich statt meines Pipi-manns mein Gehirn vermiete. Ich glaube, der Feminismus ist längst überwunden, und Männer in Frauenkörpern und Frauen in Mili-tärstiefeln, die wie ihre männlichen Gegner denken, werden die Welt nicht besser machen. Sie unterscheiden nicht zwischen politischer Blindheit und Nachtblindheit. Ich glaube, Geld ist der todbringende Rost für den Geist. Trotz allem komme ich nicht zu spät zu dem Treffen. Unser täglich Honorar gib uns heute und die Freiheit vielleicht morgen. Mit der freien Hand deutet sie auf den leeren Stuhl und lächelt hinter dem Hörer. Ich schließe die Tür, auf der Elizabeth steht, hinter mir und setze mich. Wer flicht erwachsenen Frauen so filigrane Zöpfe? Sie erinnert mich an das Bild einer Frau aus dem Stamm der Krähen-Indianer. Ihr Name war einfach Frau Häuptling. Sie saß bei den Män nern, kämpfte mit den Männern, jagte mit den Männern und war verheiratet mit vier Frauen, die die Häute der Bisons, die sie mit ihren Pfeilen erlegte, abzogen und gerbten. Das Zimmer ist klein, gut ausgestattet, hat ein großes Fenster zum Park, in dem Kinder, die ohne Eltern groß geworden sind, Wippen, Schaukeln und Rutschen ruinieren. Eine Wand des Office ist mit feministischen Parolen beklebt. Die Eherechte der Frau: Du wolltest einen Mann, also lebe nicht mit einem Gewalttäter zusammen. Wer dich schlägt, ist nicht Alko holiker, sondern ein Feigling. Das Recht der Frau ist es, lieb­kost und nicht geschlagen zu werden. Niemand hat das Recht, die Mutter deiner Kinder zu schlagen. Mütter müssen tapfer und stolz

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sein und nicht unterwürfig und ängstlich. Einem Mann fällt es leicht, eine verängstigte Frau zu unterjochen. Eine Ehe findet nicht zwischen dem Frosch im Hals und dem Veilchen auf dem Auge statt. Die Aufrufe sind nicht nur für ungebildete Frauen, sondern auch für ungebildete Männer bestimmt: Hey, Männchen! Bist du mit deiner Frau oder dem Fernseher verheiratet? Zeig uns doch mal auch den größeren deiner beiden Köpfe! Eine Frau ist kein Haushaltsgerät. Blumen und Blumenkohl sind nicht dasselbe! Ein Kondom ist nicht so schmerzhaft wie eine Kürette! Auch Frauen tragen ein Herz unter dem BH. Männer sind stolz auf ihre Frauen, Mäuse sind stolz auf ihre Muskeln. Ein Blut­erguss im Gesicht einer Frau ist ein Fleck auf der weißen Weste aller Männer. Und zum Schluss in Großbuchstaben: STOPPEN WIR DEN FEMINOZID! „Hi. Ich bin Elizabeth. Können wir uns auf Englisch unter-halten?“ „Jes.“ Ich nicke. Es ist auf jeden Fall besser, auf Englisch zu stottern als auf Französisch gehörlos zu sein. Im Umgang mit Ausländern ist Gerissenheit angebracht. Sie sind hier, um das ganze Geld, das sie hierzulande nicht für sich selbst ausgeben können, zu verbrauchen, und man sollte ihnen das nicht unnötig schwer machen. Ihre Taschen sind voller Krümel für hungrige Nachtigallen. Wenn sie fragt, was ich von den Plakaten halte, werde ich so tun, als ob nicht ich sie entworfen hätte. „Wie gefallen dir die Plakate?“ „Tej ar wanderful.“ Will ich etwas to drink? Nou, tenks. Sind wir uns schon mal begegnet? Möglich, Sarajevo is small town. Weiß ich, weshalb sie wollte see me?

