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Anna-Maria Regelmann

Neurosoziotherapie in der

Klinischen Sozialen Arbeit

Welche Rolle spielt die Neuroplastizität in der

psychosozialen Beratung und Intervention?

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Neurosoziotherapie in der Klinischen Sozialen Arbeit

Welche Rolle spielt die Neuroplastizität in der psychosozialen Beratung und Intervention?

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Impressum

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek: Anna-Maria RegelmannNeurosoziotherapie in der Klinischen Sozialen ArbeitWelche Rolle spielt die Neuroplastizität in derpsychosozialen Beratung und Intervention?

Goßmannsdorf b. Würzburg: ZKS / Verlag für psychosoziale Medien Alle Rechte vorbehalten © 2019 Anna-Maria RegelmannISBN 978-3-947502-23-3

Technische Redaktion: Meike Kappenstein Lektorat: Tony Hofmann Cover-Design: Leon Reicherts / Tony Hofmann Layout: Hanna Hoos

Herausgeber der „Schriften zur psychosozialen Gesundheit“: Prof. Dr. Helmut PaulsProf. Dr. Frank Como-Zipfel, Dr. Gernot Hahn

Anschrift Zentralverlag für Klinische Sozialarbeit / Verlag für psychosoziale Medien: ZKS / Verlag für psychosoziale Medien Winterhäuser Str. 13 97199 Goßmannsdorf / Ochsenfurt

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„Like sand on a beach, the brain bears the footprints of the decisions

we have made, the skills we have learned, the actions we have taken.”

(Begley 2007)

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Kurzfassung

Die Masterarbeit beschäftigt sich mit dem Thema der Neuroplastizität und geht der Frage

nach, inwieweit neurowissenschaftliche Erkenntnisse für die psychosoziale Beratung und

Intervention in der Klinischen Sozialen Arbeit relevant sind.

Durch die Fortschritte der Neurowissenschaften wurde das Verständnis vom Gehirn grund-

legend revolutioniert. So wissen wir heute, dass das Gehirn nicht statisch, sondern plas-

tisch und lernfähig ist und während der gesamten Lebensspanne veränderbar bleibt. Jede

Lernerfahrung führt zu einer strukturellen Veränderung des Gehirns, wobei das Gehirn in

seiner Strukturiertheit auf das Erleben und Verhalten zurückwirkt.

Die Anpassungsfähigkeit des Gehirns bedeutet, dass Denkmuster und Verhaltensweisen

veränderbar sind und durch neue Lernerfahrungen beeinflusst werden. Die vorliegende

Arbeit untersucht, welches Potenzial für die Klinische Soziale Arbeit in der Auseinander-

setzung mit neurobiologischen Kenntnissen steckt und welche Perspektiven für die sozial-

therapeutische Arbeit sich dadurch eröffnen.

Zur Beantwortung der Forschungsfragen wurde neben der Analyse facheinschlägiger Lite-

ratur eine qualitative Metaanalyse neurowissenschaftlicher Studien durchgeführt und ein

Interview mit einem Experten der Bereiche Neurowissenschaften und Sozialmedizin ge-

führt.

Die Ergebnisse zeigen, dass die Aneignung neurobiologischer Kenntnisse praktizierenden

Sozialarbeiter*innen dazu verhelfen kann, ein tieferes Verständnis für die Entstehung de-

struktiver Denkmuster und Verhaltensweisen von Klient*innen auf Grund belastender Er-

fahrungen zu entwickeln, es ermöglicht die professionelle Hilfsbeziehung durch das Mit-

denken neurologischen Auswirkungen nachhaltiger zu konstatieren und Anknüpfungs-

punkte für die Planung und Durchführung zielgerichteter Interventionen liefert.

Die Auseinandersetzung eröffnet zudem die Perspektive einer „Neurosoziotherapie“ für die

Klinische Soziale Arbeit, welche auf Grundlage fundierten neurobiologischen Wissens

Maßnahmen ergreift, um neuronale Strukturen positiv zu beeinflussen und Klient*innen

damit zu einer verbesserten Bewältigung der Anforderungen und Belastungen in ihrer Le-

benswelt zu befähigen.

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Inhaltsverzeichnis

1. EINLEITUNG ............................................................................................. 7

2. DAS MENSCHLICHE GEHIRN .................................................................... 10

2.1. Entwicklung des Gehirns .................................................................. 10

2.2. Aufbau und Funktionsweise des Gehirns ......................................... 12

2.3. Die Amygdala als Angstzentrale ....................................................... 13

2.4. Neuronale Erregung und synaptische Verschaltung ........................ 14

2.5. Hirnforschung ................................................................................... 16

2.5.1. Entwicklung der Hirnforschung ................................................................ 16

2.5.2. Bildgebende Verfahren ............................................................................ 18

2.5.3. Bedeutung und Relevanz ......................................................................... 20

3. NEUROPLASTIZITÄT ................................................................................ 22

3.1. Plastizität des Gehirns ...................................................................... 22

3.2. Neurogenese .................................................................................... 23

3.3. Exkurs: Epigenetik ............................................................................ 24

3.4. Das soziale Gehirn ........................................................................... 26

3.4.1. Soziale Umgebungsfaktoren .................................................................... 27

3.4.2. Einfluss von Stressoren ........................................................................... 28

3.5. Zusammenfassung und Ausblick ...................................................... 29

4. NEUROPLASTIZITÄT UND KLINISCHE SOZIALE ARBEIT ............................. 31

4.1. Klinische Soziale Arbeit .................................................................... 31

4.1.1. Bio-psycho-soziale Zusammenhänge ...................................................... 32

4.1.2. Aktueller Forschungsstand in der Klinischen Sozialen Arbeit ................... 33

4.2. Psychosoziale Fallarbeit ................................................................... 35

4.2.1. Sozialtherapie .......................................................................................... 35

4.2.2. Psychosoziale Beratung .......................................................................... 36

4.2.3. Beziehungsarbeit ..................................................................................... 36

4.2.4. Abgrenzung von der Psychotherapie ....................................................... 37

4.2.5. Neurowissenschaftliche Implikationen für die Beratung ........................... 38

4.2.6. Neuropsychotherapie ............................................................................... 39

4.2.7. Relevante Handlungsfelder ...................................................................... 41

4.3. Fazit für die Klinische Soziale Arbeit ................................................ 42

5. THEORETISCHE EINBETTUNG .................................................................. 44

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5.1. Bio-psycho-soziales Modell .............................................................. 44

5.2. Person-In-Environment-Konzept ...................................................... 45

5.3. Salutogenese .................................................................................... 45

5.4. Social Support .................................................................................. 47

5.5. Resilienz ........................................................................................... 49

6. KRITIK AM NEUROWISSENSCHAFTLICHEN ZUGANG .................................. 51

6.1. Ethische Fragestellungen ................................................................. 51

6.2. Biologischer Reduktionismus............................................................ 52

6.3. Frage des freien Willens ................................................................... 53

7. FORSCHUNGSSTRATEGISCHES VORGEHEN ............................................. 55

7.1. Forschungsdesign ............................................................................ 55

7.2. Empirischer Zugang .......................................................................... 56

7.3. Erhebungsmethoden ........................................................................ 57

7.3.1. Metaanalyse ............................................................................................ 57

7.3.2. Expert*inneninterview .............................................................................. 58

7.4. Auswertungsmethoden ..................................................................... 58

7.4.1. Grounded Meta-Analysis ......................................................................... 58

7.4.2. Themenanalyse ....................................................................................... 59

7.5. Reflexion der Erhebungs- und Auswertungsmethode ...................... 60

8. STUDIENERGEBNISSE ............................................................................. 62

8.1. Auswirkungen psychosozialer Faktoren auf das Gehirn .................. 62

8.2. Bedeutung von Umgebungsbedingungen ........................................ 64

8.3. Entwicklungsstadien ......................................................................... 66

8.4. Förderliche Bedingungen.................................................................. 67

8.5. Auswirkungen von Stress ................................................................. 69

8.6. Nutzungs- und erfahrungsabhängige Neuroplastizität ..................... 72

8.7. Therapeutische Beziehung ............................................................... 73

8.8. Interventionsaspekte für die Klinische Soziale Arbeit ....................... 74

9. INTERVIEWERGEBNISSE .......................................................................... 80

9.1. Nutzen neurobiologischen Wissens ................................................. 80

9.2. Auswirkungen auf das Menschenbild ............................................... 84

9.3. Entwicklung einer Neurosoziotherapie ............................................. 86

9.4. Implikationen für die Soziale Arbeit .................................................. 90

10. INTERPRETATION DER ERGEBNISSE ..................................................... 94

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11. BEANTWORTUNG DER FORSCHUNGSFRAGEN ....................................... 96

12. CONCLUSIO ........................................................................................ 99

LITERATURVERZEICHNIS ............................................................................. 103

TABELLENVERZEICHNIS .............................................................................. 110

ANHANG ..................................................................................................... 111

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1. Einleitung

Das Gehirn ist wie ein Spiegelbild unserer Erfahrungen. Alle Erlebnisse, gute wie

schlechte, bewirken durch die Ausbildung synaptischer Verknüpfungen strukturelle Verän-

derungen im Gehirn. In dieser Anpassungsfähigkeit des Gehirns liegt großes Potenzial für

die Klinische Soziale Arbeit. Es bedeutet, dass Denkmuster und Verhaltensweisen verän-

derbar sind. Dies birgt die Möglichkeit, durch gezielte sozialtherapeutische Interventionen

positiven Einfluss auf neuronale Strukturen von Klient*innen zu nehmen. Doch wie genau

kann die Klinische Soziale Arbeit dieses Wissen nutzen? Welches Potenzial für die sozial-

therapeutische Arbeit liegt in der Neuroplastizität?

Neuroplastizität kann als die Fähigkeit des Gehirns zur fortlaufenden Anpassung an die

Erfordernisse seines Gebrauchs beschrieben werden. Dabei werden neue synaptische

Verbindungen zwischen Neuronen geknüpft und ungenutzte Verbindungen aufgelöst,

wodurch es zu einer ständigen Reorganisation des Gehirns kommt (vgl. Rüegg 2011: 19).

Das Phänomen der Neuroplastizität findet im bio-psycho-sozialen Modell seine Entspre-

chung. Das menschliche Gehirn wird durch psychosoziale Erfahrungen strukturiert und

wirkt in seiner biologischen Strukturiertheit auf das Fühlen, Denken und Handeln in sozia-

len Bezugssystemen zurück (vgl. Hüther 2006). Sozialarbeiterisches Handeln unter Einbe-

zug dieser Wechselwirkung zu betrachten bietet eine vielversprechende Möglichkeit Be-

handlungsmodelle der Klinischen Sozialen Arbeit zu überdenken und zu ergänzen.

Zudem liegt in der Mitbetrachtung neurobiologischer Bedingungsgefüge die Chance, Kli-

ent*innen in ihrem Verhalten besser zu verstehen und gezielter unterstützen zu können.

Das Gehirn bildet als Reaktion auf Beziehungserfahrungen und Umgebungsbedingungen

synaptische Verknüpfungen aus. Diese können Copingstrategien verstärken, die unter wie-

derholter Nutzung der immer gleichen neuronalen Verbindungen entstehen, um Anforde-

rungen unter oftmals schwierigen Lebensbedingungen zu bewältigen (vgl. Schmitt 2012: 8

ff.).

Das Gehirn kann als soziales Organ bezeichnet werden, da es im Verlauf des Lebens

durch soziale Beziehungen strukturiert wird. Veränderungen auf Ebene sozialer Bezie-

hungserfahrungen führen damit auch zu Veränderungen im Gehirn (vgl. Hüther 2006).

Die professionelle Bindungsbeziehung zwischen Sozialarbeiter*innen und Klient*innen in

der sozialtherapeutischen Beratung birgt damit das Potenzial, neben der Beeinflussung

psychischer Vorgänge des Erlebens und Verhaltensveränderungen durch psychosoziale

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Lernprozesse, auch auf neuronale Strukturen von Klient*innen Einfluss zu nehmen. Sozi-

ale Interventionen wirken demnach unter anderem durch die förderliche soziale Beziehung

auf neurobiologische Prozesse ein. Die helfende Beziehung ist damit für biologische, psy-

chologische und soziale Funktionen des Individuums von Bedeutung (vgl. Pauls 2013: 54).

Auseinandersetzungen der Klinischen Sozialen Arbeit mit den Neurowissenschaften sind

bis dato noch rar und daher ein noch zu erschließendes Themenfeld. Dieses hat das Po-

tenzial, neue Perspektiven für die Disziplin aufzudecken und zu einer Erweiterung in The-

orie und Methodik zu führen. Durch die Integration neurobiologischer Denkmodelle kann

das Verständnis für den Menschen mit seinen komplexen Problemlagen erweitert und er-

gänzt werden. Insofern birgt die geplante Forschung das Potenzial, neue Erkenntnisse und

Denkanstöße für die Klinische Soziale Arbeit, insbesondere in ihrer beratenden und be-

handelnden Funktion, hervorzubringen.

Das Ziel der Masterarbeit ist es herauszuarbeiten, welchen Mehrwert die Auseinanderset-

zung mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen und deren Aneignung für die Forschung

und Praxis der Klinischen Sozialen Arbeit bringt. Dabei soll im Genaueren untersucht wer-

den, welche Relevanz die Neurowissenschaften für die psychosoziale Beratung und Inter-

vention haben und wie sie deren theoretische und methodische Konzeptionen möglicher-

weise erweitern können.

Dabei geht es nicht primär darum, neue theoretische Modelle oder konkrete Handlungsan-

leitungen für die Soziale Arbeit zu generieren, sondern viel mehr in den im deutschspra-

chigen Raum recht neuen Diskurs vorzufühlen und neue Denkanstöße und Fragestellun-

gen für die Klinische Soziale Arbeit zu liefern.

In der vorliegenden Masterarbeit soll daher untersucht werden, inwiefern die Klinische So-

ziale Arbeit in ihren Theorie-, Methoden- und Forschungskonzeptionen von neurowissen-

schaftlichen Erkenntnissen profitieren kann. Des Weiteren soll der Frage nachgegangen

werden, welche Perspektiven für die psychosoziale Beratung und sozialtherapeutische Ar-

beit sich durch die Auseinandersetzung mit den Neurowissenschaften eröffnen.

Zur Erkenntnisgewinnung wird ein exploratives Forschungsdesign gewählt, welches sich

durch die Offenheit der Forschungsfragen auszeichnet und darauf abzielt, neue Fragen,

Hypothesen und Theorien für die Klinische Soziale Arbeit zu generieren. Die Daten werden

mittels Literaturrecherche, Metaanalyse und Experteninterview erhoben. Zur Datenaus-

wertung und Interpretation wird eine Literaturanalyse, qualitative Metaanalyse sowie The-

menanalyse verwendet.

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Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile. Im Theorieteil der Arbeit werden relevante Themen

mit Hilfe einer Literaturanalyse dargestellt und diskutiert. Kapitel 2 widmet sich der Ausei-

nandersetzung mit dem Aufbau und der Funktionsweise des menschlichen Gehirns, erklärt

wie synaptische Verschaltungen entstehen und geht auf die Geschichte der Hirnforschung

sowie die Entdeckung bildgebender Verfahren ein. Es bildet somit die Grundlage, um die

Wechselwirkung zwischen Gehirn und Verhalten zu verstehen. Kapitel 3 befasst sich mit

der Neuroplastizität und Neurogenese des Gehirns und beschreibt die Beeinflussung durch

soziale Faktoren, Umweltbedingungen und Stressoren. Kapitel 4 behandelt den Zusam-

menhang von Neuroplastizität und Klinischer Sozialer Arbeit, macht deren Schnittstellen,

den aktuellen Forschungsstand und Implikationen für die Beratung deutlich. Zudem werden

die Klinische Soziale Arbeit, Sozialtherapie und psychosoziale Beratung definiert und von

der Psychotherapie abgegrenzt. Die Perspektive der Neuropsychotherapie sowie relevante

Handlungsfelder, in denen neurobiologisches Wissen von Bedeutung ist, werden vorge-

stellt. In Kapitel 5 folgt eine theoretische Einbettung der Neuroplastizität mit Hilfe des bio-

psycho-sozialen Modells, des Person-in-Environment-Konzepts, des Modells der Saluto-

genese, des Social Support Konzepts sowie des Ansatzes der Resilienz. Kapitel 6 setzt

sich kritisch mit den Neurowissenschaften auseinander und reflektiert ethische Fragestel-

lungen, den biologischen Reduktionismus und die Frage des freien Willens.

Im empirischen Teil der Arbeit wird zunächst das forschungsstrategische Vorgehen erläu-

tert (Kapitel 7), welches Erkenntnisinteresse, Forschungsdesign, empirischen Zugang so-

wie Erhebungs- und Auswertungsmethoden umfasst. Darauf folgt die Darstellung der em-

pirischen Ergebnisse. Zunächst werden in Kapitel 8 relevante bio-psycho-soziale Aspekte

vorgestellt, welche mit Hilfe einer qualitativen Metaanalyse neurowissenschaftlicher Stu-

dien identifiziert werden konnten. Anschließend werden die sich daraus ergebenden Inter-

ventionsmöglichkeiten für die Klinische Soziale Arbeit präsentiert. Im nachfolgenden Kapi-

tel (Kapitel 9) werden die Ergebnisse des Experteninterviews vorgestellt, welches mittels

Themenanalyse ausgewertet wird. Darin wird es vor allem um das Potenzial für die Klini-

sche Soziale Arbeit gehen, welches in der Auseinandersetzung mit neurowissenschaftli-

chen Kenntnissen liegt. Darauf folgt ein Unterkapitel zur Interpretation der Ergebnisse so-

wie eines zur Beantwortung der Forschungsfragen. Die Masterarbeit schließt mit einer

Conclusio, in der wesentliche Erkenntnisse der Forschung zusammengefasst und Per-

spektiven für die Zukunft aufgezeigt werden.

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2. Das menschliche Gehirn

Um ein Grundverständnis darüber zu gewinnen, welche Prozesse im menschlichen Gehirn

ablaufen, soll in diesem Kapitel auf die Entwicklung des Gehirns vom Embryonalstadium

bis zum Erwachsenenalter, Aufbau und Funktionsweise des Gehirns sowie Prozesse sy-

naptischer Verschaltung eingegangen werden. Diese können als Grundvoraussetzung ge-

sehen werden, um die Korrelation zwischen Hirnfunktionen und Verhaltensweisen zu ver-

stehen. Des Weiteren wird in diesem Kapitel auf die Geschichte der Hirnforschung und die

Bedeutung bildgebender Verfahren eingegangen.

2.1. Entwicklung des Gehirns

Im zweiten Monat der Embryonalentwicklung lässt sich die Grundstruktur des Gehirns be-

reits erkennen. Von diesem Zeitpunkt an kommt es zu einem enormen Zellwachstum, wo-

bei zeitweise bis zu 250.000 Zellen pro Minute gebildet werden. Zwei Zelltypen sind im

heranwachsenden Gehirn vorhanden: Gliazellen und Nervenzellen. Die Gliazellen dienen

dabei als Stützgewebe für die Nervenzellen (vgl. Schmitt 2008: 39).

Während der Schwangerschaft werden sogenannte Neuroblasten im Gehirn gebildet. Da-

bei handelt es sich um Vorläuferzellen der Nervenzellen. Etwa 200 Milliarden Neuroblasten

bilden sich im Verlauf der Schwangerschaft, wobei knapp die Hälfte von ihnen in diesem

Zeitraum auch wieder abstirbt. Zum Zeitpunkt der Geburt sind die meisten Neuroblasten

zu Nervenzellen ausgereift und teilen sich nicht mehr. Trotz dessen wird davon ausgegan-

gen, dass fünf Sechstel der gesamten Wachstumsvorgänge im Gehirn erst nach der Ge-

burt stattfinden. Nervenzellen, die aufhören sich zu teilen, wandern zu dem ihnen bestimm-

ten Ort im Gehirn. Dieser Prozess wird als Migration bezeichnet und wird sowohl durch

Gene als auch durch Umweltfaktoren gesteuert (vgl. Schmitt 2008: 39 f.). Dabei soll ein

Lockstoff sowohl die Wanderung der Nervenzellen als auch die Ausformung der Axone

(Zellfortsätze) und Dendriten (Ausstülpungen) bestimmen. Hierbei sollen auch Hormone

wie zum Beispiel Testosteron mit hineinspielen und Einfluss auf eine „weibliche“ oder

„männliche“ Netzwerkstruktur des Gehirns nehmen (vgl. Schmitt 2008: 42).

Nach der Geburt kommt es zu Zellteilungen der Gliazellen sowie zur Ausdifferenzierung

von Nervenzellen. Die Kommunikation zwischen den Nervenzellen des Neugeborenen er-

folgt über die Axone und Dendriten, über die die Nervenzellen nun verfügen (vgl. Schmitt

2008: 40).

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Die Reifung der einzelnen Gehirnareale findet nicht gleichmäßig statt. Die Ausreifung ent-

wicklungsgeschichtlich alter Teile des Gehirns, wie des Stammhirns, geschieht dabei frü-

her als die Entwicklung entwicklungsgeschichtlich jüngerer Teile des Gehirns, wie die des

Frontalhirns. Dadurch wird gewährleistet, dass basale Funktionen, wie das Saugen und

Schlucken, die durch das Stammhirn gesteuert werden, bei Neugeborenen funktionieren,

um ihr Überleben zu sichern. Komplexere Funktionen wie Laufen und Sprechen können

hingegen erst später erlernt werden, ohne das Leben des Kindes zu gefährden (vgl. Sch-

mitt 2008: 43 f.).

In etwa bis zum 5. Lebensjahr kommt es zu einer permanenten Zunahme synaptischer

Verbindungen zwischen den Nervenzellen. Danach beginnt ein Prozess, der als „Beschnei-

dung“ bezeichnet wird. Zwischen dem 5. und 15. Lebensjahr werden synaptische Verbin-

dungen erheblich vermindert. Dieser Prozess ist für die Entwicklung von Intelligenz enorm

wichtig (vgl. Schmitt 2008: 40).

Forscher gehen davon aus, dass neuronale Verbindungen, die bis zum Zeitpunkt der Be-

schneidung durch wiederholte Nutzung verfestigt wurden, den Prozess überstehen und

erhalten bleiben, mangelhaft ausgebildete Verbindungen allerdings zerstört werden. Diese

Annahme macht deutlich, wie wichtig die ersten Lebensjahre für die Gehirnentwicklung

eines Menschen sind (vgl. Schmitt 2008: 41).

Ein sogenanntes „reifes“ Gehirn, bei dem neuronale Netzwerke durch Migration, Aggrega-

tion und synaptische Verschaltungen weitestgehend festgelegt sind, erreichen Frauen mit

dem 21. Lebensjahr und Männer mit dem 23. Lebensjahr (vgl. Schmitt 2008: 43). Ab dem

30. Lebensjahr beginnt das Gehirn dann zu schrumpfen. Es bleibt trotz alledem lebens-

länglich plastisch (vgl. Schmitt 2008: 45).

Die menschliche Hirnentwicklung ist von einem Überangebot an Nervenzellen, Fortsätzen

und synaptischen Verbindungen gekennzeichnet. Welche neuronalen Netzwerke schluss-

endlich etabliert werden, hängt von der individuellen Nutzung ab. Diese ist einerseits von

Umgebungsfaktoren und andererseits von der individuellen Lebensbewältigung des Kin-

des abhängig (vgl. Hüther 2016: 45). Dieser Mechanismus des Gehirns, regelmäßig ge-

nutzte neuronale Verknüpfungen auszubauen und nicht genutzte abzubauen, sorgt dafür,

dass der Mensch ein Gehirn entwickelt, welches genau auf die Anforderungen seiner spe-

zifischen Lebenswelt angepasst ist (vgl. Hüther 2016: 37).

Gerald Hüther (2016) zufolge spielen zwei Grundbedürfnisse in die Entwicklung eines ge-

sunden, funktionsfähigen Gehirns hinein. Das eine ist das Bedürfnis nach Beziehung und

Verbundenheit zu anderen, das andere das Bedürfnis nach Wachstum und dem Erwerb

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eigener Kompetenzen. Sind diese beiden Grundvoraussetzungen gegeben, ist es einem

Kind möglich, bedeutsame neuronale Verknüpfungen zu erstellen und zu nutzen (vgl.

Hüther 2016: 46). Auf die Bedeutung psychosozialer Erfahrungen für die Entwicklung des

Gehirns wird im Kapitel 3.4 „Das soziale Gehirn“ näher eingegangen.

2.2. Aufbau und Funktionsweise des Gehirns

Das Zentralnervensystem besteht aus zwei Teilen: dem Rückenmark, welches die Verbin-

dung des Gehirns mit Organen und Muskeln aufrechterhält, und dem Gehirn mit all seinen

Bestandteilen.

Das Gehirn lässt sich in die vier Bereiche des Großhirns, Kleinhirns, Zwischenhirns sowie

des Hirnstamms unterteilen (vgl. Kandel et al. 2011: 10).

Das Großhirn ist der größte Teil des Gehirns. Es ist verantwortlich für Erinnerungen, die

Kontrolle von Emotionen sowie die Bewegungsplanung. Die beiden Großhirnhälften stehen

durch die sogenannten Balken miteinander in Verbindung. Zu ihren Bestandteilen gehören

die Großhirnrinde (unterteilt in vier Lappen: Stirnlappen, Scheitellappen, Hinterhauptslap-

pen, Schläfenlappen) mit den Basalganglien, dem Hippocampus sowie der Amygdala. Die

Basalganglien sind an der Steuerung von Motorik beteiligt, der Hippocampus spielt bei der

Verarbeitung von Emotionen sowie Erinnerungen eine wichtige Rolle und die Amygdala

steht mit der Koordination emotionaler Zustände wie Erregung und Angst in Zusammen-

hang. Beide Großhirnhemisphären sind von der Großhirnrinde mit ihren vier Lappen über-

lagert (vgl. Kandel et al. 2011: 10 Rüegg 2003: 3; Schmitt 2008: 45 f.).

Das Kleinhirn liegt an der Basis des Schädels, hinter der Brücke und ist durch mehrere

Faserstränge mit dem Hirnstamm verbunden. Es koordiniert Bewegungen, Gleichgewicht

und den Spracherwerb. Das Kleinhirn erhält sensorische Informationen aus dem Rücken-

mark, motorische Informationen aus der Großhirnrinde sowie Informationen über das

Gleichgewicht vom Innenohr. Es gibt selbst keine Bewegungsimpulse, stimmt jedoch Be-

wegungen und Gleichgewicht in Kommunikation mit den erwähnten Arealen fein ab. Das

Kleinhirn gliedert sich in drei Abschnitte: den Kleinhirnwurm sowie die zwei Kleinhirnhälften

(vgl. Kandel et al. 2011: 10/83).

Das Zwischenhirn liegt zwischen Großhirn und Hirnstamm. Es besteht aus dem Thalamus

und dem Hypothalamus. Der Thalamus verarbeitet und filtert Informationen bevor sie ins

Großhirn laufen. Dies verhindert eine Überlastung des Hirns. Darüber hinaus ist er für die

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Regulation des Wachheitsgrads sowie die Verarbeitung von Gefühlen verantwortlich. Der

Hypothalamus fungiert als Schaltzentrum und reguliert das autonome Nervensystem, die

Ausschüttung von Hormonen, den Schlaf-Wach-Rhythmus und hält damit die Körperfunk-

tionen im Gleichgewicht. Er steht in Verbindung mit dem Thalamus, dem Mittelhirn sowie

der Großhirnrinde und kann so Informationen aus dem autonomen Nervensystem empfan-

gen (vgl. Kandel et al. 2011: 83).

Beim Hirnstamm handelt es sich um den ältesten Teil des Gehirns. Er befindet sich in der

Nähe des Rückenmarks und wird fast vollständig von beiden Hirnhälften umschlossen. Der

Hirnstamm unterteilt sich in Mittelhirn und Nachhirn mit der Brücke und dem verlängerten

Rückenmark. Das Mittelhirn leitet Informationen vom Rückenmark zum Großhirn weiter

und koordiniert unter anderem die Bewegung der Augen und das Hören. Das Nachhirn

steuert lebenswichtige Funktionen wie Atmung, Herzschlag und Stoffwechsel (vgl. Kandel

et al. 2011: 83).

Das limbische System stellt eine Struktur des Gehirns dar, welche sich wie ein Saum um

Basalganglien und Thalamus legt. Zu seinen zentralen Bestandteilen gehören die Areale

Hippocampus, Amygdala und Gyrus Cinguli. Das limbische System spielt als Kontrollzent-

rum von Emotionen eine wichtige Rolle in der Neurobiologie des Verhaltens (vgl. Schmitt

2008: 48).

Das Wissen über den Aufbau des Gehirns sowie die Funktionsweise und Aufgaben der

einzelnen Gehirnregionen kann hilfreich sein, um Störungen auf Ebene des Verhaltens mit

Störungen einzelner Gehirnbereiche in Verbindung zu bringen. Vereinfacht kann gesagt

werden, dass Störungen im vorderen Teil des Gehirns sich auf die Planung und Ausfüh-

rung von Handlungen auswirken. Störungen im hinteren Teil hingegen betreffen eher

Wahrnehmungsaspekte. Während in den tieferliegenden Strukturen eher unbewusste Pro-

zesse wie Gefühle und Instinkte verarbeitet werden, ist die Hirnrinde für die Funktion be-

wusster kognitiver Abläufe zuständig (vgl. Schmitt 2008: 46).

2.3. Die Amygdala als Angstzentrale

Im Folgenden soll etwas genauer auf die Amygdala als Zentrale der Angst eingegangen

werden, da sie an vielen problematischen Verhaltensweisen von Klient*innen der Soziale

Arbeit beteiligt und daher besonders wichtig für ein neurobiologisches Verständnis

menschlichen Verhaltens ist.

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Bei der Amygdala handelt es sich um das zentrale Alarm- und Abwehrsystem des Körpers,

welches bei Bedrohung aktiviert wird. Die Reaktion auf ein Gefahrensignal, wie zum Bei-

spiel einen lauten Knall, geschieht reflexionsartig und blitzschnell. Dabei wird das Signal

zunächst zum sensorischen Thalamus, von dort an den sensorischen Cortex und direkt zur

Amygdala weitergeleitet und mündet in einen Abwehrreflex (vgl. Grawe 2004: 91 f.).

Die Amygdala wird bei allen potenziell gefährlichen Situationen sowie plötzlichen Überra-

schungen aktiv, kann aber auch bei neutralen Reizen, welche wiederholt gemeinsam mit

gefährlichen Reizen auftreten, aktiviert werden. Dabei kommt es zur Ausbildung konditio-

nierter Angstreaktionen. Begegnen Menschen, welche ein Trauma erlebt haben, bestimm-

ten Gegenständen oder Situationen, welche Erinnerungen an das Erlebnis triggern, wer-

den panische Angstzustände ausgelöst (vgl. Grawe 2004: 94).

Klaus Grawe (2004) geht der Frage nach, ob Angst gelöscht werden kann und kommt zu

der Erkenntnis, dass Angst zwar gehemmt werden kann, die bestehenden Erregungsmus-

ter jedoch nie vollständig verschwinden und durch Auftreten des Reizes jeder Zeit reakti-

viert werden können (vgl. Grawe 2004: 103 ff.). Er schlägt zur Hemmung der Angst vor, im

Therapiesetting einen Zustand herzustellen, in dem Klient*innen sich sicher fühlen, damit

das Gehirn in einem minimal angstbereiten Zustand ist. Es soll dann zu einer wiederholten

Konfrontation mit angstbesetzten Reizen kommen. Ziel dieser Therapie ist es, die Ausbil-

dung möglichst vieler angsthemmender Synapsen im Gehirn der Klient*innen anzuregen

(vgl. Grawe 2004: 107).

