Nepal Observer

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Nepal Observer An internet journal irregularly published by Nepal Research Issue 64, February 2, 2021 ISSN 2626-2924 Gravierende politische Krise Von Tsak Sherpa Fünf Jahre nach der Verabschiedung der Verfassung, ist eine Krisensituation in Nepal nicht mehr zu leugnen. Die Administration unter Premierminister Oli und die politische Elite verlieren sich in internen Machtkämpfen. Dabei ist die politische Krise nicht unmittelbar mit der Corona-Pandemie verknüpft. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie müssen als unzureichend und wenig durchdacht bezeichnet werden. Der harte Lockdown hat die bedürftigsten Menschen nachhaltig getroffen. Die politischen Auseinandersetzungen nutzte Premierminister Oli am 20. Dezember 2020 zur Auflösung des Parlamentes, deren Verfassungswidrigkeit geprüft wird. Kostspielige Neuwahlen scheinen zumindest auf längere Sicht nicht ausgeschlossen. Es bleibt zu hoffen, dass sich Nepal politisch beruhigt zu Gunsten vieler bedürftiger Menschen, die um ihre Existenz bangen. Nur fünf Jahre nach der Verabschiedung der neuen Verfassung steht Nepal schon wieder vor einem konstitutionellen und politischen Scherbenhaufen. Verantwortlich dafür zeichnen einmal mehr die politischen Anführer der großen Parteien, die sich allesamt seit Jahren an die Macht klammern bzw. um dieselbe ringen, obgleich alle von ihnen bereits in der einen oder anderen Form wiederholt gescheitert sind. Inkompetenz, Machtgier, Korruption, Vetternwirtschaft, fehlendes Unrechtsbewusstsein und unvorstellbare Selbstüberschätzung sind die Stichworte, die leider auf mehr oder weniger alle Spitzenpolitiker des Landes zutreffen. Schlüsselfigur im augenblicklichen Drama ist Premierminister Khadga Prasad Sharma Oli, der dabei allerdings auf die tatkräftige Unterstützung seiner Parteigenossen aus der Nepal Communist Party (NCP) bauen konnte. Nach endlosen innerparteilichen Machtkämpfen, die sich das ganze Jahr 2020 hindurchzogen, drohte Oli Ende 2020 die Kontrolle über seine Partei und damit auch über die Regierung zu entgleiten. Dabei verfügte seine NCP seit dem Zusammenschluss ihrer beiden Mutterparteien im Mai 2018 beinahe über eine Zweidrittelmehrheit im nationalen Repräsentantenhaus sowie über satte absolute Mehrheiten in sechs der sieben föderalen Provinzen. Einen solchen Rückhalt hat seit der Demokratisierung Nepal im Jahre 1990 keine Regierung auch nur annähernd besessen. Was Premierminister Oli auf der Grundlage dieses unglaublichen Vorteils geschafft hat, lässt sich mit einem einzigen Wort treffen beschreiben: Nichts! Als er 2018 sein Amt antrat, gab es zahlreiche Auflagen der Verfassung und des föderalen Staates, die innerhalb weniger Monate hätten umgesetzt werden müssen. Viele dieser Aufgaben wurden bis heute nicht angegangen. Die wenigen Dinge, die sich in den ersten beiden Jahren seiner Amtszeit positiv entwickelten, so beispielsweise der Tourismus, taten dies ohne Olis Zutun. Der Abschluss des Wiederaufbaus nach den Erdbeben von 2015, die Schaffung von Arbeitsplätzen im Land, die Verbesserung der Infrastruktur, all das verlief äußerst zögerlich. Anstatt den Föderalismus weiterzuentwickeln, stärkte Oli zunehmend den Zentralstaat. Grundlegende Menschenrechte wie die auf Information, Rede-, Meinungs- und Demonstrationsfreiheit, wurden wiederholt eingeschränkt. Bei persönlicher Kritik am Premierminister, auch über die sozialen Medien, drohten Verhaftungen. Die unabhängige Arbeit der Journalisten wurde extrem eingeschränkt. Als 2020 die Pandemie über das Land hereinbrach, zeigte sich die Oli-Regierung unfähig, dieselbe auch nur 1

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Nepal ObserverAn internet journal irregularly published by Nepal Research