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„Bikos of Plakat.“ Ich werde mein Unbehagen einfach nicht los. Ich mag Frauen. Aber – wenn auch sie Frauen mag? Sind wir Verbündete oder Riva-len? Können Männer Feministen sein, ohne sich umoperieren zu lassen? „Was machst du heute Abend? Willst du in die Präsentation gehen? Nur, ich weiß nicht, in wie viel Uhr sie beginnt. Vanda weiß. Kannst du er anrufen? Ich denke, in acht Uhr ist gut. Können treffen in Kathedral?“ „Danke, heute Abend kann ich nicht.“ „Gehst du in Mittagessen? Ich bin super hangri.“ Meine Gedanken schweifen ab, weil sie ihr Sakko ausgezogen hat. Ist das ein Test? Frauen tun manchmal solche Dinge. Auf den Run dungen unter dem T-Shirt steht „Gott ist schwarz und eine Frau“. Salvador Dali würde dem nicht zustimmen. Er sagte, dass Gott ein Mann von außergewöhnlicher Schönheit und genau einen Meter groß sei. „Salvador Dali wos told det God ist bjutiful man hi eksaktli uan meter.“ Sie lacht. Ich habe den Job. Vielleicht bekomme ich auch das Geld, wenn sie das Prodschekt durchsetzt. Sie folgt mir, wir geben uns die Hand, tauschen Visitenkarten aus, aber bevor sie die Tür schließt, drückt sie mir einen Flyer in die Hand. Darauf abgedruckt ist ein Quiz, das ich vor zwei Jahren für eine Kampagne gemacht habe:

1. Wenn Ihr Mann Sie ohrfeigt, würden Sie: a) die andere Wange hinhalten (3 Punkte) b) die Telefonnummer der Polizei und Ihres Anwalts wählen (1 Punkt) c) das Backblech im Ofen wenden (2 Punkte)2. Die besten Geschenke für eine verheiratete Frau sind: a) Blumen, Parfüm, Schmuck (1 Punkt) b) Sattel, Peitsche, Zügel (3 Punkte) c) Backblech, Schüssel, Nudelholz (2 Punkte)

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3. Eine Frau, die von ihrem Mann vergewaltigt wird, muss: a) schreien und um Hilfe rufen (1 Punkt) b) vor Zufriedenheit schreien (2 Punkte) c) vor Glück schreien (3 Punkte)4. Wenn dich dein Mann an den Haaren zieht, würdest du: a) zum Frisör gehen (3 Punkte) b) zur Nachbarin gehen (2 Punkte) c) zur Polizei gehen (1 Punkt)5. Eine Frau, die von ihrem Mann misshandelt wird: a) muss warten, bis er fertig ist (3 Punkte) b) darf nicht einmal darauf warten, dass er anfängt (1 Punkt)

Und was muss ein Mann, der von seiner Frau misshandelt wird – durch Ironie, Schweigen, ersticktes Schluchzen, durch Kopf schmerzen, Anschuldigungen, Ignorieren, durch ihr Sich-Ein schließen im Badezimmer, die Decke über den Kopf ziehen, durch Pedanterie, das Bügeln von Vorhängen, durch das Weinen über verbranntem Kuchen, durch Großreinemachen, durch Diä ten, durch die alltäglichen Launen, die über ihr Gesicht huschen wie Wolkenschatten über die Mauern von uneinnehmbaren Festungen? Frauen sind von der Schuld an den Verbrechen befreit, die sie vor der Menstruation begehen. In dieser Welt gibt es immer mehr Ge setze und immer weniger Gerechtigkeit.

Wenn Sie mehr Punkte haben, als es Fragen gibt, wählen Sie ...

„Hallo – ich sage das eine, Sie etwas ganz anderes. Im Flur haben Sie ein Stück Parkett unter dem Linoleum nicht verlegt ...“, Eva ist bereits laut geworden. „Das sieht man sowieso nicht“, sagt EPU. „Zwischen dieser Tür und der Schwelle klafft ein Riesenloch.“ „Das ist, weil das Gebäude versinkt.“ „Es versinkt nicht, die Erde um das Gebäude senkt sich. Und ihr habt den Mörtel auf dem Parkett angemischt.“

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„Ach, komm schon, das wird mit einem Teppich abgedeckt.“ „Das Wasser läuft nicht ab.“ „Der Abfluss muss sauber gemacht werden.“ „Die nackten Drähte, die aus dem eingebauten Boiler kommen, stehen unter Strom.“ „Das ist das Boiler-Modell. Ich kann ihn einbauen, aber dann kannst du ihn nicht mehr ein- und ausschalten.“ „Und wozu brauche ich dann einen Boiler?“ „Deswegen habe ich ihn ja auch nicht eingebaut.“ „Die Löcher in der Wand sind größer als die Verteilerkästen.“ „Man kann Bilder drüberhängen. Viavi von den Kästen, die hab’ ich dir gar nicht berechnet ...“ „Die Fenster sind nicht auf derselben Höhe.“ „Du drehst ihnen sowieso den Rücken zu.“ „Ihr habt den Schutt nicht entsorgt.“ „Das werden wir, so Gott will und mir meine Knie gehorchen.“ „Ihr Bettchen hat keine Leiter.“ „Kinder klettern auch ohne Leiter rauf und runter.“ „Von der Decke blättert die Farbe ab.“ „Ich hab’ dir doch gesagt, dass der Verputz noch nicht trocken ist.“ Schließlich bekommt er sein Geld, und wir bleiben zurück, glück lich darüber, dass er nicht wiederkommt. Unser Entschluss, ihn nicht wieder anzurufen, ist nur ein schwacher Trost. Sollten wir wieder eine Wohnung renovieren, wird EPU nicht mehr unser Handwerksmeister sein. Solche wie er enden in der Politik. Endlich in der eigenen Wohnung! Wir haben die Installationen, sie müssen uns nur noch das Gas anschließen. Wir haben ein Hoch-bett im Kinderzimmer, sie müssen uns nur noch die Leiter bringen. Wir haben eine neue Wohnung, nur das Geld zum Leben fehlt uns noch. „Können wir einen Kredit aufnehmen?“