2.4. Neuronale Erregung und synaptische Verschaltung

Um zu verstehen, welche Prozesse im menschlichen Gehirn vor sich gehen, sollte zu-

nächst betrachtet werden, was bei der Erregungsübertragung zwischen Neuronen und Sy-

napsen passiert. Therapeutische Interventionen, die auf neuronaler Ebene Wirkung zeigen

sollen, setzen an einer Veränderung der Erregungsübertragung zwischen Synapsen an

(vgl. Grawe 2004: 46).

Neuronen unterscheiden sich hinsichtlich ihres Aufbaus sowie der Art, in der sie kommu-

nizieren. Die Kommunikation zwischen den Neuronen findet über chemische oder elektri-

sche Impulse statt. Für die chemische Signalübertragung werden Botenstoffe, sogenannte

Neurotransmitter, verwendet. Die Neuronen unterscheiden sich hierbei hinsichtlich der

Transmitter, welche sie herstellen, um mit anderen Nervenzellen zu kommunizieren. Die

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meisten Neuronen stellen mehrere Arten von Transmittern her, was ihre Kommunikations-

möglichkeiten erhöht. Es wird zwischen Neurotransmittern im engeren Sinne, Neuromodu-

latoren, Neuropeptiden sowie Neurohormonen unterschieden. Zu den klassischen Neuro-

transmittern gehören Glutamat, Glycin, GABA, Dopamin, Noradrenalin, Adrenalin, Seroto-

nin, Histamin und Acetylcholin (vgl. Grawe 2004: 46 f.).

Die Erregungsübertragung läuft über das Ausschütten von Neurotransmittern, deren

Transport in Vesikeln zur Axonendigung und das dortige Ergießen in den synaptischen

Spalt ab. Neben dem Senden von Signalen sind Neuronen auch fähig Signale über synap-

tische Rezeptoren von anderen Nervenzellen zu empfangen. Die Rezeptoren befinden sich

an Dendriten, Zellkörpern oder Axonen (vgl. Grawe 2004: 47 f.).

Bei Synapsen handelt es sich um die Verknüpfungspunkte zu den Neuronen. Neurone und

Synapsen berühren sich nie ganz und sind durch einen submikroskopisch kleinen Spalt,

dem synaptischen Spalt, voneinander getrennt (vgl. Rüegg 2011: 3). Die Synapsen befin-

den sich an den Fortsätzen der Nervenzellen, den Dendriten, können sich aber auch am

Axon oder Zellkörper des Neurons befinden (vgl. Schmitt 2008: 53). Mithilfe verschiedener

Botenstoffe findet über den synaptischen Spalt hinweg ein Informationsaustausch zwi-

schen den Nervenzellen statt. Jede Nervenzelle sendet über die multiplen Synapsen, mit

denen sie verbunden sind, tausende Informationen an andere Nervenzellen und empfängt

gleichermaßen viele Signale zurück (vgl. Rüegg 2011: 3).

Die Kommunikation über die Synapsen läuft über elektrische oder chemische Prozesse,

wobei die meisten Synapsen eine chemische Struktur aufweisen. Durch die Aktivierung

von Sinneszellen von außen oder durch andere Nervenzellen kommt es zu elektrischer

Erregung. Diese bewirkt an der Synapse die Ausschüttung von Neurotransmittern. Die

Neurotransmitter ergießen sich in den synaptischen Spalt, wo sie auf die Membran der

nächsten Nervenzelle treffen. Die Verfügbarkeit von Rezeptoren für die entsprechenden

Neurotransmitter entscheiden darüber, ob die Botenstoffe ins Zellinnere gelassen werden

oder nicht. Werden die Ionenkanäle geöffnet, so strömen positiv geladene Ionen ins Zell-

innere. Ab einer gewissen Ionenkonzentration entsteht ein elektrischer Impuls, welcher

entlang des Nervs verläuft. Durch diesen Mechanismus werden Reize durch das Nerven-

system geleitet (vgl. Schmitt 2008: 53 f.).

Jede Nervenzelle verfügt über unterschiedliche Rezeptoren, welche darüber entscheiden,

ob Ionenkanäle geöffnet oder geschlossen werden. Je nachdem, auf welche Rezeptoren

Neurotransmitter stoßen, wirken sie hemmend oder aktivierend (vgl. Schmitt 2008: 55). Es

gibt noch einen weiteren Prozess, welcher die Erregbarkeit von Nervenzellen fördert oder

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hemmt und für das Verständnis von Neuroplastizität wichtig ist. Durch sogenannte Neuro-

modulatoren kann die Erregbarkeit von Nervenzellen verändert werden, wenn eine Sy-

napse zuvor stimuliert wurde. Wird eine Nervenzelle, die bereits leicht erregt ist, immer

wieder aktiviert, zum Beispiel beim wiederholten Lesen und Erinnern eines Reims, so wer-

den weitere biochemische Prozesse im Zellinneren angeregt. Dies kann dazu führen, dass

die Erregbarkeit der Zelle weiter erhöht wird, die Zelle zur Bildung neuer Synapsen ange-

regt wird oder Stoffe gebildet werden, die für eine vermehrte Ausschüttung von Neurotrans-

mittern der Nachbarzelle sorgen (vgl. Schmitt 2008: 55 f.). Das bedeutet: werden Synapsen

wiederholt durch elektrische Impulse stimuliert, so werden diese kurzfristig empfindlicher

und sind leichter erregbar. Werden die Synapsen langfristig weiter genutzt, so bilden be-

teiligte Nervenzellen neue Synapsen aus. Auf diese Weise wird der Weg für weitere Akti-

vierung erleichtert und die neuronale Bahn im Gehirn immer weiter ausgebaut. Je häufiger

neuronale Netzwerke also genutzt werden, desto besser funktionieren sie (vgl. Schmitt

2008: 58).

2.5. Hirnforschung

Die Neurowissenschaft bezeichnet eine Wissenschaft, deren Forschungsgegenstand die

Struktur und Funktionsweise von Nervensystemen ist (vgl. Duden Online 2019). Sie macht

es sich dabei zur Aufgabe, Verhaltensweisen anhand von Gehirnaktivitäten zu erklären.

Dabei geht es darum, die Wechselwirkung zwischen der Erzeugung von Verhalten durch

Nervenzellen auf der einen Seite und den Einfluss von Umgebungsbedingungen und

menschlichem Verhalten auf die Nervenzellen auf der anderen Seite zu verstehen (vgl.

Kandel et al. 2011: 6).

Im Folgenden soll die Geschichte der Hirnforschung von den ersten Konzeptionen über

das Gehirn in der Antike bis zur Entdeckung des Nervensystems im späten 18. Jahrhundert

und der Entwicklung bildgebender Verfahren im 20. Jahrhundert skizziert werden.

2.5.1. Entwicklung der Hirnforschung

Die Auseinandersetzung mit dem menschlichen Gehirn geht in der Geschichte weit zurück.

Es wird vermutet, dass bereits die Steinzeitmenschen den Toten die Köpfe abschlugen,

die Schädel aufbrachen und dann die Gehirne verzehrten. Dahinter stand der Glaube, dass

mit dem Akt die Seele der Verstorbenen aufgenommen werden kann. Dem Gehirn wurde

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also bereits damals eine besondere Bedeutung, als Sitz der Seele, zugesprochen (vgl.

Schmitt 2008: 17).

Unter den griechischen Philosophen der Antike gab es sehr unterschiedliche Auffassungen

vom Gehirn. Platon (427-347 v. Chr.) verstand das Gehirn als Ort mentaler Prozesse, wäh-

rend Aristoteles (384-322 v.Chr.) den Sitz der Seele im Herzen sah (vgl. Schmitt 2008: 17).

Hippokrates (460-370 v. Chr.) vertrat die Auffassung der Vier-Säfte-Lehre, welche das Ge-

hirn als Schleim produzierendes Organ ansah, das zur Kühlung der Körperflüssigkeiten

dienen sollte. Eine Überproduktion an Schleim führte demnach zu Verstopfungen und da-

mit psychischen Erkrankungen (vgl. Schmitt 2008: 17).

Während des Mittelalters herrschte weitestgehend Stillstand auf dem Gebiet der Hirnfor-

schung. Erst mit der Begründung der Phrenologie durch den deutschen Arzt Josef Gall

(1758-1828) kamen wieder neue Ideen auf. Phrenologie bedeutet „Zwerchfelllehre“, da das

Zwerchfell als der Ort vermutet wurde, wo die Seele sitzt. Im erweiterten Sinn wurde sie

jedoch als Lehre vom Geist und der Seele verstanden. Gall ging davon aus, dass Charak-

tereigenschaften von Menschen mit dem Gehirn, genauer mit der Form des Schädels, im

Zusammenhang stehen. Gehirn, Psyche und Verhalten in Beziehung zu stellen war eine

große Neuerung in der frühen Hirnforschung (vgl. Schmitt 2008: 18).

Paul Broca (1824-1880) war der erste Wissenschaftler, der einen Beweis dafür liefern

konnte, dass der Verlust der Sprachfähigkeit direkt mit Schädigungen der linken Gehirn-

hälfte in Zusammenhang steht. Dazu untersuchte er die Gehirne verstorbener Patienten.

Im fiel auf, dass Patienten, die zu Lebzeiten einen Verlust der Sprachfähigkeit erlitten hat-

ten, Schädigungen auf der linken Seite des Gehirns aufwiesen. Heute wird das Areal, was

für die Produktion von Sprache verantwortlich ist, als Broca-Areal bezeichnet (vgl. Schmitt

2008: 20).

Nur wenige Jahre später stellte Carl Wernicke (1848-1905) fest, dass eine Schädigung im

hinteren Teil der linken Gehirnhälfte ebenfalls mit Sprachdefiziten verbunden ist, nur in

diesem Falle nicht mit der Produktion, sondern dem Verständnis von Sprache. Er stellte

zudem eine anatomische Verbindung zwischen den beiden Arealen fest, wobei er den heu-

tigen Vorstellungen der Vernetzung unterschiedlicher Hirnareale bereits sehr nah war (vgl.

Schmitt 2008: 21).

Korbinian Brodmann (1868-1918) legte 1899 eine Kartierung der Großhirnrinde vor und

nahm anhand der Zellanordnung und Zelltypen eine Unterteilung in 52 Areale vor (vgl.

Schmitt 2008: 21).

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Karl Kleist (1879-1961) nahm auf Basis von Brodmanns Karte und basierend auf seiner

Erfahrung als Militärarzt und der Annahme, dass Hirnverletzungen sich auf das menschli-

che Verhalten auswirken, eine eigene Topographie des Gehirns und seiner Funktionen vor

(vgl. Schmitt 2008: 21).

In den 1930er und 1940er Jahren kam es zu verschiedenen chirurgischen Eingriffen am

Gehirn, welche psychische Auffälligkeiten lindern sollten. So entwickelte Egas Monitz

(1874-1955) im Jahre 1936 die chirurgische Methode der Leukotomie, bei der Patient*in-

nen rechts und links ein Loch in den vorderen Schädel gebohrt wurde, um mit Hilfe eines

Messers Nervenbahnen im Gehirn zu durchtrennen. Dieses Verfahren ging häufig mit einer

tiefgreifenden Veränderung der Persönlichkeit, Apathie, Verlust von Spontanität und Krea-

tivität einher. In den 1970er Jahren wurde diese Form der Psychochirurgie daher in

Deutschland komplett eingestellt (vgl. Schmitt 2008: 24). Ein weiteres Verfahren, das spe-

ziell auf die Behandlung von Epilepsie ausgerichtet war, war das des „Split Brain“, welches

durch William van Wagenen (1897-1961) entwickelt wurde. Dabei kam es zur Durchtren-

nung der Verbindungsstruktur der beiden Gehirnhälften. Die Methode zeigte keine großen

Erfolge und wurde nur vereinzelt ausgeführt. Sie führte jedoch dazu, dass sich ein besse-

res Wissen über die beiden Hälften des Gehirns und ihren unterschiedlichen Funktionen

etablierte (vgl. Schmitt 2008: 25).

Der kanadische Psychologe Donald Hebb (1904-1985) befasste sich im Jahr 1949 mit der

Funktionsweise des Lernens und stellte die Annahme auf, dass das Lernen auf der Ver-

stärkung von Synapsen beruhe. Er ging davon aus, dass synaptische Verbindungen immer

dann verstärkt werden, wenn Nervenzellen gleichzeitig feuern. Da er kein Neurowissen-

schaftler, sondern Psychologe war, konnte er seine Hypothese nicht selbst überprüfen. Es

sollte Jahre dauern bis die Hebbsche Lernregel verifiziert wurde und die synaptische Plas-

tizität schließlich als bewiesen galt (vgl. Begley 2007: 48). Hebb kann somit als Entdecker

des Modells der synaptischen Plastizität bezeichnet werden (vgl. Grawe 2004: 31).

Mit neunen technischen Errungenschaften wurde es zum Ende des 20. Jahrhunderts hin

möglich, den Blick mit Hilfe bildgebender Verfahren in das Gehirn zu richten. Im folgenden

Kapitel soll näher auf die verschiedenen Verfahren und deren Auswirkungen auf die Mög-

lichkeiten für die Hirnforschung eingegangen werden.

2.5.2. Bildgebende Verfahren

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Die erste große Errungenschaft der bildgebenden Technologien war die Erfindung des

Elektronenmikroskops im Jahr 1933. Mit Hilfe dieses Mikroskops wurde es möglich, Pro-

zesse und Strukturen innerhalb der Zellen zu beobachten, wobei sogar Synapsen deutlich

gemacht werden konnten (vgl. Schmitt 2008: 26).

Die Physiker Cormack (1924-1998) und Hounsfield (1919-2004) entwickelten das Verfah-

ren des Röntgens, bei dem es zu einer Durchleuchtung von Gewebe kommt. Durch die

unterschiedliche Beschaffenheit des Gewebes werden verschiedene Mengen an Strahlung

durchgelassen, was dann visuell abgebildet werden kann. Sie erhielten dafür 1979 den

Nobelpreis für Medizin. Der Erfindung dieses Verfahrens ist zu verdanken, dass sich die

Computertomographie (CT) entwickelte, welche seit 1972 im Einsatz ist. Diese ermöglicht

das Abbilden von Gehirnschnitten und macht Abweichungen und Schädigungen deutlich

(vgl. Schmitt 2008: 26).

Seit 1984 steht die Kernspintomographie, auch Magnetresonanztomographie (MRT) ge-

nannt, zur Verfügung, welche die Möglichkeiten der CT noch weiter ausbaut. Die Techno-

logie arbeitet mit einem starken Magnetfeld, welches zur magnetischen Anziehung und

Positionsveränderung der körpereigenen Atome führt. Wird der Magnet ausgeschaltet,

springen die Atome wieder auf ihre Ausgangsposition zurück. Dabei werden durch die

Atome Signale ausgesendet, die gemessen werden können. Daraus kann ein genaues

Schnittbild berechnet werden. Ein Vorteil des MRT gegenüber der CT ist, dass verschie-

dene Schnittebenen des Gehirns und des Körpers dargestellt werden können, ohne dass

Patient*innen ihre Lage verändern müssen. Außerdem ist die Bildauflösung, insbesondere

von flüssigkeitshaltigem Gewebe wie dem Gehirn, wesentlich höher (vgl. Schmitt 2008:

27).

Durch die Weiterentwicklung der MRT zur funktionellen Magnetresonanztomographie

(fMRT) können zusätzlich die Aktivitätszustände im Gehirn gemessen werden. Dies ist des-

halb möglich, da sauerstoffreiches Blut andere magnetische Signale erzeugt als sauerstoff-

armes Blut. Das Hämoglobin im Blut bindet den Sauerstoff und wird dadurch magnetisch.

Die fMRT misst die Magnetstärke und kann somit aktive Areale des Gehirns abbilden (vgl.

Schmitt 2008: 27).

Bei der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) handelt es sich um ein radiologisches

bildgebendes Verfahren, mit welchem sich Veränderungen der Gehirndurchblutung sowie

des Gehirnstoffwechsels sichtbar machen lassen. Dieses eignet sich wie die Kernspinto-

mographie gut dazu, geistige Aktivitäten des Gehirns zu beobachten und exakt abzubilden

(vgl. Kandel et al. 2011: 16, 74). Die Positronen-Emissions-Tomographie kombiniert die

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Prinzipien der Computertomographie mit denen der Radioisotopdarstellung. Die PET-Bil-

der entstehen durch die Emission von Strahlung, welche vom injizierten Gewebe ausgeht.

Das PET vermag es, dynamische Bilder zu liefern und hat damit viel zur Erforschung kog-

nitiver Vorgänge bei psychischen Erkrankungen beigetragen (vgl. Kandel et al. 2011: 75).

2.5.3. Bedeutung und Relevanz

Auch wenn noch nicht alle Fragen über das menschliche Gehirn beantwortet werden konn-

ten, so haben moderne bildgebende Verfahren einen bedeutenden Beitrag dazu geleistet,

die Vorgänge in unserem Gehirn verständlich zu machen. Dem was wir fühlen oder denken

liegen ganz bestimmte neuronale Erregungsmuster zu Grunde. Welche Handlung wir vor-

nehmen, hängt davon ab, ob bestimmte Neuronen feuern, wie schnell sie dies tun und

welche anderen Neuronen dadurch aktiviert werden (vgl. Grawe 2004: 44). Durch die bild-

gebenden Verfahren wird es nun möglich zu verstehen, wie unterschiedliche Regionen des

Gehirns bestimmte Funktionen des Erlebens und Verhaltens steuern und wie diese Areale

miteinander in Verbindung stehen (vgl. Schmitt 2008: 31).

Eine Vielzahl psychosozialer Erkrankungen und Störungen des Verhaltens können so im

Gehirn lokalisiert werden. Für das Verständnis individueller Störungs- und Problemlagen

von Menschen sind solche Bilder überaus hilfreich und bieten überdies hinaus Anknüp-

fungspunkte für das Setzen gezielter Interventionen und Hilfsmaßnahmen (vgl. Schmitt

2008: 52).

Am fundamentalsten wirken sich die technischen Errungenschaften und Erkenntnisge-

winne der Neurowissenschaften wohl auf das Bild des Menschen von sich selbst aus. Das

Verständnis, dass es sich bei unseren intimsten Gedanken, Gefühlen und Wünschen um

biologische Prozesse handelt, mag im ersten Moment etwas vereinfacht klingen, kann aber

auch als Chance gesehen werden, den Menschen in all seinen Facetten besser verstehen

zu lernen (vgl. Grawe 2004: 17).

„Wenn es stimmt, dass ausnahmslos alles, was wir denken, wissen, glauben, hoffen, füh-

len, erleiden, entscheiden oder tun sich bis ins letzte Detail auf die Strukturen unserer Neu-

rone und Synapsen und der Prozesse, die sich zwischen ihnen abspielen, zurückführen

lässt, wenn also das, was wir als seelisch bezeichnen, sowohl in seiner Existenz als auch

in seiner Beschaffenheit vollständig eine Hervorbringung neuronaler Schaltkreise ist, dann

gibt es fürwahr viel zu überdenken. Der durch die neuen Erkenntnisse angestoßene Re-

zeptions- und Verarbeitungsprozess ist in den davon betroffenen Wissenschaften gerade

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erst in Gang gekommen. Es wird noch lange dauern, bis das neue Bild des Menschen, das

da am Entstehen ist, ins allgemeine gesellschaftliche Bewusstsein eingedrungen ist.“

(Grawe 2004: 17)

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3. Neuroplastizität

Dieses Kapitel erläutert, was unter Neuroplastizität und Neurogenese zu verstehen ist,

macht einen kurzen Exkurs in das Forschungsgebiet der Epigenetik und geht dann auf die

Prägung des Gehirns durch soziale Faktoren und Umweltbedingungen sowie die negativen

Auswirkungen von Stress ein.

3.1. Plastizität des Gehirns

Johann Caspar Rüegg (2011) beschreibt Neuroplastizität als die Fähigkeit des Gehirns

sich fortlaufend den Erfordernissen seines Gebrauchs optimal anzupassen, indem neue

synaptische Verbindungen zwischen den Neuronen geknüpft und alte aufgelöst werden.

Dadurch kommt es zu einer fortwährenden Reorganisation neuronaler Netzwerke (vgl. Rü-

egg 2011: 19). Jahrzehntelang wurde davon ausgegangen, dass das Gehirn statisch und

unveränderbar ist. Heute ist bekannt, dass das menschliche Gehirn ein Leben lang lernfä-

hig ist und einmal angelegte Verschaltungen stets verändert werden können (vgl. Hüther

2005: 17 f.).

Die Aussage des kognitiven Psychologen Donald Hebb‘s „Neurons that fire together wire

together“ beschreibt die Quintessenz synaptischer Plastizität (vgl. Schmitt 2008: 57). Ge-

dächtnisinhalte werden durch wiederholte synaptische Datenübertragung zwischen Neu-

ronen gespeichert (vgl. Rüegg 2011: 20). Je häufiger bestimmte Verschaltungen genutzt

werden, desto tiefer prägen sich die Verknüpfungen aus, wobei mit der Zeit sogenannte

„neuronale Autobahnen“ entstehen. Daraus können dann eingefahrene Verhaltensmuster

und Bewältigungsstrategien werden, die mit wiederholter Nutzung über einen längeren

Zeitraum immer tiefer ausgebaut werden. Nicht genutzte Verschaltungen hingegen bilden

sich mit der Zeit zurück (vgl. Hüther 2005: 62 f.). Neue Synapsen bilden sich, abhängig von

der genetischen Ausstattung eines Menschen sowie seinen vorhandenen Lernbedingun-

gen, unterschiedlich schnell aus (vgl. Schmitt 2008: 56).

Für die Art und Weise, in der sich die Verschaltungsmuster des Gehirns ausbilden, ist im-

mer entscheidend, welche Lebensbedingungen vorherrschend sind. Laut Hüther (2005)

kann das Gehirn in einem kargen, reizarmen Umfeld nicht sein volles Potenzial an Ver-

schaltungsmustern ausbilden, so wie es das in einem förderlichen Umfeld mit ausreichen-

den Reizen tun kann (vgl. Hüther 2005: 63).

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Es ist wichtig anzumerken, dass es hemmende und aktivierende Faktoren für neuronale

Plastizität gibt. Allgemein kann gesagt werden, dass positive Erlebnisse, sportliche Betäti-

gung sowie Antidepressiva eine vermehrte Produktion plastizitätsfördernder Substanzen

bewirken, wohingegen chronischer Stress, Inaktivität sowie der Gebrauch rauscherzeu-

gender Substanzen sich plastizitätshemmend auswirken (vgl. Schmitt 2008: 57).

Die Fähigkeit des Gehirns sich anzupassen und neu zu formieren bietet somit eine vielver-

sprechende Möglichkeit, Störungen im Bereich des Denkens, Fühlens und Verhaltens ent-

gegen zu steuern und neue, gesündere Strukturen im Gehirn zu etablieren. Für nachhal-

tige Veränderungen der neuronalen Strukturen bedarf es intensiver und langanhaltender

Einwirkungen. Unregelmäßiges, kurzes Aktivieren von Prozessen bewirkt kein langfristiges

Lernen und damit auch keine langfristigen Veränderungen. Erst intensive und häufig wie-

derholte Bahnungen neuer Abläufe ermöglichen eine therapieinduzierte Veränderung, wel-

che sich selbst aufrechterhält (vgl. Grawe 2004: 139).

3.2. Neurogenese

Während der Begriff Neuroplastizität die Verbesserung der Kommunikation zwischen be-

stehenden Neuronen an der Synapse bezeichnet, handelt es sich bei der Neurogenese um

einen Prozess, bei dem neue Nervenzellen gebildet werden (vgl. Costandi 2015: 152). In

den Neurowissenschaften wurde lange Zeit der Glaubenssatz vertreten, dass alle Neuro-

nen des zentralen Nervensystems während der embryonalen und frühen postnatalen

Phase gebildet werden und dass das erwachsene Gehirn nicht mehr fähig ist, neue Zellen

zu bilden. Inzwischen ist bekannt, dass es im Gehirn zwei wesentliche Regionen gibt, in

welchen ständig neue Nervenzellen gebildet werden: den Riechkolben und den Hippocam-

pus (vgl. Bischofberger, Schmidt-Hieber 2006: 212). Die Entdeckung der adulten Neuro-

genese lässt auf die Selbstheilung des Gehirns nach Verletzungen oder Erkrankungen hof-

fen und verändert das Denken über psychische und neurologische Erkrankungen. Die Er-

forschung der adulten Neurogenese beim Menschen steht noch sehr am Anfang, allerdings

gilt als bestätigt, dass das Gehirn ein Leben lang neue Nervenzellen aus neuronalen

Stammzellen produzieren kann, wobei die Anzahl der produzierten Nervenzellen mit dem

Alter abnimmt. Tierstudien zeigen außerdem, dass das Wachstum neuer Hirnzellen be-

wusst durch körperliches und mentales Training angeregt und gefördert werden kann (vgl.

Costandi 2015: 152).

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Die Neurogenese findet durch Zellteilung in den Stammzellen statt, welche sich im Gyrus

dentatus des Hippocampus sowie dem Riechkolben befinden (vgl. Bischofberger, Schmidt-

Hieber 2006: 214). Sie lässt sich in drei Teilprozesse unterteilen: Proliferation, neuronale

Determination und Reifung. Die Proliferation wird durch Faktoren aus dem zirkulierenden

Blutkreislauf moduliert. Die neuronale Determination und Reifung hängen stark von der

Aktivität im Hippocampus ab. Die jungen, neu gebildeten Neuronen sind besonders leicht

elektrisch erregbar und verfügen über ein hohes Maß an synaptischer Plastizität. Innerhalb

von zwei bis vier Wochen nach Zellteilung knüpfen sie mehrere tausende synaptische Kon-

takte. Neugebildete Nervenzellen wandern in benötigte Gehirnbereiche und ermöglichen

es so dem Gehirn, seinen Bedarf an Nervenzellen zu decken (vgl. ebd.: 220).

3.3. Exkurs: Epigenetik

Die Auseinandersetzung mit Neuroplastizität verlangt auch eine Thematisierung der Epi-

genetik, da diese sich immer auch auf neuronaler Ebene auswirkt (vgl. Costandi 2015:

156). Unter Epigenetik wird ganz allgemein die Fähigkeit von Genen verstanden, sich an

Umweltbedingungen anzupassen (vgl. Garland, Matthew 2009: 194). Zellen weisen unter-

schiedliche biochemische Möglichkeiten auf, Gene zu regulieren. Dabei wirken Umweltein-

flüsse, Ernährung, Stress, chemische Substanzen und soziale Faktoren auf die Zellen ein.

Epigenetische Modifikationen sind allerdings im Gegensatz zu Genmutationen reversibel

(vgl. Spork 2017: 350 f.)

Eine Reihe von Studien über die mütterliche Fürsorge bei Ratten (Francis et al. 1999; Liu

et al. 1997) konnte zeigen, wie sich soziale Umgebungsfaktoren auf die Genexpression

auswirken können. Dabei wurden zwei Arten von Ratten zur Untersuchung herangezogen.

Eine Art mit einer sehr hohen Stressreaktivität und wenig fürsorglichem Verhalten gegen-

über dem Nachwuchs und eine andere Art mit einer niedrigen Reaktivität und fürsorglichem

Verhalten. Die Ratten der wenig fürsorglichen Mütter übernahmen deren hohe Stressreak-

tivität und wurden auch zu wenig fürsorglichen Müttern, wohingegen sich bei der anderen

Art das Gegenteil zeigte. Die Studie machte deutlich, dass die Stresslevels der Rattenba-

bys mit dem Lecken und Kraulen durch die Mutter in Zusammenhang stehen. Wurden die

Rattenbabys der fürsorglichen und der nachlässigen Mutter getauscht, so konnte festge-

stellt werden, dass die Ratten, welche eigentlich stressanfälliger waren, ruhiger wurden

und das fürsorgliche Verhalten der Ziehmutter übernahmen. Bei den Jungen der fürsorgli-

chen Mutter, welche in Obhut der nachlässigen Mutter gegeben wurden, stellte sich der

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gegenteilige Effekt ein. Diese Studie vermag zu zeigen, wie soziales Verhalten in das Erb-

gut eingeschrieben werden kann und dadurch letztlich auch auf neurobiologische Struktu-

ren zurückwirkt (vgl. Garland, Matthew 2009: 194 f.).

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3.4. Das soziale Gehirn

Hüther (2006) weist auf die Tatsache hin, dass das Gehirn sozial konstruiert ist. Es wird im

Laufe des Lebens durch soziale Beziehungen strukturiert und ist auf die Nutzung in sozia-

len Beziehungssystemen ausgelegt. Damit es zu Veränderungen im Gehirn kommen kann,

müssen Veränderungen auf Ebene der sozialen Beziehungserfahrungen stattfinden (vgl.

Hüther 2006). Auch Thomas Schmitt (2012) weist auf die soziale Komponente des Hirns

hin und postuliert, dass sowohl für die Entstehung als auch für die Bewältigung von Erkran-

kungen psychosoziale Erfahrungen verantwortlich sind (vgl. Schmitt 2012: 14).

Damit ist nicht zu sagen, dass der Zustand des Gehirns alleine und ausschließlich sozialen

Erfahrungen zuzuschreiben ist. Körperliche Aktivität, Ernährung, Stress sowie die Ein-

nahme von Medikamenten nehmen ebenso Einfluss auf die Art und Weise, wie das Gehirn

strukturiert wird (vgl. Schmitt 2008: 57). Im Folgenden soll jedoch der Fokus auf die soziale

Dimension des Gehirns gelegt werden, da diese eine besondere Relevanz für die Klinische

Soziale Arbeit aufweist.

Psychosoziale Erfahrungen wirken sich auf das menschliche Gehirn aus. Die Art der Er-

lebnisse und die subjektive Bedeutung, die diesen beigemessen wird, hängt stark von den

erlernten Glaubenssätzen der Betroffenen ab. Erst durch wiederholte positive Lebenser-

fahrungen können neue, förderliche Strukturen im Gehirn entstehen, welche sich selbst

aufrechterhalten (vgl. Grawe 2004: 19).

Es ist wichtig neben all der biologischen Determiniertheit, welche unser Fühlen, Denken

und Verhalten prägt, nicht zu vergessen, dass diese biochemischen Prozesse im Gehirn

durch psychische Aktivität zustande kommen. Es sind reale psychosoziale Erfahrungen,

welche die Übertragungsbereitschaft der Synapsen beeinflussen (vgl. Grawe 2004: 54).

Gerald Hüther und Jürgen Pilz (2012) gehen auf die zwei elementaren Grundbedürfnisse

eines jeden Menschen ein: den Wunsch nach Verbundenheit zu anderen Menschen und

das Streben nach Wachstum. Da Erfahrungen von Verbundenheit und Wachstum vorran-

gig durch soziale Beziehungen gemacht werden, wird deutlich, welchen Stellenwert das

soziale Umfeld für die Entwicklung eines Menschen einnimmt (vgl. Hüther, Pilz 2012: 23).

Doch wie funktioniert das Lernen im sozialen Umfeld? Hüther geht davon aus, dass beim

Lernen eine emotionale Komponente vorhanden sein muss, damit Wissen nachhaltig im

Gehirn verankert wird. Lernen funktioniert dabei vor allem durch selbst gemachte Erfah-

rungen und nur begrenzt durch angeeignetes Wissen. Denn durch psychosoziale Erfah-

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rungen wird Wissen mit Emotionen verbunden und ins Gehirn eingebrannt. Das Vorhan-

densein einer emotionalen Komponente ist also wesentlich dafür, dass sich etwas langfris-

tig im Gehirn manifestiert (vgl. Hüther 2006). Auf neuronaler Ebene kommt es immer dann

zur Aktivierung emotionaler Zentren, wenn ein Gefühl ausgelöst wird, welches mit einer

körperlichen Reaktion einhergeht. Jedes Mal, wenn die Nervenzellen „feuern“, werden neu-

roplastische Botenstoffe freigesetzt. Diese stimulieren das Anwachsen bzw. die Neubil-

dung von Nervenzellenverknüpfungen. Durch diesen Mechanismus werden all jene Ver-

netzungen im Gehirn besonders gefestigt, die für die erfolgreiche Bewältigung von Heraus-

forderungen, Problemlösungen sowie die Aneignung von Wissen und Fähigkeiten zustän-

dig sind (vgl. Hüther, Pilz 2012: 26).