Issue 64, February 2, 2021

ISSN 2626-2924

Gravierende politische Krise

Von Tsak Sherpa

Fünf Jahre nach der Verabschiedung der Verfassung, ist eine Krisensituation in Nepal nicht mehr zu leugnen. Die Administration unter Premierminister Oli und die politische Elite verlieren sich in internen Machtkämpfen. Dabei ist die politische Krise nicht unmittelbar mit der Corona-Pandemie verknüpft. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie müssen als unzureichend und wenig durchdacht bezeichnet werden. Der harte Lockdown hat die bedürftigsten Menschen nachhaltig getroffen. Die politischen Auseinandersetzungen nutzte Premierminister Oli am 20. Dezember 2020 zur Auflösung des Parlamentes, deren Verfassungswidrigkeit geprüft wird. Kostspielige Neuwahlen scheinen zumindest auf längere Sicht nicht ausgeschlossen. Es bleibt zu hoffen, dass sich Nepal politisch beruhigt zu Gunsten vieler bedürftiger Menschen, die um ihre Existenz bangen.

Nur fünf Jahre nach der Verabschiedung der neuen Verfassung steht Nepal schon wieder vor einem konstitutionellen und politischen Scherbenhaufen. Verantwortlich dafür zeichnen einmal mehr die politischenAnführer der großen Parteien, die sich allesamt seit Jahren an die Macht klammern bzw. um dieselbe ringen, obgleich alle von ihnen bereits in der einen oder anderen Form wiederholt gescheitert sind. Inkompetenz, Machtgier, Korruption, Vetternwirtschaft, fehlendes Unrechtsbewusstsein und unvorstellbare Selbstüberschätzung sind die Stichworte, die leider auf mehr oder weniger alle Spitzenpolitiker des Landes zutreffen.

Schlüsselfigur im augenblicklichen Drama ist Premierminister Khadga Prasad Sharma Oli, der dabei allerdings auf die tatkräftige Unterstützung seiner Parteigenossen aus der Nepal Communist Party (NCP) bauen konnte. Nach endlosen innerparteilichen Machtkämpfen, die sich das ganze Jahr 2020 hindurchzogen, drohte Oli Ende 2020 die Kontrolle über seine Partei und damit auch über die Regierung zu entgleiten.

Dabei verfügte seine NCP seit dem Zusammenschluss ihrer beiden Mutterparteien im Mai 2018 beinahe übereine Zweidrittelmehrheit im nationalen Repräsentantenhaus sowie über satte absolute Mehrheiten in sechs der sieben föderalen Provinzen. Einen solchen Rückhalt hat seit der Demokratisierung Nepal im Jahre 1990 keine Regierung auch nur annähernd besessen. Was Premierminister Oli auf der Grundlage dieses unglaublichen Vorteils geschafft hat, lässt sich mit einem einzigen Wort treffen beschreiben: Nichts!

Als er 2018 sein Amt antrat, gab es zahlreiche Auflagen der Verfassung und des föderalen Staates, die innerhalb weniger Monate hätten umgesetzt werden müssen. Viele dieser Aufgaben wurden bis heute nicht angegangen. Die wenigen Dinge, die sich in den ersten beiden Jahren seiner Amtszeit positiv entwickelten, so beispielsweise der Tourismus, taten dies ohne Olis Zutun. Der Abschluss des Wiederaufbaus nach den Erdbeben von 2015, die Schaffung von Arbeitsplätzen im Land, die Verbesserung der Infrastruktur, all das verlief äußerst zögerlich. Anstatt den Föderalismus weiterzuentwickeln, stärkte Oli zunehmend den Zentralstaat. Grundlegende Menschenrechte wie die auf Information, Rede-, Meinungs- und Demonstrationsfreiheit, wurden wiederholt eingeschränkt. Bei persönlicher Kritik am Premierminister, auch über die sozialen Medien, drohten Verhaftungen. Die unabhängige Arbeit der Journalisten wurde extrem eingeschränkt.

Als 2020 die Pandemie über das Land hereinbrach, zeigte sich die Oli-Regierung unfähig, dieselbe auch nur

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annähernd rational einzudämmen. Zwar wurde im Frühjahr 2020 ein monatelanger radikaler Lockdown verhängt, aber ohne weitere Regelungen. Soziale und wirtschaftliche Belange der Menschen blieben völlig unberücksichtigt. Tagelöhner hingen von heute auf morgen in der Luft. Sie hatten weder Geldrücklagen nochetwas zu essen noch konnten sie ihre Zimmer bezahlen oder in ihre zum Teil entfernten Heimatdörfer zurückkehren. Hätten sich nicht zivile Organisationen um sie gekümmert, hätte es düster ausgesehen, aber selbst deren Sozialarbeit wurde von der Oli-Regierung behindert.