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Hututumba war einst ein Krieger, der einen großen Ring in der Nase trug. Jetzt unterhält er Matrosen auf einem Schiff, indem er durch den Ring springt wie über ein Tau. Wenn ein Krieger aus seinem Stamm beim Schamanen einen Kredit aufnimmt, wird ihm als Zeichen dafür, dass er etwas schuldig ist, ein Ring durch die Nase gestochen. Das sind die Zinsen. Wenn der Krieger die Schul den nicht in einem bestimmten Zeitraum zurückzahlen kann, setzt der Schamane ihm einen größeren Ring ein oder be festigt eine Kette am Ring und bringt den Krieger zum Sklaven händler, um ihn zu verkaufen. Wenn man Hututumba fragt, was Zin sen sind, antwortet er: „Das, womit sie Krieger an der Nase ziehen.“

Sie hat ein Sahneflöckchen auf der Nase. Schon den dritten Tag bekommt sie zum Frühstück, Mittag- und Abendessen Sandwichs – nicht gerade ein Festmahl für ein Mädchen, das gerade vom Grund-schultest zurückgekommen ist. „Papa, haben wir das Gas bezahlt?“ „Ja, haben wir.“ „Warum haben sie es uns dann abgestellt?“ „Weil wir Schafe sind.“

Klick. Gas.Wir haben keine Hufe und keine Wolle, aber wir machen „mäh“. Wir können einen Grillspieß und einen Fahnenmast nicht von­einander unterscheiden. „Kapier’ ich nicht.“ „Das hat Zeit, du wirst es schon noch kapieren. Im Herbst kommst du in die Schule. Du wirst ein kleiner Soldat im großen Kampf für das Wissen werden. Du wirst viele wichtige Dinge lernen. Du wirst lernen, aufzuzeigen, wenn sie dich etwas fragen, und nicht zu sprechen, wenn sie dich nicht fragen, du wirst auch lernen, dich in einer Reihe anzustellen, aufzustehen, wenn du keine Lust dazu hast, schlafen zu gehen, wenn du nicht müde bist, du wirst lernen, dass Kinder in Klassen und Ab­tei lungen eingeteilt werden, dass in der Pause gegessen wird

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und nicht dann, wenn man hungrig ist. Du wirst lernen, dass für das schlechte Benehmen eines Einzelnen normalerweise die ganze Klasse bestraft wird.“ „Warum?“ „Damit sie dir, wenn du einmal groß bist, das Gas abstellen können, auch wenn du es rechtzeitig bezahlt hast. Die Zukunft ist voller Versprechen für Kinder, die zwölf Jahre lang das ler nen, was sie am wenigsten brauchen. Liberté, egalité, frater nité.“ Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. „Warum schicken dann die Mamas und Papas die Kinder in die Schule, wenn die Kinder dort lernen, was sie gar nicht brauchen?“ „Damit die Kinder zuhause nicht stören und damit die El­tern keine Strafe bezahlen müssen, weil alle Kinder eine ge­setz lich geregelte Schulbildung bekommen müssen.“ „Werde ich auch eine Schulbildung bekommen?“ „Ja, das wirst du. Ich kann es kaum erwarten, bis du das Wurzelziehen, Valenzen, die Einwohnerzahl von Simbabwe und die Differentialrechnung lernst. Kein Junge wird sich für dich interessieren, wenn du nichts über Integrale weißt. Das ist für das Leben viel wichtiger als Kuchen backen zu können, zu wissen, welche Pilze essbar sind, wie du deine Angst vor Insekten in den Griff kriegst, wie du Ameisen aus der Küche vertreibst, ohne sie zu töten, wie du einen Brief mit dem Computer schickst, wie du ein Baby fütterst ...“ „Wo lernt man das?“ „In der Schule bestimmt nicht. In der Schule lernt man, wie hoch der Mount Everest ist und wie lang die Wolga und wie viele Nullen eine Million hat.“ „Was ist das, eine Null?“ „Dasistnichts.WenndueinenApfelhastundihnaufisst,hast du nichts mehr.“ „Doch, ich habe den Apfelbutzen.“ „So ist es. Du hast auch einen Staat, und in Wirklichkeit bleibt dir ein Butzen.“ „Gibt es jemanden, der eine Million Mark hat?“ „Ein paar Onkelchen.“