Hüther (2016) geht auch auf die Komponente der Begeisterung ein, welche entscheidend

dafür ist, wie sich das Gehirn entwickelt. Das, was ein Individuum in der Welt als bedeut-

sam erachtet, entscheidet darüber, wofür es sein Gehirn mit Begeisterung nutzen wird (vgl.

Hüther 2016: 83). Dies erklärt, warum das Lernen von Dingen, die einem wichtig sind, so

leichtfällt, wohingegen stures Auswendiglernen oftmals schwerfällt. Subjektive Bedeutsam-

keit erlangen Dinge dadurch, dass sie sinnvoll genutzt werden können. Sie können aber

auch dadurch bedeutsam werden, dass sie von Personen übernommen werden, die einem

wichtig sind (vgl. Hüther, Pilz 2012: 26).

3.4.1. Soziale Umgebungsfaktoren

Die soziale Natur des menschlichen Gehirns lässt sich evolutionsbiologisch dadurch erklä-

ren, dass Neugeborene nicht ohne die Hilfe und Zuwendung anderer Menschen überleben

können. Auch in der Tierwelt zeigt sich das Phänomen, dass Tiere, welche zum Überleben

auf die Fürsorge anderer angewiesen sind, bestimmte soziale Charakteristika aufweisen.

Alle sozialen Spezies zeichnen sich daher dadurch aus, dass sie zur Regulierung funda-

mentaler physischer Bedürfnisse auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Damit hängt das

Überleben von sozialen Bindungen ab. Die soziale Abhängigkeit des Menschen dient nicht

nur dem physischen Überleben, sondern auch der Anpassung an das soziale Umfeld sowie

dem Erlernen spezifischen kulturellen Wissens, durch welches die individuelle Lebenswelt

geprägt ist (vgl. Atzil et al. 2018: 624).

Die Entwicklung des menschlichen Gehirns beginnt bereits im embryonalen Zustand. Für

optimale Entwicklungsbedingungen braucht es die Versorgung mit den erforderlichen Bau-

steinen und Substraten. Störende Veränderungen, beeinflusst durch mangelnde plazen-

tare Versorgung, Stoffwechselstörungen oder die Einnahme von Wirkstoffen können die

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Hirnentwicklung bereits empfindlich beeinflussen. Auch Stress und psychische Belastun-

gen kann der Fötus durch den veränderten Herzschlag der Mutter oder zirkulierende

Stresshormone wahrnehmen. Dies kann dazu führen, dass das Gefühl von Geborgenheit

schon zum Zeitpunkt der Geburt gestört ist. Diese Kinder kommen dann mitunter ängstli-

cher auf die Welt und sind schwerer durch mütterliche Zuwendung zu beruhigen. Die wich-

tigste Erfahrung, die ein Neugeborenes in den ersten Wochen nach der Geburt macht, ist,

dass es in der Lage ist, seine Angst mit Hilfe der Mutter (bzw. des Vaters oder einer ande-

ren Bezugsperson) zu bewältigen. Dieses Gefühl wird nachhaltig im Gehirn verankert.

Dadurch entwickelt es auch eine emotionale Bindung zur Mutter und übernimmt im weite-

ren Verlauf alle Haltungen und Fertigkeiten von ihr, welche für sein Überleben wichtig sind

(vgl. Hüther 2005: 73 f.).

All jene Regionen, in denen sich das menschliche Gehirn fundamental von denen seiner

nächsten tierischen Verwandten unterscheidet, werden erst nach der Geburt durch zwi-

schenmenschliche Erfahrungen herausgeformt. Das menschliche Gehirn bildet also auf

der Basis von Beziehungserfahrungen mit anderen Menschen neuronale Verknüpfungen

und synaptische Verschaltungen aus. Es wird sozial geformt und strukturiert und ist auf die

Gestaltung sozialer Beziehungen ausgelegt. Menschliche Gehirne sind Organe, welche

ausschließlich in einem Verbund von anderen Gehirnen entwicklungs- und überlebensfähig

sind, was wieder zurück zur evolutionsbiologischen Notwendigkeit des sozialen Charakters

des menschlichen Gehirns führt. Das soziale Umfeld, in das ein Mensch hineingeboren

wird, ist also ausschlaggebend für die neuronale Struktur des Gehirns, welche unter den

gegebenen Bedingungen herausbildet wird (vgl. Hüther 2016: 44 f.).

3.4.2. Einfluss von Stressoren

Zahlreiche Studien zeigen, dass Stress in der frühen Kindheit nachhaltigen Einfluss auf

das sich entwickelnde Gehirn hat, wobei einige Strukturveränderungen ein Leben lang be-

stehen bleiben können (vgl. Davidson, McEwan 2012: 689). Im Folgenden soll daher kurz

erläutert werden, wie sich chronischer Stress auf das Gehirn auswirkt und welche Bedeu-

tung dies für das sich entwickelnde Gehirn hat.

Stress wird ganz allgemein als unspezifische Reaktion des Körpers auf einen äußeren Reiz

definiert. Durch den Reiz wird eine Stressreaktion ausgelöst, die mit der Ausschüttung von

Hormonen einhergeht, welche die Bewältigung der Situation fördern sollen. Das Gehirn

spielt eine wichtige Rolle bei der Regulierung von Stress, indem es Gefahren identifiziert

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und körperliche Reaktionen auf einwirkende Stressoren veranlasst (vgl. Popoli et al. 2013:

22 f.).

Davidson und McEwan (2012) zeigen auf, wie sich chronischer Stress bei Spitzhörnchen

auf die Neuronen des präfrontalen Cortex, des Hippocampus sowie der Amygdala auswir-

ken. Diese sterben nicht ab, sondern schrumpfen im präfrontalen Cortex und Hippocampus

zusammen und wachsen in der Amygdala an. Die neuronalen Veränderungen sind bei den

jungen Tieren größtenteils reversibel, wobei die Plastizität mit zunehmendem Alter ab-

nimmt. Die Effekte sind auf das menschliche Gehirn übertragbar, wobei ein minimierter

präfrontaler Cortex mit mangelnder Affektkontrolle und Impulsivität einhergeht und ein ver-

kleinerter Hippocampus in Korrelation mit dem Selbstwertgefühl des Betroffenen steht.

Eine durch Überaktivität vergrößerte Amygdala steht hingegen mit aggressivem und ängst-

lichem Verhalten in Verbindung (vgl. Davidson, McEwan 2012: 690).

Während der Kindheit finden im Gehirn Prozesse der synaptischen Reorganisation, Myeli-

nisierung1 sowie des natürlichen Zelltodes statt. Durch die Umwelt bedingter Stress kann

diese frühen, neurologischen Entwicklungen empfindlich stören und emotionale Auffällig-

keiten sowie Verhaltensstörungen nach sich ziehen (vgl. Fawley-King, Merz 2014: 113).

3.5. Zusammenfassung und Ausblick

Das Gehirn ist ein Organ, welches besonders empfindlich auf soziale Umgebungsbedin-

gungen reagiert. Es wird durch psychosoziale Beziehungserfahrungen strukturiert und ver-

mag auf Basis dieser Erfahrungen zu erkranken oder zu heilen (vgl. Schmitt 2012: 14).

Chronischer Stress in Kindheit und Adoleszenz hat negative Auswirkungen auf die Ent-

wicklung von Hirnschaltkreisen sowie das Verhalten und erhöht das Risiko für psychische

Erkrankungen (vgl. Costandi 2015: 140).

Für eine ideale Hirnentwicklung brauchen Kinder die Zuwendung und Sicherheit einer oder

mehrerer liebevoller Bezugspersonen, eine abwechslungsreiche Umgebung und geistige

Anregung. Nur wenn die Grundbedürfnisse nach Verbundenheit zu anderen Menschen und

die Möglichkeit zum Lernen und Wachsen erfüllt sind, kann das Gehirn sein volles Poten-

zial erreichen (vgl. Hüther, Pilz 2012: 23).

1 Bei der „Myelinisierung“ handelt es sich um die Umwicklung der Nervenzelle durch Gliazellen.

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Studien zeigen, dass negative Effekte von Stressbelastungen in der Kindheit teilweise

rückgängig gemacht oder ausgebremst werden können. Dies ist durch die Bereicherung

der Umgebung, sowie den Aufbau förderlicher zwischenmenschlicher Beziehungen mög-

lich. Dabei wirken Interventionen umso besser, je früher sie implementiert werden (vgl.

Costandi 2015: 143).

Für die Klinische Soziale Arbeit ist dies wertvolles Wissen, wenn es darum geht Klient*in-

nen mit einer belasteten Kindheit besser zu verstehen und mit Hilfe zielgerichteter Inter-

ventionen möglichst früh zu erreichen, um Stressbelastungen entgegenzuwirken und eine

gesunde Gehirnentwicklung fördern.

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4. Neuroplastizität und Klinische Soziale Arbeit

Kapitel 4 behandelt die Bedeutung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für die Klinische

Soziale Arbeit, insbesondere die psychosozialen Beratungsarbeit. Dabei wird zunächst de-

finiert, was unter Klinischer Sozialer Arbeit zu verstehen ist, wo die Schnittstellen der bei-

den Disziplinen liegen und wie weit neurowissenschaftliche Forschungen bereits in die So-

ziale Arbeit vorgedrungen sind. Darauf folgt ein Unterkapitel zu psychosozialer Fallarbeit

(Kapitel 4.2), welches näher auf die Sozialtherapie und die psychosoziale Beratung in der

Klinischen Sozialen Arbeit eingeht und die Abgrenzung von der Psychotherapie verdeut-

licht. Zudem werden Implikationen, welche sich aus einer Beschäftigung mit den Neuro-

wissenschaften für die Beratung ergeben, präsentiert. Das Kapitel schließt mit der Vorstel-

lung der Neuropsychotherapie nach Grawe und der Erörterung relevanter Handlungsfelder

für den Einbezug neurobiologischer Kenntnisse in die Sozialtherapie.

4.1. Klinische Soziale Arbeit

Der Wandel unserer Gesellschaft und die Globalisierung der Welt bringen viele Chancen

und Möglichkeiten mit sich, führen aber auf der anderen Seite bei vielen Menschen zu

einem Gefühl der Orientierungslosigkeit und Hilflosigkeit. Menschen, die nicht über ausrei-

chend Integration in ein soziales Netzwerk sowie sozioökonomische Mittel verfügen, fühlen

sich bisweilen überfordert, den Anforderungen der modernen Gesellschaft gerecht zu wer-

den. Die zunehmende Komplexität psychosozialer Problemlagen ebnet der Etablierung der

Klinischen Sozialarbeit als Fachsozialarbeit den Weg, um den spezifischen Anforderungen

in der Arbeit mit stark gefährdeten, chronisch kranken und mehrfach belasteten Menschen

gerecht zu werden (vgl. Pauls 2013: 11 ff.; vgl. Franzkowiak et al. 2011: 174).

Die Klinische Soziale Arbeit kann als Fachdisziplin der Sozialen Arbeit bezeichnet werden,

welche an der Schnittstelle des Sozial- und Gesundheitswesens positioniert ist. Die soziale

Komponente von Gesundheit, welche von der WHO als dritte Säule der Gesundheit defi-

niert wird, steht dabei im Fokus der Fachdisziplin, wobei es um die Berücksichtigung des

sozialen Hintergrundes gesundheitlicher Probleme geht. Die Klinische Soziale Arbeit fo-

kussiert auf alle Bereiche der Sozialen Arbeit mit direktem Klient*innenkontakt und liefert

dabei die theoretische Grundlage für sozialtherapeutische Behandlungen (vgl. Pauls 2013:

12 ff.).

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Klinische Sozialarbeit bietet bedarfsgerechte soziale Beratung und Behandlung und wen-

det dafür spezifische Methoden psychosozialer Diagnostik und Intervention an. Dazu zäh-

len psychosoziale Beratung, Krisenintervention, Soziale Therapie, Soziale Psychotherapie,

Soziale Unterstützung, Ressourcenaktivierung sowie klinisches Case Management und

psychoedukative Gruppenarbeit. Das Ziel Klinischer Sozialarbeit ist es, das psychosoziale

Wohlbefinden von Individuen oder Gruppen in ihrem sozialen Umfeld zu fördern und gleich-

zeitig die vorherrschenden Lebensbedingungen zu verbessern (vgl. Pauls 2013: 17 f.).

4.1.1. Bio-psycho-soziale Zusammenhänge

Warum sollte die Klinische Soziale Arbeit sich überhaupt mit den Neurowissenschaften

auseinandersetzen? Zunächst einmal erlaubt die Auseinandersetzung ein tiefgreifenderes

Verständnis für Klient*innen und ihre spezifischen Verhaltensweisen. Das Wissen darüber,

dass gewisse neuronale Verschaltungen auf Grund schwieriger Umgebungsbedingungen

und problematischer sozialer Beziehungen entstanden sind und dadurch destruktive

Denkstrukturen und Verhaltensweisen bedingen, führt zu einer verständnisvollen und ak-

zeptierenden Haltung (vgl. Schmitt 2012: 11).

Dass Menschen zu einem hohen Grad durch ihre Umwelt determiniert sind, führt dazu, den

Grund für schwierige Lebenslagen und Fehlverhalten nicht allein und primär im Individuum,

sondern vorrangig in äußeren Bedingungen zu suchen, was sich wiederum auf das Men-

schenbild als Sozialarbeiter*in auswirkt. Das Wissen über „neuronal bedingte(s) Unvermö-

gen“ (Grawe 2004: 31) von Klient*innen führt dazu, mehr Verständnis für Problemlagen

und Verhaltensweisen dieser aufzubringen (vgl. ebd.).

Eine Grundeinschätzung der neuronalen Verfassung von Klient*innen macht sichtbar, wel-

che Veränderungen möglich sind und wo die Grenzen des durch sozialarbeiterische Inter-

ventionen Möglichen liegen. Dies kann die Entscheidung über angebrachte Interventionen

erleichtern. In manchen Fällen ist es dann sinnvoller, auf Entlastung und Lebensbewälti-

gung, anstatt auf Veränderung der Klient*innen zu fokussieren. Sind Veränderungen mög-

lich, so können Sozialarbeiter*innen förderliche Maßnahmen ergreifen, indem sie positive

Erlebnisse sowie körperliche und geistige Aktivität der Klient*innen fördern und dadurch

positive neuronale Prozesse anregen (vgl. Schmitt 2012: 11 f.).

Die Sozialarbeiterin Julie Altmann und der Neurowissenschaftler Richard Altman (2014)

machen darauf aufmerksam, welche Chancen in einer Annäherung der beiden Disziplinen

liegen. Eine Aneignung und Übertragung des Wissens der Neurowissenschaften auf reale

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Probleme in der Gesellschaft im Sinne translationaler Forschung birgt vielversprechende

Möglichkeiten. Die Nutzung bildgebender Verfahren für die Soziale Arbeit würde es mög-

lich machen besser zu verstehen, wo psychosoziale Krankheiten und Auffälligkeiten im

Gehirn verankert sind, welche Areale bei der Krankheitsentstehung beteiligt sind und wel-

che Interventionen in welcher Weise wirken. Dies würde gezieltere Interventionen und eine

höhere Effizienz ermöglichen (vgl. Altman, Altman 2014: XVI ff.).

Die Neuroplastizität findet im bio-psycho-sozialem Gesundheitsverständnis der Klinische

Sozialen Arbeit ihre Entsprechung. Das menschliche Gehirn wird durch psychosoziale Er-

fahrungen geformt. Die Art und Weise wie es synaptisch verschaltet ist, wirkt sich darauf

aus, wie wir fühlen, denken und anderen Menschen begegnen (vgl. Hüther 2006). Biologi-

sche und psychosoziale Komponenten bedingen sich also gegenseitig. Die Auseinander-

setzung mit neurobiologischen Prozessen bietet eine vielversprechende Möglichkeit, psy-

chosoziale Behandlungsmodelle der Klinischen Sozialen Arbeit zu überdenken und zu er-

gänzen.

4.1.2. Aktueller Forschungsstand in der Klinischen Sozialen Arbeit

Die Auseinandersetzung mit dem Gehirn ist lange nicht mehr nur den Neurowissenschaf-

ten und der Medizin vorbehalten. Besonders die Psychologie zeigt großes Interesse am

Zusammenhang zwischen Gehirn, Emotionen und menschlichen Verhaltensweisen. Doch

auch von Seiten der Klinischen Sozialen Arbeit, insbesondere im angloamerikanischen

Raum, hat es in der letzten Zeit einige theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema

gegeben und das große Potenzial, was in dieser Erweiterung des bio-psycho-sozialen

Denkens steckt, wurde erkannt. So gibt es mittlerweile mehrere facheinschlägige Bücher,

in denen neurowissenschaftliche Erkenntnisse für die (Klinische) Soziale Arbeit vorgestellt

werden (vgl. Applegate, Shapiro 2005; Matto, Strolin-Goltzman, Ballan 2013; Farmer

2014), Fachzeitschriften, die die Schnittstelle zwischen Neurowissenschaften und Sozialer

Arbeit explizit thematisieren (vgl. Sozialarbeit in Österreich. Ausgabe 4/12 2012) und zahl-

reiche Auseinandersetzungen in Fachartikeln (Black, Conway 2018; Eack, Black, Hunter

2018; Miehls, Applegate 2014). Trotz dessen steht die Soziale Arbeit noch am Anfang ihrer

Erforschung des Themas und von einer Integration in die Theorie und Praxis kann noch

keine Rede sein.

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Um eine vertiefte Auseinandersetzung der Klinischen Sozialen Arbeit mit neurowissen-

schaftlichen Erkenntnissen voranzutreiben, muss neurowissenschaftliches Grundlagen-

wissen zunächst einmal in die Curricula der Studiengänge Eingang finden oder in berufli-

chen Fort- und Weiterbildungen vermittelt werden.

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4.2. Psychosoziale Fallarbeit

4.2.1. Sozialtherapie

Sozialtherapie wird in der Sozialarbeit als Teilgebiet der Klinischen Sozialen Arbeit ver-

standen, wobei es um eine situations- und bewältigungsorientierte psychosoziale Interven-

tion geht, die in erheblichem Maße auch die Beratung einschließt. Sie basiert auf einer

helfenden Beziehung und zielt auf Konfliktklärung und Ressourcenaktivierung sowie prob-

lemlösungsbegleitende Handlungshilfe ab. Der Fokus liegt dabei auf der Personen- und

Prozessorientierung sowie der kontextspezifischen Anpassung der Sozialtherapie. Dabei

wird davon ausgegangen, dass Belastungen immer das Ergebnis von Faktoren der Le-

benslage und Lebensweise sind. Soziale Integration und soziale Netzwerkarbeit stehen

daher im Fokus der Arbeit und werden in einem dialogischen Prozess gemeinsam mit den

Klient*innen erarbeitet (vgl. Geißler-Piltz, Mühlum, Pauls 2005: 108).

Dario Deloie und Ute Lammel (2017) gehen darauf ein, dass Sozialtherapie neben der

somatischen und psychotherapeutischen Therapie von der Klinischen Sozialen Arbeit als

dritte Behandlungssäule betrachtet wird. Zugrunde liegende theoretische Orientierung ist

die Person-in-Environment-Perspektive, wobei der doppelte Fokus auf Individuum und Um-

gebung das konstituierende Paradigma darstellt (vgl. Deloie, Lammel 2017: 100 f.).

Sozialtherapie ist dabei kein geschützter Begriff und die Verwendung des Terminus findet

in unterschiedlichsten Bereichen Anwendung, unter anderem in der Musiktherapie, Kunst-

therapie sowie Reittherapie (vgl. Pauls 2013: 293). Sozialtherapeutische Ansätze können

dabei in Ansätze mit Nähe zur gesellschaftskritischen Psychotherapie, insbesondere der

Psychoanalyse, weltanschauliche orientierte Ansätze, wie der anthroposophischen Sozial-

therapie, sowie in den Behandlungsansatz der Klinischen Sozialen Arbeit unterschieden

werden (vgl. Deloie, Lammel 2017: 101).

Soziale Therapie fußt auf einer therapeutischen Bindungsbeziehung sowie spezifischen

psychosozialen Methoden, wie Gesprächsführung, Beratung, soziale Unterstützung, Be-

gleitung und therapeutische Intervention, welche das Erleben-Verhalten in Situationen be-

einflussen. Ziel der Therapie ist die Stärkung eines positiven Selbstwertgefühls der Kli-

ent*innen, damit deren Vertrauen in die eigenen Problembewältigungsfähigkeiten steigt,

sowie eine verstärkte soziale Integration (vgl. Deloie, Lammel 2017: 292 ff.).

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4.2.2. Psychosoziale Beratung

Helmut Pauls (2013) zufolge besteht klinisch-sozialarbeiterische Beratung aus „zielgerich-

teten (a) beratenden, (b) unterstützenden und (c) sozialtherapeutischen Maßnahmen bzw.

Interventionen im Rahmen eines geplanten interaktionellen Prozesses zwischen Betroffe-

nen, sozialem Umfeld und Fachkraft, getragen durch eine professionelle helfende Bezie-

hung“ (Pauls 2013: 182). Es wird hier deutlich, dass Beratung im Rahmen Klinischer Sozi-

alarbeit in der Regel sozialtherapeutischen Charakter hat. Pauls und Stockermann (2013)

sprechen deshalb von „sozialtherapeutischer Beratung“ (Pauls, Stockmann 2013: 16). Ziel-

gruppe so verstandener klinisch sozialarbeiterischen Beratung sind schwer belastete, be-

einträchtigte, kranke Menschen. Das Ziel ist die Entlastung des Individuums durch klärende

und fördernde Maßnahmen hinsichtlich der Lebenslage und Lebensweise (vgl. ebd.).

Wolf Wendt (2002) postuliert, dass Beratung als Intervention dann angebracht ist, wenn

Umstände vorliegen, welche Klient*innen somatisch, psychisch oder psychosomatisch ge-

fährden können. Hierzu zählen unter anderem Verlusterfahrungen, Lebenskrisen und so-

ziale Isolation. Psychosoziale Beratung soll ebenso nach einer Erkrankung im Sinne einer

Rehabilitation zum Einsatz kommen. Sozialarbeiterische Beratung hat dabei einen ressour-

cenerschließenden, psychosozialen Charakter. Der Fokus liegt auf der Aktivierung vorhan-

dener Ressourcen und Fähigkeiten unter Berücksichtigung bio-psycho-sozialer Kompo-

nenten (vgl. Wendt 2002: 42 f.).

Psychosoziale Beratung findet in unterschiedlichsten Formen und Settings statt. Zu den

Formen der Beratung zählen Krisenintervention, Konflikt-, Familien-, Erziehungs-, und Le-

bensberatung sowie Schuldnerberatung - Interventionsformen, die auch Bestandteil sozi-

altherapeutischer Hilfen sind. Die Beratung kann dabei in ambulanten Beratungsstellen

stattfinden oder aber in stationären Einrichtungen wie Frauenhäusern sowie in Form von

telefonischer Beratung. Die Kompetenz qualifizierter Berater*innen fußt auf wissenschaft-

lich fundierten Handlungskonzepten und wird in standardgesicherten (Zusatz-)Ausbildun-

gen erworben. Psychosoziale Beratung ist als spezifische Methode in der Sozialen Thera-

pie zu verorten (vgl. Pauls 2013: 256).

4.2.3. Beziehungsarbeit

Dass jede zwischenmenschliche Beziehung neuronale Spuren hinterlässt, ist besonders

wertvolles Wissen, wenn es darum geht, eine förderliche professionelle Beziehung aufzu-

bauen. Allein schon eine freundliche professionelle Haltung Klient*innen gegenüber kann

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auf neuronaler Ebene einen Effekt bewirken. Für die therapeutische Beziehungsgestaltung

ist das Mitdenken des durch soziale Erfahrungen programmierten Gehirns also von großer

Bedeutung (vgl. Schmitt 2008: 157).

Pauls (2013) macht deutlich, dass der Wirkfaktor „Beziehung“ in der Beratung eine wesent-

liche Rolle spielt. Die Beziehung zwischen Sozialarbeiter*in und Klient*in stellt die Grund-

lage für neue Erfahrungen dar. Dabei geht es in der psychosozialen Beratung nicht nur um

kommunikative Problembewältigung, sondern um die Initiierung realer, positiver Erfahrun-

gen. Dazu müssen Klient*innen sich zunächst in einem Zustand positiver, motivationaler

Annäherung befinden. Die Aufgabe behandelnder Sozialarbeiter*innen ist es Klient*innen

unterstützend zur Seite zu stehen, um deren Selbsthilfekompetenzen zu stärken. Dies zeigt

auf, wie wichtig die Gestaltung einer tragfähigen Beziehung ist, um Vertrauen herzustellen

und eine gute Basis für sozialtherapeutische Interventionen zu schaffen, welche letztlich

auch zu Veränderungen der Hirnstruktur führen (vgl. Pauls 2013: 54 ff.).

Menschen verfügen über sogenannte Spiegelneuronensysteme, welche implizites Lernen

durch Nachahmung ermöglichen und an der Entwicklung von Empathie beteiligt sind (Far-

mer 2014: 37). Das alleinige Betrachten einer Tätigkeit oder eines emotionalen Ausdrucks

beim Gegenüber führt zur Aktivierung der entsprechenden Areale im Gehirn (vgl. Schmitt

2012: 13). Dieser Mechanismus kann in der Beziehungsarbeit gezielt genutzt werden. So

suggeriert die Spiegelung der Körperhaltung und Mimik von Klient*innen Empathie und

stellt Vertrauen her. Sie verhilft Sozialarbeiter*innen dazu, Gefühle und Bedürfnisse von

Klient*innen besser nachzuempfinden und dadurch gezielter helfen zu können (vgl. Ger-

des, Segal, Harmon 2014: 16). Die professionelle Hilfsbeziehung kann zudem ein gutes

Übungsfeld für Klient*innen darstellen, um selbst Spiegelsysteme auszubilden und psy-

chosoziale Impulse zu generieren (vgl. Schmitt 2012: 13).

4.2.4. Abgrenzung von der Psychotherapie

Die Klinische Soziale Arbeit lehnt sich in ihrer psychosozialen Behandlung an die Grund-

richtungen der Psychotherapie an und nutzt psychotherapeutische Methodenkompetenzen

für Gesprächsführung, Beratung, Soziale Therapie und Krisenintervention. Für die Bezie-

hungsarbeit ist der Verzicht auf psychotherapeutische Grundlagen unmöglich (vgl. Pauls

2013: 126).

Doch wie kann sich die Sozialtherapie der Klinischen Sozialarbeit von der klassischen Psy-

chotherapie abgrenzen?

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Wolf Crefeld (2002) hinterfragt die Notwendigkeit Soziale Beratung und Psychotherapie als

entgegengesetzte Formen der Beratung zu sehen und spricht von einer „Entmythologisie-

rung von Psychotherapie als etwas der sozialen Beratung kategorial Entgegensetztes“

(Crefeld 2002: 34). Er ist der Meinung, dass Psychotherapie und soziale Beratung sich in

methodischer Hinsicht kaum unterscheiden und plädiert dafür, den Beratungsprozess ab-

hängig vom institutionellen Kontext sowie der im Vordergrund stehenden Probleme zu de-

finieren. Er betont die Gleichwertigkeit qualifizierter sozialer Beratung und spricht sich dafür

aus, diese nur dann als Psychotherapie zu bezeichnen, wenn dies im institutionellen Kon-

text pragmatisch sinnvoll erscheint (vgl. Crefeld 2002: 34 f.).

Pauls (2013) sieht das Hauptunterscheidungsmerkmal einerseits in der Klientel, welche

von der Art der Therapie angesprochen wird und andererseits im Fokus der Therapie. Psy-

chosoziale Beratung richte sich an schwer belastete, psychisch und somatisch kranke

Menschen, welche durch die klassische Psychotherapie nicht erreicht bzw. nicht zu-

reichend unterstützt werden können. Der Fokus der Therapie ist in der Sozialtherapie so-

zialsystemorientiert, wobei neben der Unterstützung des Individuums mit seinen komple-

xen Problemlagen immer auch Veränderungen sozialer Strukturen angestrebt werden,

während die Psychotherapie vorrangig auf Veränderungen auf psychischer Ebene abzielt

(vgl. Pauls 2013: 124 f.).

Klaus Fohler (2010) teilt in seiner Dissertation über die Bedeutung veränderter Bewusst-

seinszustände in der psychosozialen Beratung die Auffassung, Sozialtherapie und Psy-

chotherapie unterschieden sich hinsichtlich der Klient*innen, wobei Sozialtherapie auf jene

Menschen ausgerichtet sei, welche in die Lücke zwischen sozialer Beratung, psychothera-

peutischer Intervention und medizinischer Behandlung fielen. Zudem nennt er den We-

sensunterschied des doppelten Fokus auf Individuum und Umwelt, welchen die Sozialthe-

rapie im Gegensatz zur Psychotherapie immer mit sich bringe (Fohler 2010: 30).

4.2.5. Neurowissenschaftliche Implikationen für die Beratung

Wie kann erworbenes neurobiologisches Wissen Eingang in die psychosoziale Beratung

finden?

Zunächst sollte dazu an der Haltung der praktizierenden Sozialarbeiter*innen und der Ge-

staltung einer tragfähigen therapeutischen Bindungsbeziehung angesetzt werden. In einer

förderlichen Betreuungsbeziehung wird es möglich, neue Erlebens- und Handlungsmuster

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der Klient*innen neuronal zu verankern. Grundvoraussetzung für nachhaltige Veränderun-

gen der neuronalen Strukturen ist ein starkes, positiv aktivierendes intrinsisches Motiv der

Betreffenden. Bauer sieht es als Aufgabe behandelnder Professionist*innen für die Reak-

tivierung des kreativen Potenzials der Klient*innen zu sorgen und deren Begeisterung am

Leben (wieder) zu erwecken. Sozialarbeiter*innen sollten eine förderlich haltende, affekt-

freundliche sowie strukturierende Grundhaltung aufweisen und dabei das Vertrauen der

Klient*innen in ihre eigenen Fähigkeiten zur Bewältigung von Herausforderungen stärken

(vgl. Bauer 2010: 28).

Weitere förderliche Faktoren für neuroplastisches Lernen sind die Motivations- und Res-

sourcenorientierung. Professionist*innen sollten stets bei den Veränderungen ansetzen,

wo die größte Motivation und Verfügbarkeit von Ressourcen besteht und Klient*innen bes-

tenfalls in der Lage sind die Veränderungsziele eigenständig zu erreichen. Durch die Ori-

entierung an Stärken und Kompetenzen und die Förderung von Tätigkeiten, welche Kli-

ent*innen gut meistern können, stellen sich Erfolgserlebnisse ein und das Selbstwertgefühl

wird gestärkt. Insgesamt erweist sich laut Bauer ein lösungsorientierter Ansatz als beson-

ders hilfreich, wobei positive Gefühle, Ziele und Motive zur Problembewältigung so aktiviert

werden, dass Klient*innen dazu angeregt werden, neue Bewältigungsstrategien zu probie-

ren. Diese werden bei wiederholter Nutzung gefestigt und können so zur präferierten Prob-

lembewältigungsstrategie werden (vgl. Bauer 2010: 29 f.).