Die Millionen von Arbeitsmigranten hingen in der Luft. Die Luftwege waren ebenso verschlossen wie die Grenze zu Indien. Nepalische Staatsbürger wurden daran gehindert, in geordneter und kontrollierter Weise ihr Heimatland zu betreten. Einzig sinnvoller Weg wären Tests an der Grenze, ihre Unterbringung in angemessen ausgestatteten Quarantänelagern und schließlich ihr geordneter und von der Regierung organisierter Rücktransport in ihre Heimatdörfer gewesen. So blieb ihnen nur eine heimliche Grenzüberquerung und ein beschwerlicher Fußweg in ihre Heimatdörfer, das alles natürlich ohne Tests und Quarantäne.

Junge Leute demonstrieren gegen die unangemessene Politik der Oli-Regierung zur Bekämpfung der Corona Pandemie(Foto: Kathmandu Post, 10. Juni 2020)

Zwar wurde der Lockdown bereits im Sommer gelockert und schließlich ganz aufgehoben, aber gleichzeitig stiegen auch die Infektionszahlen. Heute vermittelt die Oli-Regierung, diese Zahlen gingen trotz ihrer absoluten Untätigkeit täglich weiter zurück. Zur Zeit spricht die Regierung knapp über 100 Neuinfektionen pro Tag und meist 2-5 Todesfällen. Das ist aber auch dem Umstand zu verdanken, dass kaum getestet wird. Meist schwankt die Zahl der täglich landesweit durchgeführten Tests meist zwischen 3.000 und 4.000, die noch dazu überwiegend im Großraum der Hauptstadt durchgeführt werden. Daher werden dort auch die meisten Neuinfektionen gemeldet. Zum Teil dürfte die fehlende Bereitschaft zu Tests auch darin begründet liegen, dass die Menschen für diese Tests zur Kasse gebeten werden. Eine Untersuchung, ob jemand möglicherweise an oder mit dem Virus gestorben ist findet nicht statt. Die Dunkelziffer sowohl der Erkrankungen als auch der Todesfälle dürfte folglich sehr hoch sein.

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Machtkämpfe in der NCP

Aber die augenblickliche politische Krise hat mit der Corona-Pandemie nichts zu tun. Es wird leicht übersehen, dass die Fusion der beiden linken Parteien im Mai 2018 nur oberflächlich und von oben herab erfolgte. Alle zu vergebenden Posten und Funktionen wurden genau nach ursprünglicher Parteizugehörigkeit und einer prozentualen Absprache vergeben; Kompetenz spielte nie eine Rolle. Im Jahr 2020 wurden die anhaltenden Differenzen innerhalb der NCP immer deutlicher. An der Spitze der Partei verliefen da die Linien schon länger nicht mehr entlang der ursprünglichen Parteien. Vor allem unter den Spitzenpolitikern haben einige die Seiten gewechselt. KP Oli geriet zunehmend in den Fokus von Kontroversen. Nicht nur weigerte er sich, das Premierministeramt zur Halbzeit an Pushpa Kamal Dahal zu übergeben, wie in einem "Gentlemen's Agreement" von 2018 vereinbart, er zeichnete sich vor allem durch ein übermäßiges Maß an Inkompetenz und eine autoritäre Vorgehensweise aus. Im Prinzip sah er keine Pflichten eines Premierministers, sondern nur Rechte. An die Verfassung und die Gesetze musste sich ein Regierungschef ohnehin nicht halten, meinte er. Rechtskräftige Urteile des Obersten Gerichtshofs haben ihn nie interessiert. Das Gleiche galt für Feststellungen und Forderungen von Verfassungsorganen wie der Nationalen Menschenrechtskommission (NHRC) und der Kommission zur Untersuchung von Amtsmissbrauch (CIAA).

2020 nahmen die Spannung zwischen Oli und Dahal zu. Pushpa Kamal Dahal, der an der Parteispitze immer enger mit Madhav Kumar Nepal kooperierte, versuchte, Oli zu einem Verzicht auf eines der beiden Ämter, Premierminister und Mitparteivorsitz, zu bewegen, doch verstand es Oli wiederholt, durch Machenschaften und offensichtlich nie wirklich ernst gemeinte Vereinbarungen Zeit zu schinden und seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Dabei kam den Mehrheitsverhältnissen in den beiden obersten Ebenen der Partei eine große Rolle zu. Das Oberste Gremium der NCP war das Standing Committee, dem neben den beiden Parteivorsitzenden, Oli und Dahal, sieben weitere Männer angehörten. Insgesamt handelt es sich dabei um sieben Bahun, einen Chhetri und einen Newar-Chhetri. Es bildeten sich zwei an Oli bzw. Dahal orientierte Lager mit jeweils vier Politikern heraus. Die neunte Person, Bam Dev Gautam, spielte das Zünglein an der Waage und wechselt die Lagerzugehörigkeit, je nachdem wie es ihm zu seinem eigenen Vorteil dienlich erschien.