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Was sind das für Onkelchen? Kluge, praktische, geschickte. Sie beuten fremde Kinder im eigenen Land aus und horten das eigene Vermögen in fremden Ländern. Sie sind die Zukunft un se rer Art. Sie glauben an Gott und handeln nach Darwin. Sechs Tage lang zeigen sie keine Gnade, am siebten verteilen sie Gnadenbrot.

... gratia plena. Dominus tecum, benedicta tu in mulieribus et bendictus fructus ... hrfsschiihhfsschi... Lammfleisch, gebratenes Zicklein, der richtige Ort für Geflüster, das Restaurant zum Raje ... rhfrkssch... Vater, Väterchen, verjaag’ ihn nicht von der Regenrinne ... hrfsschiihhfssch... der Pressesprecher der westlichen Allianz ... hrfsschiihhfssch... gonna change my world, nothing’s gonna change my world ... hrfsschiihhfssch... Mein Mann verrichtet das kleine Geschäft neben der Kloschüssel. Was soll ich tun? Verrücken Sie die Klo schüssel ... hrfsschiihhfssc... meinee Trääumeee sind schooon laange zerrisseeen, sieee weerden niee erfüüüllt weeerdeeeen ... Auf deiner Frequenz, das Studentenradio.

Sonntagmorgen in der renovierten Wohnung: Bienen, Wespen, Staubsauger, Fliegen, Kaffeemühlen summen. In der Džezva-Kan-ne, den Abflüssen, den Wasserhähnen und Spülkästen gluckert das Wasser ... Zigaretten werden angezündet, Autos, Radios, Gas herde, Fernseher werden in Betrieb genommen ... Ein weiterer Sonntag, der Tag, an dem der Schrecken freigelassen wird, beginnt ohne uns. Wir sind in der Zukunft. „Wir werden einen Schiffsboden verlegen und ihn mit Wachs ein lassen. Und einen Kamin einbauen. Wir werden einen Klodeckel aus Holz kaufen. Dann werden wir die Küche dekorieren, mit Gläsern voller Marmelade und Nudeln und Gewürzsträußchen und Kräutersträußchen für Tee. Dann noch die Geschirrspülmaschine. Hängeschränke. Ein Gas- und Stromherd. Und eine Leiter für ihr Bettchen. Ich werde den Garten umgraben, wir werden Efeu pflan-

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zen, damit er die Narben auf der Fassade verdeckt. Wir werden Geld verdienen.“ „Als wir uns kennenlernten“, sagt Eva traurig, „sagten wir immer, dass Geld nicht wichtig ist.“ (Auf die Webseite das Foto eines Indianerhäuptlings stellen. Der Text: „Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss ver-giftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr feststellen, dass man Geld nicht essen kann.“)

„Aber ohne geht es nicht.“ „Ohne Liebe geht es nicht.“ Was ist Liebe? Freundschaft, Treue, Respekt? Was ist Liebe noch nach zehn Jahren? „Wir gehen nach Australien.“ „Ohne mich?“ „Hier sind wir doch auch nicht mit dir zusammen. Entweder du starrst den Bildschirm an oder du schläfst oder du bist bei irgendeinem Treffen. Hast du wirklich Angst, krank zu sein?“ Habe ich Angst? „Wenn du Angst hast – es gibt noch mehr Ärzte. Geh nach Ljubljana. Geh nach Deutschland.“ „Nach Australien?“ „Ich erkenne dich nicht wieder. Du bist voller Zynismus, Arroganz, Wut.“ „So sind wir Atheisten eben.“ „Das hat nichts mit dem Glauben zu tun.“ Doch hat es, Eva, hat es. Du gehst dorthin, wo dir jemand den Weg leuchtet. Ich tappe im Dunkeln. Ich habe keine Welt außer der hier, und in ihr finde ich mich immer schwerer zurecht. Vielleicht ist es gut, dass ihr beide nach Australien geht. Dir das Mädchen, mir Vanda. „Was machen wir mit der Wohnung?“ „Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?“

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„Ja.“ „Bleib hier, bist du sie verkauft hast. Dann schick uns unseren Anteil.“ Das ist Liebe nach zehn Jahren. Eine Geschäftsgemeinschaft. Deshalb sind die Sonntage für uns die schlimmsten Tage: Wir prallen auf die Freizeit und attackieren uns zwei Tage lang wie Junkies auf Entzug.