Grawe sieht es als Aufgabe der Behandelnden herauszufinden, welche Erfahrungen Kli-

ent*innen machen müssen, damit es zu positiven Veränderungen auf neuronaler Ebene

kommen kann und diese dann darin anzuleiten und zu unterstützen, solche Erfahrungen

zu machen (vgl. Grawe 2004: 19). Für neuroplastische Veränderung durch eine Therapie

bedarf es der willentlichen Mitwirkung der Klient*innen, der Überwindung eines Vermei-

dungswiderstandes sowie einem motivationalen Kontext, welcher die Problembearbeitung

unterstützt (vgl. ebd.: 140).

Für Professionist*innen kann das Wissen über plastizitätsfördernde und hemmende Fak-

toren handlungsleitend bei der Planung konkreter Interventionen sein (vgl. Schmitt 2012:

57). Sozialarbeiter*innen sind daher dazu aufgerufen, all die Faktoren und Bedingungen

zu fördern, die sich positiv auf die Plastizität des Gehirns auswirken. Konkret kann das

heißen, Ressourcen von Klient*innen aufzudecken, Netzwerkarbeit zu leisten und Selbst-

wirksamkeitserfahrungen zu initiieren, welche dann positive neuronale Prozesse auslösen.

4.2.6. Neuropsychotherapie

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Der Psychotherapieforscher Grawe (2004) macht den Vorschlag einer „Neuropsychothe-

rapie“, wobei er damit „zum einen eine neurowissenschaftliche Perspektive [die] auf die

Problemstellungen der Psychotherapie und zum anderen die praktischen Schlussfolgerun-

gen, die sich aus dieser Perspektive ergeben“ meint (Grawe 2004: 29). Es handelt sich

dabei nicht um die Entwicklung einer neuen Therapieform, sondern vielmehr um eine neue

theoretische Sichtweise der Psychotherapie. Dabei wird die Wirkungsweise von Psycho-

therapie unter Bezug auf neurowissenschaftliche Erkenntnisse erklärt und konkrete Leitli-

nien für den Therapieprozess daraus abgeleitet (vgl. Grawe 2004: 28 f.).

Grawe ordnet sich zwar nicht explizit einer der psychotherapeutischen Schulen zu, ist aber

wohl einer verhaltenstherapeutischen Orientierung zuzuordnen, da die Interventionen der

Neuropsychotherapie sehr stark auf ein Umlernen von Denkstrukturen und Verhaltenswei-

sen abzielen.

Grawe (2004) schildert, wie das konkrete Vorgehen eines Neuropsychotherapeuten im Be-

ratungssetting mit einer depressiven Klientin aussehen würde. Für den Neuropsychothe-

rapeuten ist neben dem psychischen Wohlergehen seiner Patientin der Zustand ihres Ge-

hirns von bedeutender Wichtigkeit. Er hinterfragt, wie die psychosoziale Disposition seiner

Klientin sich in ihrem Gehirn widerspiegelt und welche Hirnregionen in Mitleidenschaft ge-

zogen sind. Bei seiner depressiven, ängstlichen und chronisch gestressten Patientin geht

er von einer überaktiven Amygdala sowie einem geschrumpften Hippocampus aus. Dann

überlegt er, welche Auswirkungen dies auf das Veränderungspotenzial der Klientin hat.

Ihm ist klar, dass seine Interventionen nicht greifen werden, solange bestimmte Hirnteile

so stark verkümmert sind. Damit die Klientin aufnahmebereit für Veränderungsziele der

Therapie ist, müssen Neuronen leicht ansprechbar und aktivierbar sein. Daher fokussiert

er zunächst auf die Reaktivierung verkümmerter Neuronen und Synapsen, damit sich diese

wieder erholen können und versucht die Klientin so viele positive Wahrnehmungen machen

zu lassen wie möglich. Den Fokus legt der Neuropsychotherapeut dabei auf die Aktivierung

solcher Erfahrungen, die früher positive Gefühle bei der Klientin ausgelöst haben oder mit

ihren motivationalen Zielen im Einklang stehen. Er achtet zudem darauf, negative synapti-

sche Verbindungen, welche bei der Klientin stark vorherrschend sind, zu hemmen und

neue positive Verknüpfungen aufzubauen, indem Ressourcen gefördert werden und das

soziale Netzwerk miteinbezogen wird (vgl. Grawe 2004: 32). Der Neuropsychotherapeut

arbeitet unter Einbezug neurowissenschaftlicher Erkenntnisse mit dem Wissen, dass „Eine

gute Ordnung im Gehirn, eine gute Abstimmung oder Konsistenz der darin ablaufenden

Prozesse, (...) der beste Garant für eine gute Gesundheit“ ist. (Grawe 2004: 38)

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Grawe (2004) zufolge entstehen psychische Störungen aus misslungener Inkonsistenzre-

gulation über einen längeren Zeitraum, wobei sich durch die häufig wiederholten Bah-

nungsvorgänge feste Störungsmuster im Gehirn etablieren (vgl. Grawe 2004: 373). Inkon-

sistenz meint dabei die Unvereinbarkeit mehrerer gleichzeitig ablaufender psychischer Pro-

zesse. Die meisten Menschen sind in der Lage, Inkonsistenz zu regulieren bzw. reduzie-

ren, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Ist dies über einen längeren Zeitraum nicht mög-

lich, kann es zur Ausbildung körperlicher und psychischer Störungen kommen (vgl. ebd.:

304 ff.). Als Aufgabe des Neuropsychotherapeuten sieht Grawe es daher, für eine Konsis-

tenzverbesserung zu sorgen, indem positive, bedürfnisbefriedigende Erfahrungen vermit-

telt werden, welche das Kontroll- und Selbstwertbedürfnis der Klient*innen ansprechen und

im Einklang mit den individuellen motivationalen Zielen der Klient*innen stehen (vgl. ebd.:

381 ff.). Dies führt dazu, dass Klient*innen in einen Annäherungsmodus versetzt werden,

wobei sie auf Annäherung statt auf Vermeidung ausgerichtet sind. Dieser Zustand ist

Grundvoraussetzung dafür, dass Klient*innen aufnahmefähig für Interventionen sind (vgl.

ebd.: 409).

Im empirischen Teil der Arbeit wird aufgezeigt, wie sich der Ansatz, neurowissenschaftli-

ches Wissen in den therapeutischen Prozess miteinfließen zu lassen, auf die Beratungs-

praxis der Klinischen Sozialen Arbeit übertragen lässt.

4.2.7. Relevante Handlungsfelder

In welchen Handlungsfeldern erweist sich die Nutzung neurowissenschaftlicher Erkennt-

nisse als besonders sinnvoll? Selbstverständlich kann grundlegendes neurobiologisches

Wissen für die psychosoziale Beratungsarbeit in allen Bereichen der Sozialen Arbeit för-

derlich sein und zu einem tieferen Verständnis und damit bestenfalls gezielteren Interven-

tionen führen. In folgenden Bereichen hat die Integration neurobiologischen Wissens aber

einen besonderen Stellenwert.

Zunächst einmal der Kinder- und Jugendbereich, da von der frühkindlichen Entwicklung

bis ins frühe Erwachsenenalter die grundlegende Verschaltung des Gehirns stattfindet (vgl.

Hüther 2006), weshalb es besonders wichtig ist, benachteiligten Familien, werdenden Müt-

tern und Kleinkindern Unterstützung und Betreuung zukommen zu lassen (vgl. Schmitt

2012: 11). Auch im Suchtbereich besteht ein enger Zusammenhang zwischen neuronalen

Vorgängen und bio-psycho-sozialen Auswirkungen. Das Gehirn ist darauf programmiert,

lebenserhaltende Aktivitäten wie Gemeinschaft, Essen und Sexualität zu suchen und be-

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42

lohnt den Menschen dafür mit „Glückshormonen“ wie Dopamin und Endorphin. Beim Kon-

sum von Suchtmitteln wird das gleiche System im Gehirn aktiviert (vgl. Schmitt 2012: 13).

Daher ist es auch hier von zentraler Bedeutung, die Wirkungsweise des Gehirns zu verste-

hen, um die Problemlage der Klient*innen besser zu erfassen und gezieltere Interventionen

setzen zu können. Nicht zuletzt kann die Hirnforschung für die Arbeit mit traumatisierten

Menschen wichtige Erkenntnisse liefern. Auf neuronaler Ebene lässt sich genauestens er-

klären, welche Veränderungen das Erleben eines Traumas im Gehirn auslöst. Die Neuro-

wissenschaften lehren uns, dass das Gehirn veränderbar ist. Aus dem Wissen, in welchen

Arealen des Gehirns traumatische Inhalte gespeichert sind, lassen sich Therapieansätze

ableiten, welche darauf abzielen, Traumainhalte aus dem impliziten Gedächtnis ins Be-

wusstsein zu bringen und so ein Stück weit unter Kontrolle zu bringen (vgl. Rüegg 2011:

102).

Doch auch in der Arbeit mit psychisch kranken Menschen, welche unter Psychosen, De-

pressionen, Persönlichkeitsstörungen oder Angststörungen leiden, kann die Integration

neurowissenschaftlicher Erkenntnisse in die Therapie förderlich sein, um zugrunde lie-

gende neuronale Prozesse besser zu verstehen und gezielter zu beeinflussen. Dabei ist

besonders eine verhaltenstherapeutisch und psychoedukative Herangehensweise gewinn-

bringend, um neuronale Muster und Verhaltensweisen positiv umzustrukturieren. Aufgabe

der Soziotherapie ist es, individuelle Defizite und Ressourcen aufzudecken und geeignete

Hilfsmaßnahmen zu setzen. Das Wissen um neurobiologische Prozesse kann dabei helfen

von der oberflächlichen Betrachtung und Beseitigung von Krankheitssymptomen zu den

zugrundeliegenden Defiziten vorzustoßen und ganz gezielt Maßnahmen zur Entwicklung

beeinträchtigter Fähigkeiten zu ergreifen (vgl. Schmitt 2008: 95 ff.).

4.3. Fazit für die Klinische Soziale Arbeit

Zusammenfassend können einige Leitlinien für einen sozialtherapeutischen Ansatz unter

Einbezug neurowissenschaftlicher Erkenntnisse festgehalten werden, welche für die Bera-

tungsarbeit der Klinischen Sozialen Arbeit durchaus denkbar und umsetzbar wären.

Grundvoraussetzung ist eine akzeptierende und verständnisvolle Grundhaltung im Hinblick

auf das „neuronal bedingte Unvermögen“ (Grawe 2004: 31) und die dadurch eingeschränk-

ten Veränderungsmöglichkeiten von Klient*innen. Dem schließt sich der Aufbau einer trag-

fähigen professionellen Beziehung zwischen Sozialarbeiter*in und Klient*in an, welche für

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jegliche Form der Beratung wichtig, aber besonders wenn es um Mechanismen der Spie-

gelung und Beeinflussung auf neuronaler Ebene geht, unablässig ist (vgl. ebd.).

Das Know-how, auf Basis der psychosozialen Problemlage der Klient*innen deren neuro-

nale Verfassung einschätzen zu können und zunächst an der Genesung der verkümmerten

Hirnareale zu arbeiten bevor sozialtherapeutische Interventionen greifen können, gehört

dabei zu den Basiskompetenzen neurowissenschaftlich ausgebildeter Sozialarbeiter*in-

nen.

Sozialarbeiter*innen sollten einen salutogenetischen, Ressourcen und Kompetenzen för-

dernden Ansatz nutzen, um das Vertrauen von Klient*innen in die eigenen Fähigkeiten zu

stärken und förderliche neuronale Prozesse in Gang zu setzen. Durch das Initiieren positi-

ver Erfahrungen werden neue Wahrnehmungs- und Denkmuster geschaffen, welche alte

destruktive Denkmuster hemmen. Hierzu sollten Sozialarbeiter*innen bewusst plastizitäts-

fördernde Maßnahmen, wie die Arbeit an sozialen Netzwerken sowie die Förderung eines

gesunden und aktiven Lebensstils, ergreifen.

Im empirischen Teil der Arbeit soll anhand neurowissenschaftlicher empirischer Studien

sowie einem Experteninterview mit einem Professor der Neurowissenschaften noch näher

herausgearbeitet werden, welchen Nutzen die Neurowissenschaften der Klinischen Sozia-

len Arbeit bringen können und wie eine Neurosoziotherapie konkret aussehen könnte.

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5. Theoretische Einbettung

Im vorliegenden Kapitel soll eine Betrachtung der Zusammenhänge zwischen der neurobi-

ologischen und psychosozialen Ebene anhand einiger für die Klinische Soziale Arbeit

grundlegender theoretischer Konzeptionen dargelegt werden. Dabei liefert das bio-psycho-

soziale Modell das grundlegende Referenzmodell, das Person-in-Environment-Konzept ist

die sozialarbeiterische Konzeption des Person-Umwelt-Bezuges und das Salutogenese-

modell propagiert die Hinwendung zu Ressourcen und Fähigkeiten bei der Bewältigung

von Belastungen. Das Social Support Konzept weist auf die zentrale Rolle sozialer Unter-

stützung für die Aufrechterhaltung von Gesundheit hin, während die Resilienzforschung die

bio-psycho-soziale Widerstandsfähigkeit von Individuum im Kontext förderlicher und belas-

tender Bedingungen untersucht.

5.1. Bio-psycho-soziales Modell

Anhand des bio-psycho-sozialen Modells wird deutlich, wie biologische, psychologische

und soziale Komponenten bei der Aufrechterhaltung von Gesundheit beteiligt sind. Pauls

(2013) stellt den Menschen mit seiner bio-physiologischen und neuro-biologischen Natur

in ein soziales Bezugssystem. Wird das Zusammenspiel von sozialem Zusammenleben,

individuellem Erleben und biologischer Existenz gestört, kommt es zu einer Anfälligkeit für

Krisen und Krankheiten (vgl. Pauls 2013: 32).

Die Auseinandersetzung mit den Neurowissenschaften lehrt uns, wie eng die Komponen-

ten „bio“, „psycho“ und „sozial“ verknüpft sind. Unser Gehirn ist durch psychosoziale Erfah-

rungen programmiert und die Art und Weise wie es verschaltet ist, wirkt sich darauf aus,

wie wir fühlen, denken und anderen Menschen begegnen (vgl. Hüther 2006). Die moderne

Hirnforschung zeigt dabei auf „(…) in welchem Ausmaß hirnorganische Abläufe Eigen-

schaften wie das menschliche Bewusstsein, die Wahrnehmung, die Sprache, das Gedächt-

nis, das Denken und die Emotionen sowie soziales Verhalten beeinflussen“ (Pauls 2013:

33).

Diese neurobiologischen Erkenntnisse in einen bio-psycho-sozialen Zusammenhang zu

stellen ermöglicht ein umfassenderes Verständnis psychischer Erkrankungen und sozialer

Problemlagen und macht deutlich, wie sich die drei Komponenten gegenseitig bedingen

(vgl. Pauls 2013: 34). Schmitt geht noch einen Schritt weiter und zieht in Erwägung, dem

bio-psychosozial noch ein „neuro“ voranzustellen, um die Bedeutung der Neurobiologie für

die ganzheitliche Betrachtung von Gesundheit zu unterstreichen (vgl. Schmitt 2012: 10).

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5.2. Person-In-Environment-Konzept

Mary Richmond, eine wichtige Pionierin der Sozialen Arbeit, ging bereits 1922 auf die Not-

wendigkeit ein, Klient*innen als Handelnde in ihrer spezifischen Umwelt zu betrachten und

menschliches Verhalten sowohl durch individuelle als auch durch soziale Verhältnisse zu

erklären (vgl. Pauls 2013: 65). Aufgabe Klinischer Sozialarbeiter*innen sei dabei für eine

verbesserte Passung zwischen Individuum und Umwelt zu sorgen, um ein friedliches Zu-

sammenleben zu gewährleisten. „So long as human beings are human and their environ-

ment is the world, it is difficult to imagine a state of affairs in which both they and the world

they live in will be in no need of these adjustments and readjustments of a detailed sort.”

(Richmond 2012 [1922]: 98)

Die Doppelfokussierung auf Person und Umwelt, welche Richmond erstmals prägte, ist

heute noch genau so wie damals relevant und ein wesentliches Merkmal der Klinischen

Sozialen Arbeit (vgl. Crefeld 2002: 25).

Das Person-In-Environment-Konzept stellt den Menschen in sein soziales Bedingungsge-

füge und betrachtet die Interaktion zwischen der Person mit ihren Verhaltens- und Lebens-

weisen und der Umwelt (soziales Umfeld, Lebens- und Arbeitsbedingungen, wirtschaftliche

und kulturelle Lebensbedingungen) in ihrer Wechselwirkung (vgl. Pauls 2013: 64 ff.). Diese

Wechselwirkung spiegelt sich in unserem Gehirn wider: es ist durch soziale Erfahrungen

strukturiert und nimmt durch seine Strukturiertheit Einfluss auf die individuellen Denk- und

Verhaltensweisen.

Die Herausforderung für die psychosoziale Fallarbeit besteht darin, die Passung zwischen

dem Individuum, seinen interpersonalen Beziehungen und seiner Außenwelt zu verbes-

sern (vgl. Pauls 2013: 70 ff.). Dabei geht es vor allem darum, Veränderungen des „Erleben-

Verhalten-der-Person-in-konkreten-Situationen“ herbeizuführen, was einerseits Verände-

rungen auf persönlicher Ebene und andererseits Veränderungen der sozialen Umgebung

bedeutet (vgl. Pauls 2013: 64).

5.3. Salutogenese

Der amerikanisch-israelische Medizinsoziologe Aaron Antonowsky stellt der Pathogenese,

also der Fokussierung auf Krankheit, den Begriff der Salutogenese entgegen. Die Saluto-

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genese befasst sich mit Faktoren, welche Gesundheit erhalten bzw. fördern. Die zugrun-

deliegende Frage Antonowskys ist, warum Menschen trotz Belastungen, Risiken und ge-

sundheitsgefährdenden Einflüssen gesund bleiben. Antonowsky sieht Gesundheit und

Krankheit dabei als Pole eines gemeinsamen Kontinuums. Abhängig davon auf welcher

Seite des Kontinuums sich ein Mensch befindet, ist er eher krank oder eher gesund, wobei

Gesundheit und Krankheit sich nicht gegenseitig ausschließen. Gesundheit ist kein stabiler

Zustand, sondern muss dauerhaft durch die Auseinandersetzung mit Stressoren aufrecht-

erhalten werden (vgl. Franzkowiak et al. 2011: 62).

Entscheidendes Kriterium dafür, ob ein Mensch sich zur negativen oder positiven Seite des

Kontinuums hinbewegt, sind die generalisierten Widerstandsressourcen, über die dieser

verfügt. Darunter fallen alle Faktoren, die den konstruktiven Umgang mit Stressoren er-

möglichen (vgl. Pauls 2013: 102 ff.). Dazu zählen einerseits Widerstandsressourcen, wel-

che in der Person angesiedelt sind, zum Beispiel Intelligenz, Bildung, Bewältigungsstrate-

gien und organische Immunressourcen. Außerdem Widerstandsressourcen der sozialen

Umgebung, wozu ein Zugehörigkeitsgefühl, soziale Unterstützung, Vertrauen und Aner-

kennung sowie Selbstwirksamkeits- und Kontrollerleben gehören. Auf gesellschaftlicher

Ebene zählen Teilhabe an der Gesellschaft, materielle und soziale Sicherheit sowie Ver-

fügbarkeit über Geld, Arbeit und Wohnung zu den Widerstandsressourcen. Auf kultureller

Ebene wird der Zugang zu kulturellem Kapital als Widerstandressource gesehen (vgl.

Franzkowiak et al. 2011: 62).

Antonowsky spricht außerdem vom Kohärenzgefühl, welches als Grundhaltung verstanden

werden kann, die Welt als zusammenhängend, sinnvoll und steuerbar zu erleben (vgl.

Franzkowiak et al. 63). Er definiert das Kohärenzgefühl als „globale Orientierung, die aus-

drückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dyna-

misches Gefühl des Vertrauens hat“ (Petzold 2010: 7).

Das Kohärenzgefühl setzt sich aus drei Komponenten zusammen: Dem Gefühl von Ver-

stehbarkeit, bei dem es um das Verstehen von Zusammenhängen geht, die zur aktuellen

Lebenslage geführt haben und kognitive Verarbeitungsmuster, Weltbilder und Theoriewis-

sen beinhaltet. Dem Gefühl von Handhabbarkeit, welches die Nutzung verfügbarer Res-

sourcen und Fähigkeiten zur Bewältigung von Schwierigkeiten meint und den pragmati-

schen Teil der Kohärenzgefühls darstellt. Das Gefühl von Bedeutsamkeit stellt die dritte

Komponente dar und beinhaltet den motivationalen Aspekt, bei dem es um das Finden von

Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit im Leben geht (vgl. Petzold 2010: 7 f.; vgl. Franzkowiak

et al. 2011: 63; Pauls 2013: 105 f.).

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Das Kohärenzgefühl kann demnach als Gefühl des tiefen Vertrauens in sich selbst ver-

standen werden, die eigenen Lebensbedingungen mit Hilfe der einem zur Verfügung ste-

henden Widerstandsressourcen steuern und gestalten zu können (vgl. Franzkowiak et al.

2011: 63). Je häufiger Menschen die Erfahrung machen, Stressoren mit Hilfe der ihnen zur

Verfügung stehenden Widerstandsressourcen bewältigen zu können, desto größer wird ihr

Kohärenzgefühl (vgl. Pauls 2013: 102 ff.).

Antonowsky (1997) geht es nicht darum, Belastungen und Risiken zu vermeiden, ganz im

Gegenteil sieht er Krankheit als normalen Bestandteil des Lebens an. Ihm geht es darum,

im Fluss des Lebens mit all seinen Stromschnellen und Strudeln schwimmen zu lernen.

Die Metapher des Flusses führt er folgendermaßen aus: „(…) meine fundamentale philo-

sophische Annahme ist, dass der Fluss der Strom des Lebens ist. Niemand geht sicher am

Ufer entlang. Darüber hinaus ist für mich klar, dass ein Großteil des Flusses sowohl im

wörtlichen als auch im übertragenen Sinn verschmutzt ist. Es gibt Gabelungen im Fluss,

die zu leichten Strömungen oder in gefährliche Stromschnellen und Strudel führen. Meine

Arbeit ist der Auseinandersetzung mit folgender Frage gewidmet: „Wie wird man, wo immer

man sich in dem Fluss befindet, dessen Natur von historischen, soziokulturellen und phy-

sikalischen Umweltbedingungen bestimmt wird, ein guter Schwimmer?“ (Antonowsky

1997: 92, zit. n. Pauls 2013: 107).

Das Ziel jeglicher sozialtherapeutischer Interventionen sollte es demnach sein, das Kohä-

renzgefühl von Klient*innen zu stärken und deren Widerstandsressourcen aufzudecken,

damit die Betreffenden besser gewappnet sind auf Anforderungen und Belastungen ange-

messen zu reagieren (vgl. Pauls 2013: 107 f.). Im Kontext einer neurobiologisch ausge-

richteten sozialen Therapie könnte es spannend sein, das Augenmerk auf gesundheitser-

haltende neuronale Verschaltungsmuster bei Klient*innen zu legen und diese durch ge-

zielte Interventionen zu fördern.

5.4. Social Support

Zahlreiche empirische Belege aus den Gesundheitswissenschaften kommen zu der Er-

kenntnis, dass soziale Belastung, geringe soziale Integration sowie mangelnde soziale Un-

terstützung krankheitsförderlich wirken. Demgegenüber wirken alle Hilfen und Unterstüt-

zungsleistungen aus dem sozialen Netzwerk förderlich für die Gesundheit, bisweilen sogar

wie ein psychosoziales Immunsystem, welches einen schützenden Effekt vor Stressoren

aufweist (vgl. Dehmel, Ortmann 2006: 6).

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Zu den sozialen Netzwerken, über welche Unterstützungen erschlossen werden können,

zählen Familie, Freunde, Bekannte, Nachbarn sowie kulturelle und religiöse Gemeinschaf-

ten. Dabei werden unterschiedliche Formen und Leistungen sozialer Unterstützung wirk-

sam. Dazu gehören Informationen, Beratungen, Pflege, lebenspraktische Hilfen, materielle

Hilfen und Geselligkeit. Zwischenmenschliche Beziehungen in den sozialen Netzwerken

bewirken dabei zudem Gefühle von Zugehörigkeit, Wertschätzung, Geborgenheit und Ori-

entierung (vgl. Dehmel, Ortmann 2006: 6).

Soziale Netzwerke weisen unterschiedliche strukturelle Merkmale (Größe, Dichte, Erreich-

barkeit, Grad der Zentralität, Zusammensetzung) und Beziehungsmerkmale (Intensität, In-

timität, Kontakthäufigkeit, Dauer, Vielgestaltigkeit, Egozentrizität vs. Altruismus, Reziprozi-

tät) auf. Zudem gibt es unterschiedliche normative Kontexte (Zugänglichkeiten zu sozialen

Beziehungen) und funktionelle Merkmale (soziale Integration, soziale Regulation und Kon-

trolle, soziale Unterstützung). Die zentrale Funktion sozialer Netzwerke ist die Vermittlung

sozialer Unterstützung (vgl. Dehmel, Ortmann 2006: 7 ff.).

Es sind verschiedene Formen der sozialen Unterstützung zu unterscheiden. Zu diesen ge-

hört zum einen die emotionale Unterstützung, welche Zuwendung, Fürsorge, Wertschät-

zung sowie Stützung und Förderung des Selbstwertgefühls umfasst. Eine weitere Form

des Social Support ist die informativ-beratende Unterstützung, welche Ratschläge, Hin-

weise, problemzentrierte Gespräche und Beratung meint. Praktisch-instrumentelle Unter-

stützung beinhaltet direkte Unterstützung im Haushalt, die Pflege hilfebedürftiger Perso-

nen, materielle Unterstützung sowie Geld- und Sachleistungen. Bei der interpretativ-deu-

tenden Unterstützung handelt es sich um eine Form der Hilfe, welche sich in der Vermitt-

lung von Anerkennung, Respekt und Achtung zeigt (vgl. Dehmel, Ortmann 2006: 12 ff.).

Soziale Unterstützung wirkt zum einen direkt auf das Wohlbefinden von Menschen und

zum anderen indirekt als Puffer zwischen Stressor und Belastungsreaktion. Der unmittel-

bare Effekt sozialer Unterstützung wird als Haupteffekt bezeichnet. Die Integration in ein

soziales Netzwerk hat eine gesundheitsfördernde und belastungsreduzierende Wirkung.

Sie führt dazu, dass Menschen Belastungen nicht als bedrohlich wahrnehmen. Als Puffer-

effekt wird die Wirkung sozialer Unterstützungen als Puffer zwischen belastenden Leben-

sereignissen und der Reaktion darauf bezeichnet. Tritt ein Stressereignis auf, so verhilft

das soziale Netzwerk dieses besser zu bewältigen. Negative Folgen können so abgemil-

dert oder verhindert werden (vgl. Dehmel, Ortmann 2006: 12 ff.; vgl. Pauls 2013: 84).

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Das Konzept des Social Supports macht deutlich, wie wichtig soziale Integration und sozi-

ale Unterstützung für den Gesundheitszustand und das Wohlbefinden sind. Soziale Unter-

stützung wirkt wie ein „soziales Immunsystem“ und führt einerseits zu einer Stärkung von

Klient*innen in ihrer Alltagsbewältigung und andererseits zum Schutz vor schädlichen Ein-

flüssen von Stressoren (vgl. Dehmel, Ortmann 2006: 6 f.). Hier wird wieder eine themati-

sche Verknüpfung mit der Neurobiologie möglich, wenn bedacht wird, wie sehr das Gehirn

durch soziale Erfahrungen konstruiert ist und welche fatalen Auswirkungen mangelnde o-

der negative soziale Erfahrungen haben können. Das Konzept gibt jedoch auch Hoffnung

in der Hinsicht, dass das Hirn lebenslänglich plastisch bleibt und Klinische Sozialarbei-

ter*innen damit die Möglichkeit haben, Ressourcen und soziale Netzwerke gemeinsam mit

Klient*innen zu aktivieren bzw. aufzudecken und neuronal zu verankern und so deren

Wohlbefinden und psychische Widerstandsfähigkeit zu erhöhen.

5.5. Resilienz

Resilienz kann ganz allgemein als „psychische(n) Widerstandsfähigkeit gegenüber biolo-

gischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken“ verstanden werden

(Fröhlich-Gildhof et al. 2010: 43). Die Bewältigung von schwierigen Lebensbedingungen

und Krisen findet unter Rückgriff auf persönliche und soziale Ressourcen statt. Resilienz

wirkt demnach als stärkender Schutzfaktor vor Krisen und Belastungen (vgl. ebd.).

Resilienz ist dabei kein fester psychischer Zustand, sondern dynamisch und flexibel und

im Laufe des Lebens, abhängig von Erfahrungen, die ein Mensch macht, wandelbar. Die

Ausprägung von Resilienz, über die ein Mensch verfügt, ist abhängig von den vorhandenen

Risiko- und Schutzfaktoren. Dabei zeigt sich Resilienz immer erst unter schwierigen Le-

bensbedingungen. Je mehr Belastungen ein Mensch dabei ausgesetzt ist, desto mehr

schützende Faktoren sind zur Bewältigung erforderlich. Es ist also wichtig Resilienz immer

im Kontext der jeweiligen Situation und Person zu betrachten (vgl. Fröhlich-Gildhoff et al.

2010: 44).

Zu den protektiven Faktoren zählen laut Klaus Fröhlich-Gildhoff et al. (2010) stabile emoti-

onale Beziehungen zu Bezugspersonen, Bindungsfähigkeit, klar strukturiertes Erziehungs-

verhalten der Bezugsperson(en), soziale Unterstützung außerhalb der Familie, Bewälti-

gungsverhalten in Krisensituationen, Selbstwirksamkeitserfahrungen, positives Selbstbild,

soziale Verantwortlichkeit, kognitive Kompetenzen, Selbstregulationsfähigkeiten, Fantasie,

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stabiles Kohärenzgefühl, Erleben eines Sinns der Existenz sowie sichere sozio-ökonomi-

sche Bedingungen (vgl. Fröhlich-Gildhoff et al. 2010: 45).

Um eine psychische Widerstandsfähigkeit aufzuweisen, müssen nicht alle der genannten

Faktoren vorhanden sein, jedoch kann allgemeinhin gesagt werden, dass die Bewältigung

von Krisen umso besser gelingt, je mehr Widerstandsressourcen vorhanden sind. Resilienz

führt dabei nicht dazu, Belastungen von Klient*innen zu minimieren, jedoch sehr wohl zur

Ermöglichung eines besseren Umgangs mit diesen (vgl. ebd.).

Die Resilienzforschung hat sechs übergeordnete Resilienzfaktoren identifiziert, welche be-

sonders förderlich für die Bewältigung von Anforderungen und Krisen sind. Diese umfassen

eine adäquate Selbst- und Fremdwahrnehmung, eine hohe Selbstwirksamkeit, gute Fähig-

keiten zur Selbststeuerung, gut entwickelte Problemlösefähigkeiten, soziale Kompetenzen

sowie Stressbewältigungskompetenzen (vgl. Fröhlich-Gildhoff et al. 2010: 46).

Das Konzept der Resilienzförderung hat es zum Ziel, eine Resilienz- bzw. Stärkenför-

dernde Grundhaltung auf institutioneller Ebene umzusetzen. Dabei wird der Blick von De-

fiziten auf Stärken gelenkt, um Klient*innen in ihren Fähigkeiten zu bestärken (vgl. ebd.).