Der Streit zwischen den beiden Parteivorsitzenden und damit die Krise der Partei spitzte sich zu, als Dahal am 13. November dem Parteisekretariat ein politisches Dokument präsentierte, in welchem er Oli Versagen auf der ganzen Linie vorwarf. Oli hielt am 28. November mit einem eigenen Dokument dagegen, in welchemer Dahal schwerste Parteischädigung unterstellte. Er forderte Dahal auf, sein Dokument zurückzuziehen, wasletzterer ablehnte, zumal die meisten der darin erhobenen Vorwürfe sachlich ja kaum zu widerlegen waren.

Kabinettssitzung (Foto: Kantipur Samachar, 15. September 2020)

Gleichzeitig nahm der Druck auf Nepal auch auf internationaler Ebene zu. So verwiesen im Vorfeld des im Januar 2021 erfolgten Universal Periodic Review (UPR) UN-Kreise mit deutlichen Worten auf Nepals andauernde Versäumnisse bezüglich der Ausräumung von Menschenrechtsverletzungen, obgleich die

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Regierung diese wiederholt zugesagt hatte. Dabei ging es unter anderem um die auch fünf Jahre nach der Verabschiedung un- oder unterbesetzten Verfassungsorgane. Nicht weniger als 46 Posten in 11 Verfassungsorganen waren neu zu besetzen.

Um diesen Druck abzumildern, entschloss sich Oli Anfang Dezember endlich, die offenen Posten zu füllen, eine Aufgabe, über die das Constitutional Council zu entscheiden hatte. Aber dieser Rat war ebenfalls seit langem unvollständig besetzt. Außerdem weigerten sich einige Mitglieder, zu den von Oli angesetzten Treffen zu erscheinen. Der Rat war also nicht beschlussfähig.

Daher entschloss sich Oli am 15. Dezember, die von der Verfassung vorgegebenen und im Constitutional Council Act festgelegten Regelungen per einer von der Präsidentin umgehend unterzeichneten Verordnung zu ändern. Demnach konnte Oli nun in diesem Rat Entscheidungen mit einfacher Mehrheit treffen lassen, einklarer Verfassungsbruch. Der Aufschrei der Empörung von allen Seiten war auch jetzt groß, so dass sich Oli angeblich bereit erklärte, die Verordnung wieder zurückziehen. In Wirklichkeit hatte er aber wohl nie daran gedacht. Anders ist nicht zu erklären, dass die Verordnung auch am 20. Dezember noch nicht zurückgezogen war, als Oli die erschienenen Mitglieder des Constitutional Council die offenen Positionen der Verfassungsorgane in seinem Sinne besetzen ließ.

Parlamentsauflösung und Ansetzung von Neuwahlen

Es war somit innerhalb der NCP eine Situation erreicht, in der KP Oli zumindest in den beiden obersten Gremien keine Mehrheit mehr hinter sich wusste. Oli entschloss sich daher am 20. Dezember 2020 mit Hilfe der ihm hörigen Präsidentin Bidya Devi Bhandari, unter Berufung auf die Artikel 76 (7) und 85 der Verfassung das Repräsentantenhaus aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen.

Artikel 85 erklärt, dass das Parlament für fünf Jahre im Amt bleibt, falls es nicht früher aufgelöst wird. Mögliche Gründe für eine solche Auflösung werden nicht genannt. Außerdem werden noch Gründe für eine mögliche Verlängerung der Amtszeit erwähnt. Die Regelungen wurden fast wörtlich aus der Verfassung von 1990 übernommen. Artikel 85 ist in seiner heutigen Form lediglich klar in Bezug auf die Amtsperiode des Repräsentantenhauses bezogen. Dieses wurde Ende 2017 in korrekter und demokratischer Weise vom Volk gewählt und sollte somit erst Ende 2022 neu gewählt werden.