Klick. Foto. Ein Bursche schnupft weißen Staub in Form eines Totenkopfs durch ein Röhrchen vom Tisch. „Ha – schisch!“ Klick. Klick, Foto. Möwe. Flügel mit schwarzem Gold verklebt. „Always – selbstklebende Flügel.“ Klick. Send message. To: Vandalusion. als du gestern rausgegangen bist, war es als ob jemand das licht ausgeschaltet hätte. Delete. Yes. Klick. Send message. To: Vandalusion. du bist die beste werbung für siemens. Delete. Yes. Klick. Nachrichten. Nato­Angriffe. MiloševićbesuchtzerstörteBrücke.Klick.Milošević,inDaytonbei der Besichtigung der militärischen Exponate, über die Tomahawk­Rakete: „So klein und kann doch so viel Schaden an richten.“ Klick. „Unsichtbarer“ Bomber über Serbien ab ge­schossen. „Ich stelle mir den Stolz jener Kameraden vor, die sich zum Beispiel in Cuatro Bocas befanden und ihre Heimat vor den Yankee­Flugzeugen schützten, als einer von ihnen das Glück hatte zu sehen, wie seine Schüsse das feindliche Flugzeug trafen. Das ist natürlich der glücklichste Augenblick im Leben eines Menschen. Das vergisst man nicht. Die Genossen, die diese Erfahrung gemacht haben, werden sie niemals ver­gessen.“ (Che Guevara, Der Sozialismus und der Mensch in Kuba.) New message. To: Vandalusion. der tag beginnt für niemanden so schön wie für deinen spiegel. Delete. Klick. Knetmassemenschen. Klick. Herr Abelbert. Herr Abelbert trägt nicht wie die meisten Menschen einen Hut auf dem Kopf, sondern ein Telefon. Wenn die anderen

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Menschen zum Zeichen des Grußes den Hut heben, hebt er den Telefonhörer. Aus ihm hört man dann die Zeitansage. Deshalb kommt Herr Abelbert nie zu spät zum Mittagessen. Er wundert sich über jeden, der die Zeit in Minuten und Sekunden misst anstatt in Begegnungen mit Menschen.

drrrring ... Ich habe gewusst, dass es Mama ist. Wenn sie anruft, klingelt das Telefon leiser. Sie wollte nicht anrufen, während ich arbeite (sie hat angerufen!). Sie wollte nicht stören (sie stört!), sie wollte mich nicht unterbrechen (sie hat mich unterbrochen!), sie wollte nur meine Stimme hören. Und fragen, ob wir am Nachmittag kommen. Wie geht es mir? Warum fragt sie, wie es mir geht? Vielleicht spürt ihr Mutterinstinkt etwas? Oder ist das ihre alte Angst um mich, die Frauen mit ihrer Krankheit die Halskrause aus Gips ersetzt ... „Entschuldige Mama. Bleib dran ...“ Ich will nur nachsehen, was Vanda auf meinen Monitor geklebt hat. Wieder ein Wettbewerb für ein Plakat ... Wieder das Thema Rückkehr der Flüchtlinge. Mir schmeichelt mein neuer Status in der Agentur. Sie lassen mich an meiner Webseite arbeiten, im Gegenzug unterstütze ich dann und wann die gemeinsamen Bemühungen. Rückkehr der Flücht linge ... Ich stehe auf, gehe zur Phototek, im Gegensatz zu dir, Vanda, weiß ich, wo sich was befindet, ich habe das alles jahrelang zu sam mengetragen und geordnet. „Hier. Text bis morgen?“ Vanda hält ein Foto in der Hand, auf dem nistende Schwalben in der von Granatsplittern durchlöcherten Fassade eines alten bosni-schen Hauses zu sehen sind. Wieder sieht sie mich mit diesem Ausdruck in den Augen an, wie vor dem Ausflug nach Vareš. „Du bist verrückt! Ein Wahnsinniger! Komplett durchgedreht.“ So sagt man in ihrer Sprache „Genie“. Das ist ihre Interpretation von Genialität: das Leben bis zum Maximum banalisieren.