In Bezug auf das Thema der Masterarbeit ist es durchaus relevant sich mit Resilienz und

den zur Verfügung stehenden Widerstandsressourcen zu befassen, da durch psychosozi-

ale Beratung zwar nicht unbedingt die Lebensumstände von Klient*innen verändert werden

können, sehr wohl aber Einfluss auf personale und soziale Ressourcen und damit auf den

Umgang mit Anforderungen und Belastungen genommen werden kann. Zudem ist es

durchaus interessant sich mit den Implikationen von Resilienz auf neurobiologischer Ebene

zu befassen. Wie sind Widerstandsressourcen neurobiologisch verankert und wie können

wir auf diesem Wege neue synaptischer Verknüpfungen aufbauen, welche vor Stress und

Belastung schützen?

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6. Kritik am neurowissenschaftlichen Zugang

Auch die Neurowissenschaften und ihre Erkenntnisse haben keinen absoluten Wahrheits-

anspruch, weshalb es immer wieder wichtig ist, sie kritisch zu hinterfragen. Im Folgenden

soll der neurowissenschaftliche Zugang also im Hinblick auf ethische Fragestellungen, den

biologischen Reduktionismus sowie die Frage des freien Willens kritisch beleuchtet wer-

den.

6.1. Ethische Fragestellungen

Die Fortschritte und Erkenntnisgewinne, die die Neurowissenschaften generieren, werfen

viele ethische Fragen auf. Neurowissenschaftler*innen sind verpflichtet sich mit diesen

auseinanderzusetzen und in einen Diskurs über potenzielle Folgen der Forschung für die

Gesellschaft zu treten. Das neue interdisziplinäre Feld, welches sich mit den Themen und

Problemen, welche durch die moderne Hirnforschung aufgeworfen werden, beschäftigt, ist

das der Neuroethik (vgl. Costandi 2015: 200 f.).

„Verfahren zum Scannen der Gehirnaktivität können dazu eingesetzt werden, viele andere

Formen mentaler Zustände zu entschlüsseln. So haben Forscher solche Verfahren ge-

nutzt, um zwischen wahren und falschen Erinnerungen zu unterscheiden, und um vorher-

zusagen, welche von zwei Handlungen eine Person ausführen wird, bevor sie dies tatsäch-

lich tut. In Zukunft könnte es möglich sein, mithilfe solcher Verfahren sensible persönliche

Informationen wie Persönlichkeitsmerkmale, Produktpräferenzen oder die Wahrscheinlich-

keit für das Auftreten eines neurologischen Leidens oder einer Suchterkrankung zu benen-

nen.“ (Costandi 2015: 191)

Mit dem Fortschritt, die Funktionsweise des Gehirns immer besser verstehen zu können,

geht die Gefahr einher, das Gehirn auch immer besser manipulieren zu können (vgl. Co-

standi 2015: 200).

„Werden wir schließlich einen Punkt erreichen, bei denen Menschen Maßnahmen aufge-

zwungen werden, um unerwünschte Verhaltensweisen zu verhindern, die sich noch gar

nicht manifestiert haben?“ (Costandi 2015: 202)

Das wirft automatisch Fragen nach der ethischen Verantwortung der Wissenschaft gegen-

über der Gesellschaft auf. Wo sind die Grenzen dieser Verfahren? Wo hört Fortschritt auf

und fängt Manipulation an? Wieviel Einfluss und Kontrolle wollen wir der Wissenschaft über

unsere Körper, unsere Gehirne geben?

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„Werden unsere Gedanken auch weiterhin nur uns zugänglich bleiben, oder wird die Neu-

rowissenschaft es Forschern irgendwann ermöglichen, unsere Gedanken zu lesen? Zwar

werden die Brain-Imaging-Techniken immer raffinierter, doch sind viele dieser Behauptun-

gen übertrieben und unbegründet. Hirnforscher können in der Tat unsere Gehirnaktivität

decodieren und daraus einfache Wahrnehmungen rekonstruieren, doch es ist unwahr-

scheinlich, dass diese Techniken jemals einen Punkt erreichen, an dem sie tatsächlich

präzise entziffern können, was jemand denkt; daher werden unsere Gedanken höchst-

wahrscheinlich noch lange Zeit Privatsache bleiben.“ (Costandi 2015: 201)

Ethische Bedenken in Bezug auf die Fortschritte der Neurowissenschaften sind also grund-

sätzlich nachvollziehbar und die fortwährende Reflexion innerhalb der Forschung wichtig.

Die Sorge, dass unsere Gedanken durch fortschreitende technologische Entwicklungen

der Hirnforschung entschlüsselt und für manipulative Zwecke genutzt werden können,

kann vorerst entkräftet werden.

6.2. Biologischer Reduktionismus

Ein weiterer Kritikpunkt an den Neurowissenschaften ist der Reduktionismus aller geisti-

gen, psychischen, sozialen und kulturellen Inhalte auf neuronale Vorgänge des Gehirns.

Diese Reduktion des menschlichen Bewusstseins auf neurobiologische Vorgänge verän-

dert das Selbstverständnis des Menschen grundlegend und stellt dessen Verantwortung

für das eigene Handeln in Frage (vgl. Bahlmann 2010: 10).

Die Mehrheit der Neurowissenschaftler*innen vertritt die Ansicht eines gemäßigten Mate-

rialismus, wobei zwar eine individuelle Subjektivität des Menschen anerkannt wird, diese

allerdings nur als Begleiterscheinung neuronaler Prozesse gesehen wird (vgl. Fuchs 2008:

20).

Weitere Kritik besteht daran, dass zwar Hirnareale lokalisiert sind, in denen psychosoziale

Erfahrungen verarbeitet werden, die Wechselwirkung dieser sozialen Komponenten und

dem Gehirn jedoch nicht beachtet werden, sondern lediglich die neuronale Reaktion auf

soziale Stimuli betrachtet wird. Dies führe laut Thomas Fuchs (2008) zu einem methodi-

schen und konzeptionellen Kurzschluss zwischen Gehirn und Sozialität, wobei die Außen-

welt nur als Repräsentation des neuronalen Systems gesehen werde und die biologische

Ebene die alles Bestimmende bleibe. Der Autor plädiert dafür, das Gehirn als „ein soziales

Organ, nicht nur einzelne soziale Hirnzentren“ zu betrachten (Fuchs 2008: 191).

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Grawe (2004) sieht die Rückführung psychosozialer Vorgänge auf neuronale Vorgänge

nicht zwangsläufig als Infragestellung der individuellen Subjektivität des Menschen, son-

dern versteht die neurobiologischen Abläufe vielmehr als grundlegende Notwendigkeit des

Lebens (vgl. Grawe 2004: 58) „Dass ich auf mein Gehirn für alle meine subjektiven Erfah-

rungen und für mein Verhalten angewiesen bin, ja, dass mein Gehirn sie überhaupt produ-

ziert, muss mich ebenso wenig kränken wie die Tatsache, dass ich zum Atmen auf meine

Lunge und zum Laufen auf meine Beine angewiesen bin.“ (Grawe 2004: 58)

Er ist zwar der Meinung, dass alles Erleben und Verhalten durch neuronale Kommunikati-

ons- und Erregungsmuster zustande kommt, sieht das Wissen und Bewusstsein dessen

aber auch als Chance der Bereicherung der geistigen und kulturellen Welt, indem Men-

schen durch dieses Wissen mehr mit ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten in Einklang

gebracht werden können (vgl. Grawe 2004: 57 f.). „Ebenso wenig wie wir durch die Evolu-

tionstheorie zum Affen wurden, werden wir durch die Erkenntnisse der Neurowissenschaf-

ten zu einem Bündel Materie“ (Grawe 2004: 58).

Die biologische Determiniertheit bedeutet also nicht zwangsläufig einen Angriff auf die In-

tegrität des Menschen. Im Gegenteil zeigen die Neurowissenschaften in Bezug auf psy-

chosoziale Erkrankungen auf, dass Störungen eine Hervorbringung neuronaler Strukturen

sind und bergen das Potenzial in sich, nicht nur Störungen zu beheben, sondern ein ganz-

heitliches Bewusstsein für Gesundheit und Wohlbefinden zu schaffen (vgl. Grawe 2004:

58).

6.3. Frage des freien Willens

Die nähere Beschäftigung mit den Neurowissenschaften führt automatisch zu einer Infra-

gestellung des freien Willens des Menschen. Als freier Wille wird die Selbstverantwortung

des Menschen für seine bewussten Handlungen verstanden (vgl. Madeja 2010: 126). Stu-

dien zeigen, dass das Gehirn unsere Handlungen vorbereitet noch bevor wir uns bewusst

zu diesen Handlungen entschließen. Demnach wären alle Handlungen und Entscheidun-

gen von Hirnmechanismen determiniert, welche außerhalb des Bewusstseins ablaufen

(vgl. Costandi 2015: 61 f.).

Diese Auffassung steht jedoch stark in der Kritik. Das liegt zum einen daran, dass die Stu-

dien auf der Zeitwahrnehmung der Teilnehmer*innen basieren. Da das Gehirn einige Se-

kundenbruchteile zur Verarbeitung von Informationen sowie der Produktion eines motori-

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schen Outputs braucht, ist schwer zu beurteilen, an welcher Stelle das Gehirn Entschei-

dungen determiniert und an welcher Stelle diese bewusst getroffen werden (vgl. Costandi

2015: 62). Da die Neurowissenschaft ihren Fokus auf gegenständlich fassbare Erkennt-

nisse legt, kann außerdem gesagt werden, dass die Frage des freien Willens außerhalb

des Erkenntnisbereichs der Hirnforschung liegt und von ihr nicht abschließend beantwortet

werden kann (vgl. Madeja 2010: 126 f.).

Was die Hirnforschung jedoch mit Sicherheit aussagen kann ist, welche Gehirnareale bei

Entscheidungsprozessen beteiligt sind. Bei bewussten Entscheidungen der Handlung und

Bewegung spielen Bereiche der vorderen, hinteren und seitlichen Hirnrinde eine wichtige

Rolle. Bei Entscheidungen der bewussten Wahrnehmung sind es die im Stirnbereich lie-

genden Abschnitte der Hirnrinde (vgl. Madeja 2010: 127).

Moheb Costandi (2015) kommt daher zu dem Schluss, dass „obwohl einige neurowissen-

schaftliche Studien daher vermuten lassen, dass wir keinen freien Willen haben, […] die

Ergebnisse keineswegs endgültig, sondern noch immer offen für Interpretationen“ sind

(Costandi 2015: 63).

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7. Forschungsstrategisches Vorgehen

Im vorliegenden Kapitel soll zunächst einmal das Forschungsdesign, der empirische Zu-

gang zum Feld, die Erhebungs- sowie Auswertungsmethoden erläutert werden, mit Hilfe

derer die Forschungserkenntnisse generiert wurden.

7.1. Forschungsdesign

In der vorliegenden Forschungsarbeit handelt es sich um eine Studie, welche auf die ori-

entierende Verwertung wissenschaftlicher Erkenntnisse aus der vorwiegend neurobiolo-

gisch geprägten Forschung zum Erkenntnisgewinn für die Klinische Soziale Arbeit abzielt.

Deshalb wurde ein exploratives Forschungsdesign gewählt, welches sich durch die Offen-

heit der Forschungsfragen auszeichnet und neue Forschungsfragen, Hypothesen und The-

orien für die Klinische Soziale Arbeit generieren soll (vgl. Döring, Bortz 2016: 192).

Anhand einer Metaanalyse wurden empirische Studien, welche einen psychosozialen Be-

zug aufweisen, mit einem spezifisch klinisch-sozialarbeiterischen Blick systematisch ana-

lysiert und miteinander verglichen. Es wurde dabei, angelehnt an die Grounded Meta-Ana-

lysis nach Hossler und Scalese Love (1989), ein qualitativer Zugang gewählt. Die Methode

wurde in Anlehnung an die Grounded Theory nach Glaser und Strauss (1967) entwickelt,

um einen systematischen qualitativen Zugang zur Auswertung empirischer Studien mög-

lich zu machen. Dabei werden sowohl quantitative als auch qualitative Studien herangezo-

gen und nach den gleichen Kriterien einer systematischen Untersuchung unterzogen. Dies

soll kohärente Muster sowie den Einfluss der Umgebungsbedingungen offenlegen und Ver-

gleiche zwischen den Studien ermöglichen (vgl. Hossler, Scalese-Love 1989: 8 f.).

Als Ergänzung zur qualitativen Metaanalyse wurde ein Experteninterview mit einem

Psychologen und Mediziner, der als Professor für Soziale Arbeit tätig ist, im Hinblick auf

die Zusammenhänge zwischen Sozialer Arbeit und Neurowissenschaft geführt. Dieses

wurde in Folge mit Hilfe der Themenanalyse nach Ulrike Froschauer und Manfred Lueger

(2003) ausgewertet.

Es wird also eine Methodentriangulation genutzt. Nach Uwe Flick (2007) ermöglicht die

Kombination mehrerer Methoden eine Erweiterung des Wissens über das Forschungsfeld

(vgl. Flick 2017: 10 f.).

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7.2. Empirischer Zugang

Die Metaanalyse beruhte auf der Recherche, Auswahl und Analyse geeigneter Studien.

Diese wurden in dieser Arbeit nach bestimmten Kriterien ausgewählt. Eine erste Auswahl

wurde auf Grund des Themas und dessen Rückführbarkeit auf die Klinische Soziale Arbeit

getroffen. Dies war dann der Fall, wenn die Art der Intervention Zusammenhänge mit der

Klinischen Sozialen Arbeit aufwies oder zentrale Themen wie zwischenmenschliche Be-

ziehungen, soziale Faktoren, psychosozialer Stress oder Umgebungsbedingungen behan-

delt wurden. Alle nach diesem Prinzip ausgewählten Studien wurden dann nochmals einer

genaueren Relevanzprüfung unterzogen, wobei auf die Qualität der Studien und Brauch-

barkeit für die Forschungsfragen geachtet wurde.

Die Suche nach geeigneten Studien fand über Online Datenbanken wie PsychIndex, Use-

arch, ScienceDirect, Scopus, SciELO sowie Google Scholar statt. Zu den genutzten

Schlagwörtern (auf Deutsch und Englisch) bei der Recherche gehörten dabei:

Neuroplastizität, Neuronale Plastizität, Neurobiologie, Neurogenese, Soziale Arbeit, Klini-

sche Soziale Arbeit, Soziale Faktoren, Therapie, Soziale Therapie, Sozialtherapie, Sozio-

therapie, Soziales Gehirn, Soziale Neurobiologie, Psychosozial, Psychosoziale Beratung,

psychosoziale Intervention, Umgebung, Umgebungsbedingungen, Stress, Stressfaktoren.

Neben der systematischen Abfrage wissenschaftlicher Literaturdatenbanken wurde das

Schneeballverfahren verwendet, wobei im Literaturverzeichnis einschlägiger Zeitschriften-

artikel und Reviews angeführte Studien aufgegriffen und in Online Datenbanken gezielt

gesucht wurden (vgl. Döring, Bortz 2016: 160). Beim Schneeballprinzip handelt es sich

um ein zirkuläres Verfahren des theoretischen Samplings, bei dem primäre Informationen

auf weitere wesentliche Informationen verweisen (vgl. Lamnek 2005:190).

Schlussendlich stellten sich 17 Studien als brauchbar für die Beantwortung der For-

schungsfragen heraus und wurden einer genaueren Analyse unterzogen und in Anlehnung

an die Methode der Grounded Meta-Analysis ausgewertet.

Für das Experteninterview wurden auf Basis der Empfehlungen und Vermittlung des Mas-

terarbeitsbetreuers Prof. Dr. Pauls ein geeigneter Interviewpartner ausgewählt. Dieser wird

im Kapitel 7.3.2 näher vorgestellt werden.

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7.3. Erhebungsmethoden

7.3.1. Metaanalyse

Als geeignete Methode zur Analyse und Relevanzprüfung von empirischen Studien, wel-

che sich mit der Neuroplastizität im Kontext psychosozialer Bedingungsfaktoren beschäfti-

gen, wurde die qualitative Metaanalyse ausgewählt.

Die qualitative Metaanalyse folgt den gleichen reproduzierbaren Verfahren wie die quanti-

tative Metaanalyse, ist jedoch interpretativer ausgerichtet. Sie produziert anstatt einer sta-

tistischen Datenanalyse neue Interpretationen über die Studienergebnisse. Sie ermöglicht

durch das Mitbetrachten qualitativer Kriterien, wie zum Beispiel den Rahmenbedingungen,

unter welchen die Studie durchgeführt wurde, eine umfassendere Darstellung des Themas.

Zudem bezieht sie in ihre Betrachtung sowohl quantitative als auch qualitative Studien mit

ein (vgl. Ke 2009: 6).

Don Hossler und Patrick Scalese-Love (1989) entwickelten eine spezielle Methode der

qualitativen Metaanalyse, die Grounded Meta-Analysis, unter Verwendung des Grounded

Theory Ansatzes von Glaser und Strauss (1967). So wie in der Grounded Theory Theorien

aus Interviews, Beobachtungen und anderen Daten aus realen Lebenssituationen gewon-

nen werden können, sollen in der Grounded Meta-Analysis Zusammenhänge aus der sys-

tematischen Analyse verwandter Studien erschlossen werden (vgl. Hossler, Scalese-Love

1989: 8).

Die Grounded Theory generiert ihre Theorien in einem induktiven Prozess, wobei es von

Vorteil ist ohne ein klar definiertes Set an Hypothesen in die Forschung zu gehen. Die

Grounded Meta-Analysis ist hingegen ein zyklischer Prozess, bei dem Datensammlung

und Datenanalyse gleichzeitig stattfinden, wodurch neue Fragestellungen entstehen, wel-

che eine weitere Sammlung und Analyse von Daten erforderlich macht (vgl. Hossler, Sca-

lese-Love 1989: 9).

Ziel der systematischen Analyse ist es, neue Kategorien aufzudecken und Studien ver-

gleichbar zu machen. Um die Vergleichbarkeit der Studien zu gewährleisten, wird ein

Coding Instrument erschaffen, welches im Verlauf der Analyse immer wieder überarbeitet

und angepasst wird. Der Prozess der Datensammlung ist dabei offen und immer erweiter-

bar (vgl. Hossler, Scalese-Love 1989: 9 f.).

Dadurch, dass mehr Aspekte in die Analyse einfließen und interpretative Deutungen der

Ergebnisse möglich sind, vermag die Grounded Meta-Analysis komplexe Phänomene und

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scheinbar unzusammenhängende Variablen besser zu vereinen als eine quantitative Me-

taanalyse (vgl. Hossler, Scalese-Love 1989: 15 f.). Die ausgewählten Studien werden aus

einer bio-psycho-sozialen Perspektive und unter Berücksichtigung des Person-In-Environ-

ment Konzepts, der Salutogenese sowie des Social Support Konzepts analysiert und inter-

pretiert. Auf dieser Grundlage werden für die Klinische Soziale Arbeit brauchbare Katego-

rien gebildet, um Schlussfolgerungen inhaltlich relevanter Aspekte der Studien für die Kli-

nische Soziale Arbeit zu ermöglichen.

7.3.2. Expert*inneninterview

Um das Thema der Neuroplastizität im Kontext Klinischer Sozialer Arbeit aus verschiede-

nen Perspektiven beleuchten zu können, wurde zusätzlich zur qualitativen Metaanalyse

ein Expert*inneninterview geführt.

Beim Expert*inneninterview handelt es sich um eine Methode, bei der die Befragten nicht

als Betroffene, sondern als Expert*innen für ein bestimmtes Thema herangezogen werden.

Das dadurch erhobene Expert*innenwissen beinhaltet einerseits strukturelles Fachwissen

und andererseits Praxis- und Handlungswissen (vgl. Döring, Bortz 2016: 375).

Beim Experten handelt es sich um einen hauptamtlichen Professor, Mediziner und Diplom-

Psychologen, welcher an der Fakultät für Sozialwesen einer deutschen Hochschule in den

Lehrgebieten Sozialmedizin, Sozialpsychiatrie und Neurowissenschaften tätig ist. Der

Kontakt wurde durch den Betreuer Prof. Dr. Pauls hergestellt. Der Experte erklärte sich

bereit ein Telefoninterview über Skype zu führen. Er äußerte den Wunsch in der Arbeit

nicht namentlich erwähnt zu werden.

Das Experteninterview wurde mit Hilfe eines Leitfadens geführt. Es beleuchtet den Blick

eines Experten auf das Thema der Neuroplastizität und dessen auf Erfahrung beruhende

Einschätzung der Relevanz des Themas für die Klinische Soziale Arbeit.

7.4. Auswertungsmethoden

7.4.1. Grounded Meta-Analysis

Bereits während der Literaturrecherche wurden Studien auf wiederkehrende Kategorien

hin gescannt, welche in die Coding Matrix aufgenommen werden konnten. Es kam zur

Entwicklung einer Matrix, welche folgende Variablen beinhaltete: Ziel der Studie, verwen-

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dete Methode, Stichprobenmerkmale, zeitlicher Rahmen, Einschränkungen der Studie, Er-

gebnisse der Studie, Schlussfolgerungen für die Klinische Soziale Arbeit und einen Code.

Der Prozess der Recherche, des Kodierens sowie der Analyse der Studien verliefen paral-

lel, die Matrix wurde im Verlauf dessen immer weiter verfeinert.

Durch das Sammeln, Kombinieren, Kontrastieren und Identifizieren von Mustern zwischen

verschiedenen Studien wurden Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlich (vgl. Apa-

nasovich 2014: 724). Dies ermöglichte es einerseits einen Überblick über die aktuelle Stu-

dienlage hinsichtlich des gewählten Themas zu erlangen und andererseits gezielt nach

bestimmten Variablen zu filtern.

Die Analyse der empirischen Studien fand in Anlehnung an die Grounded Meta-Analysis

statt, wobei die Studien mit einem sehr spezifisch klinisch-sozialarbeiterischen Blick ana-

lysiert wurden, um für die Klinische Soziale Arbeit relevante Kategorien und Inhalte heraus

zu arbeiten. Dabei wurden Studien stets im Hinblick auf die Forschungsfragen, ihren bio-

psycho-sozialen Gehalt sowie soziale Bedingungsfaktoren analysiert und kategorisiert. Die

Analyse verschiedener Studien unterschiedlicher Fachrichtungen aus einem klinisch- so-

zialarbeiterischem Blickwinkel ermöglichte die Eröffnung neuer Perspektiven und Frage-

stellungen für die Disziplin.

7.4.2. Themenanalyse

Das Experteninterview wurde mit Hilfe der Themenanalyse nach Froschauer und Lueger

(2003) ausgewertet. Die Auswertungsmethode eignet sich dazu einen Überblick über The-

men zu erhalten und diese in ihre Kernaussagen zusammenzufassen sowie Kontextbedin-

gungen, unter denen diese Themen auftreten, zu analysieren. Die Methode ist daher be-

sonders gut geeignet, um Meinungen von Expert*innen zu systematisieren oder Einstel-

lungen von Personen oder Gruppen zu bestimmten Themen herauszuarbeiten (vgl.

Froschauer, Lueger 2003:158).

Dabei gibt es einerseits das Textreduktionsverfahren, bei dem Texte in ihre wesentlichen

Themen zusammengefasst werden und andererseits das Codierverfahren, welches zur

Analyse der begrifflichen Struktur von Themen dient. Für die Analyse des Experteninter-

views wurde auf eine Kombination der beiden Verfahren zurückgegriffen. Dabei wurde das

Interview zunächst in wesentliche Themenblöcke zusammengefasst, welche anschließend

mit Codes versehen wurden. Die so gebildeten Codes wurden anschließend in Kategorien

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und Subkategorien unterteilt und thematisch geordnet (vgl. Froschauer, Lueger 2003:159

ff.).

Das Codieren eignet sich dazu, anhand des Textes induktiv Kategorien zu bilden und einen

Überblick über relevante Themen zu erlangen. Die aus dem Interview erhaltenen Ergeb-

nisse stellen dabei eine Ergänzung zu den aus den Studien gewonnen Erkenntnissen dar

und ermöglichen es, die Forschungsfragen aus verschiedenen Blickwinkeln und in unter-

schiedlichen Facetten zu beantworten.

7.5. Reflexion der Erhebungs- und Auswertungsmethode

Die Entscheidung eine qualitative Metaanalyse zur Erkenntnisgewinnung zu nutzen, wurde

in Anbetracht der Neuheit des Forschungsthemas für die Klinische Soziale Arbeit und der

daraus resultierenden dürftigen Datenlage innerhalb der Disziplin getroffen. Sie zielt darauf

ab, einen Überblick klinisch-sozialarbeiterisch relevanter Dimensionen zu gewinnen, wel-

che eng mit neurobiologischen Komponenten zusammenhängen. Als Ergänzung dient das

Experteninterview, welches die Wechselwirkung zwischen Sozialer Arbeit und Neurowis-

senschaften und die Relevanz der Auseinandersetzung deutlich macht.

Die Metaanalyse bedarf im Hinblick auf einige relevante Aspekte durchaus der Reflexion.

Bei der Methode besteht stets die Gefahr „Äpfel mit Birnen“ zu vergleichen, also ungleiche

Kategorien gegenüberzustellen. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, muss eine ange-

messene Generalisierung der Kategorien stattfinden (vgl. Wagner, Weiß 2014: 1123 f.). In

der vorgenommenen Metaanalyse wurden zwar Studien mit unterschiedlichsten Operatio-

nalisierungen und Thematiken einbezogen, diese wurden aber mit Hilfe der Coding Matrix

kategorisiert und dann thematisch verglichen. Trotz dessen lag es in der Natur des For-

schungsdesigns, thematisch und methodisch ungleiche Studien miteinander zu verglei-

chen und eine Reinterpretation dieser vorzunehmen.

Ein weiterer häufiger Kritikpunkt an Metaanalysen ist das „Garbage-in-Garbage-out-Prob-

lem“. Dabei wird kritisiert, dass die Ergebnisse der Metaanalyse nicht brauchbar wären, da

alle beliebigen Untersuchungen, unabhängig von der Qualität, in die Analyse eingehen

(vgl. Wagner, Weiß 2014: 1124). In der vorliegenden Arbeit wurde die Qualität der Studien

mitbetrachtet und unter der Rubrik „Einschränkungen“ in der Tabelle der Qualitativen Me-

taanalyse (Tabelle 1-4) kenntlich gemacht.

Zu guter Letzt muss auch gesagt werden, dass die Stichprobengrößen nicht bei allen Stu-

dien groß genug waren, um die Untersuchungsergebnisse statistisch abzusichern (vgl.

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Wagner, Weiß 2014: 1124). Da der Fokus der vorliegenden Studie auf qualitativen Aspek-

ten lag, wurden thematisch relevante Studien trotz mangelnder Stichprobengröße mitbe-

trachtet.

In die Analyse wurden auch Tierstudien einbezogen. Die daraus gewonnen Informationen

können zwar nicht eins zu eins auf den Menschen übertragen werden, liefern jedoch wert-

volle Erkenntnisse in Bezug auf die neurobiologischen Auswirkungen psychosozialer Fak-

toren. Zudem erlauben sie extreme Versuchsbedingungen, welche aus ethischen Gründen

bei Studien an Menschen nicht tragbar wären. Den jeweiligen Studien bzw. der Bezugsli-

teratur konnten zudem Informationen über die Anwendbarkeit der Ergebnisse auf das

menschliche Gehirn entnommen werden. Zudem wurde stets versucht, von den spezifi-

schen Ergebnissen an Tieren auf eine allgemeinere Ebene zu abstrahieren, welche auch

für den Menschen zutreffend ist.

Verbesserungspotenzial in der methodischen Vorgehensweise besteht darin Inklusions-

und Exklusionskriterien für die Auswahl der Studien klarer zu definieren. Wenn der Unter-

suchungsgegenstand und die Untersuchungsgruppe näher eingegrenzt werden, können

auch präzisere Erkenntnisse für die Sozialtherapie gewonnen werden. In der vorliegenden

Arbeit geht es vorrangig darum, einen Überblick über relevante neurobiologische Dimensi-

onen mit psychosozialem Bezug aufzuzeigen, weshalb die Auswahl der Studien am sehr

allgemeinen Kriterium der Anwendbarkeit auf die Klinische Soziale Arbeit stattfand.

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8. Studienergebnisse

Nachfolgend sollen wesentliche Ergebnisse der durchgeführten Metaanalyse dargestellt,

mit Literatur belegt und theoretisch eingebettet werden. 17 relevante Studien wurden im

Hinblick darauf betrachtet, wie sich psychosoziale Faktoren und Umgebungsbedingungen

auf die Struktur und Funktionsweise des Gehirns auswirken. Daraus wurden Rückschlüsse

sowie mögliche Interventionsmöglichkeiten für die Klinische Soziale Arbeit abgeleitet, wel-

che in Kapitel 8.8 erörtert werden. Eine Übersicht über die einzelnen Studien, deren ver-

wendete Methoden, Stichproben, Ergebnisse, Einschränkungen und Schlussfolgerungen

für die Klinische Soziale Arbeit befindet sich in Tabelle 1-4 am Ende des Kapitels.

Bei neun der analysierten Studien handelt es sich um Tierstudien, welche an Mäusen, Rat-

ten, Spitzhörnchen und Affen in Form von Laborstudien durchgeführt wurden. Die übrigen

acht Studien stellen den Menschen in den Mittelpunkt der Untersuchung und werden in

Form von Längsschnittstudien, Interventionsstudien oder Retrospektive Studien durchge-

führt. Bei den Tierstudien wurde unter anderem auf invasive Verfahren zurückgegriffen, um

den Effekt bestimmter Interventionen zu messen. Bei den Studien, welche mit menschli-

chen Proband*innen durchgeführt wurden, wurden neuronale Aktivitäten mittels Magnetre-

sonanztomographie (MRT) (vgl. Driemeyer et al. 2008; Boyke et al. 2008), funktioneller

Magnetresonanztomographie (fMRT) (vgl. Dichter et al. 2010; Carlson et al. 2002), diffusi-

onsgewichtete Magnetresonanztomographie (DW-MRI) (vgl. Bengtsson 2005) und Posit-

ronen-Emissions-Tomographie (PET) (vgl. Martin et al. 2018; Goldapple et al. 2004; Hölzel

et al. 2009) gemessen. Auch wenn neuronale Vorgänge, welche bei Tieren ablaufen, nicht

eins zu eins auf den Menschen übertragen werden können, liefern sie doch wichtige Er-

kenntnisse für die Forschung und wurden deshalb bewusst miteinbezogen.

Die untersuchten Studien behandeln die neuronalen Auswirkungen sozialer Faktoren, die

Beeinflussung durch Umgebungsbedingungen, Lernen in verschiedenen Entwicklungssta-

dien, förderliche sowie störende Bedingungen für Neuroplastizität, Auswirkungen von

Stress auf das Gehirn, die Nutzungs- und Erfahrungsabhängigkeit der Plastizität sowie die

Wirkungsweise von Therapie. Im Folgenden sollen besagte Themen im Kontext ihrer Be-

zugsstudien näher ausgeführt, Erkenntnisse, welche sich aus den Studien ableiten lassen,

vorgestellt und Bezüge zur Klinischen Sozialen Arbeit hergestellt werden.

8.1. Auswirkungen psychosozialer Faktoren auf das Gehirn

Wichtige Bereiche, in denen der Einfluss sozialer Faktoren auf neuronaler Ebene belegt

werden kann und welche im weiteren Verlauf der Ergebnisdarstellung näher ausgeführt

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werden, sind die Umgebungsbedingungen, in denen Lebewesen aufwachsen und leben,

Stressfaktoren, denen diese ausgesetzt sind, sowie soziale Interaktion. Lieberwirth und

Wang (2012) unterscheiden in soziale und nicht-soziale Einflussfaktoren. Bei den nicht-

sozialen Einflussfaktoren gibt es zum einen endogene Faktoren (Transmitter, Hormone)

und zum anderen exogene Faktoren (angereicherte Umgebung, körperliche Bewegung)

(vgl. Lieberwirth, Wang 2012: 3). Bei den sozialen Faktoren werden positive und negative

soziale Interaktionen unterschieden. Positive Interaktionen umfassen alle nahen Bindun-

gen, welche wichtig für das Wohlbefinden eines Individuums sind. Negative Interaktionen

hingegen umfassen soziale Isolation, Konfrontationen sowie soziale Niederlage, welche

eine unmittelbare Stressreaktion auslösen (vgl. ebd.: 8).