Sitzung des Repräsentantenhauses (Foto: República, 13. September 2020)

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Artikel 76 (7) bezieht sich auf die Wahl eines Premierministers bei unklaren Mehrheiten und einem dann innerhalb von 30 Tagen notwendigen Vertrauensvotum. Da Olis CPN-UML bei seiner Wahl im Februar 2018nicht über eine Parlamentsmehrheit verfügte, wurde er nicht nach Artikel 76 (1), sondern gemäß Artikel 76 (2) zum Premierminister gewählt. Bei der innerhalb von 30 Tagen notwendigen Vertrauensfrage bestätigten zwei Drittel der Abgeordneten im März 2018 seine Benennung. Hätte das Repräsentantenhaus ihm nicht im Amt bestätigt, hätte er damals die Präsidentin um Auflösung der Parlamentskammer nach Artikel 76 (7) bitten können, allerdings auch nur dann, wenn sonst niemand anderes im Repräsentantenhaus eine Mehrheit nachweisen konnte.

Was dies also mit der jetzigen Parlamentsauflösung zu tun hat, ist nicht nachvollziehbar. Eine Regelung der Verfassung, dass ein Premierminister zum schieren persönlichen Machterhalt die vom Volk gewählten Vertreter vorzeitig nach Hause schicken kann, ist nicht erkennbar. Der Premierminister ist von den gewähltenVertretern des Volkes bestimmt worden und diesen gegenüber verantwortlich. Dass er die Vertreter des Volkes wieder nach Hause schicken kann, wenn er Angst hat, dass diese ihm möglicherweise das Vertrauen entziehen könnten, klingt absurd.

Fazit: Premierminister Oli hat die Unterstützung vieler Abgeordneter seiner Partei und damit vermutlich die Parlamentsmehrheit verloren. Die logischen demokratischen Optionen wären entweder sein Rücktritt oder zumindest eine Vertrauensfrage im Parlament gewesen. KP Oli und Bidya Devi Bhandari haben jedoch in voller Absicht versucht, die Verfassung in ihrem persönlichen Interesse umzuinterpretieren. Dieses Ansinnen ist verwerflich und sollte juristische Folgen haben. Es bleibt zu erwarten und zu erhoffen, dass das Urteil des Obersten Gerichtshofs diese Einschätzung bestätigt. Dessen Ermittlungen dauern Ende Januar 2021 noch an.

Reaktionen der Parteien

Die erste Reaktion der NCP-Faktion von Pushpa Kamal Dahal und Madhav Kumar Nepal, aber auch aller anderen im Parlament vertretenen Parteien war ein Aufschrei der Empörung gegen diesen Verfassungsbruch.

Hunderttausende Anhänger der Dahal-Nepal-Faktion der NCP demonstrierten am 22. Januar auf den Straßen Kathmandus gegen Olis Machenschaften (Foto: The Kathmandu Post, 22. Januar 2021)

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Neben Verfassungsklagen vor dem Obersten Gerichtshof kommt es fast täglich zu Massendemonstrationen inallen Gegenden des Landes. Aber das Vorgehen der oppositionellen Parteien hat auch viele Zweifel an der Lauterkeit der Empörung aufkommen.

Vorgegeben wird stets die Forderung, dass die Parlamentsauflösung rückgängig gemacht werden müsse, dassder Oberste Gerichtshof sie als verfassungswidrig einstufen müsse. Aber es wird auch deutlich, dass es vielenSpitzenpolitikern vorrangig um die persönliche Machtfrage geht. Sie fragen sich, auf welchem Weg sie selbstam schnellsten die Nachfolge Olis antreten können. Die Strategien sind dabei unterschiedlich.

Den friedlichen Demonstrationen ziviler Gesellschaft begegnete die Oli Regierung am 25. Januar mit dem Einsatz von Wasserwerfern und Schlagstöcken sowie zahlreichen Verhaftungen (Foto: The Kathmandu Post, 25. Januar 2021)

Die Dahal-Nepal-Faktion der NCP versucht ihr Ziel dadurch zu erreichen, dass die Spaltung der Partei vorangetrieben wird, dass Oli und seine innerparteilichen Anhänger ausgeschlossen werden, dass die Wahlkommission einzig und allein ihre Faktion als die wahre NCP anerkennt. Oli seinerseits versucht diesemAnsinnen mit den gleichen Mitteln zu begegnen. Trotz des laufenden Gerichtsverfahrens behauptet er kontinuierlich, Parlamentsauflösung und Neuwahlen seien verfassungskonform und treibt die Wahlvorbereitungen voran. Die Wahlkommission machte dem Ansinnen beider Faktionen am 24. Januar einen Strich durch die Rechnung, als sie nachwies, dass beide sowohl gegen ihre eigenen Parteistatuten als auch gegen das Politische-Parteien-Gesetz verstießen. Für die Wahlkommission gibt es daher weiterhin nur eine einzige NCP mit einer Doppelspitze.