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„Kein Text. Das Bild reicht. Nur eine Überschrift: POBPATAK.“ Rückkehr. Der Mix aus lateinischem und kyrillischem Alphabet ist gerade in.7

„Schönes Hemd. Ist das von Street One?“ „Nein. Hand Two.“ „Idiot.“ Im Louvre würde man ihr Lächeln nur hinter Panzerglas aus stel-len. Wäre ich eine Sonnenblume, würde ich mich nach ihm aus richten. Mama! Ich habe ganz auf das Telefon vergessen! Der Hörer liegt neben der Tastatur. Tut, tut, tut ... Sie hat gewartet, gewartet und gewartet und aufgelegt. Und mir vermutlich schon verziehen. Ich werde Microsoft eine E-Mail schicken. Sie sollen einen Virus für die Computer undankbarer Söh-ne entwickeln: Nach einer halben Stunde beginnt das Bild auf dem Monitor zu verschwimmen, als ob Augen voller Tränen es an sehen würden.

Durch das Fenster, an dem der Regen herabfließt, schaut das Mädchen auf die Festung Kalemegdan. Boote in der Mitte des Flus-ses, die weißen Fassaden, das ganze Durcheinander einer Groß-stadt. Der Zug fährt in den Bahnhof ein, die Räder quietschen, der Rauch verfliegt, und Milenas Fahrer, Nikolaj, hält auf dem Bahn-steig vor dem Fenster an. Sie wendet den Blick von den Schultern des Vaters zu den Frauen mit Kopftüchern, die zwischen den Kör-ben und Tischdecken stehen, schaut zu den bärtigen Bauern hin-ter den Körben für die Weinlese und zu den Korbflechtern, zu den Eisenbahnern und den Polizisten in Uniform, zu den Damen in nassen Schuhen unter aufgespannten Sonnenschirmen, zu den Soldaten, an denen gewalkte Hemden dampfen.

7 bosn. povratak, in kyrill. Schrift: ПОВРАТАК, Rückkehr

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Das Automobil fährt auf einer breiten Straße bergan, an den Häusern, die so hoch sind wie die Berge, an Vareš vorbei, man zeigt ihr die Cafés, die Schaufenster, den Palast. Die Mutter steigt als Erste aus und eilt die Treppe hinauf. Der Vater und Nikolaj tragen die Koffer. In der Wohnung der Tante kneift man ihr in die Wangen, küsst sie, kitzelt sie, bietet ihr Kuchen an. Dann wird sie in die Küche geführt, zu dem schweren Vorhang, hinter dem sich der Durchgang zu Omas Zimmer befindet. Als sich der Vorhang hinter ihr schließt und sich ihre Augen an die Dunkelheit des Damenzimmers, das aufgrund eines nachträglichen Umbaus kein Tageslicht hat, gewöhnt haben, sieht sie als erstes zwei große Fäuste, ineinander verschränkte fleischige Finger. Dann treten langsam ein runder Tisch, ein Sessel in der Ecke und Omas großer Körper aus der Dunkelheit hervor, die durch das schwache gelbe Licht der Tischlampe gewärmt wird. Omas Hände riechen nach Pomade, doch der Geruch macht die Luft im Zimmer noch drückender und dicker. Die Oma kann sich kaum bewegen, so schwer ist sie, und sitzt wie festgeklemmt in ihrem Schaukelstuhl, sie neigt sich zu dem Mädchen hin, löst die Finger voneinander, breitet ihre Arme aus, und es ist, als ob erst jetzt die Tür des Zimmers wirklich aufginge. Später spielen sie Damen. Das Mädchen ist Milena, die der Oma anständiges Benehmen beibringt. „Schmatz nicht. Mädchen sitzen nicht so. Schultern zurück. Kau langsamer. Nicht mit diesem Messer! Wie sagt man? Eine Schande, was sind das für Fingernägel. Ellbogen an den Körper ...“

Noch später. Sie sehen sich Ansichtskarten an, und auf den Fotos der Städte, zwischen den Figuren der Passanten, suchen sie Milena, die sich versteckt hat: in der Straßenbahn Nummer zwei, auf der Avenue de la Victoire in Nizza; im Lift des Eiffelturms, hin ter dem Maronenverkäufer auf dem Wenzelsplatz; in einer Dampf wolke auf dem Wiener Bahnhof, im Boot vor der Insel Gospa od Škrpelja ... Schließlich taucht Milena auf, die echte Milena, in einem dunk len Mantel und mit trockenen Schuhen, mit einer Baskenmütze

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auf dem Kopf, die Lippen zusammengepresst, und alle werden ernst. Das Mädchen ist noch zu klein, um die Gespräche zwischen Mutter und Onkel zu verstehen. Vier Schwestern, alle geliebt, alle un glücklich. Unzufrieden. Mit dem Leben in der Provinz. Mit dem Leben ohne Liebe. Mit dem Leben mit der Mutter. Mit dem Leben ohne Geld. Mit dem Leben ohne Kinder. Mit dem Leben mit Ge-heimnissen. Eine verheimlicht die Beziehung mit dem Chauffeur ihrer Schwester. Die zweite den Bankrott der väterlichen Firma. Die dritte Schulden. Die vierte den Alkohol. Alle rauchen sie. Das Zimmer ist voller Rauch.