Zunächst einmal soll anhand zweier Studien zu sozialem Status und Dominanzhierarchie

bei Mäusen bzw. Ratten näher erläutert werden, welche Rolle soziale Faktoren für das

Gehirn spielen (siehe Tabelle 1).

In der Studie „Dominance Hierarchy Influences Adult Neurogenesis in the Dentate Gyrus“

(Kozorovitskiy, Gould 2004) wird untersucht, wie sich der soziale Status männlicher Ratten

auf die adulte Neurogenese auswirkt. Dazu wurde eine künstliche Rangordnung zwischen

den Tieren hergestellt. Zusätzlich dazu wurden die Tiere unter normalen und anregenden

Bedingungen gehalten, um zu messen, ob sich dies neuronal auswirkt. Das Ergebnis war,

dass dominante Ratten mehr neue Neuronen im Gyrus dentatus herausbildeten als unter-

geordnete Ratten, unabhängig von den Umgebungsbedingungen, in denen sie gehalten

wurden.

Eine weitere Studie untersucht, ob chronischer sozialer Stress zu Veränderungen der sy-

naptischen Konnektivität bei Mäusen führt (vgl. Christoffel et al. 2011). Dabei wurde das

Augenmerk wieder auf das soziale Gefüge zwischen den Tieren gelegt. Das Ergebnis der

Studie zeigt, dass die Mäuse, welche in der Hierarchie sozial unterlegen sind im Gehirn

neue Dornenfortsätze ausbilden, welche mit der Verhaltensweise der sozialen Vermeidung

korrelieren. Chronischer sozialer Stress verändert also die synaptische Konnektivität und

führt damit zu sozialem Vermeidungsverhalten.

Claudia Lieberwirth und Zuoxin Wang (2012: 8) beschreiben die soziale Niederlage in der

Tierwelt als eine Situation, bei der ein Tier sein Terrain gegen einen gleichgeschlechtlichen

Eindringling verteidigt, wobei der Eindringling in der Auseinandersetzung unterliegt. Sozi-

ale Niederlage geht mit drastischen physiologischen, neuroanatomischen Veränderungen

sowie Veränderungen des Verhaltens einher, wie in den beiden beschriebenen Studien

gezeigt werden konnte.

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Ein niedriger sozialer Status hat einen negativen Effekt auf das Gehirn und führt zu einer

eingeschränkteren Neurogenese, verringerter synaptischer Konnektivität und sozialem

Vermeidungsverhalten (vgl. Christoffel et al. 2011).

Welche Erkenntnisse können wir hieraus für den Menschen ableiten? Ann Sexton (2015)

schildert, dass sich das menschliche Gehirn wie das anderer Primaten fein abgestimmt auf

die soziale Interaktion, für das es gebraucht wird, entwickelt hat, wodurch es ein natürlicher

Umstand ist, dass neuronale Vorgänge durch soziale Interaktion beeinflusst werden (vgl.

Sexton 2015: 1). Die Art und Weise wie sich soziale Stimuli auswirken hängt davon ab, ob

es sich um positive oder negative Reize handelt. Während positive soziale Interkationen

die Zellproliferation fördern, führen aversive soziale Interkationen zu psychosozialem

Stress und beeinträchtigen die Neurogenese erheblich (vgl. Lieberwirth, Wang 2012: 14).

Die Wechselwirkung zwischen sozialer Interaktion und neuronalen Strukturen lässt sich

durch das bio-psycho-soziale Modell erklären. Psychosoziale Erfahrungen, in diesem Fall

Erfahrungen aversiver sozialer Interaktion, wirken auf neuronale Prozesse und verändern

diese in besagten Studien durch die Ausbildung von Dornenfortsätzen (vgl. Christoffel et

al. 2011) oder die Unterdrückung der Zellneurogenese (vgl. Kozorovitskiy, Gould 2004).

Diese Veränderungen bewirken dann wiederum Verhaltensveränderungen bei den Tieren,

wie im beschriebenen Fall soziale Vermeidung (vgl. Christoffel et al. 2011).

Nachdem hier auf die Folgen sozialer Interaktionen eingegangen wurde, soll im nächsten

Kapitel näher auf die Bedeutung der Umgebungsbedingungen eingegangen werden.

8.2. Bedeutung von Umgebungsbedingungen

Vier der untersuchten Studien beschäftigen sich näher mit dem Zusammenhang von Um-

welt, Verhaltensvariablen und neurobiologischen Auswirkungen (siehe Tabelle 1 und 2).

So untersuchen Brown et al. (2003) wie sich das Leben unter drei verschiedenen Bedin-

gungen (anregende Umgebung mit Spielsachen und Tunneln, normale Umgebung mit

Hamsterrad und Haltung in einfachem Käfig) auf die Zellneurogenese bei Mäusen auswirkt.

Eine erhöhte Neurogenese im Gyrus dentatus ist bei den Mäusen ersichtlich, welche in der

stimulusreichen Umgebung gehalten wurden und körperlich aktiv waren. Jason Brown et

al. (2003) weisen darauf hin, dass die Neurogenese bei allen Säugetieren wesentlich durch

körperliche Aktivität und stimulierende Umweltbedingungen beeinflusst wird (vgl. Brown et

al. 2003: 2042). Diese Erkenntnis liefert wichtige Hinweise für die Arbeit mit Menschen,

welche in verarmten Umgebungen leben und aufgewachsen sind und weist darauf hin, wie

Prozesse der Neurogenese gezielt angeregt werden können.

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Makesh Darna et al. (2014) untersuchen inwieweit Umgebungsfaktoren vor einer Anfällig-

keit für Drogenmissbrauch schützen können. Dazu wird untersucht, wie sich eine Anrei-

cherung der Umwelt auf die Funktion der Dopamin- und Serotonintransporter im Präfron-

talen Cortex und Orbitofrontalcortex bei Sprague-Dawley Ratten auswirkt. Die Ergebnisse

der Studie zeigen, dass die Umweltanreicherung eine verminderte Dopamintransporter-

funktion im präfrontalen Cortex und erhöhte Dopamintransporterfunktion im Orbofrontal-

cortex bewirkt. Der Einfluss der Umwelt auf die Dopamintransporterfunktion zeigt auf, dass

Umgebungsbedingungen von Individuen das Risiko für Sucht und Drogenmissbrauch er-

heblich beeinflussen können und eine stimulusreiche Umgebung als ein Schutzfaktor vor

Anfälligkeit für Drogenmissbrauch wirken kann.

In ihrem Review Artikel gehen Patricia Sampedro-Piquero et al. (2018) auf das Potenzial

neuer Lernerfahrungen und angereicherter Umgebungen ein, neuroplastische Verände-

rungen im Gehirn herbeizuführen, welche durch die Sucht ausgelöste kognitive Defizite

und Symptome der Abhängigkeit lindern oder umkehren können. Sie weisen auf das the-

rapeutische Potenzial hin, durch eine Anreichung der Umwelt und die Ermöglichung neuer

Lernerfahrungen das Verlangen und die eingenommene Menge des Suchtmittels zu ver-

ringern. Der Studienlage nach zu urteilen zeige eine Kombination aus kognitiver Stimula-

tion und körperlicher Bewegung die größte Wirkung (Sampedro-Piquero et al. 2018: 15).

Aus salutogenetischer Sicht könnte man sagen, dass die generalisierten Widerstandsres-

sourcen, über die Menschen verfügen, diese zumindest ein Stück weit vor der Anfälligkeit

für eine Sucht schützen können. Das Aufdecken und Aktivieren von Widerstandsressour-

cen in der sozialen Umgebung, zu denen ein Zugehörigkeitsgefühl, soziale Unterstützung,

Vertrauen und Anerkennung sowie Selbstwirksamkeits- und Kontrollerleben gehören, ist

Aufgabe Klinischer Sozialarbeiter*innen (vgl. Franzkowiak et al. 2011: 62).

Kelly Lambert et al. (2016) untersuchen Ratten in einem normalen Käfig mit Essen und

Wasser, einem künstlich angereicherten Käfig und der natürlichen Umgebung mit natürlich

auftretenden Stimuli. Dabei wird gemessen, wie sich die Umgebungsbedingungen auf das

Verhalten und die Resilienz der Tiere auswirkt. Es wird deutlich, dass Ratten, welche in

einer natürlichen Umgebung leben, weniger ängstliches Verhalten zeigen, eine geringe

Aktivierung der Amygdala aufweisen und eine erhöhte Aktivität im Nucleus Accumbens

zeigen, welcher für die Steuerung der Motivation zuständig ist. Zudem zeigen diese Ratten

mehr Interaktion mit ihrer Umgebung als jene, welche in einer künstlich hergestellten Um-

gebung gehalten werden. Daraus leiten die Wissenschaftler*innen ab, dass stimulusreiche

Umgebungen ein Gefühl der Verbundenheit mit dem Umfeld fördern und daher zu einem

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erhöhten Selbstwirksamkeitserleben sowie Resilienz gegen Angst, Stress und Depressio-

nen beitragen (vgl. Lambert et al. 2016: 392).

Die erhöhte Selbstwirksamkeitserfahrung, welche durch eine Verbundenheit zur natürli-

chen Umgebung entsteht, lässt sich mit dem Kohärenzgefühl erklären. Individuen nehmen

ihr Umfeld als verstehbar, handhabbar und bedeutsam wahr, was zu einem Gefühl des

Vertrauens führt, die eigenen Lebensbedingungen mit Hilfe der zur Verfügung stehenden

Widerstandsressourcen zu bewältigen. Dieses Vertrauen in die eigene Fähigkeit macht In-

dividuen dann auch resilienter gegenüber einwirkenden Stressoren (vgl. Franzkowiak et al.

2011: 63; Pauls 2013: 102 ff.).

Andrea Mora-Gallegos und Jaime Fornaguera (2018) untersuchen in ihrer Studie die Aus-

wirkungen unterschiedlicher Umgebungsbedingungen auf Angst und andere Verhaltens-

variablen, wobei Ratten zunächst für 2 Monate in einer angereicherten Umgebung und

anschließend in sozialer Isolation gehalten werden. Das Ziel ist es, die Auswirkung der

Umgebungsbedingungen auf die verschiedenen Verhaltensvariablen zu messen. Die Stu-

die zeigt auf, dass Umgebungsbedingungen sich besonders stark im frühem Lebenssta-

dium der Ratten auswirken und die Effekte bei der Reversion der Umgebungen wesentlich

geringer ausfallen. Ratten, welche in der angereicherten Umgebung gehalten wurden,

zeigten eine schnellere Eingewöhnung, ein geringeres Aufzuchtverhalten, eine Reduzie-

rung der Zeit im zentralen Bereich und eine Steigerung des Putzverhaltens. Insgesamt

weisen all diese Faktoren auf wenig ängstliche Verhaltensweisen hin.

Für die Klinische Soziale Arbeit lässt dies darauf schließen, dass besonders das frühe Le-

bensalter besonders sensibel ist, was die Beeinflussung durch Umweltbedingungen an-

geht. Die Fähigkeit des Gehirns zur Veränderung und damit auch zur Anpassung an äuße-

ren Bedingungen nimmt mit zunehmendem Alter ab, weshalb ein Wechsel in eine andere

Umgebung bei den Ratten dann auch weniger Wirkung auf neuronaler Ebene zeigte.

Die Autoren schließen mit einer wichtigen Aussage für die Klinische Soziale Arbeit: unter-

schiedliche Umgebungen mit unterschiedlich stark ausgeprägten Reizen beeinflussen die

Art und Weise, wie Menschen bestimmte Situationen wahrnehmen und mit diesen umge-

hen. Dies macht deutlich, wie viel Potenzial Interventionen, welche Einfluss auf Umweltbe-

dingungen nehmen, in sich bergen (vgl. Mora-Gallegos, Fornaguera 2018: 68).

8.3. Entwicklungsstadien

Page 69: Neurosoziotherapie in der Klinischen Sozialen ArbeitIm Theorieteil der Arbeit werden relevante Themen ... Themenanalyse ausgewertet wird. Darin wird es vor allem um das Potenzial für

67

Die Ergebnisse der untersuchten Studien zeigen auf, dass sich der Einfluss des sozialen

Umfelds und die Fähigkeit neue Dinge zu lernen in verschiedenen Lebensaltern sehr un-

terschiedlich gestaltet. Die Studie über den Einfluss angereicherter gegenüber isolierter

Umgebung auf die Entstehung ängstlicher Verhaltensweisen bei Ratten (vgl. Mora-Galle-

gos, Fornaguera 2018), welche in Tabelle 2 eingesehen werden kann, zeigt auf, dass Um-

welteinflüsse im frühen Lebensalter eine besonders starke Auswirkung auf die Ratten und

deren Verhaltensweisen haben. Der Wechsel der Umgebung zu einem späteren Entwick-

lungszeitpunkt zeigt viel weniger Wirkung und führt zu weitaus weniger Veränderungen in

den Verhaltensweisen der Tiere. Knudsen (2004) erklärt sich das Phänomen der starken

Beeinflussbarkeit im frühen Lebensalter bei Primaten durch die hohe neuronale Plastizität:

„The long-term effects of early social experiences on developmental outcomes are of high

significance. This is because early experiences occur during a time of extraordinary brain-

plasticity, when the brain is maximally capable of being programmed in an enduring way.”

(Knudsen 2004 in Parker, Maestripieri 2011: 1466)

Das Gehirn ist also lebenslänglich plastisch und lernfähig. Allerdings nimmt die Lernfähig-

keit mit zunehmendem Alter ab. Dies zeigt auch eine Studie (siehe Tabelle 2) auf, welche

sich mit der Ausbildung weißer Substanz durch intensives Klavierüben in verschiedenen

Lebensaltern befasst (vgl. Bengtsson et al. 2005). Dazu wurde bei acht männlichen Kon-

zertpianisten mittels DW-MRI retrospektiv gemessen, wie sich ausgiebiges Klavierüben in

Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter auf die weiße Substanz im Gehirn auswirkt. Die

DW-MRI zeigte eine erhöhte Myelinisierung durch neuronale Aktivität der Faserverbindun-

gen während des Klavierübens. Zudem konnte ermittelt werden, dass das Klavierüben be-

sonders in der Phase, in der Faserverbindungen noch heranreifen, Einfluss auf die weiße

Substanz nimmt und das Lernen daher in dieser Phase am leichtesten fiel (vgl. Bengtsson

et al. 2005).

Die Erkenntnisse der genannten Studien stimmen also darin überein, dass das Gehirn zu

Beginn des Lebens noch am plastischsten und formbarsten, damit aber auch am vulnera-

belsten ist. Dies lässt sich auf die Klinische Soziale Arbeit beziehen und zeigt auf, wie

wichtig es ist, Kinder und Jugendlichen in schwierigen Lebenslagen möglichst früh zu er-

reichen. Zudem weist es darauf hin, dass Klient*innen mit bereits eingefahrenen Verhal-

tensweisen zwar noch immer lernfähig sind, manche Strukturen aber bereits so tief ins

Gehirn eingebrannt sind, dass es sinnvoller ist, die Interventionen auf Entlastung, anstatt

auf Veränderung neuronaler Strukturen auszurichten.

8.4. Förderliche Bedingungen

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Welche Erkenntnisse können in Bezug auf positive Bedingungen für die Ausbildung von

Neuronen und synaptischen Verbindungen aus den analysierten Studien gewonnen wer-

den?

Brown et al. (2003) nennen als wesentliche beeinflussende Größen Hormone, Neurotrans-

mitter, Alterungsprozesse, Ernährung, körperliche Aktivität sowie stimulierende Umweltbe-

dingungen (vgl. Brown et al. 2003: 2042).

Die Vorteile stimulusreicher Umgebungen werden in mehreren Studien dargestellt (vgl.

Brown et al. 2003; vgl. Lambert et al. 2016), siehe dazu Tabelle 1 und 2. Dazu gehören die

aktive Interaktion mit der Umwelt, ein Gefühl der Kontrolle und Handhabbarkeit der äuße-

ren Umstände sowie die Ausbildung einer erhöhten Resilienz (vgl. Lambert et al. 2016:

392). Doch neben den gegebenen Umweltbedingungen wirkt sich auch kognitives Training

und das Erlernen neuer Fähigkeiten äußerst positiv auf die neuronale Plastizität aus (vgl.

Driemeyer et al. 2008; vgl. Boyke et al. 2008). Dies zeigt eine Studie, bei der die Kurzzeit-

und Langzeiteffekte des Neuerlernens des Jonglierens mittels MRT gemessen wurden.

Das Ergebnis der Studie zeigt, dass das initiale Lernen zu einer erheblichen Zunahme der

grauen Substanz im Gehirn führte, welche im weiteren Verlauf des Übens nicht weiter zu-

nahm. Daraus lässt sich schließen, dass das Erlernen neuer Fähigkeiten zu stärkeren neu-

ronalen Veränderungen führt als das Üben bereits gelernter Fertigkeiten. Das Erlernen

neuer motorischer Fähigkeiten wirkt sich also positiv auf die neuronale Plastizität aus und

führt dadurch auch zu einer besseren Anpassungsfähigkeit an die Umwelt (vgl. Driemeyer

et al. 2008).

Janina Boyke et al. (2008) untersuchen, wie sich das Erlernen von Jonglieren bei älteren

Menschen im Vergleich zu jüngeren Menschen, auswirkt. Auch bei den älteren Menschen

kommt es zu einer Zunahme der grauen Substanz, was deutlich macht, dass das Gehirn

auch im Alter noch lernfähig ist, wenn auch in geringerem Ausmaß. Dies weist auf die

Wichtigkeit hin, auch im fortgeschrittenen Alter noch geistig aktiv zu bleiben, um das Gehirn

möglichst plastisch und lernfähig zu erhalten (vgl. Boyke et al. 2008).

Richard Davidson und Bruce Ewan (2012) stellen die Frage, ob gezielte Interventionen zur

Förderung prosozialer Verhaltensweisen neuroplastische Veränderungen im Gehirn her-

beiführen können und wie die Gestaltung solcher aussehen könnte. Sie gehen dabei auch

auf das Potenzial sozialer Unterstützung für das soziale, psychische und neurobiologische

Wohlbefinden ein und zeigen damit ganz klar einen wichtigen Interventionsbereich für die

Klinische Soziale Arbeit auf (vgl. Davidson, Ewen 2012: 692).

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Soziale Unterstützung kann über soziale Netzwerke wie Familie, Freunde und Nachbarn

erschlossen werden und umfasst Informationen, Beratungen, Pflege, lebenspraktische Hil-

fen, materielle Hilfen und Geselligkeit. Soziale Unterstützung wirkt wie ein „soziales Im-

munsystem“ und führt einerseits zu einer Stärkung von Klient*innen in ihrer Alltagsbewäl-

tigung und andererseits zum Schutz vor schädlichen Einflüssen von Stressoren (vgl. Deh-

mel, Ortmann 2006: 6 f.).

Auf welche Bereiche kann die Klinische Soziale Arbeit mit ihren Interventionen tatsächlich

Einfluss nehmen? Durch soziale Netzwerkarbeit und Aktivierung sozialer Unterstützung in

den Netzwerken können klinische Sozialarbeiter*innen Einfluss auf verarmte Umwelten ih-

rer Klientel nehmen und versuchen diese gezielt zu bereichern. Auf förderliche Faktoren

wie körperliche und geistige Aktivität kann Einfluss ausgeübt werden, indem gemeinsam

mit Klient*innen im Sinne der Ressourcenaktivierung deren Interessen und Hobbys aufge-

deckt werden und körperlich und kognitiv fordernder Tätigkeiten angeregt und gefördert

werden.

8.5. Auswirkungen von Stress

Neben reizarmen Umgebungsbedingungen, negativen sozialen Interaktionen, mangelnder

körperlicher und geistiger Aktivität und Substanzkonsum stellt Stress einen weiteren Stör-

faktor für die neuronale Gesundheit von Lebewesen dar und soll im Folgenden zunächst

am Beispiel von Tierstudien näher ausgeführt und anschließend auf den Menschen über-

tragen werden. Die dargestellten Ergebnisse beziehen sich auf die Tabelle 1 und 3 der

qualitativen Metaanalyse.

Sozialer Stress zwischen Tieren ergibt sich laut Gheusi et al. (2009) aus dem Wettstreit

um Terrain, Nahrung, Wasser sowie potenziellen Fortpflanzungspartner*innen (vgl. Gheusi

et al. 2009: 218).

Maor Katz et al. (2009) stellen in ihrer Untersuchung an Totenkopfaffen fest, dass Stress

im frühen Lebensalter Auswirkungen auf die spätere Stressresilienz hat. Dabei zeigt die

Gruppe von Tieren, welche im Säuglingsalter eine Stunde pro Woche von ihrer Mutter ge-

trennt waren, im Vergleich zur Kontrollgruppe eine erhöhte präfrontale Myelinisierung und

eine Erweiterung eines Bereichs des Cortex, welcher für Erregungsregulation verantwort-

lich ist. Die Studie zeigt auf, dass ein bestimmtes Ausmaß an Stress positive Auswirkungen

auf die spätere Resilienz der Affen hat. Der erweiterte präfrontale Cortex weist zudem auf

ein geringeres Vermeidungsverhalten hin (vgl. Katz et al. 2009: 293 f.). Katz et al. weisen

darauf hin, dass der erlernte Umgang mit Stress zu einer besseren Bewältigungsfähigkeit

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herausfordernder Situationen führt. Laut Autor*innen existieren bereits Studien an Men-

schen, welche mittels bildgebender Verfahren eben diese Ergebnisse bestätigen. Es kann

also von einer Übertragbarkeit auf das menschliche Gehirn ausgegangen werden (vgl. Katz

et al. 2009: 294). Elizabeth Crofton et al. (2014) bestätigen diesen Effekt in ihrer Review

und sprechen von der Nützlichkeit eines Stressimpfungstrainings, bei dem Menschen

durch milde Stresserfahrungen Resilienz für zukünftige stressvolle Erfahrungen aufbauen.

Ähnlich dem Prinzip der Schutzimpfung, bei dem Krankheitserreger kontrolliert eingesetzt

werden, um Immunität gegen diese zu entwickeln, wird Stress gezielt genutzt, um Perso-

nen abzuhärten und für zukünftige Herausforderungen stark zu machen. Menschen, wel-

che in ihrem Leben bereits erfolgreich stressvolle Ereignisse bewältigt haben, weisen eine

bessere physische und psychische Gesundheit auf und können besser mit Krisensituatio-

nen umgehen (vgl. Crofton et al. 2014: 22).

Interessant für die Klinische Soziale Arbeit ist in diesem Kontext die Frage, wieviel Stress

notwendig ist, um Resilienz bei der Klientel aufzubauen. Diese Fragen muss immer im

Hinblick auf die Vorerfahrungen und neurobiologische Verfassung von Fall zu Fall beant-

wortet werden. Wesentlicher Faktor zur Förderung der Resilienz ist die Selbstwirksamkeits-

erfahrung der Klient*innen, also die Erfahrung, Anforderungen erfolgreich bewältigen zu

können. Klient*innen möglichst viele solcher positiver Erfahrungen machen zu lassen, kann

durchaus eine wichtige Aufgabe der behandelnden Sozialarbeiter*innen sein, wenn es um

die Stärkung der psychischen Widerstandsfähigkeit der Klient*innen geht (vgl. Fröhlich-

Gildhoff et al. 2010: 45).

Doch leider hat Stress, besonders extremer und langanhaltender Stress, nicht selten ver-

heerende Auswirkungen auf das Gehirn. So zeigen Elizabeth Gould et al. (1997), dass

extreme Stresssituationen zu einer Unterdrückung der Zellproliferation, sprich einer Stag-

nierung von Zellwachstum und Zellteilung, bei Spitzhörnchen führt, womit auch keine Neu-

rogenese mehr stattfinden kann. Die Autoren machen deutlich, dass der Gyrus dentatus

bei allen Säugetieren, welche die adulte Neurogenese durchlaufen, bei bedrohlichen Er-

fahrungen mit der Unterdrückung der Zellproliferation reagiert. Somit trifft dieses Phäno-

men auch auf den Menschen zu (vgl. Gould et al. 1997).

Ajai Vyas et al. (2002) zeigen in ihrer Untersuchung der Auswirkungen zweier verschiede-

ner Modelle chronischen Stresses bei Ratten auf, dass chronischer Stress zu einer Disso-

ziation von Hippocampus und Amygdala führen kann. Der Stress hat eine so starke Aus-

wirkung auf die Amygdala, dass der Einfluss des Hippocampus außer Kraft gesetzt wird.

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71

Dies kann zu einer dauerhaften Unterbrechung der Nervenverbindungen führen und in ein-

seitig durch die Amygdala gesteuerte, gefühlsbetonte Handlungen münden (vgl. Vyas et

al. 2002).

Chronischer sozialer Stress der sozialen Niederlage bei männlichen Mäusen führt zu einer

Veränderung der synaptischen Konnektivität, was ein soziales Vermeidungsverhalten her-

vorbringt. Dabei führt die soziale Unterlegenheit in der Rangordnung die Ausbildung neuer

Dornenfortsätze im Gehirn, welche ein Verhalten sozialer Vermeidung bewirken. Die struk-

turellen neuronalen Veränderungen steuern also direkt die Verhaltensweisen (vgl. Chris-

toffel et al. 2011).

Britta Hölzel et al. (2009) machen in ihrer Studie deutlich, dass eine Verringerung von

Stress in direkter Korrelation mit strukturellen Veränderungen der Amygdala steht. Bei der

Studie nahmen Proband*innen teil, die ihr Stresslevel anhand des Perceived Stress

Scale’s als sehr hoch einschätzten. Die Freiwilligen wurden vor und nach der Partizipation

an einem 8-wöchigen achtsamkeitsbasierten Stressreduktionsprogramms mittels fMRT un-

tersucht. Die Werte der Stressreduktion korrelierten bei allen Teilnehmenden mit der Ver-

änderung der Dichte der grauen Substanz in der Amygdala. Je geringer das Stresslevel

nach Abschluss des Achtsamkeitsprogramms war, desto geringer war auch die Dichte der

grauen Substanz in der Amygdala. Das Interessante an der Studie ist, dass allein durch

die verringerte subjektive Empfindung von Stress auch eine verringerte Dichte in der

Amygdala aufzufinden war. Das bedeutet, dass nicht die Anforderungen und stressauslö-

senden Faktoren an sich verringert wurden, sondern dass sich tatsächlich allein durch ein

Umlernen des Umgangs mit Stress positive neuronale Veränderungen einstellten (vgl. Höl-

zel et al. 2009). Dies liefert wichtige Implikationen für die Bedeutung von Reframing und

Umlernen für eine neurobiologisch ausgerichtete Soziotherapie, besonders wenn es um

den Umgang mit Stress geht.

Welche Rolle spielt die Klinische Soziale Arbeit darin, unerwünschten Auswirkungen von

Stress entgegenzuwirken und welchen theoretischen Konzepten kann sie sich dazu bedie-

nen?

Die Vermittlung sozialer Unterstützung ist eine wesentliche sozialtherapeutische Interven-

tion, welche zum einen direkt auf das Wohlbefinden des Individuums wirkt und zum ande-

ren einen Puffer zwischen Stressor und Belastungsreaktion bildet. Die Integration in ein

soziales Netzwerk und die daraus empfangenden Unterstützungsleistungen verhelfen bei

auftretenden Stressereignissen dazu, diese besser zu bewältigen und somit negative Fol-

gen abzufedern (vgl. Dehmel, Ortmann 2006: 12 ff.; vgl. Pauls 2013: 84).

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Aber auch die generalisierten Widerstandsressourcen, welche im Ansatz der Salutogenese

verankert sind, verhelfen Menschen zu einem konstruktiven Umgang mit Stressoren. Als

Widerstandsressource werden all jene Ressourcen bezeichnet, die Personen resilient ge-

genüber Stress machen. Dies können persönliche, soziale, gesellschaftliche oder kulturelle

Ressourcen sein. Eine gezielte Aktivierung der verfügbaren Widerstandsressourcen, um

Klient*innen vor den in diesem Kapitel genannten negativen neurobiologischen Auswirkun-

gen zu schützen, ist eine wichtige sozialtherapeutische Maßnahme (vgl. Franzkowiak et al.

2011: 62).

8.6. Nutzungs- und erfahrungsabhängige Neuroplastizität

Die geschilderten Studienergebnisse liefern wichtige Hinweise darauf, dass das Ausmaß

der neuronalen Plastizität, über das ein Mensch verfügt, stark von der Nutzung der synap-

tischen Verschaltungen abhängig ist, ganz nach der Devise „use it or lose it“ (Grawe 2004:

31).

Dass sich das Üben oder Erlernen neuer Fähigkeiten positiv auf die Neuroplastizität aus-

wirkt, wurde bereits in einigen Studien nachgewiesen, siehe dazu Tabelle 2 (vgl. Driemeyer

et al. 2008; vgl. Boyke 2008). Die Ergebnisse der Studie „Evidence for Neurocognitive

Plasticity in At-Risk Older Adults: The Experience Corps Program“ (Carlson et al. 2002)

weisen aber zudem auf die nutzungsabhängige Plastizität des Gehirns, besonders im er-

höhten Alter, hin. In der Studie wurden die Auswirkungen von freiwilliger Partizipation an

einem sozialen Programm auf die kognitive Funktion bei gefährdeten älteren Menschen

untersucht. Es konnte nach Beendigung der Teilnahme eine erhöhte neuronale Plastizität

bei allen Teilnehmenden festgestellt werden. Diese kann durch die Nutzung und Reakti-

vierung von Fähigkeiten erklärt werden. Die Ergebnisse liefern wichtige Hinweise für die

gezielte Planung von Interventionen zur Förderung kognitiver Gesundheit im höheren Le-

bensalter.

Die Studie zum Erlernen von Jonglieren durch ältere Menschen von Boyke et al. (2008)

zeigt auf, dass das Trainieren kognitiver Fähigkeiten im fortgeschrittenen Alter von äußers-

ter Wichtigkeit ist, um neuronale Plastizität und kognitive Fähigkeiten aufrecht zu erhalten

(vgl. Boyke et al. 2008).

Neben der Wichtigkeit der Nutzung synaptischer Verschaltung zur Aufrechterhaltung, ist

die Art der Erfahrungen, die ein Mensch macht, wichtig dafür, wie sich die Verschaltungen

gestalten. Das Gehirn verändert sich immer in Anpassung an die Anforderungen und Mög-

lichkeiten der Umwelt. Es unterliegt dabei einer kontinuierlichen Reorganisation, um sich

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den Erfordernissen von außen anzupassen. Die Art der Erfahrung bestimmt dabei die Art

der Plastizität. Lernen führt zur Synaptogenese und Neurogenese im Gyrus dentatus, kör-

perliche Bewegung hingegen führt zu Angiogenese (Wachstum von Blutgefäßen) und Neu-

rogenese (vgl. Markham, Greenough 2004: 352 ff.).

Das bio-psycho-soziale Modell macht deutlich, wie psychosoziale Erfahrungen und neuro-

biologische Strukturen sich gegenseitig bedingen. Die Art der Erfahrungen bestimmt, wel-

che Areale sich im Gehirn wie verändern. Die neuronalen Verschaltungen wirken dann

wiederum zurück auf das Verhalten und die Gestaltung von Beziehungen und Umwelt.