Der Nepali Congress (NC) als Hauptoppositionspartei zeigt sich unterdessen gespalten. Zwar organisiert auch der NC landesweite Proteste für eine Wiedereinsetzung des Parlaments bis hin zu sämtlichen lokalen Einheiten, doch divergieren die Meinungen an der Parteispitze. Auch im NC gibt es mehrere Faktionen, deren alternde Anführer sich weiterhin als die Zukunft des Landes sehen. Der Parteivorsitzende Sher Bahadur Deuba (75) möchte unbedingt ein fünftes Mal Premierminister werden und spekuliert daher vornehmlich auf einen Erfolg seiner Partei bei den Neuwahlen. Sein innerparteilicher Konkurrent Ram Chandra Paudel (76) ist offensichtlich eher für die Wiedereinsetzung des Parlaments durch ein entsprechendes Urteil der Obersten Gerichtshofs.

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Für eine völlige Abschaffung des 2015 eingeführten föderalen Systems treten die Ewiggestrigen von der National Democratic Party (NDP) ein, die zur Zeit nur einen einzigen Abgeordneten im Repräsentantenhaus haben. Sie wollen das von Oli und den anderen Parteipolitikern angerichtete Chaos zu einer Rückkehr zu Hindustaat und Monarchie nutzen, also zu den ursächlichen Quellen der politischen Dauerkrise Nepals.

Perspektiven

Der von Oli und den anderen Spitzenpolitikern angerichtete Schaden ist groß, egal wie der Oberste Gerichtshof letztendlich entscheidet. Erklärt er das Vorgehen Olis und Bhandaris als rechtens, wird den Politikern Nepals zum persönlichen Machterhalt auf lange Sicht ein rechtsfreier Raum zugesichert, in welchem sie sich nicht an die Verfassung und die nachgeordneten Gesetze halten müssen. Im Prinzip wäre die Verfassung von 2015 schon nach fünf Jahren wieder am Ende.

Entscheidet der Oberste Gerichtshof, dass Olis Vorgehen verfassungswidrig ist, gibt es gleich mehrere zu beachtende Gesichtspunkte. Müsste das Vorgehen Olis und Bhandaris möglicherweise als Putsch gewertet werden? Dann ergäbe sich die dringende Frage nach persönlichen politischen und juristischen Konsequenzenfür beide.

Als Folge der Wiedereinsetzung des Repräsentantenhauses müsste eine neue Regierung gewählt werden. Durch die Spaltung der NCP sind die Mehrheitsoptionen jedoch schwierig geworden. Es dürften Koalitionsregierungen notwendig werden, die schon zwischen 1995 und 1999 nicht funktioniert haben. Möglicherweise würden am Ende dann doch vorzeitige Neuwahlen anstehen.

Als noch gravierender sehe ich jedoch die Tatsache, dass alle alten Spitzenpolitiker zum Teil bereits mehrfach gescheitert sind und sich dennoch für unersetzbar halten. Es ist ein inhärentes Merkmal der nepalischen Parteienpolitik, dass ihre Anführer erst Platz machen, wenn sie tot umfallen. Wenn aber Nepals Weg zu gesellschaftlich inklusiver Demokratie und Entwicklung gelingen soll, dann müssen die alten Parteiführer endlich abtreten und einer jüngeren Generation Platz machen. Mit der jetzigen Generation der Spitzenpolitiker hat Nepal jedenfalls keine Perspektive, auch wenn sie selbst das ganz anders sehen.

Texthinweise:

Naresh Koirala. Our troubled democracy : Unless the bleeding of democracy stops, the resto-ration of the House alone is not going to save it. In: The Kathmandu Post 24 January 2021

Narayan Manandhar. Decoding controversies surrounding writ petitions. In: República 25 January 2021

Narayan Manandhar. Parliament dissolution is constitutionally wrong, politically illegitimate. In: República 13 January 2021

Deepak Thapa. Oli’s legacy of shame : KP Oli put Nepal’s young democracy to the test, and the political class helped him do it. In: The Kathmandu Post 21 January 2021

Achyut Wagle. Has Oli captured the state? Whether the Constitutional Bench upholds House dissolution or not, Oli has his tentacles all over. In: The Kathmandu Post 19 January 2021

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