Der Waggon ist voller Rauch. Die Mutter kocht, mit einer Zi-garette zwischen den Fingern. Das Essen riecht nach öligen Eichen-schwellen. Es ist ihr dritter Umzug nach der Befreiung. Der Vater baut heruntergekommene Eisenhütten und Gießereien wieder auf. Das Mädchen mag das Reisen in den Pferdewaggons. Die Holz kisten mit den Habseligkeiten der Familie sind in einem und sie alle mit den Betten und dem Herd in einem anderen Wagen. Sie verbringen die Tage auf den Nebengleisen. Mikica bringt jeden Tag eine tote Maus und legt sie der Mutter vor die Füße. Die Mutter schreit sie an.

„Hau ab! Ksch! Weg da. Idiot. Er macht mich noch verrückt. Morgens um vier beginnt er zu miauen. Dann springt er mir auf den Kopf. Ksch! Sieh dir seine liederliche Visage an. Jetzt hat er das Hühnchen gerochen und wird maunzen, bis er alles aufgefressen hat. Dann wird er Durchfall bekommen. Ruhe! Ksch! Und sie, die Ärmste, hustet nur und versteckt sich in den Schränken. Gestern hat er sich in die Waschmaschine gelegt. Als ich ans Telefon gegangen bin. Beinahe hätte ich ihn mitgewaschen. Wäre Lena nicht davor gestanden und hätte reingeschaut, wäre er ersoffen. Ksch! Du Tunicht gut. Schau, was du mit meinen Sesseln gemacht hast. Ich

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schwöre dir, ich schneide ihm die Krallen ab. Dem Herrn sind Katzen kekse nicht mehr gut genug. Nur noch Hühnerfleisch. Ich esse Konserven, und er speist Hühnerschlegel. Gestern fing mein Magengeschwür wieder an, und sie kam und legte sich auf meinen Bauch und es ging vorbei. Da sag’ doch noch einer, dass Katzen dumm sind. Wir sind dumm.“ Der Kater versucht Lena von Evas Schoß zu vertreiben. Er schubst sie, er drängt sie weg, schließlich setzt er sich auf ihren Kopf. „Ksch! Jag’ ihn weg. Er wird noch auf dein T-Shirt pinkeln. Warum hab’ ich dich gestern nur aus der Maschine geholt, du Kretin! Du Gierschlund. Er frisst ihr immer alles weg. Jetzt sperr’ ich ihn ein und gebe zuerst ihr etwas. Aber er lernt schnell, er hängt sich an die Klinke und öffnet so die Tür. Du meine Güte. Es fehlt nur noch, dass er zu sprechen anfängt.“ Immer wenn sie ein wenig nervös ist, redet Mama sehr viel. Ihre Schwiegertochter und die Enkelin besuchen sie ja nicht jeden Tag. Eva streichelt Lena, die auf ihrem Schoß liegt, das Mädchen schaut alte zerfledderte Ansichtskarten an, aus denen jemand die Briefmarken ausgeschnitten hat. „Mädchen sollten sich nicht die Nägel lackieren.“ „Die hat Mama mir lackiert, damit ich nicht an ihnen kaue.“ „Und warum kaut sie an den Nägeln? Seid ihr mit ihr beim Psychiater gewesen?“ „Wegen so etwas geht man mit Kindern nicht zum Arzt.“ „Ich weiß, aber ihr geht nie mit ihr zum Arzt.“ Das ist richtig. Wir haben sie sogar ungern impfen lassen. „Warum sollten wir mit ihr zum Arzt gehen, wenn sie gesund ist?“ „Und warum hat sie dann solche Ringe unter den Augen? Ich habe gelesen, dass das mit den Nieren zusammenhängt.“ „Oma, ich habe gestern die Polizisten aus New York ange-schaut.“