8.7. Therapeutische Beziehung

Da die Studienlage zur Auswirkung sozialarbeiterischer Interventionen auf das Gehirn lei-

der sehr gering ausfällt bzw. praktisch nicht vorhanden ist, wurden einige Studien näher

analysiert, welche sich mit dem Effekt von Psychotherapie beschäftigen (siehe Tabelle 4).

Die Auswirkungen können zumindest teilweise im Sinne der Wirksamkeit therapeutischer

Beziehungen auf die Klinische Soziale Arbeit übertragen werden.

So stellen Stephen Martin et al. (2018) fest, dass sich interpersonale Psychotherapie mess-

bar positiv auf die Hirnaktivität in Basalganglien (Planen, Denken, Motorik) sowie Arealen

des limbischen Systems (Emotionen, Triebverhalten) bei depressiven Klient*innen aus-

wirkt. Diese Form der Psychotherapie ist methodisch nah an der Sozialtherapie zu veror-

ten, da der Fokus auf sozialen Beziehungen und sozialer Unterstützung liegt (vgl. Marano

et al. 2012: 447).

Verhaltenstherapie, welche durch Dichter et al. (2010) und Goldapple et al. (2004) unter-

sucht wurde, bewirkt Veränderungen im Gyrus cinguli, in der Großhirnrinde, im rechten

orbitalfrontalen Cortex sowie im rechter Frontalpol des Frontallappens.

Es wird also ersichtlich, dass besonders Regionen angesprochen werden, welche Teil des

limbischen Systems sowie der Großhirnrinde sind. Während das limbische System unsere

Emotionen und Gefühle steuert, ist die Großhirnrinde für Verstand und Denken sowie ziel-

orientiertes Handeln verantwortlich, wobei erlernte Emotionen hier abgespeichert und emo-

tionale Stimuli durch den Cortex bewertet werden.

„The amygdala and prefrontal cortex and their interconnections have been strongly impli-

cated in emotion regulation and well-being, and dysfunctions and/or structural abnormali-

ties in their interconnections have been implicated in psychopathology” (Davidson, Ewen

2012: 692).

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Hier wird wieder ersichtlich, wie wichtig es ist, ein Grundverständnis darüber zu entwickeln,

welche Vorgänge auf neuronaler Ebene bei Klient*innen vor sich gehen, wenn eine thera-

peutische Intervention durchgeführt wird, um sich deren Reichweite bewusst zu werden.

Auch wenn in diesem Kapitel spezifische psychotherapeutische Interventionen vorgestellt

wurden, welche zu den Veränderungen der besagten Hirnareale geführt haben, so sollte

die Relevanz einer helfenden therapeutischen Beziehung nicht außer Acht gelassen wer-

den. Für die Klinische Soziale Arbeit kann es daher durchaus hilfreich sein, sich mit der

Studienlage vertraut zu machen und Erkenntnisse für die eigene therapeutische Arbeit da-

raus zu ziehen. Erstrebenswert wäre es natürlich, wenn Sozialarbeiter*innen mit Hilfe von

bildgebenden Verfahren eigene Studien zur Wirkung sozialtherapeutischer Interventionen

durchführen würden, um die Wirksamkeit nachzuweisen und am wissenschaftlichen Dis-

kurs teilzuhaben.

Durch sozialtherapeutische Interventionen kann auf alle drei Ebenen des bio-psycho-sozi-

alen Modells Einfluss genommen werden. Interventionen, wie soziale Netzwerkarbeit und

Ressourcenaktivierung, welche auf die soziale Ebene abzielen, wirken immer auch auf das

psychische und physische Wohlbefinden sowie neurobiologische Strukturen. Die Förde-

rung eben dieses Zusammenspiels durch die Klinische Soziale Arbeit schützt vor einer

Anfälligkeit für Krisen und Krankheiten (vgl. Pauls 2013: 32).

8.8. Interventionsaspekte für die Klinische Soziale Arbeit

Welche Interventionsmöglichkeiten für die Klinische Soziale Arbeit ergeben sich aus den

in diesem Kapitel diskutierten Erkenntnissen?

Zunächst einmal werden bio-psycho-soziale Wirkungszusammenhänge ersichtlich. Sozial-

therapeutische Interventionen wirken sowohl auf sozialer, psychologischer, physischer als

auch auf neurobiologischer Ebene. Dieses Potenzial kann ganz gezielt genutzt werden,

indem das Zusammenspiel der Gesundheitskomponenten gefördert wird, um ein möglichst

umfassendes Wohlbefinden von Klient*innen zu gewährleisten (vgl. Pauls 2013: 32).

Das Wissen über die neurobiologischen Auswirkungen reizarmer Umgebungen ermöglicht

es Sozialtherapeut*innen gezielt Interventionen zu ergreifen, welche das Umfeld berei-

chern. Dazu gehört unter anderem die Aktivierung von sozialen, gesellschaftlichen und

kulturellen Ressourcen, die Integration in soziale Netzwerke sowie die Aktivierung sozialer

Unterstützung (vgl. Dehmel, Ortmann 2006: 12 ff.; vgl. Pauls 2013: 84).

Negative Auswirkungen psychosozialer Stressoren können durch das Aufdecken und Aus-

bauen generalisierter Widerstandsressourcen, die Aktivierung sozialer Unterstützung, wel-

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che vor den schädlichen Einflüssen von Stressoren schützt sowie der Arbeit an Resilien-

zen, welche durch förderliche soziale Umwelten gestärkt werden, abgemildert werden.

Diese Interventionen fördern dabei die Bildung neuer Neuronen sowie den Aufbau synap-

tischer Verbindungen im Gehirn und tragen damit zur neurobiologischen Gesundheit bei.

Aber auch ein Umlernen des Umgangs mit Stress kann eine hilfreiche Intervention sein,

um Stress mitsamt den negativen Auswirkungen auf Klient*innen zu senken (vgl. Hölzel et

al. 2009). Das sogenannte Stressimpfungstraining kann Personen zudem durch gemäßigte

Konfrontation resilienter gegen Stress machen (vgl. Crofton et al. 2014: 22).

Die Erkenntnis, dass das Gehirn besonders zu Beginn des Lebens plastisch und formbar

ist, macht die Wichtigkeit deutlich, Kinder und Jugendliche, welche unter problematischen

Bedingungen aufwachsen und dauerhaftem psychosozialem Stress ausgesetzt sind, mög-

lichst früh mit professioneller Hilfe zu erreichen. Zum einen um diese vor weiteren schädi-

genden Einflüssen zu schützen und zum anderen, weil sie viel empfänglicher für Interven-

tionen sind und diese durch die hohe neuronale Plastizität mehr Wirkung zeigen als im

Erwachsenenalter. Aber auch für Menschen mittleren oder sogar hohen Alters lassen sich

wichtige Erkenntnisse ableiten. Damit das Gehirn lebenslänglich möglichst plastisch und

lernfähig bleibt, müssen die synaptischen Verbindungen durch kognitives Training genutzt

werden (vgl. Boyke et al. 2008). Auch körperliche Aktivität und eine gesunde Ernährung

wirken sich positiv auf die neuronale Plastizität aus und sollten unbedingt im Sinne der

Förderung eines gesunden Lebensstils Teil klinisch-sozialarbeiterischer Beratung und Be-

handlung sein (vgl. Brown et al. 2003: 2042).

Die Ergebnisse der Metaanalyse zeigen das Potenzial auf, welches in der Auseinanderset-

zung mit den sozialen Dimensionen neurowissenschaftlicher Forschungserkenntnisse

liegt. Es werden verschiedene Bereiche deutlich, in denen eine starke Wechselwirkung

zwischen sozialen Erfahrungen und neuronalen Vorgängen des Gehirns besteht. Das Ver-

ständnis darüber, wie psychosoziale Faktoren auf neuronaler Ebene wirken, kann Auf-

schluss über mögliche Interventionen für die Klinische Soziale Arbeit geben. Die Studien-

ergebnisse weisen zudem die Perspektive für die Klinische Soziale Arbeit auf, durch die

Aneignung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse gezielte Interventionen abzuleiten und

zu setzen und mit Hilfe bildgebender Verfahren die Wirksamkeit dieser nachzuweisen.

Nicht zuletzt eröffnet dies auch die Möglichkeit der Teilhabe am wissenschaftlichen Dis-

kurs.

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Tab. 1: Qualtitative Metaanalyse

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Tab. 2: Qualitative Metaanalyse

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Tab. 3: Qualtitative Metaanalyse

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Tab. 4: Qualtitative Metaanalyse

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9. Interviewergebnisse

9.1. Nutzen neurobiologischen Wissens

Der Experte geht im Interview auf unterschiedliche Gründe ein, warum es gewinnbringend

für Klinische Sozialarbeiter*innen sein kann, sich neurobiologisches Wissen für die bera-

tend-behandelnde Arbeit mit Klient*innen anzueignen. Diese sollen im Folgenden näher

ausgeführt werden.

Verständnis für Klient*innen

Zunächst einmal wird darauf eingegangen, dass ein Verständnis von grundlegenden Vor-

gängen im Gehirn die Voraussetzung ist, um menschliche Verhaltensweisen zu verstehen.

„Ich kann mir nicht einfach irgendwas ausdenken, wenn ich nicht weiß tatsächlich, wie das

Gehirn funktioniert. Ich muss es wissen, das ist das zentrale Organ, mit dem ich zu tun

habe und wenn ich nicht weiß, wie Hirnfunktionen erklärbar sind, dann weiß ich einfach zu

wenig." (Z. 95-98).

Dem Experten zufolge ist eine intuitive Herangehensweise an die Arbeit mit Menschen, die

nicht auf Wissen basiert, nicht akzeptabel. Er sieht die Aneignung neurobiologischer Kennt-

nisse als Grundvoraussetzung für die Arbeit mit Klient*innen.

Ein solches Wissen ermöglicht dann auch ein besseres Verständnis für Klient*innen und

deren komplexe Problemlagen, „weil ich kann mit Menschen nicht arbeiten, wenn ich nicht

verstehe, wie ihr Gehirn funktioniert. Und wenn ich dann verschiedene Aspekte beleuchte,

dann ist mir vieles klarer." (Z.30-32)

Eine konkrete Vorstellung davon, was bei bestimmten Erkrankungen oder Verhaltenswei-

sen auf neuronaler Ebene vor sich geht, ermöglicht ein tieferes Verständnis für Klient*innen

und wirkt sich dementsprechend auch auf die Haltung und den Umgang mit diesen aus.

„Dann denkt man immer, Borderline um Gottes Willen, mit denen komm ich gar nicht zu-

recht, wenn man aber hier mal sieht, was da passiert, dann kriegt man ein ganz anderes

Verständnis und das ist meines Erachtens ein entscheidender Punkt, wie ich dann auch

mit Patienten umgehe.“ (Z. 103-107)

Dieses Erfassen des Menschen nicht nur aus einer biologischen, psychologischen oder

sozialen, sondern auch aus einer neurobiologischen Perspektive, wirkt sich nicht zuletzt

auf die Kompetenz praktizierender Sozialarbeiter*innen aus.

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„Und wenn ich dieses Wissen, dieses Verständnis aus sozialarbeiterischer Sicht habe,

dann kann ich meines Erachtens viel besser arbeiten." (Z. 80-82)

Professionelle Haltung

Wie bereits erwähnt, ermöglicht das Wissen über neurobiologische Vorgänge ein tieferes

Verständnis für die Problemlagen von Klient*innen und führt dadurch auch zu einer be-

stimmten Haltung, welche in der Beratung und Betreuung ihren Ausdruck findet.

„Und ich glaube, dass man über dieses Wissen ein ganz anderen Zugang hat in seiner

Haltung gegenüber Menschen, die betroffen sind, in der Betreuung, in der Behandlung, im

Verständnis und dass man das nicht dann über die Charakterschwäche von jemanden sich

zu erklären versucht, sondern dass man damit, meines Erachtens, einen professionellen

Zugang hat zu Problemen, mit denen Menschen eben zu tun haben." (Z. 45-50)

Diese professionelle Haltung ermöglicht es dann auch, ein Verständnis dafür zu entwi-

ckeln, dass abweichende Verhaltensweisen seitens der Betreuten zu einem Großteil ihrer

neurobiologischen Disposition zugeschrieben werden können. Dies erleichtert es schwie-

riges Verhalten nicht persönlich zu nehmen und eine professionelle Distanz wahren.

„Und das gehört aber mit dazu, wenn man weiß, dass es hier tatsächlich auch Entspre-

chungen gibt für Verhaltensweisen und Empfindungen, dann ist es glaub ich viel leichter

dann auch die Professionalität zu wahren, auch die therapeutische Distanz, die notwendige

und dass man auch die Dinge, die einem widerfahren nicht sich selbst zuschreibt, also die

Attribuierung ist meines Erachtens schon viel eher möglich im Sinne auch der Zuschrei-

bung zu einer Erkrankung und nicht, dass man das persönlich als Angriff auf sich selber

versteht." (Z. 111-117)

Kompetenz

Nach Meinung des Experten gibt neurobiologisches Wissen Sozialarbeiter*innen eine

breite Basis in ihren professionellem Handeln (vgl. Z. 231-232). Neurobiologische Sach-

kenntnisse werden also als eine Grundlage gesehen, auf die sozialarbeiterische Interven-

tionen aufbauen können. Der Einsatz dieses Zusatzwissens in die Behandlung ermöglicht

dabei kompetentes Handeln.

„Was die Kompetenz angeht, das seh ich ebenso wie ich‘s geschildert habe, über das Wis-

sen, ganz bewusst, gezielt […] also der Einsatz dieses Wissens, dieser Erfahrung in der

direkten Handlung mit den Patienten." (Z. 211-214)

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Dass sich sozialarbeiterische Interventionen dann auch noch messbar auf neuronale Akti-

vitätsmuster der behandelten Klient*innen auswirken, führt nochmals zu einer Bestärkung

der behandelnden Sozialarbeiter*innen in ihrem Können.

„Also von daher denke ich wirkt sich das dann auch auf meine Sicherheit im Umgang damit,

was meine Kompetenzen angeht, mit Sicherheit aus.“ (Z. 241-242)

Motivation

Der Interviewte geht zudem noch auf den Aspekt der Motivation ein, welcher sich aus einer

vertieften Auseinandersetzung mit den Neurowissenschaften und der Erkenntnis ergibt,

dass Sozialarbeitsinterventionen sich unmittelbar neuronal auswirken.

„Wenn ich mir das vorstellen kann, was hier passiert, bin ich vielleicht etwas stärker moti-

viert, unterstützt, dass in der Weise dann auch tatsächlich durchzuführen." (Z. 158-160)

Zielgerichtete Intervention

Um bestmöglich von den Neurowissenschaften profitieren zu können, solle neurobiologi-

sches Wissen gezielt in die Praxis Klinischer Sozialer Arbeit integriert werden, „indem eben

auch die Beratung/Begleitung dieses Wissen mit einbezieht.“ (Z. 53)

Das Wissen über neuronale Vorgänge gibt den praktizierenden Sozialarbeiter*innen ein

Fundament, auf das sie ihre Handlungen aufbauen und mit Hilfe dessen sie diese theore-

tisch begründen können und ermöglicht es ihnen, ihre Interventionen zielgerichteter zu pla-

nen und durchzuführen.

"Und mit dem Wissen hat man dann eine andere Fundierung für das, was man tut. Man ist

vielleicht sicherer und zielgerichteter, versucht man dann den therapeutischen Prozess

noch nachhaltiger zu konstatieren." (Z. 169-172)

Es wird möglich, Interventionen ganz gezielt zu setzen, um Veränderungen auf neurobio-

logischer Ebene herbeizuführen. Zum Beispiel „bei frühkindlichen Störungen, bei der Be-

gleitung durch die jeweiligen Eltern, da kann man ja auch deutliche Veränderungen setzen,

die sich dann eben neurobiologisch auswirken" (Z. 59-61).

Das Begreifen neurobiologischer Abläufe und Prozesse ermöglicht deren bewusste und

gezielte Aktivierung durch den/die behandelnde(n) Sozialarbeiter*in, welche versucht

„eben ganz bewusst […] da einzugreifen, um diese Prozesse in Gang zu setzen." (Z. 151-

153).

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9.2. Auswirkungen auf das Menschenbild

Im Folgenden soll näher ausgeführt werden, wie sich das Verständnis neurobiologischer

Zusammenhänge und Bedingungsgefüge auf das Menschenbild als Sozialarbeiter*in aus-

wirkt und welche Rolle Psychoedukation in einer neurowissenschaftlich ausgerichteten So-

zialtherapie einnimmt.

Neurobiologische Determiniertheit

Verhaltensweisen und psychosoziale Erkrankungen sind zu einem Großteil durch äußere

psychosoziale Bedingungen sowie unbewusst ablaufende biologische Prozesse bestimmt.

Das bedeutet, dass jeder Mensch zu einem gewissen Ausmaß neurobiologisch determi-

niert ist. Dieses Wissen ist von entscheidender Bedeutung für die beratend-behandelnde

Arbeit mit Menschen in prekären Gesundheitslagen.

„Dass mir dann völlig klar ist, sie sind mehr oder weniger auch in Abhängigkeit ihrer Hirn-

funktion mit ihrer Symptomatik auffällig.“ (Z. 107-108)

Es verhilft Sozialarbeiter*innen dazu, „dass man jemandem das nicht persönlich ankreiden

darf, sondern das auch Ausdruck der Disposition“ ist (Z. 56-57).

Klient*innen sind biochemischen Prozessen, die in ihren Gehirnen ablaufen, also ausge-

liefert. Wichtig für Sozialarbeiter*innen ist es dabei, „dass ich dem Menschen, den jeweili-

gen Klienten, unterstützen kann, indem ich ihm das auch erkläre, das ihm deutlich mache:

da laufen manche Prozesse ab, wo du nicht für verantwortlich bist, sondern das ist das

Ergebnis von...“ (Z. 67-70).

Psychoedukation

Die Psychoedukation2 ist hierbei also ein ganz wichtiger Punkt, der es Klient*innen ermög-

lichen soll, ein Verständnis ihrer Erkrankungen zu entwickeln, um Expert*innen ihrer eige-

2 Bei der Psychoedukation handelt es sich um einen Behandlungsansatz, bei dem Klient*innen und deren

Angehörigen wichtiges Wissen über ihre Erkrankung vermittelt wird. Themenbereiche umfassen die Aufklärung

über Ursachen und Symptome psychischer Krankheiten, Wirkung und Umgang mit Medikamenten sowie die

Möglichkeiten des Umgangs innerhalb Familie oder Partnerschaft. Der Ansatz ermöglicht die Mitwirkung von

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nen Problematik zu werden. Grundvoraussetzung dafür ist zunächst, dass der/die behan-

delnde Sozialarbeiter*in über besagtes Wissen verfügt, um Klient*innen dazu zu verhelfen,

sich selbst besser zu verstehen.

„Wir haben also Verständnis dafür und das gehört mit dazu, dass man jemanden auch

darin unterstützt Experte seiner eigenen Problematik zu werden, um dann auch manches

zu verstehen." (Z. 70-72)

In der Betreuung psychisch kranker Menschen ist die Psychoedukation von besonderer

Wichtigkeit, um Klient*innen zu vermitteln, dass bestimmte ablaufende biochemische Pro-

zesse in ihrem Gehirn für ihre Wahrnehmung der Realität verantwortlich sind.

„Wie zum Beispiel auch in der Begleitung von Patienten mit Psychosen, das ist für mich

immer so ein Paradebeispiel, wenn ich weiß, wie ich mir eine Halluzination erklären kann,

dann weiß ich, ich bin nicht verrückt, sondern mein Gehirn vermittelt mir das. Das ist ein

Aktivitätsmuster meines Gehirns, ohne dass es eines externen Reizes bedarf. Und deshalb

bilde ich mir das nicht ein, sondern es findet wirklich statt und das, was ich wahrnehme ist

real, aber meine eigene Realität, das ist die Realität, die mein Gehirn erzeugt und nicht im

Sinne von ‚Ich bilde mir etwas ein und ich spinne, ich bin verrückt‘." (Z. 72-79)

Die Aufklärung ist nicht zuletzt so wichtig, um Klient*innen davor zu bewahren, sich auf

Grund ihrer Erkrankung selbst zu stigmatisieren. Das Wissen über die eigene Erkrankung

ermöglicht es Akzeptanz für diese zu entwickeln und befähigt Betroffene dazu, selbstbe-

stimmter zu leben.

Menschenbild

Krankheiten und Verhaltensweisen als Ergebnis neuronaler Dispositionen zu sehen, wel-

che durch psychosoziale Erfahrungen entstanden sind, prägt das Menschenbild ganz er-

heblich. Es führt dazu, Fehlverhalten und Problemlagen nicht im Individuum selbst zu su-

chen, sondern diese in äußeren Bedingungen und Erfahrungen begründet zu sehen.

„Das ist für mich etwas ganz, ganz Wichtiges und dann mit dem Menschenbild eben, klar,

Ausdruck eben von Sozialisation, Disposition, wie auch immer…, dass wir es mit dem Er-

gebnis zu tun haben, was jemand erfahren hat." (Z. 117-119)

Patient*innen und Angehörigen am Behandlungsprozess (vgl. Pauls 2013: 342 f.).

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Dies führt zu einer empathischen und akzeptierenden Grundhaltung, welche abweichende

Verhaltensweisen nicht im Charakter des Betreffenden sucht, sondern sich bewusst ist,

dass jeder Mensch gewissen biologischen Prozessen ausgeliefert ist, die er nicht steuern

kann. Besonders anschaulich wird dies, wenn es um das Thema Sucht geht.

„Und darüber denke ich wird a) klar, dass niemand davor gefeit ist, in eine Abhängigkeit zu

geraten und b), dass es nicht mit irgendwelchen Charakterdefiziten zu tun hat, wenn je-

mand in eine Abhängigkeit gerät, sondern dass tatsächlich jeder von uns in unserer Ge-

sellschaft abhängig werden kann, egal von welchem Stoff oder von welcher Verhaltens-

weise." (Z. 40-45).

9.3. Entwicklung einer Neurosoziotherapie

Der Experte spricht im Zusammenhang mit der Erweiterung des Kompetenzprofils Klini-

scher Sozialarbeiter*innen und in Anlehnung an die Neuropsychotherapie nach Grawe

(2004) von einer Neurosoziotherapie, welche sich durch den gezielten Einsatz neurobiolo-

gischen Wissens in die beratend-behandelnde Arbeit mit Klient*innen auszeichnen würde.

„Was die Kompetenz angeht, das seh ich ebenso wie ich‘s geschildert habe, über das Wis-

sen, ganz bewusst, gezielt auch mehr oder weniger ‚Neurosoziotherapie‘, 3also das wäre

dann möglicherweise der Begriff dafür, also der Einsatz dieses Wissens, dieser Erfahrung

in der direkten Handlung mit den Patienten." (Z. 211-214)

Nachfolgend sollen die verschiedenen Komponenten näher ausgeführt werden, welche

eine solch spezialisierte Form der Sozialtherapie laut dem Experten beinhalten könnte.

Zwischenmenschliche Beziehung

Grundvoraussetzung dafür, neurobiologisches Wissen gezielt in die Soziotherapie mit ein-

fließen zu lassen ist es, sich des eigenen Einflusses auf Klient*innen bewusst zu werden

„, dass man ja auch weiß, wenn ich mit jemandem zu tun habe, wirkt sich das aus." (Z.54).

Dabei ist es wichtig, sich nicht nur des Einflusses bewusst zu sein, sondern auch eine

Vorstellung davon zu entwickeln, wie sich soziale Interaktion im Gehirn niederschlägt.

3 Die zugrundliegende sozialtherapeutische Grundrichtung wäre hier eine verhaltensorientierte Sozialtherapie, da es sehr stark um Prozesse des Neulernens bzw. Umlernens auf neuronaler Ebene geht (vgl. Deloie, Lammel

2017: 104).

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„Aber mir ist es zumindest klar, dass jede Interaktion, die in unterstützender Weise durch-

geführt wird, das die etwas bewirkt. Dass man sich das dann auch vorstellen kann, dass

da eben Synapsen gebildet werden.“ (Z. 154-157)

Zwischenmenschliche Interaktion hat eine unmittelbare Auswirkung auf das Gehirn. Sich

dieser Verantwortung als Sozialarbeiter*in bewusst zu sein und im positiven Sinne für die

therapeutische Arbeit einzusetzen sieht der Interviewte hierbei als elementar.

„Dass man weiß, man hat Zugang zu [Hilfefunktionen] aber eben auch durch die Interak-

tion, dass es also nicht nur über irgendwelche Stoffe, über Medikamente geht, sondern

auch mein Verhalten wirkt sich aus und dass ich eben mit entsprechender professioneller

Begleitung Prozesse unterstützen kann, die sich dann positiv auswirken in der Behandlung

[...] " (Z 63-67)

Wie bereits im Theorieteil der Arbeit aufgezeigt wurde, verfügen Menschen über ein neu-

ronales Spiegelsystem, welches empfindlich auf Gesichtsausdrücke, Blicke und Worte des

Gegenübers reagiert (vgl. Schmitt 2012: 13). Im Beratungssetting können Klinische Sozi-

alarbeiter*innen sich dieses ganz gezielt zu eigen machen, um Empathie zu vermitteln, das

Vertrauen zu fördern und neuronale Prozesse in Gang zu setzen.

„Beispielsweise nur ein freundlicher Blick hat ja schon Auswirkungen. Der lässt ja beim

Gegenüber dann auch in der Bewertung auch eher Dopamin in der Nähe des Belohnungs-

zentrums ausschütten.“ (Z.163-165)

Gestaltung der Therapie

Wenn es um die Gestaltung der Therapie geht, ist es zunächst einmal wichtig, für verschie-

dene Herangehensweisen und Unterstützungsmaßnahmen offen zu bleiben, „dass man

sagt, okay, wie können wir unterstützen. Dann ist man vielleicht auch offener für Medika-

tion, dass man versucht aus verschiedenen Richtungen das Ganze zu unterstützen. Auch

Verständnis eben für andere Paradigmen. Also ich denke es macht auch offener für mög-

liche Wirkung.“ (Z. 172-175)

Der Experte betont, dass es nicht den einen richtigen Weg gebe und man daher immer

versuchen sollte, Klient*innen aus möglichst vielen Richtungen zu unterstützen, wobei es

auf die Erreichung des Endziels ankomme.

„Und da gibt’s nicht immer nur das Alleinseligmachende, sondern da führen viele Wege

zum Ziel und haben letztendlich eine gemeinsame [Endstrecke].“ (Z. 175-177)

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Bei der konkreten Gestaltung der Sozialtherapie kommt es darauf an, positive neuronale

Prozesse anzuregen, indem zum Beispiel auch Berührungen gezielt eingesetzt werden.

„Beispielsweise dann auch mal eine Berührung, die Hand auf den Arm legen oder so, dass

man das dann tatsächlich auch bewusst einsetzt.“ (Z. 194-195)

Dabei ist es immer wichtig abzuwägen, worauf der/die Klient*in anspricht um dann „im bes-

ten Sinne für den Betreffenden tätig zu werden, um diese Prozesse auch möglichst zu

unterstützten, was auch Haptik und die Sensibilität auch noch dabei ist und nicht nur über

Akustik, über Sprache, über die Modulation der Stimme, sondern auch über taktile Mo-

mente auch etwas dazu beitragen, um einen Prozess in Gang zu setzen, der für den Be-

treffenden positiv ist." (Z.195-200)

Neben dem Medium der Sprache und der Berührung ist es immer auch wichtig, die emoti-

onale Ebene beim Gegenüber anzusprechen und zu aktivieren (vgl. Z. 191).

Hüther (2006) geht auf die Wichtigkeit der emotionalen Ebene für die Ausbildung neuer

Synapsen ein. Damit sich Wissen nachhaltig im Gehirn verankert, muss beim Erlernen

neuer Fähigkeiten und Fertigkeiten eine emotionale Komponente vorhanden sein. Dies ist

vor allem dann möglich, wenn Erfahrungen selbst gemacht und als bedeutsam erachtet

werden. Daher sollte der Fokus der Soziotherapie immer auf der Aktivierung der intrinsi-

schen Motivation der Klient*innen liegen (vgl. Hüther 2006).

Die Maxime, unter der der Hilfeprozess stattfindet, sollte dabei immer sein, „das Bestmög-

liche für den Patienten damit zu bezwecken, dass man diese Prozesse unterstützt“ (Z. 167-

169).

Handlungsmöglichkeiten

Welche Handlungsmöglichkeiten ergeben sich für eine Neurosoziotherapie?

Der Interviewte hält den Frontalhirnbereich als besonders relevanten Bereich des Gehirns

fest, wenn es um Störungen der Persönlichkeit sowie des Sozialverhaltens geht (vgl. Z.

135-137). Klinische Sozialarbeiter*innen, welche aus der Perspektive einer Neurosoziothe-

rapie arbeiten, wären daher dazu aufgerufen, das Verhalten ihrer Klient*innen immer wie-

der in Bezug darauf zu reflektieren.

„Das ist ja auch ganz wichtig präfrontal, auch was Sozialverhalten angeht, immer wieder

daran zu denken, dass es ja auch mit irgendwelchen Funktionsstörungen zu tun haben

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kann, wenn ein Verhalten sich doch stark davon unterscheidet, von dem, was ich norma-

lerweise von einem Menschen erwarte.“ (Z. 122-126)

Das Wissen, über welches so ausgebildete Klinische Sozialarbeiter*innen verfügen, er-

möglicht ihnen das Erstellen und Überprüfen von Hypothesen in Bezug auf mögliche vor-

liegende Störungen oder traumatische Erlebnisse von Klient*innen.

„Damit habe ich meines Erachtens eine solide Grundlage, zumindest als Hypothese, wenn

ich mit jemandem zu tun habe und kann das dann darauf beziehen und kann die Hypothese

prüfen.“ (Z. 126-128)

Mittels bildgebender Verfahren ist es Klinischen Sozialarbeiter*innen theoretisch auch

möglich, eine Diagnostik einzuleiten, um ihre Hypothesen zu überprüfen, wenn ihnen ein(e)

Klient*in besonders aufgefallen ist.

„Dann kann ich auch, wenn das noch nicht geschehen ist, beispielsweise eine Diagnostik

dann einleiten und gucken beispielsweise mit der funktionellen Kernspintomographie oder

irgendetwas.“ (Z. 128-131)

Bildgebende Verfahren ermöglichen es zudem Zusammenhänge zwischen schwerwiegen-

den Erfahrungen, betroffenen Hirnregionen und Verhaltensweisen herzustellen, „dass ich

dann eben auch beforsche, im Sinne von, was hat sich möglicherweise hier in bestimmten

Regionen ergeben und wie wirkt sich das aus im Verhalten.“ (Z. 133-135).

Ziele der Therapie

Wichtigstes Ziel der Neurosoziotherapie ist es, neuronale Prozesse so zu beeinflussen,

dass das Wohlbefinden von Klient*innen sowie deren Fähigkeit zur Bewältigung schwieri-

ger Lebensumstände sich verbessert. Dabei ist die Art und Weise wie auf neuronale, bio-

chemische Prozesse eingewirkt wird zweitrangig.

"Also aus meiner Sicht ist es auch ganz wichtig, dass wir eingreifen in biochemische Pro-

zesse, unabhängig davon ob wir jetzt eingreifen mit Medikamenten oder mit einer persön-

lichen Interaktion." (Z. 160-162)

Die Stimulierung plastizitätsfördernder Prozesse im Sinne der Klient*innen steht dabei an

oberster Stelle.

"Aber in dem Sinne wäre es ja dann besonders gut, wenn es wirklich unter der Maxime,

das Bestmögliche für den Patienten damit zu bezwecken, dass man diese Prozesse unter-

stützt, das könnte ich mir vorstellen." (Z. 167-169)

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Neurobiologische Auswirkungen

Wie bereits erwähnt wurde, hat zwischenmenschliche Interaktion eine direkte Auswirkung

auf das Gehirn. Bildgebende Verfahren ermöglichen es, Aktivitätsmuster des Gehirns auf-

zuzeigen und liefern somit den „unmittelbaren Beweis, in den Aktivitätsmustern, in der

Größe der Areale“ (Z. 237-238) dafür, dass sozialarbeiterische Interventionen Wirkung zei-

gen.