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„Das ist keine Serie für Kinder. Mädchen müssen früher schlafen gehen.“ „Sie schläft generell wenig.“ „Schlaf ist für Kinder in ihrem Alter so wichtig wie Essen. Habt ihr ein Blutbild machen lassen?“ „Warum?“ „Sie ist blass, als ob sie ein wenig anämisch wäre.“ „Weil sie kein Fleisch isst?“ „Und weil sie zu viele Süßigkeiten isst.“ „Wir geben ihr Algen.“ „Algen sind kein richtiges Essen.“ Erst vor Kurzem habe ich begriffen, dass die beiden, wenn sie über das Mädchen reden, eigentlich über mich reden. Nicht das Mädchen ist blutarm, blass, nervös. Ich bin derjenige, der wenig isst und wenig schläft. Ich bin Mamas Lebenswerk, das Eva ruiniert hat. Der Name meiner Krankheit ist Eva. Wenn wir draußen sind und der Magnet an der Lifttür „klick“ gemacht hat, wird mir Eva zu Recht wieder einmal übel nehmen, dass ich mich nicht zwischen sie und diese boshafte Frau gestellt habe. Warum habe ich ferngesehen, während sie sich für uns beide rechtfertigen musste? Warum habe ich kein Wort von Australien gesagt? Warum habe ich zugelassen, dass sie auf unserer Tochter herumhackt? Warum sind wir überhaupt hergekommen?

Klick. Ein Quiz. Was würden Sie tun, wenn Sie zu Besuch bei Ihrer Mutter die Toilette aufsuchen und bemerken, dass Ihnen das Wasser aus dem Spülkasten ins Genick tropft? a) den Spülkasten reparieren b) die Beine spreizen und im Stehen pinkeln c) den Regenschirm aufspannen und im Sitzen pinkelnWenn Sie c) ankreuzen, wird Ihre Mutter lächeln.

Mütter finden immer das komisch, was ihre Schwiegertöchter schrecklich finden. Eva hat es satt, an kaputten Türgriffen zu zie-

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hen, defekte Bügeleisen auseinanderzunehmen, durchgebrannte Glüh birnen und verstopfte Staubsaugerfilter zu wechseln. Sie wird es ohne mich leichter haben, in Australien.

Klick. Wenn Ihre Mutter den Postboten erwartet, aber die Nach­barinZagaanihrerTürklopftundeintritt,würdenSiesagen: a) Der Postbote klingelt normalerweise nicht einmal. b) Seit wann klopfen Sie an, bevor Sie hereinkommen? c) Haben Sie schon wieder eine zu hohe Stromrechnung be kommen?

„Haben Sie schon wieder eine zu hohe Stromrechnung be-kommen?“ „Zaga, meine Liebe, ich habe dir das doch schon einmal erklärt.“ „Ich weiß, aber ...“ „Was verstehst du nicht? Gib mir die Rechnung. Der Strom hat zwei Tarife. Der eine ist billiger, der andere teurer. Wie lang ist der Abrechnungszeitraum?“ „Das verstehe ich eben nicht: 3,18 Monate.“ „Was verstehst du daran nicht?! Drei Monate und achtzehn Hundertstel eines Monats.“ „Eben ... Wie kann ein Monat Hundertstel haben ...?“ „Das ist so: Wenn ein Monat dreißig Tage hat, dann sind acht Stunden ein Hundertstel des Monats, das ist ein Drittel des Tages, also machen achtzehn Hundertstel wie viel? Sechs Tage. Auf deiner Rechnung vom Achtzehnten bis zum Zweiundzwanzigsten hast du vier Tage. Das ist so, weil März und Mai jeweils einunddreißig Tage haben. Das bedeutet, dass ein Hundertstel des Monats acht Stunden und sechzehn Minuten beträgt, was mit achtzehn Hundertsteln wie viel ergibt? 108 Tage. Verstehst du es jetzt?“ „Nein. Seit mein Endži runtergefallen ist, verstehe ich einfach gar nichts mehr.“

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Endži war ihr Kater. Er ist vom Balkon aus auf eine Taube gesprungen. Zaga hat dann einem Zigeuner zehn Mark gegeben, damit er ihn wegbringt und vergräbt. Dann hat sie einem Nachbarn noch einmal zehn Mark gegeben, damit er aufpasst, dass der Zigeuner den Kater nicht auf den Müll wirft. Dann ist sie den beiden hinterhergeschlichen, weil sie Angst hatte, dass es dem Nachbarn egal sein könnte, was mit dem toten Kater passiert. Mama hat jetzt ein schlechtes Gewissen. Sie hält sie auf, sie soll den Kuchen probieren. Zaga gefällt das Cover des Buches Sprache und Politik. Darauf ist eine Schlange abgebildet, deren Zunge sich anstatt in zwei in drei Spitzen spaltet. Mama hat ein neues Rezept. Man kauft eine geschmacks-neutrale italienische Biskuitroulade, schneidet sie in Scheiben und legt sie auf ein Backblech, übergießt sie mit Zuckerwasser und streut Walnüsse darüber. Man isst den Kuchen mit dem Löffel. Ich habe ihn fünf Minuten mit dem Föhn getrocknet. Die beiden haben mal wieder Tränen gelacht.