„Soziale Arbeit bewirkt, und das ist körperlich, also sprich, es ist nachweisbar, mit Bildung

von Synapsen, beispielsweise mit Veränderung der Struktur des Gehirns, es findet ja stän-

dig eine Veränderung statt. Das Gehirns ist nach einer Interaktion mit Sozialer Arbeit an-

schließend verändert." (Z. 179-182)

Um die Wirksamkeit der Behandlung nachzuweisen, müssten Klient*innen also lediglich

vor und nach der Therapie mittels bildgebender Verfahren untersucht werden und das vor-

her und nachher Bild ihres Gehirns verglichen werden.

„Beispiel ich hab jemanden begleitet in der Sucht und ich sehe vorher nachher, ich guck

wie derjenige in der funktionellen Kernspintomographie auf Alkoholreize reagiert und vor

und nach meiner Betreuung im Vergleich. Da weiß ich wohl, dass das korrekt war."(Z. 233-

236)

Das bedeutet, durch die Aneignung und Anwendung neurobiologischer Erkenntnisse in der

Sozialtherapie bekommt die Klinische Soziale Arbeit „mehr oder weniger biologische(n)

Parameter zur Verfügung“ (Z. 244-245), mit Hilfe derer sie die Wirksamkeit ihrer Interven-

tionen überprüfen und nachweisen kann.

Die Soziale Arbeit bewirkt also durch ihre Interventionen neuroplastische Prozesse im Ge-

hirn ihrer Klient*innen. „Also ich trage zu plastischen Prozessen bei. Die Plastizität geht

von mir als Sozialarbeiter aus. Das ist doch ein schönes Gefühl, oder?" (Z. 186-187)

9.4. Implikationen für die Soziale Arbeit

Wie wirkt sich eine solche Integration neurobiologischer Erkenntnisse auf die Zusammen-

arbeit mit anderen Disziplinen aus? Was bedeutet die Nachweisbarkeit klinisch sozialar-

beiterischer Interventionen für die Anerkennung der Fachdisziplin?

Interdisziplinarität

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Der Experte geht zunächst einmal auf den wichtigen Punkt der interdisziplinären Zusam-

menarbeit ein, welcher durch die Aneignung neurowissenschaftlicher Kenntnisse möglich

wird und die Versorgungsqualität der Klient*innen erheblich verbessere.

„Und dann kann man eben in der Multi- oder Trans- oder Interdisziplinarität sich um Pati-

enten kümmern und das ist meines Erachtens das einzig Vernünftige. Alles andere bringt

nichts." (Z. 90-92)

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Anerkennung der Sozialen Arbeit

Die Aneignung neurobiologischen Wissens ermöglicht die Arbeit auf Augenhöhe im inter-

disziplinären Team und verschafft der Sozialen Arbeit damit ein ganz anderes Standing.

„Ich beweg mich dann auch im Umfeld, im therapeutischen Team. Dann bekomme ich auch

eine ganz andere Anerkennung beispielsweise von der Medizin und Psychologie, weil ich

mich auf Augenhöhe bewege." (Z. 83-85)

Das angeeignete Wissen ermöglicht Sozialarbeiter*innen das Sprechen der gleichen Fach-

sprache und damit die Partizipation am gemeinsamen Hilfeprozess auf Augenhöhe.

„Man benutzt dann auch die gleichen Begriffe und man ist dann nicht mehr oder weniger

irgendwo nachgeordnet, sondern man ist dann auf Augenhöhe." (85-87)

Dies verschafft der Sozialen Arbeit Anerkennung und Respekt im interdisziplinären Team,

denn „man wird dann eingebunden ins Team, man wird respektiert, anerkannt und ge-

schätzt, weil man eben zusätzlich zu deren Möglichkeiten, die Möglichkeiten aus sozialar-

beiterischer Warte noch hinzufügen kann." (Z. 87-89)

Legitimation

Dass sozialarbeiterische Interventionen mittels bildgebender Verfahren unmittelbar nach-

weisbar sind, gibt der Profession eine eindeutige Daseinsberechtigung.

„Das Gehirns ist nach einer Interaktion mit Sozialer Arbeit anschließend verändert. Das ist

ja die verrückte Geschichte dabei und damit ist meines Erachtens auch die Legitimation,

die Daseinsberechtigung ganz klar gegeben." (Z. 179-183)

Dadurch erhält die Soziale Arbeit als Profession auch eine ganz andere Anerkennung und

Positionierung innerhalb der Scientific Community.

„Und da gibt’s nicht nur Medizin oder Psychologie, sondern Soziale Arbeit ist genauso an

positiven Veränderungsprozessen beteiligt. Und das gibt mir auch nochmal ein anderes

Standing." (Z. 183-186)

Dies wirkt sich dann nicht zuletzt auch auf das professionelle Selbstbewusstsein der Sozi-

alen Arbeit aus, was sich dann wiederum in kompetenteres Handeln in der Praxis nieder-

schlägt.

„Also von daher denke ich wirkt sich das dann auch auf meine Sicherheit im Umgang damit,

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was meine Kompetenzen angeht mit Sicherheit aus." (Z. 241-242)

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10. Interpretation der Ergebnisse

Während im Interview Gründe für die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung der Klini-

schen Sozialen Arbeit mit den Neurowissenschaften deutlich geworden sind, konnten mit

Hilfe der Metaanalyse wesentliche psychosoziale Faktoren identifiziert werden, welche sich

auf neuronaler Ebene auswirken. Sowohl aus den empirischen Ergebnissen des Interviews

als auch aus denen der Studien lässt sich konkretes Interventionspotenzial für die Klinische

Soziale Arbeit ableiten.

Das Experteninterview macht deutlich, dass die Aneignung neurobiologischen Wissens

elementar dafür ist, menschliche Verhaltensweisen nachzuvollziehen. Sie ermöglicht es

damit die Problemlagen der Klient*innen in ihrer Komplexität und ihren Wechselwirkungen

verstehbar zu machen. Das Wissen wirkt sich auch auf die Haltung, Kompetenz sowie

Motivation des/der behandelnden Sozialarbeiter*in aus. Nicht zuletzt ermöglicht die Kennt-

nis über neuronale Vorgänge, Interventionen zielgerichtet auf die Veränderung der neuro-

biologischen Ebene zu richten und damit tiefgreifendere Auswirkungen bei Klient*innen zu

bewirken. Krankheiten und Verhaltensweisen als Ergebnis neuronaler Dispositionen zu

verstehen prägt das Menschenbild als Sozialarbeiter*in nachhaltig. Es führt dazu, abwei-

chendes Verhalten nicht auf das Individuum, sondern vielmehr auf äußere Umstände, Vor-

erfahrungen und biochemischen Prozessen zurückzuführen. Daraus resultiert eine akzep-

tierende und empathische Grundhaltung. Die Aufklärung über die Wirkungsweise des Ge-

hirns im Sinne einer Psychoedukation ist eine wesentliche Aufgabe neurobiologisch aus-

gebildeter Sozialarbeiter*innen, welche zur Selbstbefähigung der Klient*innen beiträgt. Aus

der Aneignung neurobiologischen Wissens in die Beratungspraxis der Klinischen Sozialen

Arbeit ergibt sich eine neurosoziotherapeutische Handlungsweise, welche mittels zielge-

richteter Interventionen Einfluss auf neurobiologische Prozesse der Klient*innen nimmt, um

deren Wohlbefinden zu steigern.

Aus der Analyse der neurowissenschaftlichen Studien können relevante Faktoren identifi-

ziert werden, welche Einfluss auf die Neuroplastizität nehmen und durch klinisch-sozialar-

beiterische Interventionen beeinflussbar sind. Hierzu zählen soziale Interaktionen, Umge-

bungsbedingungen, psychosoziale Stressoren, kognitives Training und das Erlernen neuer

Fähigkeiten. Die Neuroplastizität ist zudem abhängig vom Ausmaß der Nutzung der Sy-

napsen und der Art der Erfahrungen, die ein Mensch macht. Ein vertieftes Verständnis

darüber, wie sich psychosoziale Faktoren auf neuronaler Ebene auswirken, kann bei der

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Auswahl der konkreten Intervention hilfreich sein. Zudem ist die Entwicklung eines Grund-

verständnisses über neuronale Vorgänge wichtig, um den Effekt und die Reichweite thera-

peutischer Interventionen zu verstehen.

Die Metaanalyse macht deutlich, dass positive soziale Interaktionen die Zellproliferation

fördern, während negative soziale Erfahrungen (soziale Unterlegenheit, soziale Isolation)

zu einer eingeschränkten Neurogenese, verringerter synaptischer Konnektivität sowie so-

zialem Vermeidungsverhalten führen. Die Neurogenese wird neben sozialen Interaktionen

auch erheblich durch die Umgebungsbedingungen beeinflusst, wobei sie durch verarmte

Bedingungen gehemmt und durch stimulierende Faktoren gefördert wird. Die Umweltbe-

dingungen wirken sich zudem auf die Anfälligkeit für Suchterkrankungen sowie die Resili-

enz von Individuen aus. Dabei ist das Gehirn im Kindes- und Jungendalter am plastischs-

ten und lernfähigsten und reagiert stärker auf die Umgebung als im erhöhten Lebensalter.

Hieraus lassen sich wichtige Interventionsmöglichkeiten für die Klinische Soziale Arbeit

ableiten. Zunächst einmal sollte Soziale Therapie immer darauf abzielen, Menschen in ein

soziales Netzwerk zu integrieren, in dem sie Anreize bekommen und positive Erfahrungen

machen können. Soziale Netzwerkarbeit und soziale Unterstützung zielen darauf ab, die

soziale Umgebung von Menschen durch das Aufdecken von Ressourcen zu bereichern.

Dabei ist es von besonderer Wichtigkeit Kinder und Jugendliche möglichst früh mit sozial-

arbeiterischen Interventionen zu erreichen, da diese besonders vulnerabel und lernfähig

sind. Das Wissen über förderliche Bedingungen für die Neuroplastizität, welches aus den

Studien gewonnen wurde, kann dazu verhelfen, Maßnahmen zu ergreifen, die positiven

Einfluss auf soziale Umwelten und Beziehungen nehmen und die körperliche und geistige

Aktivität der Klient*innen fördern. Im Hinblick auf psychosoziale Stressoren kann der Fokus

der Intervention auf das Erlernen hilfreicher Copingstrategien zum Umlernen des Umgangs

mit Stress gelegt werden. Außerdem kann ein sogenanntes Stressimpfungstraining durch-

geführt werden, welches Klient*innen leichten Stressoren aussetzt und damit ihre Resilienz

erhöht. Zudem können schützende Widerstandsressourcen in einem dialogischen Prozess

mit Klient*innen aufgedeckt werden. Die Förderung eines gesunden Lebensstils, welcher

körperliche Bewegung, geistige Aktivität sowie eine gesunde Ernährung beinhaltet, sollte

in Anbetracht der neuronalen Gesundheit immer auch Teil einer neurobiologisch ausge-

richteten Sozialtherapie sein.

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11. Beantwortung der Forschungsfragen

Im Folgenden sollen die Forschungsfragen mit Hilfe der empirisch gewonnenen Erkennt-

nisse beantwortet werden.

Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung geben deutliche Hinweise darauf, inwiefern

die Klinische Soziale Arbeit in ihren Theorie-, Methoden- und Forschungskonzeptionen von

neurowissenschaftlichen Erkenntnissen profitieren kann. Neurowissenschaftliche Kennt-

nisse haben das Potenzial, theoretische Modelle sowie konkrete Handlungskonzepte der

Klinischen Sozialen Arbeit zu beeinflussen und neue Möglichkeiten in Bezug auf die For-

schung zu eröffnen.

Auf theoretischer Ebene geht es um die Aneignung des Wissens und dessen Übertragung

auf relevante theoretische Konzepte, welche sozialarbeiterische Handlungen leiten. So be-

einflusst das Wissen um die Vorgänge im Gehirn das Verständnis des bio-psycho-sozialen

Modells, indem es um eine neurobiologische Dimension ergänzt und mit neuem Wissen

befüllt wird. Das Person-in-Environment Konzept kann aus einem neuen Blickwinkel be-

trachtet werden, wenn die Wechselwirkung psychosozialer Erfahrungen und neuronaler

Verschaltungsmuster verstanden wurden. Die Betrachtung der Salutogenese aus einer

neurowissenschaftlichen Perspektive eröffnet die Möglichkeit der Förderung gesundheits-

erhaltender neuronaler Verschaltungsmuster durch das Aufdecken generalisierter Wider-

standsressourcen. Die Erforschung der neurobiologischen Manifestation von Resilienz

kann möglicherweise Hinweise für die Handlungsplanung liefern.

Methoden der Sozialen Arbeit bezeichnen planbare und zielorientierte Wege der Prob-

lemlösung, wobei sie die Anamnese des Problems, die Diagnose sowie die Handlungspla-

nung zur Zielerreichung in Form der Intervention beinhalten (vgl. Universität Hamburg). Der

Experte zeigt in seiner Darlegung der Neurosoziotherapie eindeutig auf, wie die Integration

der Neurobiologie klinischen Sozialarbeiter*innen ermöglicht, Hypothesen über mögliche

vorliegende Störungen aufzustellen und mittels bildgebender Verfahren eine Diagnostik

einzuleiten, in der die Hypothese bzw. Anamnese überprüft wird. Auf Basis der Diagnose

können dann im dritten Schritt konkrete sozialarbeiterische Interventionen eingeleitet wer-

den. Die neurobiologische Perspektive nimmt also eindeutig Einfluss auf konkrete Hand-

lungen der praktizierenden Sozialarbeiter*innen und zielt darauf ab, Interventionen unter

Einbezug der neurologischen Dimension zielgerichteter zu gestalten.

Methodenkonzeptionen meinen auch konkrete Handlungskonzepte, mit Hilfe derer Sozial-

arbeiter*innen arbeiten (vgl. Universität Hamburg). Die Metaanalyse zeigt auf, inwieweit

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die Handlungsmethoden der Netzwerkarbeit und Sozialen Unterstützung durch eine Aus-

einandersetzung mit den sozialen Dimensionen neurobiologischer Erkenntnisse inhaltlich

erweitert werden können. Aus dem Verständnis über die Wirkungsweise psychosozialer

Faktoren und deren Wechselwirkungen mit neuronalen Prozessen lassen sich also gezielte

Interventionsmöglichkeiten für die Sozialtherapie ableiten.

Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung machen deutlich, dass die Klinische Soziale

Arbeit auch in Bezug auf die Forschungsmethodik von neurowissenschaftlichen Erkennt-

nissen profitieren kann. Hier sind die bildgebenden Verfahren von besonderer Bedeutung,

da diese es ermöglichen die Wirkungsweise sozialtherapeutischer Interventionen nachzu-

vollziehen bzw. nachzuweisen. Darin liegt für die Klinische Soziale Arbeit die Möglichkeit,

ihre Handlungsmethoden zu überprüfen, diese von Fall zu Fall an die neuro-bio-psycho-

soziale Verfassung ihrer Klient*innen anzupassen und ihren Therapieerfolg zu ermitteln.

Hierbei ist anzumerken, dass die Nutzung neurowissenschaftlicher Methoden der Klini-

schen Sozialen Arbeit und ihrer Arbeit mit Klient*innen zu Gute kommen und nicht in einen

Zwang zur Nachweisbarkeit der Effizienz münden sollte. Je nach Problemlage, Alter und

Vorgeschichte der Klient*innen greifen Interventionen unterschiedlich stark und wirken sich

dann in unterschiedlichem Maße auf das Gehirn aus. Interventionen sind also nicht als

erfolglos anzusehen, wenn sich anhand bildgebender Verfahren nur minimale Veränderun-

gen zeigen. Auch bedeutet dies nicht, dass der Erfolg sozialtherapeutischer Interventionen

nur nach neurobiologischen Maßstäben gemessen werden sollte. Wie bereits erwähnt

wurde, ist es nicht sinnvoll bei allen Klient*innen auf Veränderung neuronaler Strukturen

abzuzielen, sondern häufig gewinnbringender, auf Entlastung in der Lebenswelt zu setzen.

Die neurobiologische Perspektive sollte immer nur eine Ergänzung und Möglichkeit dar-

stellen, Klient*innen noch besser und nachhaltiger zu unterstützen und nicht in einen Effi-

zienz- und Legitimationsdruck münden.

Der Experte eröffnet die Perspektive einer Neurosoziotherapie für die Klinische Soziale

Arbeit, welche sich durch den gezielten Einsatz neurobiologischen Wissens in die bera-

tend-behandelnde Arbeit mit Klient*innen auszeichnet. Das Ziel der Neurosoziotherapie ist

die Beeinflussung neuronaler Prozesse durch gezielte Sozialarbeitsinterventionen, um das

Wohlbefinden und die Fähigkeit zur Bewältigung von Anforderungen der Klient*innen zu

verbessern. Damit liefert der Experte wichtige Antworten auf die Forschungsfrage, welche

nach den Perspektiven der psychosozialen Beratung und sozialtherapeutischen Arbeit

fragt, welche sich durch die Auseinandersetzung mit der Neurobiologie eröffnen. Die Im-

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plementierung der neurowissenschaftlichen Perspektive führt zur Reflexion der Wirkungs-

weise sozialer Interaktionen im therapeutischen Prozess, stärkt die Kompetenz zur Anam-

nese und Diagnose psychosozialer Erkrankungen und macht die Behandlung dieser mittels

zielgerichteter Interventionen möglich. Zudem macht sie die interdisziplinäre Zusammen-

arbeit auf Augenhöhe möglich, erlaubt das Sprechen einer einheitlichen Fachsprache im

interdisziplinären Team, fördert die Partizipation am gemeinsamen Hilfsprozess und führt

dadurch zu einer verbesserten Versorgungsqualität der Klient*innen. Nicht zuletzt führt die

Einführung neurobiologischer Denkweisen und Methoden in die sozialtherapeutische Ar-

beit dazu, Interventionen nachweisbar zu machen, der Klinischen Sozialen Arbeit damit

eine eindeutige Daseinsberechtigung zu geben und ihre Position innerhalb der Scientific

Community zu stärken.

Doch auch die Metaanalyse liefert wichtige Hinweise in Bezug auf die Forschungsfrage.

Sozialtherapeutische Interventionen legen den Fokus auf die soziale Dimension von Ge-

sundheit und zielen auf die Integration in ein soziales Netzwerk sowie den Zugang zu so-

zialer Unterstützung ab. Die Interventionen sind also darauf ausgelegt Veränderungen der

sozialen Umgebung herbeizuführen, Klient*innen in ihrem sozialen Wohlbefinden zu stär-

ken und dadurch im Idealfall einen Welleneffekt auszulösen, der sich auf die körperliche

und psychische Gesundheit auswirkt. Eine neurosoziotherapeutische Beratung, welche

sich aus den Interventionsdimensionen der Metaanalyse speist, versucht also positive Ver-

änderungen in der Umgebung der Klient*innen herbeizuführen. Diese können dadurch

neue Erfahrungen machen, welche sich auf das Gehirn auswirken und neue Verschal-

tungsmuster entstehen lassen. Werden die Umgebungsbedingungen und verbesserten so-

zialen Interaktionen aufrechterhalten und die neuen Verschaltungsmuster wiederholt akti-

viert, so können mit der Zeit alte negative Verknüpfungen durch die neuen überdeckt wer-

den. Sozialarbeitsinterventionen fördern somit die Verknüpfung synaptischer Verbindun-

gen im Gehirn, mit Hilfe derer Klient*innen Anforderungen und Belastungen besser bewäl-

tigen können und verbessern damit deren Resilienz sowie bio-psycho-soziale Gesundheit.

Die Verschaltungsmuster dienen also gleichzeitig als Widerstandsressource gegen Stres-

soren. Dies macht deutlich wie sehr sich psychosoziale Erfahrungen und neurobiologische

Muster gegenseitig bedingen und wie zutiefst bio-psycho-sozialer Natur sie sind. Die Aus-

einandersetzung mit der Wechselwirkung zwischen psychosozialen Faktoren und der Neu-

robiologie, wie sie in der Metaanalyse vorgenommen wurde, eröffnet neue Interventions-

aspekte für die Klinische Soziale Arbeit und ermöglicht es dadurch die Behandlung nach-

haltiger zu konstatieren.

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12. Conclusio

Das Gehirn besitzt nicht nur die Fähigkeit, sich immerzu den Erfordernissen seiner Umge-

bung anzupassen, um bestmöglich auf Anforderungen zu reagieren, es ist auch zu einem

großen Ausmaß sozial konstruiert. Alle Erfahrungen, die ein Mensch im Laufe seines Le-

bens macht, prägen das Gehirn durch den Aufbau synaptischer Verbindungen und machen

es zu dem, was es ist. Das Gehirn kann in seiner ganzen Komplexität also nicht getrennt

vom sozialen Kontext betrachtet werden, welcher es hervorgebracht hat.

Die Betrachtung eben dieser Wechselwirkung zwischen sozialen Komponenten und neu-

robiologischen Strukturen war Thema der vorliegenden Masterarbeit. Dabei lag der Fokus

darauf zu ergründen, inwieweit die Klinische Soziale Arbeit in Bezug auf ihre Theoriekon-

zeptionen, Methoden und Beratungsarbeit von den Neurowissenschaften profitieren kann.

Im theoretischen Teil der Arbeit wurde mittels Literaturanalyse untersucht, wie das Gehirn

aufgebaut ist, wie neuronale Prozesse ablaufen und wie diese mit menschlichen Verhal-

tensweisen in Verbindung stehen. Die Bedeutung und Funktionsweise der Neuroplastizität

wurde erläutert und deren Potenzial für die Klinische Soziale Arbeit dargestellt. Zudem fand

eine Thematisierung der Auswirkungen von Umgebungsbedingungen, sozialen Faktoren

sowie Stressoren auf das Gehirn statt.

Mit Hilfe einer qualitativen Metaanalyse wurden relevante soziale Aspekte identifiziert und

deren neuronalen Auswirkungen untersucht und daraus mögliche sozialtherapeutische In-

terventionen abgleitet. Ein Experteninterview zeigte das Potenzial der Auseinandersetzung

mit den Neurowissenschaften auf und eröffnete die Perspektive einer Neurosoziotherapie.

Die Aneignung grundlegenden neurobiologischen Wissens kann dazu verhelfen, mensch-

liche Verhaltensweisen besser zu verstehen. Wenn Sozialarbeiter*innen eine Vorstellung

davon haben, welche Hirnareale mit welchen kognitiven und emotionalen Prozessen ver-

bunden sind und wie diese Bereiche durch negative Lebenserfahrungen beeinträchtigt wer-

den, können sie individuelle Verhaltensweisen und komplexe Problemlagen ihrer Klient*in-

nen möglicherweise besser nachvollziehen. Allein eine Vorstellung über die neuronale Ver-

fassung von Klient*innen kann hilfreich bei der Gestaltung einer tragenden, professionellen

Beziehung sowie der Entscheidung über geeignete Hilfsmaßnahmen sein. Noch genauer

werden diese Möglichkeiten durch bildgebende Verfahren, wobei psychosoziale Erkran-

kungen und Störungen genau im Gehirn lokalisiert und Anknüpfungspunkte für die Planung

von Interventionen geschaffen werden können.

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Neurobiologisches Wissen verändert das Menschenbild als Sozialarbeiter*in und führt zu

einer verständnisvollen und akzeptierenden Haltung. Problemlagen und Verhaltensweisen

werden nicht als selbst verschuldet, sondern vielmehr als Ergebnis äußerer Bedingungen

und biochemischer Prozesse gesehen.

Die Fähigkeit des Gehirns sich zu verändern, anzupassen und lebenslänglich lernfähig zu

bleiben, birgt großes Potenzial für die sozialtherapeutische Arbeit. Zunächst einmal wird

deutlich, wie festgefahrene Verhaltensmuster durch die häufige Nutzung der immer glei-

chen synaptischen Verbindungen entstehen. Praktizierenden Sozialarbeiter*innen ist klar,

dass diese „neuronalen Autobahnen“ ihrer Klient*innen unter oftmals schwierigen Lebens-

bedingungen entstanden sind und aufrechterhalten wurden, um Anforderungen und Belas-

tungen zu bewältigen. Die Fähigkeit des Gehirns sich zu verändern macht jedoch auch

deutlich, dass durch positive psychosoziale Erfahrungen und Anreize neue synaptische

Verbindungen geknüpft werden können. Damit es zu nachhaltigen Veränderungen der

neuronalen Strukturen kommen kann, bedarf es der häufigen Wiederholung über einen

längeren Zeitraum hinweg.

Das Gehirn ist ein zutiefst soziales Organ, welches auf Basis von Beziehungserfahrungen

mit anderen Menschen synaptische Verknüpfungen ausbildet. Daher ist es auch nicht ver-

wunderlich, dass psychosoziale Erfahrungen an der Entstehung von Erkrankungen betei-

ligt sind und gleichzeitig das Potenzial haben, zur Gesundung beizutragen. Damit es also

zu Veränderungen im Gehirn kommen kann, müssen zunächst Veränderungen auf Ebene

sozialer Beziehungserfahrungen stattfinden. Erst durch wiederholte positive Lebenserfah-

rungen können neue, sich selbst aufrechterhaltende Strukturen im Hirn entstehen.

Die Auseinandersetzung mit den Neurowissenschaften führt also zu einem tiefergreifenden

Verständnis der Entstehung destruktiver Denkmuster und Verhaltensweisen von Klient*in-

nen auf Grund negativer Erfahrungen und spezifischen Anforderungen in deren Lebens-

welt. Dadurch werden Möglichkeiten, aber auch Grenzen in Bezug auf Interventionen deut-

lich.

Im Hinblick auf die psychosoziale Beratungsarbeit, eröffnet die Aneignung neurowissen-

schaftlicher Erkenntnisse für die Klinische Soziale Arbeit die Perspektive einer Neurosozi-

otherapie. Diese zielt darauf ab, auf Grundlage fundierten Wissens gezielte Interventionen

zu ergreifen, welche auf neurobiologische Prozesse Einfluss nehmen. Durch die Initiierung

positiver Erfahrungen, das Aufdecken von Ressourcen im sozialen Netzwerk und die Be-

reicherung des sozialen Umfeldes können neue synaptische Verbindungen geknüpft wer-

den, aus denen mit der Zeit gefestigte neuronale Bahnen werden können. Klient*innen

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werden durch die Aktivierung von Ressourcen und den Aufbau förderlicher neuronaler

Netzwerke zur verbesserten Bewältigung von Anforderungen und Belastungen befähigt.

Soziale Beziehungen, Umgebungsbedingungen, Stress sowie geistige und körperliche Ak-

tivität wirken sich nachweisbar auf die neuronale Struktur und Gesundheit aus und sind

unmittelbar durch klinisch-sozialarbeiterische Interventionen beeinflussbar. Daraus erge-

ben sich konkrete Handlungsmöglichkeiten für die Klinische Soziale Arbeit. Um auf soziale

Beziehungen einzuwirken, können Sozialarbeiter*innen gemeinsam mit Klient*innen an

deren sozialen Netzwerken arbeiten, Ressourcen aktivieren und positive Erfahrungen ini-

tiieren, welche das Selbstwirksamkeitserleben stärken. Zudem können all solche Maßnah-

men ergriffen werden, welche geistige und körperliche Aktivität fördern und damit zur An-

regung positiver neuronaler Prozesse beitragen. Auf Ebene der Gestaltung einer förderli-

chen professionellen Beziehung gilt es Mechanismen der Spiegelung mitzudenken und

gezielt einzusetzen. Eine freundliche Haltung der praktizierenden Sozialarbeiter*innen

wirkt sich zudem neuronal auf das Gegenüber aus, indem die Aktivität in der Amygdala

gehemmt und Angst gemindert wird. Grundvoraussetzung dafür, dass sozialarbeiterische

Interventionen greifen, ist eine aktivierte intrinsische Motivation der Klient*innen sowie die

Empfänglichkeit des Gehirns für neue Impulse.

Die Klinische Soziale Arbeit kann auch in Bezug auf ihre Theorie-, Methoden- und For-

schungskonzeptionen von neurowissenschaftlichen Erkenntnissen profitieren. Nicht nur

werden theoretische Konzeptionen durch eine neurowissenschaftliche Perspektive inhalt-

lich ergänzt und erweitert, es können auch konkrete Handlungskonzepte daraus abgeleitet

werden. Bildgebende Verfahren erleichtern die Diagnose psychosozialer Beeinträchtigun-

gen und ermöglichen es dadurch Interventionen zielgerichtet zu planen und zu evaluieren.

Bildgebende Diagnostik als grundlegende Forschungsmethode der Neurowissenschaften

kann die Forschung der Klinischen Sozialen Arbeit wesentlich bereichern, indem sie die

Wirkungsweise sozialtherapeutischer Interventionen visuell abbildet und diese damit nach-

weisbar macht.

Dabei sollten neurobiologische Kenntnisse immer als Zusatzwissen gesehen werden, wel-

ches dazu genutzt werden kann, Handlungskompetenzen zu stärken. Von reduktionisti-

schen Erklärungen sozialer Phänomene durch biologische Prozesse oder einem übermä-

ßigen Zwang zur Nachweisbarkeit von Effizienz sollte sich die Klinische Soziale Arbeit be-

wusst abgrenzen. In der Arbeit im interdisziplinären Team ermöglicht die Aneignung neu-

rowissenschaftlicher Kenntnisse das Sprechen einer einheitlichen Fachsprache, die Zu-

sammenarbeit auf Augenhöhe und die Partizipation an einem gemeinsamen Hilfsprozess,

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wodurch sich die Versorgungsqualität der Klient*innen verbessert. Nicht zuletzt liegt darin

auch die Möglichkeit für die Klinische Soziale Arbeit sich mehr Anerkennung zu verschaffen

und ihre Position innerhalb der Scientific Community zu stärken.

Die Erkenntnisse, die in der vorliegenden Masterthesis für die Klinische Soziale Arbeit ge-

wonnen werden konnten, sprechen für eine Implementierung der Neurowissenschaften in

die Forschung, Lehre und Praxis der Disziplin. Angesichts des großen Potenzials wäre

eine verstärkte Auseinandersetzung durchaus wünschenswert. Eine erste sinnvolle Maß-

nahme wäre daher die Aufnahme der Neurowissenschaften in die Ausbildung Klinischer

Sozialer Arbeit. Da Studien zur neurobiologischen Auswirkung sozialtherapeutischer Inter-

ventionen noch fehlen, sind Sozialarbeiter*innen dazu aufgerufen in Kontakt mit der Hirn-

forschung zu treten und ihre Forschungsanliegen zu äußern. In einer verstärken Forcierung

eines interdisziplinären Dialogs zwischen Sozialer Arbeit und Neurowissenschaften liegt

die Chance für die beiden Disziplinen, Perspektiven auszutauschen und neue Impulse für

zukünftige Forschungen zu generieren.

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Tabellenverzeichnis

Tab. 1: Qualtitative Metaanalyse ..................................................................................... 76

Tab. 2: Qualitative Metaanalyse ...................................................................................... 77

Tab. 3: Qualtitative Metaanalyse ..................................................................................... 78

Tab. 4: Qualtitative Metaanalyse ..................................................................................... 79

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Anhang

Abkürzungsverzeichnis

CT Computertomographie

DW-MRI diffusionsgewichtete Magnetresonanztomographie

fMRT funktionelle Magnetresonanztomographie

MRT Magnetresonanztomographie

PET Positronen-Emissions-Tomographie

WHO World Health Organisation